Editorial

Endlich scheint sich energetisches Sanieren breit durchzusetzen. Doch ist energie-effizient automatisch auch schon nachhaltig? So nötig und löblich das Isolieren von Altbauten ist – es gibt auch Anlass zur Sorge, dass unsere Bautradition allmählich unter einer dicken Styroporschicht und hinter Solarpanels verschwindet.

Gestaltung scheint bei energetischen Sanierungen nur in Ausnahmefällen eine Rolle zu spielen. Zur Nachhaltigkeit gehört aber – als Teil der sozialen – auch die kulturelle Nachhaltigkeit. Kulturelle Ressourcen müssen so nachhaltig bewirtschaftet werden wie andere. Im Bereich des Bauens bedeutet dies, die Vielfalt an architektonischer und städtebaulicher Gestaltung – analog zum biologischen Artenreichtum – möglichst ungeschmälert an spätere Generationen weiterzugeben: als Pool möglicherweise wertvoller Lösungen, aber auch, weil sie Zeugen der Geschichte sind. Die eigene Geschichte zu kennen ist für eine liberale Gesellschaft, die sich selbst regieren will, eine unverzichtbare Ressource.

Diese Argumente betreffen nicht nur geschützte, herausragende Baudenkmäler, sondern auch den breiten Baubestand. Sie sind freilich kein Plädoyer gegen energetische Sanierungen, Um- oder Ersatzneubauten. Wohl aber dafür, dass der kulturelle Wert eines Altbaus in jedem Fall in die Güterabwägung mit einbezogen wird – nicht im Sinn eines Liebhaberwerts gewisser Immobilien, sondern im Sinn einer umfassenden Nachhaltigkeit.

TEC21 wollte wissen, wie die theoretische Denkmalpflege das Problem sieht. Und tatsächlich: Der emeritierte ETH-Professor Georg Mörsch beklagt die drohende «Kulturverschwendung». Uns interessierte auch die Sicht der praktischen Denkmalpflege. In der Boomtown Zürich ist sie oft gefordert, gangbare Wege durch das Konfliktfeld zu suchen. Wir haben ihre Leiter zum Dialog eingeladen – mit einer Architektin und Fachleuten aus dem Amt für Hochbauten, insbesondere der Fachstelle Nachhaltiges Bauen. Das Gespräch zeigt: Auch die Zürcher Baubehörden haben gegenwärtig kein Grundrezept für nachhaltige Sanierungen, sondern ringen in jedem Fall um die Verhältnismässigkeit jeder Massnahme («Angemessen eingreifen»).

So viel politischen und fachlichen Disput das Thema verdient – letztlich führt die Suche nach wirklich nachhaltigen Strategien im Umgang mit dem Baubestand über konkrete Projekte von problembewussten und fähigen Architekturschaffenden. TEC21 wird deshalb das Thema anhand von Best-Practice-Beispielen weiterverfolgen, in diesem Heft mit dem «Massanzug», der dem Schulhaus Kreuzfeld in Langenthal verpasst worden ist.
Ruedi Weidmann, Claudia Carle

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Kraftwerk 2, Zürich

12 MAGAZIN
Verschärfte Mustervorschriften im Energiebereich | Breites Repertoire solarer Architektur | Ergänzte Sporthallen-Norm | Mit den Augen von George Nelson | Aditya Prakash

30 KULTURVERSCHWENDUNG
Georg Mörsch
Bauliche Energiesparmassnahmen berücksichtigen nur einen Aspekt von Nachhaltigkeit. Dafür zerstören sie oft eine andere Ressource: unsere jahrhundertealte Baukultur.

34 GESPRÄCH:
«ANGEMESSEN EINGREIFEN»
Claudia Carle, Ruedi Weidmann
Vertreterinnen und Vertreter des Stadtzürcher Amts für Hochbauten, der städtischen Denkmalpflege und eine private Architektin im Gespräch zum Thema «Ökologie und Baukultur».

40 MASSANZUG
Katja Hasche
Das Schulhaus Kreuzfeld in Langenthal stammt von 1951. Thomas Maurer hat den feingliedrigen Bau saniert – denkmalgerecht und nach Minergie-Standard.

46 SIA
Schneelasten nach Norm SIA 261 | Vortrag von David Chipperfield | «Werkbericht Nr. 4»| Umgangskultur im Bauwesen

53 PRODUKTE

69 IMPRESSUM

70 VERANSTALTUNGEN

Kulturverschwendung

Trotz zahlreichen Vorzeigebauten, die Energieeffizienz mit Schönheit verbinden: Die dicken Isolationsschichten, die landauf, landab um Alt- und Neubauten gelegt werden, haben das gestalterische Niveau unserer gebauten Umwelt nicht eben verbessert. Unhinterfragt wird Nachhaltigkeit mit Energiesparen gleichgesetzt, wobei der ebenso wichtige Aspekt der ästhetischen Langlebigkeit ausgeblendet wird. Damit droht ein unwiederbringlicher Verlust – nicht nur an bestehenden Kulturgütern, sondern auch an zukünft iger Baukultur. Nachhaltiger Umgang mit Energie geniesst so viel unwidersprochene Zustimmung in Medien, Forschung und Alltagsdiskussion, dass man eigentlich schon wieder misstrauisch werden muss. Zwar geht es unserem Stichwort «Nachhaltigkeit» nicht wie so vielen anderen Tabellenführern in der medial organisierten öffentlichen Meinung, die nach wenigen Tagen der extremen Aufmerksamkeit anderen Highlights weichen müssen. Aber auch bei der nun schon lange dauernden Fokussierung des Themas Nachhaltigkeit auf Fragen der Energiebewirtschaftung in Autobau und Bauwesen fragt man sich, ob mit dieser Akzentuierung das Thema wirklich gerecht und erfolgreich angegangen wird. Drei Einzelaspekte spielen dabei eine Rolle: der nachhaltige Umgang mit nicht vermehrbaren Energiereserven, besonders Erdöl und Erdgas, die drängende Sorge um das Weltklima und die neue Last der finanziellen Kosten. Alle drei Faktoren zwingen so eindeutig zum Handeln, dass es schon fast ein Sakrileg ist, zu fragen, ob die Art und Weise, wie ein Teil dieses Handelns – die Wärmedämmung unserer Gebäude, seien es Alt- oder Neubauten – gefordert und umgesetzt wird, wirklich nur der versprochene Segen ist.

