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13. Oktober 2017Matthias Castorph
TEC21

Stadtgewebe

Die Arbeit an der Struktur der Stadt gleicht dem Bearbeiten eines Stoffs. Wenn wir Raum verstehen wollen, reicht eine zweidimensionale Betrachtung nicht aus. Theodor Fischers Staffelbauplan von München, ­verstanden als Schnittmuster für ein zu entwickelndes Stadtgewebe, zeigt exemplarisch eine Lösung. Dies prägt den Stadtkörper bis heute.

Die Arbeit an der Struktur der Stadt gleicht dem Bearbeiten eines Stoffs. Wenn wir Raum verstehen wollen, reicht eine zweidimensionale Betrachtung nicht aus. Theodor Fischers Staffelbauplan von München, ­verstanden als Schnittmuster für ein zu entwickelndes Stadtgewebe, zeigt exemplarisch eine Lösung. Dies prägt den Stadtkörper bis heute.

Wenn man über die gebaute Stadt sprechen möchte und sie nicht nur mit funktionalen Parametern erfassen will, stösst man unweigerlich an Grenzen. Das, was eben Stadt ausmacht, lässt sich nicht funktional beschreiben. Es ist die Gleichzeitigkeit vieler relevanter Aspekte, die uns ästhetisch betreffen – Aspekte wie Stimmungen, Atmosphären, Zustände, Fügungen, Brüche, die der gebauten Entwicklung hinterlegte Geschichte und die Geschichten, die sich in der Stadt ereignen und sie in der Vergangenheit geprägt haben.

Wie lässt sich also das wohl komplexeste Thema der Architektur, die ortsbildende Häufung von Architekturen und Behausungen, betrachten und beschreiben? Welche Werkzeuge und Sehweisen können wir anwenden, um sinnvoll über Stadt zu kommunizieren, wenn wir nicht nur Erkenntnisse sammeln, sondern auch ästhetische Entscheidungen und Urteile fällen wollen? Ein probates Mittel scheinen – zumindest für formale Fragen der Stadtbaukunst – morphologische Studien und Beschreibungen sowie Argumentationen mittels Bildern, Allegorien und Metaphern zu sein, um nicht eindeutig messbare Zusammenhänge darzustellen und nachvollziehbar zu machen.

Dieses Denken und Entwerfen in Vorstellungen, Metaphern und Analogien, Modellen, Zeichen, Symbolen und Allegorien, das gerade auch von Rationalisten wie Oswald Mathias Ungers und Aldo Rossi theoretisch hinterlegt wurde, fand 1976 eine konzise Zusammenschau in der Ausstellung «MAN transFORMS» im New Yorker Cooper Hewitt Museum[1], bei der Oswald Mathias Ungers seine morphologische Betrachtungsweise von Stadt anhand von Bildpaaren darlegte: Stadtgrundrisse aller möglichen Orte, Epochen usw., denen er morphologisch passende Metaphern und Allegorien gegenüberstellte.

1982 veröffentlichte er die Zusammenschau, erweitert als Buch, unter dem Titel «City Metaphors», bei denen sich unter den insgesamt 57 Bildpaaren Begriffe finden wie: Ausstrahlung, Fühlungnahme, Verteidigung, Entfaltung, Verdopplung, Schutz, Brennpunkt, Regelmässigkeit, Organismus, Wiederholung, Abschirmung, Umhüllung, Netzwerk, Einförmigkeit, Begegnung, Umschliessung, Zirkulation, Verwirrung, Verkleinerung, Verästelung, Kristallisierung, Labyrinth, Schichtung, Wachstum, Verdichtung und Gewebe.

Ungers schrieb, die Städtebilder seiner persönlichen morphologischen Betrachtungsweise, die in dieser Anthologie gezeigt werden, seien nicht nach Funktionen und messbaren Kriterien analysiert – Methoden, wie sie normalerweise angewandt werden –, sondern auf einem konzeptionellen Niveau interpretiert, was Ideen, Vorstellungen, Metaphern und Analogien zeigen solle. Im morphologischen Sinn begriffen seien die Interpretationen weit offen für subjektive Spekulationen und Transformationen. Anders ausgedrückt zeige es das allgemeine Prinzip, das gleich ist in ungleichen Situationen oder ungleichen Bedingungen.[2]

