Editorial

…   Versuch einer Annäherung an ein schwieriges Thema, das augenblicklich eine bedenkliche Konjunktur erlebt. Die Erfahrung ist sicher keinem unbekannt: Beim Besuch eines Ortes scheint dieser über seine bloße physische Präsenz hinaus eine besondere Atmosphäre zu besitzen; wahrnehm- aber nicht fass- oder benennbar. So belässt man es bei der lapidaren Aussage eines besonderen Geistes, der an diesem Ort »herrsche«; und erinnert sich seiner später meist in einer mit emotionalen Facetten gespeicherten Bildhaftigkeit. Genius loci? Die Antwort bietet sich an. Aber welcher Art sind die Orte, die eine solche Ausstrahlung besitzen? Kann Architektur einen Genius loci generieren? elp

Inhalt

Diskurs

03 Kommentar Berlin: Der Bürger stimmt ab | Nikolaus Bernau
06 Magazin
12 On European Architecture: Towards an Ad Hoc Architecture: Experimental Strategies in Venice | Aaron Betsky
14 Im Blickpunkt: ArchitekturBiennale Venedig | elp

Schwerpunkt

20 Genius loci
22 zum Thema: Bedarf die Architektur narrativer Strategien, um den Orten zu begegnen? | Ira Mazzoni
24 Besucherzentrum Gruta das Torres in Criação Velha, Pico Island (P); SAMI:arquitectos | Matthias Castorph
34 Pavillon des Landes de Gascogne, Ecomusée de la grande Lande, Sabres (F); Bruno Mader | Hubertus Adam
44 Genius loci : wozu? – Ein aphoristischer Tanz um ein »Goldenes Kalb« der Architektur | Friedrich Achleitner
46 Bauernhaus in Viechtach, Niederbayern; Studio für Architektur, Peter Haimerl | Ira Mazzoni
54 Archäologisches Museum und Forschungszentrum Madinat, al-Zahra bei Cordoba (E); Nieto Sobejano Arquitectos | Jürgen Tietz
64 nachgefragt: Statements zum Genius loci
68 in die Jahre gekommen...
... Museum Insel Hombroich, Erwin Heerich mit H. Hermann Müller, Landschaftsgestaltung: Bernhard Korte | Jürgen Braun

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118 Infoticker | rm
120 Schaufenster: Innenbeläge | rm
122 Schwachstellen: Sturzabdichtungen in Verblendfassaden | Rainer Oswald

Anhang
128 Planer / Autoren
129 Bildnachweis
130 Vorschau / Impressum

Der Eingang zum Mittelpunkt der Erde

(SUBTITLE) Gruta das Torres, Besucherzentrum in Criação Velha, Pico Island

Vor knapp drei Jahren eröffnet, ist das Besucherzentrum auf der Azoreninsel ein Ort, dessen Faszination man sich nur schwer entziehen kann. Gigantische Kräfte aus dem Inneren der Erde, eine rau-ursprüngliche weite Landschaft und das schnell wechselnde Lichtspiel der besonderen Wetterverhältnisse bilden die Kulisse, in die sich das Gebäude als Schnittstelle einfügt und die Besonderheit des Gesamtschauspiels erlebbar werden lässt. Nur ein Besuch vor Ort kann dies allerdings wirklich vermitteln.

Reist man über den Atlantik nach Pico, einer der zentralen Inseln der Azoren, erhebt sich schon von Weitem die imposante Silhouette des Vulkans Pico Alto, dem die Insel auch ihren Namen verdankt. Fast 1700 Kilometer vom vom portugiesischen Festland entfernt, ist er mit 2351 Metern zudem der höchste Berg des Landes. Der Vulkankegel ist ein beliebtes Ziel von Wanderern, aber man kann den Vulkan nicht nur von oben erleben, sondern auch von innen, zumindest in Teilen, denn unter der Oberfläche der Insel erstrecken sich kilometerlang seine Ausläufer, Vulkanhöhlen, sogenannte Lavaröhren, die an einigen Stellen die Oberfläche aufbrechen und so die im Innern schlummernden Kräfte elementar spürbar werden lassen.

Sie entstanden während früherer Vulkaneruptionen: Der an der Oberfläche bereits zu einer starren Kruste erhärtete Lavastrom bildete eine thermische Isolierung, so dass der heißflüssige Gesteinsstrom in den darunter liegenden Kanälen thermisch isoliert wurde und noch kilometerweit vom ursprünglichen Eruptionsherd entfernt weiterfließen konnte. Nach dem Versiegen verblieben die Lavaröhren als Hohlräume. An ihren Oberflächen lässt sich der Lavastrom noch heute unmittelbar ablesen, sei es als hochglänzende, glatte Formationen ehemals schnell fließender oder als biskuitähnliche Erstarrungen zähfließender Lava.