Begriff ohne Fesseln

Damit uns nicht parteiliche Überzeugtheit automatisch zur Zustimmung zwingt, müssen wir ein wenig Abstand gewinnen. «Nachhaltigkeit» bezeichnet den Umgang mit knappen Ressourcen auf eine Weise, dass dieser Umgang die Bedürfnisse der Gegenwart nur insoweit befriedigt, als es die Zukunftsfähigkeit kommender Generationen erlaubt. Gemeint ist die Suche nach gegenwärtigem Glück und gleichzeitig die solidarische Einsicht, dass dieses Glück nicht auf Kosten anderer verwirklicht werden darf. Was bei der «Erfindung» des Begriffes in der Waldwirtschaft des 18. Jahrhunderts eine örtliche und sachliche Rolle spielte, hat sich längst ins Unermessliche ausgedehnt, wenn man – übrigens im besten Sinne von Globalität – nachhaltiges Handeln nicht nur für uns und zugunsten unserer eigenen Nachkommen, sondern längst auch zugunsten unserer ärmeren Zeitgenossen weltweit fordert.

Dies hat durchaus auch mit dem engeren Thema dieses Beitrags zu tun: Es gibt im Bemühen, «nachhaltig» Energiekosten beziehungsweise CO2 zu sparen, Materialverwendung und politisch relevante Regelungen, die langfristig weder verantwortbar noch «rentabel» sind. Man denke nur an bestimmte Formen der alternativen Treibstoffgewinnung, etwa an den Anbau von Zuckerrüben für Biotreibstoff, während die Nahrungsmittelpreise weltweit steigen. Es ist eine grosse Belastung der heutigen Nachhaltigkeitsdiskussion, dass sich wirtschaftliche Interessen und menschenfreundliche Überlegungen schon im engen Rahmen der energetischen Nachhaltigkeitsdebatte untrennbar verquicken.

Zu der globalen Ausdehnung der Verpflichtung zu «Nachhaltigkeit» ist längst eine andere, mindestens so herausfordernde Erweiterung der Begriffsverwendung gekommen: Die «Ressourcen», von deren Schonung und nachhaltiger Bewirtschaftung stets die Rede ist, sind längst nicht mehr allein Brennstoffe und Ackerfrüchte, sondern alles, was der Mensch zu einem menschenwürdigen Leben ebenfalls unbedingt braucht, aber auch nur in beschränktem Masse zur Verfügung hat und was, gravierender noch als die Langsamkeit beim Nachwachsen von Holz und Fischbeständen, unwiederholbar ist. Nicht nur die Verknappungsszenarien in Ökologie und Ökonomie fordern unser gesellschaftliches Gewissen heraus. Dass zum Beispiel auch mit der Toleranz und der Konfliktfähigkeit einer friedfertigen Gesellschaft nachhaltig umgegangen werden, dass ihr Bildungswesen behutsam gestützt und entwickelt und die zivilisatorischen Erfahrungen einer alten Kultur als kreativer Fundus geschont und gestärkt werden müssen, sind längst einvernehmliche Positionen der heutigen Nachhaltigkeitsdebatte.

Schutz der ästhetischen Integrität

Kehren wir nach dieser kurzen Grundsatzerörterung wieder zu unserem Energiethema zurück, das wir unter den Vorzeichen dieser generelleren Überlegung angehen müssen. Der Klimawandel und die Energiekrise stehen mit ihren Konsequenzen für das Weltklima und die Wirtschaft so beherrschend im Vordergrund gesellschaftlicher Befürchtungen und politischer Entscheidungen, dass fast jede Massnahme, die unter dem Vorzeichen ihrer Bekämpfung angekündigt wird, mit reflexartiger Zustimmung rechnen kann.

Schlimm daran ist nicht nur, dass es unter solchen Massnahmen auch Schnellschüsse gibt, die wirkungslos oder sogar kontraproduktiv verpuffen, wie es von mancher Energiegewinnung und manchem baulichen Eingriff befürchtet werden muss.[1] Hinzu kommt, dass die diskussionslose Einigkeit, diesen wenigen Zielen total zu dienen, die Abwägung zwischen weiteren öffentlichen Anliegen, die ebenfalls in das weite Gebiet von «Nachhaltigkeit» fallen, verhindert. Zwar ist die Errichtung der Windkraftanlagen in kostbarsten Landschaftsgestalten der Schweiz «gerade noch einmal» gescheitert. Aber was in unverbauten Landschaftsteilen möglich war, nämlich der Schutz ihrer ästhetischen Integrität, ist für die gebaute Gestalt unserer Städte und Dörfer, die eine viel schwächere Lobby haben, ungleich schwerer zu erreichen.