City Metaphors – Gewebe als Pars pro Toto

Es würde sich lohnen, über jedes dieser einzelnen Paare nachzudenken und die jeweilige Sichtweise von Stadt zu untersuchen. Nehmen wir jedoch als Pars pro Toto das Paar «texture/Gewebe», das auf der einen Seite einen Plan der chinesischen Stadt Canton (heute Guangzhou) von 1665 zeigt und als gegenübergestellte Metapher ein Strickgewebe mit horizontaler Gliederung (Abb. hier und hier). Die breiteren Abstände im Gewebe verweisen morphologisch auf das Strassennetz im alten Plan von Canton – eine Stadt als Grafik, als Stadtplan, als «verarbeitetes Material», geordnet, in Form und Funktion einem Form- bzw. Materialwillen untergeordnet. Es ist ein Gewebe, das sich über die flache Landschaft legt – Stadtgewebe.

Über den konkreten Plan einer alten Stadt und eine einfache metaphorische Gegenüberstellung können wir also Stadt im doppelten Sinn als stofflich betrachten; und wenn man sich an andere Stadtpläne und Karten erinnert, so lässt sich die metaphorische Idee des Stadtgewebes weiterdenken: Wie ist die Struktur, die Textur, die Materialität? Sind die Fäden des Gewebes natürlich oder synthetisch? Wie ist dieses Gewebe entstanden? Ist es aus einem einzigen Garn gestrickt? Ist es gehäkelt oder gewebt? Ein Netz? Gibt es eine Unterscheidung zwischen Faden und Schuss – analog den Haupt- und Nebenstrassen, Achsen und Querbezügen? Geordnete Einheiten, Muster bildend im Gewebe? Oder besteht das Ganze aus zusammengesetzten Stücken, ähnlich einem Patchwork, in Farbe, Textur, Muster unvermittelt vernäht?

Das Gewebe gibt nicht nur Hinweise auf Herstellungsart und Material. Man bemerkt die mögliche Elastizität, Anschmiegsamkeit, unterschiedliche Maschenweiten, die auf Dehnungen zurückgehen, Transparenz, Durchlässigkeit, Verstrickungen. Das Interesse fällt auf die Übergänge, Nähte, Ränder, Muster und Wiederholungen, letztendlich auf die Gesamtkomposition als Raster oder eingewobenes Muster. Wie bei der Betrachtung von Kleidung, bei der das Gewebe, der Stoff die Fläche bildet, interessiert aber eigentlich etwas anderes: der Schnitt, das Zusammenkommen von Körper und Stoff und die entscheidenden Punkte: die Ränder, der Saum, die Nähte und die Übergänge vom einen Stück ins andere.

Mehrwert der Stadt-Gewebe-Metapher

Über diese vielleicht schöngeistige, aber passive Betrachtung des Gewebes hinaus bietet die Stadt-Gewebe-Metapher aber auch einen Mehrwert, um Vorstellungen von der Stadt zu entwickeln. Es sind die Aspekte, die uns bei der Stadtbaukunst und dem städtebaulichen Entwurf im Kern beschäftigen, auch wenn – um in der metaphorischen Sprache zu bleiben – das Stricken und Weben der grossen Stoffe eigentlich die Ausnahme bleibt. Auf die Aufgaben der heutigen Stadtplanung übertragen ist es eher die Frage nach Gewebereparatur, dem Flicken von Löchern, dem Verlängern an den Rändern, dem Weiterstricken an Vorhandenem und der Notwendigkeit, das bestehende Gewebe den aktuellen Erfordernissen anzupassen.

Man wird sich dabei fragen, wann sich eine Reparatur überhaupt noch lohnt. Wie viel kann man vom Alten noch behalten? Ersetzt man wie ein Kunststopfer die Lücke aus dem Kontext heraus, oder nimmt man sie zum Anlass, etwas Neues als offensichtliche Überarbeitung einzuweben? Bleibt der Eingriff unauffällig normal oder wird er heroisch ideal? Das sind Fragen eines kontextuellen Stadtentwurfs, bei dem weniger die Idealstadt als Neugründung relevant ist, die alle Probleme auf einmal lösen will, sondern der an Vorhandenes bewahrend oder weiterentwickelnd anknüpft. Sollte der Saum besser nicht zu eng genäht sein, um noch später ein Stück vom gleichen Stoff herauslassen zu können, ohne gleich etwas anderes annähen zu müssen? Diese Vorstellungen funktionieren immer im Kontext der «schönen» Stadtkerne und des zusammenhängenden Stadtgewebes. Aber wie verhält es sich zum Beispiel im Teppichgewebe der Agglomeration, wenn dort eine Lücke zu schliessen wäre? Nimmt man den Faden der räumlich nichtssagenden umgebenden Typologien auf und affirmiert so das Bestehende? Kann man in der Agglo überhaupt kunststopfen?