Mit etwa fünftausend Metern Länge sind die vulkanischen Höhlen der »Gruta das Torres« nicht nur die längsten der Azoren, sondern zählen weltweit zu den längsten. Den Zugang markieren zwei nahe beieinander liegende Öffnungen, die durch den Einsturz der spröden Lavakruste an der Höhlendecke entstanden.

Gruta das Torres – Höhle der Türme

Die »Gruta das Torres« wurde erst 1990 entdeckt. Nachdem man sich entschieden hatte, die Höhle als Touristenattraktion öffentlich zugänglich zu machen und sie 2004 als »Regional Natural Monument« eingestuft wurde, konnte bereits 2005 das Besucherzentrum eröffnen. So wurde zum einen dieses Naturphänomen touristisch erlebbar, zum anderen durch den Neubau der fragile und einsturzgefährdete Höhleneingang vor Vandalismus und Beschädigungen geschützt.

Fast sechstausend Besucher informieren sich seitdem jährlich während der Sommermonate im Besucherzentrum über die Entstehungsgeschichte der vulkanischen Insel und ihrer Lavahöhlen und können anschließend von dort aus – mit Helm und Grubenlampem ausgestattet – einen Teil des Röhrensystems besichtigen.

SAMI:arquitectos (Ines Vieira da Silva und Miguel Vieira) bekamen als junges Architekturbüro aus Setubal bei Lissabon den Auftrag, dieses sehr spezielle Besucherzentrum auf Pico zu entwerfen. Während ihrer zweijährigen Tätigkeit in den Jahren von 2002 bis 2004 bei der Verwaltungsbehörde hatten sie schon auf der Insel gelebt und unter anderem an der Vorbereitung der Eintragung der Weinanbaugebiete unterhalb des Pico zum Weltkulturerbe der Unesco mitgearbeitet. In dieser Zeit, vor dem Bau des Besucherzentrums, konnten sie beispielsweise bei der Bauberatung der Inselbewohner sowie an kleineren öffentlichen Projekten und Planungsprozessen professionelle Erfahrungen und Einblicke auf Pico Island sammeln und durch die intensive Auseinandersetzung mit der Insel auch ein sehr persönliches Verhältnis zum Ort und zu der unvergleichlichen Landschaft entwickeln.

Die Schwierigkeit der Aufgabe lag weniger im minimalen Budget oder im Raumprogramm, sondern vor allem in der Fragestellung, wie man diesem grandiosen Naturschauspiel noch etwas hinzufügen oder es architektonisch akzentuieren könnte. Sie entschlossen sich für einen minimalen, aus der Ferne fast unsichtbaren Eingriff in die landschaftliche Situation, der das Vorgefundene kongenial aufnimmt, sich einpasst und trotzdem eine selbstbewusste architektonische Sprache spricht. Ein Kleinod, das als erster Baustein der nun folgenden Projekte von SAMI:arquitectos auf der Insel noch einiges erwarten und die Insel auch als Reiseziel für zeitgenössische Architektur interessant werden lässt. So bauen sie momentan zwei Einfamilienhäuser, und es entstand ein Konzept für ein vielversprechendes Ferienresort, das vielleicht in den nächsten Jahren verwirklicht werden kann. Das von ihnen ebenfalls entworfene Informationszentrum zum Weinbau auf Pico als Teil eines Freilichtmuseums, ein Umbau eines landwirtschaftlichen Bestandsgebäudes, wird nächstes Jahr fertiggestellt.

Besucherzentrum

Nähert man sich dem Besucherzentrum, erkennt man aus der Ferne lediglich eine Mauer aus großformatigen Lavabrocken. Sie ist an die in der Umgebung aufgeschichteten Lavastein-Mauern angeglichen, die als orthogonale Schutzmauern um Wingerts und halbkreisförmig um Feigenbäume errichtet wurden und so seit Jahrhunderten die Anbauflächen vor Wind und Seewasser schützen. Diese besondere Art des Weinbaus auf den Lavafeldern ist seit 2004 ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.