Die baulichen Massnahmen, die in überzeugendster Absicht der Energieeinsparung und, in angenehmster Verknüpfung damit, der Förderung des einschlägigen Gewerbes dienen, unterschreiten häufig krass jeden Massstab von architektonischer und handwerklicher Kultur. Man sollte dabei nicht von blossen Geschmacksfragen sprechen, sondern vom Verlust einer in Jahrhunderten gewachsenen Baukultur, die eine generelle Qualität unserer Umwelt ist. Und wie immer, wenn von Architektur als nachhaltiger Umweltaufgabe die Rede ist, kann sie auch in Zukunft nur das Ziel und Ergebnis langfristiger kreativer, ökologischer, handwerklicher und nachhaltig ökonomischer Anstrengungen sein.

Nachhaltigkeit ist mehr als Energiesparen

Der Prozess dieser Anstrengungen hat selbstverständlich nicht aufgehört, gute Früchte zu tragen: Unter den zeitgenössischen Leistungen moderner Architektur in der Schweiz finden sich beachtliche Beispiele, die auch hinsichtlich ihrer Energiebilanz moderne Massstäbe von Nachhaltigkeit erfüllen.2 Solche Bauten bilden freilich auch in der Schweiz nur einen verschwindenden Prozentsatz der Produktion, die sich überwiegend offenbar unbeeinflusst von gestalterischen Anstrengungen von Bauherrschaft, Architekten und Baubehörden ausbreitet. Die Qualität dieser Massenproduktion ist schon seit Jahrzehnten weit unter einem erreichbaren mittleren Durchschnitt, aber seit Energieverordnungen (und in Tourismusgebieten der ökonomische Zwang, je Wohneinheit ein paar laufende Meter vorpatinierte Holzelemente zu verbauen) die Verpflichtung, die Bauten «gut zu gestalten» (aus einem Bündner Baugesetz), ersetzt haben, sehen Neubauten aus wie die Styroporverpackung eines Küchengeräts. Dabei fällt übrigens auf, dass man Nachhaltigkeit im Umgang mit Energieressourcen praktisch nur auf baulichem und technischem Wege sucht. Bemühungen um die Veränderung des Benutzerverhaltens, wie sie «früher» selbstverständlich waren, sind fast völlig verstummt; auch die Frage, wie man die Kosten dieser baulichen Massnahmen und ihrer späteren Pflege sozialverträglich überwälzen kann, wird nirgends gestellt. Noch deutlicher wird jedoch das fast völlige Ausbleiben einer gerechten Abwägung, wenn man die verheerenden Konsequenzen der energetischen Nachbesserung auf die Gestalt unserer bestehenden Siedlungen bedenkt – und dabei keineswegs nur historisch besonders wertvolle Ensembles meint. Dass diese Nachbesserung unter dem Titel der Nachhaltigkeit auftritt, macht das Dilemma nur deutlicher. Wenn sich alle darin einig wären, dass «Nachhaltigkeit » mehr ist als Einsparung an Energie, dann müsste dringend gefragt werden, welche Nachhaltigkeit vernachlässigt, das heisst: welche Ressource vergeudet wird, wenn wir die Diskussion so einseitig führen wie derzeit. Vernachlässigt beziehungsweise vernichtet wird dabei ein ganzer Kosmos von architektonischer Gestaltung in materieller Umsetzung, in welchem sich, oft in spannungsvoller regionaler Differenzierung, die Erfahrung, Sparsamkeit, Klugheit und Kreativität generationenlanger Permanenz am bewahrten Ort manifestiert hat. Es gehört zur Schizophrenie unseres Verhaltens, dass wir diese Werte zwar werbewirksam einsetzen, wenn wir sie – etwa im Tourismus – in unser Konsumverhalten einbauen können, dass wir sie dabei aber in der Regel – was extrem unnachhaltig ist – ebenso kurzfristig ausbeuten und zerstören wie neu vermarktete Tourismusdestinationen.

Jahrhundertealte Baukultur gefährdet

Der Hinweis auf manchen Neubau, der neben der gelungenen Gestaltung auch den erfahrenen Umgang mit technisch alterungsfähigen, in Schönheit patinierenden und energetisch klug eingesetzten Materialien und Konstruktionen zu seinen Qualitäten zählt, oder auf manche vorbildliche denkmalpflegerische Restaurierung mit der ernsthaften Hinwendung zum Material des Denkmals vermag nicht «nachhaltig» zu trösten, solange in der landläufigen Produktion und Wahrnehmung von Architektur Fragen bezüglich ihrer Materialität kaum eine Rolle spielen.

Wie konnte es dazu kommen, dass beim langfristigsten und teuersten Produkt, das sich unsere Zivilisation massenhaft leistet, den Gebäuden, die wirkliche Beschaffenheit für langen Gebrauch und lang währende ästhetische Freude eine so belanglose Rolle spielt? Ist es die Übermacht flüchtiger, virtueller Bilder, die uns die Dimension von der Permanenz der Objekte und unserer Beziehung zu ihnen abtrainiert haben? Oder ist es ganz banal die Fixierung auf die Reduktion einer Dezimalstelle bei der Berechnung der Wärmedurchgangszahl – übrigens bei unvermindertem jährlichem Anstieg der beanspruchten Wohnquadratmeter –, die uns alle anderen vorhandenen und potenziellen Qualitäten unserer gebauten Umwelt übersehen lässt?

Von der Beantwortung solcher Fragen hängt es ab, ob in der Abwägung der verschiedenen Nachhaltigkeiten – die sich ja, wie angedeutet, nicht zwingend widersprechen müssen – die beschriebenen Umweltqualitäten überhaupt eine Chance haben können. Fehlt nämlich bereits die Wahrnehmung für diese Qualitäten, schwindet auch die Chance, für ihre Bewahrung zu kämpfen. Wenn sie aber nicht bewahrt würden, wäre das eine gigantische Verschwendung.