Verlassen wir die Agglo und die Gewebemetapher wieder in Richtung Architekturtheorie, so begegnen wir dem «tessuto urbano», einer besonderen Ausprägung des Kontextbegriffs bei Aldo Rossi[3] und Saverio Muratori, die das Verständnis des Stadtgewebes als Grundlage für das Weiterbauen und die Stadtreparatur voraussetzen, die Bestehendes verstehen wollen, um es interpretativ weiterzubauen. Stadtreparatur ist mehr als Flicken.[4]

Können wir Stadträume anhand von 2-D-Darstellungen verstehen?

Es ist das Suchen von Typen im Stadtgewebe und die Feststellung von Permanenz, von dem, was sich im «tessuto urbano» ändert und was über die Zeiten der (Be-)Nutzung, des Tragens bleibt. Dazu wurden in jenen Jahren mit grosser Begeisterung Unmengen von Plänen (vorzugsweise mit Studierenden) gezeichnet und morphologisch an Schwarzplänen die Körnungen der Stadt diskutiert. Grundrisspläne ganzer historischer Städte (Venedig, Rom usw.) entstehen. Angeregt durch die Einflüsse Colin Rowes versuchen wir auch die städtischen Räume in Figur-Grund-Karten zweidimensional, schwarz-weiss zu begreifen. Es ist die Zeit der Wiederentdeckung der alten Stadtpläne, die mit der grossen Faszination an Plänen einhergeht, wie dem alten Stadtgrundriss Roms von Giambattista Nolli (1748), bei dem im Stadtgewebe sogar die öffentlichen und privaten Flächen erkennbar werden (Abb. hier).

Im Lauf der Jahre verschwindet diese Begeisterung für das «tessuto urbano» im Diskurs um Stadt, zurück bleiben aber die Werkzeuge von damals – keine städtebauliche Analyse und kein Wettbewerb, der ohne Schwarzpläne bzw. Figur-Grund-Kartierung durchgeführt werden kann. Eigentlich seltsam, da die zweidimensionale Abbildung in diesen Karten doch nur eingeschränkt Hinweise auf den tatsächlichen, also räumlichen Stadtkörper zulässt, da weder die Topografie noch die Feststellung, ob Wasser oder Land, geschweige denn Gebäudehöhen eindeutig nachvollziehbar wären. Eine sehr hübsche Plangrafik aus Gottvater-Perspektive, die eigentlich nichts aussagt, was für Stadtraum dreidimensional massgebend wäre, ausser der Textur. Diese Art der Darstellung würde allenfalls funktionieren, wenn alle Häuser ähnlich hoch wären und in einer Ebene lägen. Warum verwenden wir also explizit 2-D-Darstellungen, wenn wir Raum verstehen wollen?

Flächen versus Raum

Liegt die Faszination vielleicht immer noch darin, dass wir Stadt, gerade im Hinblick auf die Gewebemetapher, die so nah liegt und viele Aspekte der Stadt anschaulich macht, als Webereien mit Mustern betrachten – und dass uns die Flächen mehr interessieren als das räumliche «Unideale» einer Stadt beim Beobachten auf Augenhöhe? Sind es die abstrakten Bilder und Metaphern, die mehr faszinieren als die räumliche Realität? Oder liegt die Begeisterung für diese Darstellungen letztendlich in den metaphorischen Kartierungen eines «Stoffs», eines Gewebes, das losgelöst vom eigentlichen Körper, wie ein ausgezogenes Kleidungsstück, als Abdruck eines Körpers im Gewebe vor uns liegt? Liegt sie im Moment, wenn wir uns – über das Bild im Stoff – den Körper in unserer Fantasie vorstellen und ihn vielleicht verehren möchten, wie z. B. beim Turiner Grabtuch oder den anthropometrischen Drucken von Yves Klein?