Das Vorbild wurde im Neubau in der Größe etwas skaliert – von etwa 1,5 Metern auf 3,5 Meter – und die Einfassung locker spiralförmig um die zwei natürlichen »Oberlichter« der Vulkanhöhle gelegt. Die beiden Enden der Einfassung bilden den Zwischenraum für das Eingangsgebäude, das hinter der Mauer vollständig verschwindet. Lediglich die Eingangsfassade im Zwischenraum, mit ihrer glatten Oberfläche akzentuiert den Eingang, der mit einem Faltklappladen über die Wintermonate hermetisch geschlossen werden kann. Im Bereich der Außenwand des Hauses wurden die Steine so aufgeschichtet, dass sie ein kontinuierliches, lichtdurchlässiges Steingitter bilden, das die Belichtung der Innenräume ermöglicht, ohne die Erscheinung der geschlossenen Wand aufzulösen.

Das Gebäude als Weg

Hinter dem Eingangsportal liegt ein kleiner Patio mit einem quadratischen Wasserbecken. Ein großes Panoramfenster ermöglicht einen Blick in den Vorraum des eigentlichen Gebäudes. Im Inneren führt der Weg entlang der Außenmauer durch das Foyer, dessen Vorbereich mit Kassentheke, Backoffice und Sanitäranlagen eine Stufe höher liegt und so die räumliche Wirkung der radialen Erschließung noch verstärkt.

Am Ende des Ganges weitet sich der Weg zu einem kleinen Auditorium, wo man nach einem kurzen Einführungsfilm, der auf das Erlebnis der Höhle vorbereitet – ohne die reale Steigerung vorwegzunehmen – mit Helm und Grubenlampe ausgestattet wird, da im Vulkantunnel keine Beleuchtung eingebaut wurde, um den ursprünglichen Charakter zu erhalten. Sodann verlässt man das Gebäude und nimmt von einem kleinen Plateau den Weg in die Unterwelt. Weiter steigt man über eine Rampe und eine Treppe aus Lavastein dem Profil des Höhlenbodens folgend durch die erste Deckenöffnung hinunter, geht unter dem zweiten Oberlicht hindurch und ist nun inmitten der Lavahöhle, auf deren erstarrter Lava die ersten Meter des Wegs noch mit einem vom Boden abgehobenen Laufsteg baulich markiert sind. Danach ist man allein in der Dunkelheit und erkennt fragmentarisch, im Lichtkegel der Grubenlampe, an der Decke die grandiosen Stalagmiten und tropfenförmigen Oberflächen, die sich im geschmolzenen Gestein gebildet haben – und fühlt sich im Eingang zum Mittelpunkt der Erde.
Der Weg zurück führt in umgekehrter Reihenfolge die Treppen und Rampen hinauf. Entlang der inneren, fast schwarzen, glatten Außenwand gelangt man auf einer auskragenden Stufe seitlich wieder in das Eingangsfoyer oder nimmt Platz auf der Stufe, um die eindrucksvoll verwunschene Situation der überwucherten Gesteinsformationen im Inneren des hortus conclusus noch länger auf sich wirken zu lassen.

So klar wie die Konzeption des Gebäudes ist auch seine Konstruktion. Die Außenwände und das Dach sind aus Stahlbeton und mit einer glatten Putzschicht überzogen. Eine anthrazitfarbige Polyurethan-Dünnbeschichtung dient als Wetterschutz und Abdichtung der Oberflächen. Sie erinnert dabei an die zum Teil sehr glatten Lavaoberflächen in der Höhle. Die Eingangstüren und das Fenster zum Patio sind scharfkantig mit silbernen Aluminiumzargen gerahmt und die polygonale Glasfassade, als »kontinuierliches Fenster« mit Abstand hinter dem lichtdurchlässigen Gitter der Lavamauer, bildet die thermische Grenze. Im Inneren sind die Böden als glatter Estrich belassen. Die Wände haben eine verputzte Vormauerung als »homöopathische« Innendämmung. Die Decke ist mit Dämmung unterlegt und mit Gipskarton abgehängt. Eine einfache Konstruktion, die sicher auch den Möglichkeiten einer Inselbaustelle geschuldet ist.

Lava, Himmel und Erde

Die Beschränkung der architektonischen Mittel ist sicherlich die Stärke des Objekts. Zum vorgefundenen Archetyp der Höhle kommt nur das Thema der ringförmigen Mauer als Rahmung des Ortes und Referenz an die Umgebung. Im Dazwischen entsteht ungezwungen der Innenraum des Besucherzentrums. Die architektonische Formulierung kann bei klarer und einfacher Geometrie, aller zeitgenössischer Härte und Präzision, auf dem dünnen Grat zwischen Kontrast und Anpassung an diesem Ort bestehen und eine echte Poesie des Ortes schaffen. Sie verliert sich nicht in Sichtbetonkitsch und gebauter Plangrafik anderer zeitgenössischer Vulkanmuseen, wie es beispielsweise in Capelinhos auf der Nachbarinsel Faial geschah.