Anmerkung:
[1] In diesem Zusammenhang sei auf die Diskussion um den Bau neuer Windenergieanlagen hingewiesen, die in TEC21 31-32/2008 und in einem Leserbrief in TEC21 37/2008 aufgegriff en wurde (Red.)

TEC21, Mo., 2008.11.03

03. November 2008 Georg Mörsch

«angemessen eingreifen»

Mehrfach haben Parlamente Baubehörden aufgefordert, nachhaltiges Bauen energischer zu fördern und Projekte für energetische Sanierungen und Solaranlagen häufi ger zu bewilligen. Doch bestehende Bauten sind eine kulturelle Ressource, die so nachhaltig bewirtschaft et werden sollte wie Energie. Mit seiner Fachstelle für nachhaltiges Bauen gehört das Stadtzürcher Amt für Hochbauten zu den Pionieren des ökologischen Bauens in der Schweiz. Viele seiner Projekte verbinden Energieeffi zienz und einen schonenden Umgang mit der Bausubstanz. TEC21 hat Vertreterinnen und Vertreter des Amts sowie die Leitung der städtischen Denkmalpflege und eine private Architektin gebeten, das Dilemma und Lösungswege anhand zweier Umbauprojekte zu erörtern.

TEC21: Energetische Sanierungen bestehender Bauten tragen viel zum Klimaschutz bei. Diese Erkenntnis hat sich endlich durchgesetzt. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass unser baukulturelles Erbe allmählich unter einer dicken Isolationsschicht und unter Solarpanels verschwindet. Die Denkmalpflege scheint zunehmend unter Druck zu geraten, hier mehr Spielraum zu gewähren. Wie erleben Sie die Entwicklung?
Peter Ess: Es geht letztlich um eine gesellschaftliche Frage: Wollen wir uns leisten, in Schönheit unterzugehen, oder wollen wir versuchen, das Energiethema in den Griff zu bekommen, zum Beispiel die schönen Dächer vergessen und in einem verzweifelten Befreiungsschlag überall Solaranlagen installieren – das sind die radikalen Standpunkte, die sich gegenüberstehen. Das Gewicht liegt momentan noch relativ stark auf der formalästhetischen Seite der Architektur. Wenn aber der politische Druck wächst, könnte er noch weiter in Richtung grosszügige Handhabung energetischer Massnahmen gehen. Marburg beispielsweise hat den Schieber ganz auf die andere Seite geschoben: Dort muss jetzt auf alle geeigneten Dächer eine Solaranlage kommen.

Die Stadtzürcher Baubehörden engagieren sich seit Langem für Nachhaltigkeit. In letzter Zeit ist das Thema Nachhaltigkeit aber auf der politischen Agenda so weit nach oben gerückt, dass die Politik angefangen hat, uns zu überholen: Sie ist zu einer sorgfältigen Güterabwägung gar nicht mehr bereit, sondern verlangt von uns, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Bei Neubauten ist es einfach: Man kann die Anforderungen defi nieren und das Gebäude darauf hin entwickeln. Aber zwei Drittel unserer Bauaufgaben betreffen die Erneuerung bestehender Substanz. Hier kann man auch den grössten Effekt hinsichtlich Nachhaltigkeit erzielen. Doch braucht es hier eine Güterabwägung. Die Grundhaltung des Amts für Hochbauten dazu stammt von 1997, sie umfasst drei Punkte: – Mit einer Summe kleiner Eingriffe können baukünstlerisch wertvolle Gebäude Zug um Zug ruiniert werden. – Bei jedem Eingriff in bestehende Substanz sind daher gleichermassen die Herkunft und der Zeitgeist wie auch die Zukunftsperspektive der Baute zu klären. – Entscheide über Eingriffe erfolgen in Abwägung der Nutzungsanforderungen, der denkmalpflegerischen, architektonisch-städtebaulichen und ökologischen Anliegen sowie der Angemessenheit der Kosten.

Die politische Diskussion wird immer in Kurven verlaufen. Die Verwaltung hingegen muss auf Konstanz und Sorgfalt achten und diese Themen unabhängig von Schwankungen im politischen Tagesgeschäft in ein Gleichgewicht bringen. Hier müssen wir eine gewisse Behäbigkeit pflegen und auf dem Weg der Güterabwägung weitergehen. Dabei muss man davon ausgehen, dass nicht jeder sein Partikularinteresse maximieren kann. Zusammen müssen wir die Schnittmenge für eine vernünftige Lösung suchen.