Welche weitere Form der zweidimensionalen Darstellung von Körpern oder eben des Stadtgewebes, das den Körper der Stadt aus dem Plan ablesen lässt, gäbe es denn noch, um abstrakt Stadt wahrnehmen oder sogar planerisch beschreiben zu können? Lässt sich der Schnitt der Stadt in den flächigen Plan als Muster und Bild eines Gewebes übertragen?

Eine schöne und praktikable Möglichkeit bietet hier die Form des «Staffelbauplans», wie ihn Theodor Fischer bereits am Ende des 19. Jahrhunderts mit den Planungen zur Stadtentwicklung in München entwickelte. Ein «synthetischer» Plan, bei dem die Strassen, also die wesentlichen Fäden des Stadtgewebes, dargestellt sind und durch farbige Flächen die gewünschte Dichte (Gebäudehöhe) und die zu wählende Typologie (geschlossene oder offene Bebauung) angegeben werden. Damit wird in diesem Plan die Darstellung eines Stadtkörpers möglich (Fischers Modell ging von einer dichten und hohen Stadtmitte aus, die an den Rändern verflachend in den Landschaftsraum übergehen sollte).

Gleichzeitig zeigt sich in diesem Plan auch seine synthetische Auffassung der Stadtentwicklung und ein tiefes Verständnis eines Stadtgewebes und dessen sinnfälliger Weiterentwicklung. An den bestehenden Rändern der damaligen Stadt wurde im Zuge der Stadterweiterung ab 1893 der Faden aufgenommen und auf den alten Parzellierungen und Strassenführungen weitergestrickt und somit die bestehende Stadt mit den neuen Quartieren verwoben (vgl. TEC21 15/2016). Die Synthese aus dem Zusammenweben von Vorhandenem und Neuem bestand aber auch darin, dass die beiden Haltungen zur Strassenführung, die geschwungene, «malerische Strassenführung» im Sinn eines Camillo Sitte gegenüber der geraden Strassenführung, nicht gegeneinander ausgespielt wurden.[5]

Staffelbauplan als «Schnittmuster»

In Fischers Plan des zu entwickelnden Stadtgewebes zeigt sich ein «Schnittmusterbogen, der beides miteinander zu versöhnen weiss», wie es seiner synthetischen Grundauffassung zur Stadtbaukunst entsprach, indem er Form und Gestalt der Stadt «aus dem breiten Grund der realen Voraussetzungen entwickelte»[6] und es in seiner Einführung zu den sechs Vorträgen zur Stadtbaukunst deutlich formulierte: «(…) so werde ich mich leicht aller dogmatischen Enge enthalten können (…). Ich werde Sie also weder davon zu überzeugen suchen, dass die freie, malerische Form der Stadt das Richtige sei, noch Ihren Glauben an die allein seligmachende Wirkung der Regelmässigkeit zu stärken mich bemühen. Wohl aber will ich versuchen, Ihnen zu zeigen, dass beide Formen, um diese Extreme zunächst einmal festzuhalten, gut und schön sein können, wenn sie aus der Entwicklung notwendig entstanden sind, und dass beide schlecht und leer sein können (…)».[7]