Ganz selbstverständlich, ruhig und schwer, inmitten der weichen Landschaft liegt es am Hang, vor dem Hintergrund des gewaltigen Vulkans, so als ob es schon immer hier gewesen wäre und lässt einen dabei nicht unberührt. Denn es selbst bleibt völlig unverändert in seiner Dunkelheit, unter dem sich ständig wechselnden Licht der Inselsonne, dessen Stimmung man auf Fotografien nicht wiedergeben kann. Dabei wirkt es einfach besonders, nicht besonders hübsch – einfach schön.

Oder, akademisch ausgedrückt: Die Architektur von Gruta das Torres resultiert aus einem tiefen Verständnis der Landschaft, des Ortes, als notwendige Voraussetzung zum Entwurf einer »sinnvollen Umwelt« im Sinne von Christian Norberg-Schulz (Phänomenologie des Ortes), als Zusammenkommen und dem Zusammenspiel der einzelnen Phänomene (natürlich/artifiziell) und als Übersumme. Eine präzise Widerspiegelung des Genius loci an einer vorgefundenen, beeindruckenden Schnittstelle zwischen Himmel und Erde, am Übergang von vertikal und horizontal, als eine in ihrer Einfachheit komplexe Architektur in einer Vulkanlandschaft von elementarer Schönheit.

db, Di., 2008.11.04

04. November 2008 Matthias Castorph



verknüpfte Bauwerke
Gruta das Torres Centre

Magie der Ortsspuren

(SUBTITLE) Archäologisches Museum und Forschungszentrum Madinat al-Zahra bei Córdoba

Es muss nicht immer der Ort selbst und ein direkter Bezug auf ihn sein, der eine besondere Architektur entstehen lässt. Unweit von Córdoba haben die Architekten in respektvoller Distanz zu den Ausgrabungsstätten Madinat al-Zahra einen Museums- und Forschungsbereich für die Funde und ihre wissenschaftliche Aufbereitung entworfen. Die Struktur der Ausgrabungsstätte, die südliche Landschaft mit ihren Lichtspielen und die sensible Herangehensweise an die Bauaufgabe ließen einen konzentrierten Ort entstehen, der seine Kraft aus den Themen »Entdecken« und »Entdeckt-werden-wollen« bezieht. Eine reduzierte Materialwahl und eine klare Formensprache unterstützen das Konzept und seine besondere Wirkung auf den Besucher.

Es ist nicht viel, was das Museum für die Palaststadt der Omayyaden Madinat al-Zahra bei Córdoba auf den ersten Blick von sich verrät. Doch das Wenige weckt Neugier: Da sind die mannshohen Wände aus weißem Beton, die sich vor der sanft gewellten Mittelgebirgslandschaft der Sierra Morena wegzuducken scheinen. In diesen sind kleine rechteckige Öffnungen ausgespart, die ein abstraktes Muster in die Wand zeichnen. Ungewöhnlich ist auch die Erschließung des Museums. Vom Parkplatz aus führen zwei parallel verlaufende Rampen hinab in das Innere des Gebäudes. Während eine Rampe auf eine weiße Wand zuläuft und verschweigt, was sich dahinter wohl anschließt, endet die andere vor einer großen Tür aus Cortenstahl. Ohnehin der Cortenstahl. Er legt sich als Dachfläche wie eine runzlige Haut auf das weiße Museum und umschließt jene beiden rostroten Kuben, die die niedrigen Museumsmauern überragen und so erahnen lassen, dass hier wohl doch eine größere architektonische Intervention stattgefunden hat.

»Wir mögen die Idee, nicht gleich auf den ersten Blick das ganze Geheimnis eines Hauses zu enthüllen«, beschreibt Enrique Sobejano, der gemeinsam mit seiner Frau Fuensanta Nieto das Madrider Architekturbüro Nieto Sobejano leitet, seine Entwurfshaltung. In Madinat al-Zahra ist ihm das trefflich gelungen. Denn das tief in die Erde eingegrabene Gebäude gibt sich von außen ebenso zurückhaltend wie verlockend, um erst im Inneren seine ganze Wirkung zu entfalten. Wer nämlich die sanft abfallenden Rampen hinabschreitet, der wird mit einem bemerkenswerten Architekturerlebnis belohnt, in dem sich der Zauber der südlichen Landschaft mit dem Geheimnis der tausendjährigen Ruinenstadt Madinat al-Zahra zu einer eindrucksvollen Synthese verbinden.