Harte Zahlen gegen weiche Faktoren

Jan Capol: Die Entwicklung in Sachen Umweltschutz, dass Gebäude auf eine 2000-Watt- Gesellschaft ausgerichtet werden, fi nde ich uneingeschränkt positiv. Wir verstehen Denkmalpflege auch als eine Art Umweltschutz und ziehen mit der Fachstelle Nachhaltiges Bauen am gleichen Strick. Ich sehe aber eine Schwierigkeit darin, dass die ökologische Nachhaltigkeit messbar ist und in exakten Zahlen ausgedrückt werden kann, während bei der kulturellen Nachhaltigkeit anders argumentiert werden muss. Wenn Heinrich Gugerli sagt: ‹Jetzt sind wir bei 200 Megajoules pro Quadratmeter›, hat er gewonnen, da kann ich noch so lang über die kulturhistorische Bedeutung referieren. Die Herausforderung ist, die beiden Argumentationsweisen miteinander zu verbinden.
Heinrich Gugerli: Das stimmt. Vielleicht muss man das als Chance wahrnehmen und den Diskurs fördern. Wenn man an Minergie oder an die 2000-Watt-Gesellschaft denkt, sind die eindeutigen Zahlen der Energiefachleute allerdings auch nur eine Krücke. Es geht ja nicht nur um Megajoules, sondern um ein breites Spektrum von Nachhaltigkeitszielen gemäss der SIA-Empfehlung 112/1 und entsprechender Massnahmen. Auch wir glauben nicht, dass man das einfach nach Zahlenwerten entscheiden kann.
Sibylle Bucher: Vielleicht müsste die Denkmalpflege auch exakte Werte definieren?
Urs Baur: Die Denkmalpflege des Kantons Solothurn hat vor Jahren versucht, ein Zahlensystem einzuführen, um die Schutzwürdigkeit von Objekten nachzuweisen. Sie ist kläglich gescheitert. Ein Problem ist aber tatsächlich, dass keine Denkmalpflege-Normen existieren. Als Folge davon einigen wir uns zwar in der Güterabwägung, danach kommen aber andere Anliegen ins Spiel, die sich auf unverrückbare Normen beziehen können – zum Beispiel braucht ein Schulzimmer 500 Lux.
Peter Ess: Ich finde, es wäre ein fataler Irrtum, wenn man versuchen würde, qualitative Werthaltungen zu quantifizieren und dann meint, man bekäme einen objektiven Wert. Eine Werthaltung bleibt eine Werthaltung. Ein zweiter fataler Irrtum scheint mir, zu meinen, mit Verordnungen und Rechtsmitteln habe man eine bessere Position. Ich bin zutiefst überzeugt, dass es um den gesellschaftlichen Stellenwert einzelner Themen geht: Wie wichtig ist uns Heimat im Sinn von Ortsbild und Originalsubstanz?
Sibylle Bucher: Es geht ja eigentlich eher um den Umgang mit diesen Normen. Wir Architekturschaffenden können versuchen, die verschiedenen Interessen möglichst geschickt miteinander zu kombinieren.
Jan Capol: Immerhin haben wir im Amt für Städtebau zusammen mit Leuten aus allen interessierten Departementen einen für Bauherrschaften nachvollziehbaren Leitfaden für den Umgang mit der Dachlandschaft erarbeitet. Den Anstoss dazu gaben Gesuche für Sonnenkollektoren und Fotovoltaikanlagen auf Dächern. Die Erarbeitung des Leitfadens war nicht ganz konfliktfrei, und man ist sich noch nicht einig. Darum ist der Leitfaden jetzt in einem Evaluationsverfahren.
Heinrich Gugerli: Wir haben gestritten, aber das war eigentlich gut.
TEC21: Die Denkmalpflege scheint in diesem Konflikt momentan eher in der Defensive zu sein?
Jan Capol: Nein, das ist nicht so. Dass die Denkmalpflege etwas verhindere, ist europaweit ihr Ruf, er gehörte schon immer zu ihr. Nach dem 11. 9. 2001 war Sparen angesagt, und es gab eine schriftliche Anfrage, ob man die Denkmalpflege in Zürich einstellen könne, sie verbrauche zu viel Geld. Da konnten wir antworten: Das Geld, das wir verbrauchen, entspricht kaum der Portokasse der Stadt – und der Bauherren übrigens auch. Nicht einmal zehn Prozent der Gebäude der Stadt Zürich sind im Inventar, dort reden wir mit. Schaut man, wie viele Solaranlagen wir abgelehnt haben, ist das ein sehr kleiner Teil.

Städtebauliche Gesamtwirkung

TEC21: Unsere anfänglich formulierte Sorge bezieht sich nicht unbedingt auf die geschützten Bauten, sondern vor allem auch auf die rund 90 % der Bauten, die nicht geschützt sind.
Peter Ess: Die oben erwähnten drei Punkte unserer Grundhaltung gelten ganz besonders für diese Bauten. Wir pflegen die Bausubstanz nicht, weil und wenn es die Denkmalpflege von uns verlangt, sondern weil wir uns als Architektinnen und Architekten eigenständige Überlegungen zu einem Gebäude und seinem Kontext machen. Das gehört zu unserer Kultur.
Heinrich Gugerli: Bei den Minergie-Sanierungen der Wohnsiedlungen Heumatt und Heuried aus den 1970er-Jahren haben wir der Gestaltung hohe Priorität beigemessen. Im Heuried wurde ein Studienauftrag für die Neugestaltung der Fassade veranstaltet, und auch im Gesamtleistungswettbewerb für die Heumatt war die Gestaltung ein wichtiger Teil. Wenn man die Gebäude schon einpackt, muss man ihnen auch ein neues Gesicht geben.
Peter Ess: In den Kern- und Quartiererhaltungszonen redet die Denkmalpflege allerdings auch mit. Sie hat viel mehr steuernde Wirkung als nur in den paar Prozent geschützter und unbestrittener Schutzobjekte.
Jan Capol: Ja, das stimmt. Aus städtebaulicher Sicht ist das ein Glück. Allerdings beraten wir hier die Bauherren lediglich, wie sie die vom kantonalen Planungs- und Baugesetz geforderte ‹gute Gesamtwirkung› erreichen können. Das ist etwas anderes als bei den Schutzobjekten, wo wir Auflagen machen; da unterscheiden wir unsere Rollen klar. Ich schlage aber vor, nicht von einem Konflikt zwischen Energiesanierung und Denkmalpflege zu sprechen, sondern zwischen Energiesanierung und Städtebau. Denn die weniger als 10 % inventarisierter Objekte sind ein kleiner Teil. In den Quartieren aus der Nachkriegszeit, wo jetzt die grossen Sanierungen anstehen, gibt es davon fast keine. Es geht also vor allem um städtebauliche Anliegen.
Peter Ess: Und hier stellt sich die Frage, wie ‹gute Gesamtwirkung› definiert wird. Der Ehrgeiz, die Architektur auf höchstem Niveau zu erhalten, ist in Zürich enorm gross. Ich finde, dass die Spielräume in Situationen, die mit Denkmalpflege im engeren Sinn nichts zu tun haben, etwas gar eng sind. Wenn die Nachhaltigkeit jetzt einen höheren Stellenwert hat, müsste man vielleicht etwas kulanter sein.