Anmerkungen:
[01] «Man transforms» war die Eröffnungsausstellung im Cooper Hewitt National Museum of Design in New York, 1976. Sie wurde kuratiert von Hans Hollein und Lisa Taylor und enthielt Beiträge von Hans Hollein, Richard Buckminster Fuller, Arata Isozaki, Richard Meier, Ettore Sottsass und Oswald Mathias Ungers.
[02] Oswald Mathias Ungers, «Morphologie City Metaphors», 1982, S. 14–15.
[03] Vgl. Wolfgang Sonne, Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts, 2014, S. 275: «(…) Aldo Rossi kommt der Verdienst zu, durch eine Kritik der funktionalistischen Stadtauffassung, in der sich das Gebaute der Stadt durch die sich stets wandelnden Funktionen verflüssigte – und in seinem Anspruch als künstlerisch Bleibendes gar verflüchtigte –, der Architektur der Stadt wieder eine eigenständige und konstitutive Rolle im Städtebau zugewiesen zu haben. In seinem epochemachenden Buch ‹L’architettura della città›, 1966, unterschied er die Bauten der Stadt in primäre Elemente, die auch in ihrer Materialität erhalten bleiben und die Wohnbebauung, die sich im Lauf der Jahrhunderte materiell verändere, aber geistig – in ihrem Typus – bewahrt bleibe und auch im Entwurf prägend bleiben solle: ‹Aufgrund all dieser Überlegungen können wir die Stadt als eine Architektur deuten, die aus verschiedenen Komponenten, insbesondere den Wohngebieten und den primären Elementen, besteht (…)›.»
[04] Vgl. Zierau, Malfroy «Stadtquartiere vom Webstuhl – wie textile Metaphern ab 1950 die Komplexität der Stadt veranschaulichen», in: «Multiple City: Stadtkonzepte 1908 bis 2008», hrsg. von Sophie Wolfrum und Winfried Nerdinger, 2008.
[05] Gemeint ist hier die krumme Strasse als «Weg des Esels», wie Le Corbusier sie bezeichnete, gegenüber der geraden, «langweiligen», wie es Karl Henrici formulierte. Vgl. dazu Karl Henrici, «Langweilige und kurzweilige Strassen», Erstveröffentlichung in «Deutsche Bauzeitung», Juni 1893, und in «Beiträge zur praktischen Ästhetik im Städtebau», München, 1904. Le Corbusier, «Der Weg der Esel», in Le Corbusier, Städtebau, S. 5, hrsg. von Hans Hildebrandt, 1929.
[06] Theodor Fischer, 1–6 Vorträge über Stadtbaukunst, 1. Vortrag, S. 10, 2. erweiterte Auflage, hrsg. von Matthias Castorph, 2012.
[07] Ebenda S. 10.

TEC21, Fr., 2017.10.13



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|41 Stoff und Raum II – die Arbeit am Textilen

08. April 2016Matthias Castorph
TEC21

Stadtbaukunst heute?

Theodor Fischer prägte als Architekt und Stadtplaner im ausgehenden 19. Jahrhundert das Stadtbild von München massgeblich – und zeigte damit, wie sich städtebauliche Theorien in die Praxis überführen lassen. Auch heute können wir von seiner Herangehensweise lernen.

Theodor Fischer prägte als Architekt und Stadtplaner im ausgehenden 19. Jahrhundert das Stadtbild von München massgeblich – und zeigte damit, wie sich städtebauliche Theorien in die Praxis überführen lassen. Auch heute können wir von seiner Herangehensweise lernen.

Wenn heute der Begriff «Stadt­baukunst» im Raum steht, fällt praktizierenden Architekten und Stadtplanern meist relativ wenig dazu ein, was denn ­diese vergangene «Kunst» für das ­heutige Handeln und Entwerfen der Stadt noch beitragen könnte. «Stadtbaukunst» scheint aus der Zeit gefallen zu sein.

Ihr haftet etwas leicht Skurriles an, wenn man sich erinnert, dass am Ende des 19. Jahrhunderts trefflich über «kurz­weilige und langweilige Strassen» gestritten wurde. Sie  scheint, wenn überhaupt, nur noch als histo­risches Phänomen der Stadtbaugeschichte interessant zu sein.

So steht dann «Stadtbaukunst» für einen «malerischen Städtebau», wie ihn der Wiener Camillo Sitte 1889 in seinem Buch «Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen» im Rückgriff auf die mittel­alterlichen Stadtanlagen (vorzugsweise Italiens) postuliert hatte. Heute wird sie meist verstanden als eine versponnene Gegenposition zur Entwicklung einer technisch effizient organisierten und formal-geometrisch geordneten Stadt, wie sie Reinhard Baumeister und Joseph Stübben seinerzeit propagierten.

Wie sollte «Stadtbaukunst» für aktuelle Planungen etwas beitragen, da sie schon längst von der Moderne überholt wurde, die ihr eine Sicht auf die Stadt unterstellte, die die «tatsächlichen» Bedingungen ausblendet und die Stadt lediglich als «Stadtbild» mit der romantischen Vorstellung von «krummen Strassen» künstlerisch betrachtet wissen möchte? Was bleibt nach der polemischen Kritik und Ablehnung durch die Moderne im 20. Jahrhundert, wenn zum Beispiel Sigfried Giedion artikulierte, Sitte sei ein «Troubadour, der mit seinen mittelalterlichen Liedern das Getöse der modernen Industrie übertönen wollte …», oder wenn Le Corbusier die krumme Strasse als «Weg des Esels» denunzierte? Dabei gingen leider auch inter­essante, undogmatische und pragmatische Überlegungen zur Stadt, ihrer Elemente und deren Protagonisten für ­heute fast verloren.