Transformierte Geschichte

Die Blüte der im Jahr 936 von Abd ar-Rahman III., dem omayyadischen Kalif von Córdoba, gegründeten Palaststadt Medinat al-Zahra dauerte nur kurz. In sanfter Hanglage auf streng orthogonalem Grundriss angelegt, wurde sie bereits 1010 von Berbertruppen wieder zerstört. Was folgte waren 900 Jahre in Vergessenheit, ehe 1911 erste archäologische Grabungen in Madinat al-Zahra stattfanden, dessen Grundfläche bis heute erst zu rund zehn Prozent freigelegt wurde. Um die archäologischen Funde angemessen restaurieren, verwahren aber natürlich auch präsentieren zu können, wurde 1999 ein offener internationaler Wettbewerb ausgelobt, bei dem Nieto Sobejano im Jahr 2000 den 1. Preis errangen. Die Realisierung des zwölf Millionen Euro Projektes dauerte von 2003 bis 2008. Derzeit wird die museale Ausstattung eingebaut, die offizielle Eröffnung des Museums ist für Ende 2008 geplant. Doch schon jetzt zeigt der Bau sein ganz eigenes, unverwechselbares Gesicht. Wer von der höher gelegenen Ausgrabungsstätte in die weite Ebene Córdobas hinabschaut, für den wirkt das rund zehntausend Quadratmeter große Museum wie eine Teppichstruktur, die sich in die Landschaft einwebt. Von Palmen und Wacholder begleitet, breiten sich davor die Mauern der malerischen Ruinenstadt aus. In jahrelanger Sisyphusarbeit setzen dort die Archäologen den in tausende Teile zerbrochenen Bauschmuck der Häuser wieder zusammen. Etliche Wege, Plätze und Patios sind für die Besucher gesperrt, weil hier die Puzzlestücke dieser Fragmente liegen. An einigen Wänden der Ruinenstadt sind die alten Naturstein-Dekorationen bereits wieder angebracht, an anderen hat sich der erbauungszeitliche Wandputz in erdigem Rot und Weiß erhalten.

Konzentrierte Kraft

Es ist charakteristisch für die Architektur von Nieto Sobejano, dass sie in die Gestaltung ihres Museums einfließen lassen, was sie am Ort vorfinden.
Ihre Haltung ist dabei weit entfernt von dem engen formalistischen Korsett architektonischer Kopien. Vielmehr ist es ein inspirierter – und damit zugleich für den Betrachter inspirierender – Übersetzungsprozess, durch den die weiß-rot verputzten mittelalterlichen Wände in weißen Beton und roten Cortenstahl transformiert werden. Und auch der räumliche Dialog der engen Gassen und offenen Patios in Madinat al-Zahra findet sich in der Grundrissstruktur des Museums wieder. Zudem haben es die Madrilenen verstanden, die sinnliche Wirkung der versunkenen Palaststadt auf ihr neues Museum zu übertragen. Das wird bereits im zentralen Foyer am Ende der Eingangsrampe deutlich. Der dunkle Raum mit seiner niedrigen Decke dient nicht nur als Verteiler, von dem es auf der einen Seite zu dem doppelgeschossig eingegrabenen Ausstellungsraum sowie dem Auditorium geht, während sich auf der anderen Seite Bibliothek, Restaurierungswerkstätten und Lagerräume sowie die Büros der wissenschaftlichen Mitarbeiter anschließen. Bereits in diesem Foyer, das sich auf zwei Seiten mit Glasfronten zu einem Patio öffnet, beginnt jenes Spiel mit Licht und Schatten, das den besonderen Zauber des Museums ausmacht. Der Patio entpuppt sich als ein Ort hemmungsloser Südlichkeit, hinterfangen von weißen Betonwänden, an denen sich das seltsame Muster aus kleinen rechteckigen Öffnungen wiederholt. Das Raster des Betonbodens wird seitlich von einem flachen Wasserbecken flankiert, während aus drei rechteckigen Beeten kleine Bäumchen wachsen. So entsteht ein Ort, der ganz in sich selbst ruht, geprägt von formaler Konzentration und Reduktion. Doch so sehr sich dieser Patio zurücknimmt, so ist er eben doch nicht ganz aus der Welt genommen: Einzelne Zweige der Olivenbäume blinzeln über die Mauern und auch die Hügelkuppen der nahen Sierra Morena sind zu sehen. Über allem aber breitet sich das unendliche Blau des spanischen Himmels aus und ergänzt den farblichen Dualismus des Hofes.