Kompromisse oder klare Entscheidung?

TEC21: Besteht in der Güterabwägung wirklich ein harter Gegensatz zwischen Ökologie und Städtebau? Lässt sich nicht, wenn man früh genug zusammen eine Lösung sucht, beides widerspruchsfrei verbinden?
Jan Capol: Es gibt Fälle, wo wir uns einigen, Kompromisse schliessen und beide Seiten mit der Lösung zufrieden sind. Aber es gibt auch Fälle, wo man sich entscheiden muss. Heinrich Gugerli: Es gehört zum Wesen der Nachhaltigkeit, dass man nicht alle Aspekte erfüllen kann, sondern Zielkonflikte entscheiden muss. Wichtig finde ich, dass diese Konflikte frühzeitig auf den Tisch kommen. Aber nicht immer ist Zufriedenheit in allen Bereichen erreichbar.
Ueli Lindt: Bei Bauten, die ein eindeutiges Primat haben, sei es im Hinblick auf ihre historische Bedeutung oder im Hinblick auf ein Energiesparpotenzial, ist es einfacher. Da lässt sich ein Konzept machen, das eine eindeutige Richtung definiert. Schwierig wird es, wenn diese Frage unentschieden ist. Ich bin deshalb nicht so sicher, ob der Kompromiss immer die beste Lösung ist, oder ob er nicht unter Umständen faul ist, sodass am Schluss weder die Denkmalpflege noch die Energiefachleute befriedigt sind.
Peter Ess: Man darf den Kompromiss nicht negativ besetzen. Unser ganzes Staatswesen beruht auf diesem Prozess, und wir sind bisher nicht so schlecht gefahren damit. Bauen ist grundsätzlich nie widerspruchsfrei. Es gilt immer zu klären, welche Anliegen wie weit und mit welchem Aufwand zu erfüllen sind.
Sandra Zacher: Und die Güterabwägung findet ja nicht nur zwischen Energieverbrauch und historischem Wert statt. Es kommen noch viele weitere Ansprüche hinzu.
Urs Baur: Wichtig für eine befriedigende Güterabwägung ist es jedenfalls, dass der denkmalpflegerische Wert und der Schutzumfang ganz am Anfang geklärt werden. Dass während der Planung – oder gar auf der Baustelle – keine Grundsatzdiskussionen mehr geführt werden müssen.