Es scheint an der Zeit, unter der Oberfläche dieses seltsamen Begriffs zu schürfen und festzu­stellen, was für uns Architekten, Ingenieure und Planende und unser «Handwerk» zur Stadtentwicklung abhanden gekommen ist. Wo sind die Inhalte verschüttet, die dem planerischen Repertoire wieder erschlossen und verfügbar gemacht werden sollten?

Denn Stadtbaukunst ist mehr als ein Camillo Sitte und «malerische Strassen». Auch heute, als räumliche Haltung gegenüber einer ingeniösen und politischen Stadtplanung, könnte sie mehr Anwendung finden, als gemeinhin erinnert wird. Auch wäre es angebracht, dass «Stadtbaukunst» und ihre Vertreter und Ergebnisse nicht nur als architektur­historisches Thema (um das sich vorzugsweise Geisteswissenschaftler kümmern) gesehen werden, sondern als höchst fruchtbares Feld, auch für die zeitgenössische Stadtentwicklung. Wir sollten dieses Terrain zurückgewinnen.

Stadtbaukunst praktisch?

Wenn man die Brille des Historikers ablegt und sich aus freien Stücken mit Stadtbaukunst intensiver und nicht nur aus Sekundärliteratur beschäftigt, so fällt auf, dass etwas ausserhalb des allgemein bekannten theoretischen Fokus der «Stadtbaukunst» die Archi­tektenpersönlichkeit Theodor Fischers steht. Dessen Bauten und vor allem seine städtebaulichen Planungen lohnen den Besuch in München, da sie in situ eine (vom Plan beziehungsweise Foto fast nicht vorstellbare) stadträumliche Qualität entfalten. In ihrer Unaufdring­lichkeit, ihrer zeitlosen Eleganz der städtebaulichen Einheit und trotz ihrer «Selbstverständlichkeit» sind die Strassenzüge und Plätze komplexe räumliche ­Situationen, die auch heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, begeistern und als sichtbare und erfolgreiche Ergebnisse einer richtig verstandenen «Stadtbaukunst» einzuordnen sind.

Theodor Fischer kann daher, auch wenn er heute immer noch etwas in Vergessenheit geraten ist, wohl als der interessanteste und präziseste Vertreter einer frühen, anwendungsbezogenen Stadtbaukunst gelten.

Ein Architekt und Stadtentwerfer, der als Kind seiner Zeit (geprägt von den Thesen Camillo Sittes und Karl Henricis) als Pragmatiker, Denker und Lehrer die komplette Stadtentwicklung Münchens bis zur Millionenstadt im gesamten Massstab räumlich vorbestimmt und geprägt hat. Als Leiter des ab 1893 neu eingerichteten «Stadterweiterungsbureaus» definierte er die massgeblichen Linien und Räume der Stadt München, den Zielen der Ergebnisse des grossen Stadterweiterungswettbewerbs folgend, die bis heute die lebens­werte und manchmal sogar städtische Atmosphäre Münchens bestimmen.

Kern seiner Planungsidee ist dabei die Annahme, dass Stadtplanung und -entwicklung kein zweidimensionales, grafisches oder geometrisches Zeichnen auf dem Plan sind, sondern die planerische, grundsätzliche und undogmatische Entwicklung von städtischen Raumvorstellungen. Diese schaffen die massstäblichen und lebenswerten Orte für die Bewohner, einer einheitlichen Formidee anhängend – wenn also eine Raumvorstellung als grosser, langer Atem vor der Gestaltung der einzelnen Solitäre und Situationen steht. Dies wird besonders relevant, wenn in der Stadtplanung konkret die Frage nach der Qualität des öffentlichen Raums, nach Einheit und nach möglicher Über- und Unterordnung der Stadtbausteine gestellt wird.

Die Handlungsweise Fischers ist auch deshalb (zumindest für München) so relevant, weil sich aktuell Parallelen in der Stadtentwicklung zeigen lassen, die im Kern mit der damaligen Situation Münchens vergleichbar sind: die Probleme eines starken Stadtwachstums durch Zuzug und Bevölkerungswachstum, die Wohnungsfrage (zumindest für Normalverdiener) und die realen Planungszwänge durch überwiegendes Privateigentum an Haus und Grund und die daraus resultierenden Partikularinteressen.