Durch enge, labyrinthisch wirkende Flure, die von der Decke natürliches Licht erhalten, gelangt man in einen weiteren Hof – vorbei an Wänden aus Glas, dunklem Irokoholz und weißem Beton. Dieser Patio ist nur ein schmaler Schlauch, der von hohen Wänden eingefasst wird und dessen eigentliche Aufgabe es ist, den angrenzenden Maisonetten der Restaurierungswerkstätten natürliches Licht zu spenden. Doch mit ihm ist Nieto Sobejano ein Ort von geradezu sakraler Aura gelungen, und das, obwohl sie lediglich das bereits bekannte Formen- und Materialvokabular verwenden. Den Höhepunkt dieses Patios bildet eine Cortenstahlwand, die eine der Schmalseiten des Hofes begrenzt und ihn zugleich deutlich überragt. Wie ein mächtiger Altar wächst sie empor und verbindet den Hof mit dem südlichen Blau des Himmels. Unbezwingbar ist der Wunsch, sich in diese raue Wand zu versenken, ihre Strukturen und Abplatzungen mit Blicken und Fingern nachzufahren.

Funktionale Überraschung

Bei aller Poesie der Räume und Materialien, der Referenzen an Ort und Geschichte haben Nieto Sobejano mit der eingegrabenen Teppichstruktur zugleich ein funktionales Museum verwirklicht. Natürlich mit einem Café – das sich zu einem weiteren, kleinen Patio öffnet, zu dem die zweite Eingangsrampe hinabführt.
Die nichtöffentlichen Bereiche des Museums umfassen neben den Restaurierungswerkstätten auch Lagerräume und eine Anlieferung für den schweren Bauschmuck der Ausgrabungsstätte. Dunkle Wände aus Irokoholz verleihen der Bibliothek und den Büros eine gediegene Atmosphäre. Hier endlich erklären sich auch die kleinen Wandöffnungen als Fenster, die die Arbeitsräume gegen die südliche Hitze abschirmen und dennoch ein gefiltertes Licht eindringen lassen. Doch noch einmal weiß der Bau zu überraschen, nämlich mit seinem großen, doppelgeschossigen Ausstellungsraum, den man in diesen Abmessungen kaum in einem Baukörper vermuten würde, der nur knapp mannshoch aus der Erde ragt. Über eine lang gestreckte Rampe verlassen die Besucher diese Museumswelt wieder, um in die Palaststadt der Omayyaden zurückzukehren. Und während sie den Hang emporsteigen, versinkt hinter ihnen das Museum in der Landschaft. So lautstark und häufig wird der Genius loci derzeit von Architekten beschworen, dass man längst misstrauisch geworden ist. Und tatsächlich wird das damit verbundene Versprechen, sich auf Vorgefundenes zu beziehen, Ort und Geschichte aufzunehmen und weiterzudenken, nur sehr selten in der gebauten Wirklichkeit auch eingelöst. Umso mehr weiß das Museum in Madinat al-Zahra zu überzeugen, da es den Bezug zum Ort respektvoll und ohne Platituden aufnimmt und in die Gegenwart übersetzt, indem es den geheimen Geist des Ortes in sich bewahrt.

db, Di., 2008.11.04

04. November 2008 Jürgen Tietz

Bedarf die Architektur narrativer Strategien, um den Orten zu begegnen?

In Weimar führt am Hang gegenüber von Goethes Gartenhaus ein schmaler Pfad zum »Schlangenstein«, der 1787 auf herzoglichen Befehl dem »genius huius loci« gewidmet wurde. Die Klassik bemühte an diesem abgeschirmten Gartenplatz ihr historisches Wissen um römische Rundaltäre, die persönlichen oder örtlichen Schutzgeistern geweiht waren. Mit der Denkmalsetzung in der Parkanlage reagierten die Verantwortlichen weniger auf eine (gestaltete) Besonderheit dieser Stelle, sie schufen sie erst und zeichneten sie expressis verbis aus, um damit die empfindsame Reflektion aller nachfolgenden Gartenbesucher in ihrem Sinne zu lenken.