Kleinere Eingriffe bei flexiblerer Nutzung

Sibylle Bucher: Im Grund haben doch Denkmalpflege und Nachhaltigkeit auch gemeinsame Interessen: Je weniger man baut, umso nachhaltiger. Vielleicht müsste man sich mehr darauf zurückbesinnen. Jedes Gebäude hat ein Wesen, eine Struktur und ein Potenzial. Wenn man Ernst machen will mit der gesamtheitlichen Betrachtung, müsste man vermehrt eine Idee entwickeln, die zum spezifischen Gebäude passt. Das hier diskutierte Problem entsteht vor allem, wenn man eine Nutzung über das Gebäude stülpt, das man eigentlich am liebsten neu bauen möchte, und dann radikal saniert, sodass vom ursprünglichen Geist viel verloren geht.
Peter Ess: Dieser Wunsch ist in unseren drei Punkten enthalten. Wir klären immer ab, was ein Gebäude hergeben kann. Jeder Eingriff, den man nicht machen muss, ist eine gute Massnahme. Das gehört zu unserem Denken. Wenn wir die ursprüngliche Substanz eines Gebäudes weitestgehend respektieren können, indem wir einen Nutzer suchen, der zum Gebäude passt, erreichen wir drei Dinge: Wir haben den kleinstmöglichen Substanzverlust – das ist im Interesse der Denkmalpflege –, den grösstmöglichen Nutzen für die künftigen Nutzer und die kleinstmögliche Investition.
Sandra Zacher: Das heisst, man sollte an allen Rahmenbedingungen schrauben können, auch bei der Nutzung.
Ueli Lindt: Im Spannungfeld zwischen Städtebau und Ökologie ist der Nutzer einer der wichtigsten Akteure. Beim Schulhaus Milchbuck etwa forderte das Schulamt, dass Wände verschoben werden, um die Schulzimmer zu vergrössern.
Sibylle Bucher: Ja, hier haben die städtische Immobilienbewirtschaftung als Bestellerin, das Amt für Hochbauten und die Denkmalpflege aufgrund der Anforderungen des Schulamts einen Kompromiss ausgehandelt. Als wir als Architekturbüro hinzukamen, stand dieser Kompromiss bereits fest. Doch als wir vorschlugen, weniger in die Substanz einzugreifen, stellten wir fest, dass die Unsicherheit, wie mit dem Gebäude umgegangen werden soll, nach wie vor gross war – beispielsweise wünschte sich die Lehrerschaft eigentlich ein neues Gebäude. Aufgrund dieser Uneinigkeit entstanden in der weiteren Bearbeitung oft Konflikte über Details. Zum Beispiel war viel zu lange unklar, ob die Fenster erhalten oder ersetzt werden mussten und welches Material zum Einsatz kommen durfte. In so einer Situation wäre eine Task-Force hilfreich, die gemeinsam entscheiden kann. Ueli Lindt: Es ist eigentlich die Kernaufgabe des Amts für Hochbauten, alle Projektbeteiligten vor Beginn der Projektierung auf eine gemeinsame Zielvorstellung zu fokussieren, die sie mit Begeisterung tragen. Das klappt manchmal sehr gut und manchmal weniger gut. Je komplexer ein Projekt ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Partei später von der gemeinsamen Zielformulierung wieder abdriftet.
Sibylle Bucher: Ich wünschte mir, dass dabei ein Handbuch, eine Art ‹Bibel›, ausgearbeitet würde, die die angemessenen Lösungen für diesen spezifi schen Bau für alle verbindlich festlegt.
Ueli Lindt: Solche ‹Bibeln› erarbeiten wir tatsächlich im Rahmen der gemeinsamen Zielformulierung. Sie können viele Konflikte ausschliessen oder zumindest offenlegen. Beim Schulhaus Milchbuck gab es aber leider nur eine schmale Machbarkeitsstudie.
Heinrich Gugerli: Manchmal sind den Beteiligten auch einfach nicht alle Konsequenzen bewusst, die ein bestimmter Entscheid haben wird. Vermutlich war beim Milchbuck- Schulhaus nicht allen klar, dass man die Decken so stark verstärken bzw. sie ersetzen muss, wenn die Wände verschoben werden. Auf der Baustelle sah man dann, dass der Eingriff schon fast erschreckend tief war.
Sibylle Bucher: Nachdem die Vergrösserung der Schulzimmer einmal beschlossen war, sehe ich es als Beitrag an die Nachhaltigkeit, die Decken so zu verstärken, dass die Nutzbarkeit stark erhöht wird. Bei künftigen Umnutzungen können nun ohne grosse Eingriffe auch Wände verschoben werden.
Peter Ess: Es ist aber genau diese Eingriffstiefe, die ich kritisieren möchte! Es gibt einen Fetischismus der Raumoptimierung, der versucht, den hintersten Quadratmeter noch optimal zu nutzen. Damit ruiniert man viel Substanz. Man hätte dieses Schulhaus auch mit einer Klasse weniger belegen und einen Teil der alten Klassenzimmer als – etwas zu gros se – Gruppenräume nutzen können. Statt Wände um einzelne Meter zu verschieben, um exakt die rationellste oder eine bestimmte Normraumgrösse zu treffen, wäre es in bestehenden Bauten oft sinnvoller, sich etwas mehr Raum zu leisten als nötig. Das würde Geld sparen, denkmalschutzwürdige Substanz schonen und die Stoffflüsse klein halten. Hier liegt ein ganz wichtiges Potenzial für einen schonenden Umgang mit Gebäuden. Viele Nutzer und Bauherren stützen sich noch zu einseitig auf die reine Optimierung des genutzten Raums pro investierten Franken. Wir müssen den Bestellern und Nutzern immer wieder sagen: Ihr müsst euch mit eurem Betriebskonzept im Potenzial dieses Gebäudes bewegen, sonst wird die Umnutzung zu aufwendig. Das ist eine permanente Auseinandersetzung.
Sibylle Bucher: Sie wäre einfacher, wenn alle Beteiligten Spezialisten im Umgang mit historischem Baubestand einsetzen könnten. Es würde sich lohnen, dieses Spezialwissen stärker aufzubauen, denn mehr als die Hälfte des Bauvolumens ist heute Umbau, und der Anteil wird noch stark wachsen.
Urs Baur: Eigentlich müsste man das Potenzial eines Gebäudes viel freier abklären können: Was für eine Nutzung ist hier möglich, und was kann das Gebäude nicht erfüllen? Peter Ess: Die städtische Immobilienbewirtschaftung hat diesen Auftrag schon. Aber beim Schulhaus Milchbuck waren diese Raumoptimierungen für sie strategisch wichtig, und sie hat sich damit beim Stadtrat durchgesetzt. Es war ein qualifizierter politischer Entscheid für die grosse Eingriffstiefe.
TEC21: Wären die scheinbar widersprüchlichen Anliegen von Ökologie und Städtebau einfacher unter einen Hut zu bringen, wenn man bei den Vorstellungen über die Nutzung flexibler wäre? Alle: Ja, sicher.
Peter Ess: Hier liegt für uns ein Schlüssel zu wirklich nachhaltigen Umnutzungen. Ich glaube, darüber besteht an diesem Tisch ein Konsens.
Sandra Zacher: Leider werden Betriebskonzepte meist entworfen, bevor aus der baulichen und denkmalpflegerischen Analyse eine bestimmte Haltung gegenüber dem umzubauenden Gebäude erarbeitet worden ist. So entstehen Wünsche, für die sich das Gebäude gar nicht eignet.
Heinrich Gugerli: Beim Amtshaus Parkring gelang es, das bewusst zu machen. Hier wurde die originale kleinteilige Raumstruktur mit Einzelbüros erhalten und von den Nutzenden des Schul- und Sportdepartements akzeptiert, obwohl urprünglich Grossraumbüros geplant waren.