Die Besinnung auf einen Genius loci, den Geist des Ortes, wird in letzter Zeit wieder häufiger in die Architekturdebatten eingebracht. Die Inflation exzentrischer Signature Architecture, die bedenkenlos weltweit plagiiert wird, und der Überdruss an einer allgegenwärtigen Konsens-Modernität fördern die bisweilen verzweifelt wirkende Orientierungssuche. Doch wie das Beispiel aus Weimar zeigt, ist auf den Genius loci kein Verlass. Er ist, wenn man so will, ein literarisches Produkt, das sich aus persönlicher Anschauung, Erinnerung und eigenem sinnlichen Erleben konstruiert. Ein Genius loci ist nie immer schon da, sondern er wird beschworen und bezeichnet, künstlich, künstlerisch und architektonisch.
Die Beschäftigung mit dem Genius loci ist also ein ganz und gar sensibles und unwägbares Thema. Dies stellte auch der aus dem ehemaligen Architekturforum Tirol hervorgegangene Verein »aut. architektur und tirol « fest, als er im Sommer 2007 hundert Architekten bat, ihren persönlichen Genius loci zu fotografieren und zu kommentieren. Einleitend wiesen die Veranstalter darauf hin, dass immer dann vom Genius loci gesprochen werde, wenn ein Ort »auf eine nicht näher zu beschreibende Weise etwas Anziehendes hat, eine besondere Aura, Atmosphäre, Stimmung, die nicht unbedingt mit Schönheit eines Ortes zu tun haben muss; ein Ort mit einem einzigartigen, ihm innewohnenden Charakter – einer besonderen Ausstrahlung«. Mit dem nicht Beschreibbaren, Atmosphärischen kommt das subjektive Empfinden ins Spiel. Lohnt es sich da überhaupt noch, über den Genius loci in Bezug auf Architektur nachzudenken, zu debattieren? Sind die Diskurse, die sich auf den Genius loci beziehen, nicht zu verschieden, um daraus für die Architektur überhaupt Orientierung ableiten zu können? Ist der Genius loci nicht nur eine individuelle Projektion? Oder eine individuelle Relation zu etwas, das irgendwo vor Ort vorhanden sein soll? Andererseits: Wäre nicht ein Bewusstmachen des individuellen, auch intuitiven Verhaltens zu einem selbst erlebten Ort schon ein Gewinn für die Baukultur? Das Bekenntnis zu subjektivem, sinnlichen Erleben und die Umsetzung in ganz persönliche architektonische Erzählungen, die sich nicht in ein Bild fassen lassen, könnte die Formgebung beflügeln.

Aura, Atmosphäre, Charakter, das waren auch Ende der siebziger Jahre die Stichworte, als Christian Norberg-Schulz von Martin Heideggers Aufsatz »Bauen Wohnen Denken« ausgehend eine Phänomenologie des Raumes versuchte und den Genius loci zum neuen Leitstern der Architekten ausrief. Der Genius loci, so postulierte Norberg, gehe »mit der Identität des Ortes einher«. Seitdem wurde viel über sogenannte Identitäten diskutiert. Dem Genius loci war vor allem in regionalen Bauschulen, allen voran der Tessiner, eine gewisse Nachhaltigkeit beschieden. Mit Aldo Rossi blickte die nachfolgende Generation auf die materielle Geschichte der Stätten und nahm Bezug auf kollektive, kulturelle oder individuelle Erinnerungsbilder.

Aber hat nicht gerade der Kritische Regionalismus und in seinem Fahrwasser der unkritische Provinzialismus dem Gerede vom Genius loci ein schnelles Ende bereitet? Ist der Mythos nicht längst zum marktgängigen Produkt verkommen? Wurde und wird nicht gerade mit der »Identität« als letzter Wahrheit jedes noch so unsinnige
Bauvorhaben zwingend begründet?

Landauf, landab werden die Geister des Ortes beschworen. In der Architektur wie in der Denkmalpflege. Der Genius
loci muss herhalten, um historische Bauplätze neu zu belegen. Mit dem Hinweis auf längst Vergessenes werden entweder vermeintliche Reproduktionen oder Analogien gerechtfertigt.