Labels und graue Energie

Sibylle Bucher: Substanz erhalten ist nachhaltig und vernünftig: Um mehr Respekt vor dem Bestehenden zu gewinnen, wäre es vielleicht wünschbar, einen Malus einzuführen für abgebrochene Anteile. Oder anders herum: Ich habe mir auch schon gewünscht, dass das Baumaterial viel teurer würde, damit wir eine ökologische Kostenwahrheit beim Material hätten und bestehende Teile eher weiterverwenden würden.
TEC21: Was können hier die Energie-Labels beitragen?
Peter Ess: Die Labels waren wichtig, damit ökologisches Bauen breite politische Akzeptanz fand. In der Praxis muss aber bei jedem Bauprojekt mit gesundem Menschenverstand der Ertrag am Aufwand gemessen werden. Zum Aufwand gehört auch der Verlust an vorhandener Bausubstanz. Für jedes Anliegen den Punkt zu suchen, wo sich noch mehr Aufwand nicht mehr lohnt – das ist der nötige Optimierungsprozess.
Heinrich Gugerli: Die Labels sind für uns ein Behelf, um zu Benchmarks zu kommen und vergleichen zu können. Aber die letzte Kommastelle ist am Ende nicht entscheidend. Wenn es um die Eingriffstiefe geht, muss man über die graue Energie reden, über den Energieaufwand zur Produktion des neu verwendeten Baumaterials und zur Entsorgung des Abbruchmaterials. Die Labels Minergie und Minergie-P berücksichtigen die graue Energie nicht. Erreicht ein renoviertes Gebäude die geforderte Energiebilanz, wird es mit dem Label ausgezeichnet, egal welcher bauliche Aufwand dafür betrieben wurde. Nur beim Label Minergie eco fliesst die graue Energie mit ein. Minergie eco gibt es jedoch erst für Neubauten, noch nicht für Sanierungen – das Problem ist die Berechnung der grauen Energie. Bereits liegen die Resultate eines Forschungsprojekts zu einem Nachweisverfahren für Minergie-eco-Modernisierungen vor, sodass in ein bis zwei Jahren das Minergie-eco-Label für Sanierungen eingeführt werden könnte.
Ueli Lindt: Neben den Labels gibt es auch andere Werkzeuge wie den Energieeffi zienzpfad des SIA, der die graue Energie und auch die Mobilität mit berücksichtigt.
Heinrich Gugerli: Das Verfahren zur Ermittlung der Grauen Energie wird demnächst in Form des SIA-Merkblattes 2032 veröffentlicht, an dessen Entwicklung die Stadt Zürich sich aktiv beteiligte. (Siehe TEC21 H. 8/2008)
TEC21: Damit würde Sibylle Buchers Wunsch nach Materialkostenwahrheit ein Stück weit erfüllt, und auch das Anliegen von Peter Ess, verhältnismässige Eingriffstiefen zu wählen, dürfte mit diesem Instrument einfacher werden.
Jan Capol: Von Ökologen wie Ökonomen höre ich aber immer, ein Haus abzubrechen und neu zu bauen, brauche zwar viel Energie, spiele aber gemessen am gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes fast keine Rolle. Relevant sei der Energieverbrauch in der Betriebsphase. Wenn das stimmt, dann geht es – trotz Berücksichtigung der Grauen Energie – eben doch um Werthaltungen: um die politische Frage, auf welche baulichen Zeugen die Gesellschaft verzichten und welche sie erhalten will – auch wenn sie vom Gesamtenergieverbrauch her suboptimal sind.
Heinrich Gugerli: Auch aus rein energetischer Sicht braucht es ein Abwägen. Beide Strategien können sinnvoll sein, wenn sie sorgfältig durchdacht sind: Ersatzneubauten brauchen viel mehr Graue Energie, dafür reduzieren sie Betriebsenergie. Bei Sanierungen ist es umgekehrt, wobei hier je nach Eingriff eine grosse Bandbreite von Möglichkeiten besteht, die es auszuloten gilt.
Jan Capol: Ich bin froh, das zu hören!
Ueli Lindt: Überlegungen zu den Lebenzykluskosten haben bei Sanierungen in letzter Zeit immer mehr Bedeutung gewonnen. Wir überlegen uns vor einem Eingriff, für welchen Zeitraum er nützlich sein soll und was danach mit dem Objekt passiert. So können wir nicht nur die Bauinvestition optimieren, sondern die Lebenszykluskosten. Über die Endlichkeit von Bauten zu philosophieren, ist aber eine Schwierigkeit in der Diskussion mit der Denkmalpflege.
Peter Ess: Bei der grossen Masse im Wohnungsbau gibt es einen Punkt, wo ein Ersatz vernünftig wird – im Sinn einer volkswirtschaftlich verantwortlichen Pflege des Bestandes. Man muss in jedem Fall sorgfältig und in langfristiger Sicht abklären, ob ein Ersatzneubau oder eine Sanierung nachhaltiger ist.
Jan Capol: Einverstanden. Allerdings müssen bestimmte Bauten, die der Gesellschaft als Zeugen ihrer Geschichte dienen, immer erhalten bleiben.
TEC21: Was kann man tun, um das von Politik und Medien inszenierte Gegeneinander von Ökologie und Denkmalpflege zu überwinden und bewusst zu machen, dass beides Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung sind?
Sibylle Bucher: Vielleicht sollte man aktiver gemeinsame Interessen von Denkmalpflege, Nachhaltigkeit und Ökonomie hervorheben, zusammen Arbeitsgrundlagen erarbeiten und die positiven Beiträge herausstreichen, damit die verschiedenen Anliegen weniger gegeneinander ausgespielt werden und nicht der einen Seite die Rolle eines Verhinderers zugeschoben wird. Für eine aktivere Zusammenarbeit sähe ich durchaus noch Potenzial.

TEC21, Mo., 2008.11.03

03. November 2008 Claudia Carle, Ruedi Weidmann

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