Seit der Konferenz des Internationalen Denkmalrates ICOMOS im japanischen Nara 1994, die versuchte, den kulturellen Differenzen bezüglich des Bewahrenswerten gerecht zu werden, sind auch hierzulande Strömungen erkennbar, »Authentizität« nicht mehr vorrangig mit materiell Tradiertem zu identifizieren. Der scheidende Bayerische Generalkonservator und spätere Präsident von ICOMOS-International, Michael Petzet, führte 1999 in einem Gespräch mit der Autorin aus: »Authentisch ist nicht nur das Material, sondern ebenso der Entwurf und die Form, dann die Technik, die Nutzung, der historische Ort. Und dann gibt es natürlich noch den authentischen Geist. Der authentische Geist, der fasst Aura und Spur des Denkmals zusammen.«

Vor allem die immer breiter werdende Phalanx der Rekonstruierer argumentiert mit einem ominösen Ortsgeist, der über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte an völlig veränderten Orten überdauere. So mischte sich der ICOMOS-Weltpräsident als Anwalt des Ortsgeistes jüngst ungebührlich in das Wettbewerbsverfahren um die städtebauliche Klärung des Weltkulturerbes Dessau ein, indem er seine Autorität für die Rekonstruktion des Gropius-Meisterhauses einsetzte. Genauso, wie er ein Jahr zuvor en passant mit ein paar gezielt beiläufigen Bemerkungen den Chipperfield-Entwurf für das Entree des Neuen Museums in Berlin torpedierte.

Letztlich geht es bei dieser Art von Geisterbeschwörung nur um Marketingstrategien, das Image einzelner Städte postkartentauglich mit dem Nimbus von Geschichtlichkeit und Permanenz aufzupolieren. Da wird dann auch schon einmal ein störendes, vielstöckiges Schwesternwohnheim aus dem weißen Klassizismustraum herausretuschiert (Frankfurt), der de facto kein patrizisches Umfeld mehr besitzt.

Wenn man sich also auf den Genius loci beruft, tun sich Abgründe divergierender Diskurse auf. Dennoch scheint es kein illegitimes Anliegen, sich den Orten intensiver zu widmen, die durch »Identität, Relation und Geschichte« gekennzeichnet sind, um den weitverbreiteten Nicht-Orten (Marc Audé) genauso zu entgehen wie dem billigen Kitsch.

Auf der Suche nach einem Ansatz, der eine erneute, seriöse Auseinandersetzung mit dem Genius loci rechtfertigt, fielen mir die »Sechs Themen für das nächste Jahrhundert« in die Hand, die der finnische Architekt Juhani Pallasmaa 1994 formulierte. Im Abschnitt vier widmete er sich dem zugegeben schwierigen und vieldeutigen Begriff der Authentizität: »Unabhängig davon, und von dem etwas modischen Klang des Begriffs selbst, möchte ich mich jedoch für die Möglichkeit und Bedeutung der Authentizität in der Architektur stark machen. Authentizität wird oft mit der Vorstellung von künstlerischer Autonomie und Originalität gleichgesetzt.

Ich verstehe unter Authentizität jedoch eher die Eigenschaft des tiefen Verwurzeltseins in den Schichtungen von Kultur. Gefühle und Reaktionen sind in der Welt des Konsums in zunehmendem Maße gesteuert. Wir brauchen daher Werke der Kunst und der Architektur, um die Autonomie der emotionalen Reaktion zu verteidigen. In der Welt des Unauthentischen und der Simulation brauchen wir Inseln der Authentizität, die unsere Reaktionen in autonomer Weise in uns wachsen lassen und es uns ermöglichen, uns mit unseren eigenen Gefühlen zu identifizieren.« Eine solchermaßen verantwortliche, authentische Architektur, die auf einen Ort reagiert und/oder ihn selbst generiert, wäre zweifellos etwas anderes als eine bildliche Entsprechung von etwas bereits Vergangenem und Überlebtem. Noch ein Anliegen Pallasmaas scheint in unseren Kontext zu gehören: die Stille. »Auch große Architektur bewirkt Stille. Das Erfahren eines Gebäudes ist nicht nur eine Frage des Ansehens seiner Räume, Formen und Oberflächen – nein, es ist auch eine Frage des Horchens auf seine charakteristische Stille.«
Wie aber sähe eine zeitgenössische Architektur aus, die sich einem Genius loci verpflichtet fühlt, die Charakter hat, authentisch ist und still? Eine schwierige Frage. Pallasmaa meinte, die Architektur müsse nach dem Lyrischen streben.

Vielleicht reicht es aber, wenn sie statt bildlicher Strategien narrative Verfahren entwickelt, um sinnlich zu fesseln. Wie sähe eine narrative Architektur aus, die nicht geschwätzig ist? Die keinen regionalen Kitsch produziert?

db, Di., 2008.11.04

04. November 2008 Ira Mazzoni

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