Sechs Vorträge über Stadtbaukunst

«Harter Realismus, Hingabe an das Seiende und Dienst am Wirklichen ist die Aufgabe des Städtebaus.» Mit diesem Satz fasste Theodor Fischer (1926 im «Colleg für Städtebau») seine Haltung zusammen, die sein Handeln bei der Stadterweiterung Münchens und dann in der Ausbildung seiner Studenten als erster Professor für Städtebau an der Technischen Hochschule in München geprägt hatte. Sein undogmatisches und im besten Sinn pragmatisches Verständnis von europäischer Stadt und Städtebau, seine Begeisterung für die Geschichte der Stadt und seine Verweigerung gegenüber formalen Dogmen und simplen Lehrsätzen formuliert er dann 1921 in der übersichtlichen Publikation «Sechs Vorträge über Stadtbaukunst» in direkter und unverblümter Sprache.

Diese «sechs Vorträge über Stadtbaukunst» sind die ausformulierte Zusammenfassung, das «Skript» seiner Vorlesungsreihe, die er als Professor für seine Studenten gehalten hatte. Die Vorlesungen wurden von Lichtbildern und Tafelzeichnungen begleitet, für die sich Theodor Fischer handschriftliche Notizen und ­Skizzen gemacht hatte, die er von Jahr zu Jahr immer wieder neu festhielt. Viele dieser Skizzen sind in der Sammlung des Architekturmuseums der Technischen Universität München erhalten. Sie geben einen Einblick in die Stichwortstruktur und sind Dokumente einer vergangenen Lehrkultur.

Er beleuchtet in seinen Vorträgen die Kernfragen und typischen Problemstellungen des Wohnens, des Verkehrs und des Verhältnisses von Stadt und Natur. Bei deren Lösung im Planungsprozess ist für ihn der «Stadtentwerfer» nicht Ausführungsgehilfe von Politikern, Ökonomen und Ingenieuren, sondern die zentrale Figur. Dabei schmälert er nicht die notwendigen Leistungen der anderen und lehnt es ab, über ihren Sachverstand aus rein formal-ästhetischen Gründen hinwegzugehen, ohne jedoch den Kunstanspruch bei der Planung und Realisierung von Stadt aufzugeben. Theodor Fischer hat dabei keine Berührungsängste vor dem direkten Kontakt von Theorie und Praxis und den alltäglichen Fragen der städtebaulichen Normalität. Für seine Lösungsansätze und deren Erläuterung spielt es keine Rolle, ob ein Beispiel als theoretische Ikone aus der Stadtgeschichte von Priene oder der gebauten Realität der schwäbischen Kleinstadt Reutlingen stammt.

Und so beginnt Theodor Fischer seine Vorträge mit einer These: «Über Stadtbaukunst reden heisst für mich nicht etwa, ästhetische Gesetze des Städtebaus aufstellen. Nichts liegt mir ferner, als in den Ton derer einzustimmen, die da zu sagen pflegen: Die Kunst soll, die Kunst muss. Die Kunst soll und muss nichts, ausser was sie aus sich heraus tut und tun muss, was sie im Zwang der Entwicklung schafft, unabhängig vom Willen des einzelnen, ja auch vom Willen vieler. Ob diese Entwicklung freilich Gesetzen folgt, dem nachzuspüren, verlohnt sich; und erkennen wir solche, so wird auch der Ausführende sich ihrer vernünftigerweise erinnern, wenn er nicht Gefahr laufen will, grosse Umwege zu machen oder sich in Sackgassen zu verlieren …».

Ohne Umwege und Sackgassen: Was ist die Stadt?

Vertiefen wir diese Aspekte exemplarisch an zwei konkreten und heute zumindest räumlich noch existierenden Situationen in München (Abb. S. 34–35). Was wir erkennen, ist die im Wesentlichen geschlossene Be­bauung, die Blockstruktur. Es zeigt sich die Geschlossenheit der räumlichen Wirkung, bei der sich der Blick nicht in der Weite verliert, durch leicht geschwungene Strassen und meist stark gekrümmte Einführungen der Zufahrten zu den Plätzen. Die gekurvte Reihe der Häuser ermöglicht die Sichtbarkeit der einzelnen Fassaden, die ein abwechslungsreiches und gleichzeitig geschlossenes Bild für den Fussgänger und «Flaneur» bilden. Nicht «die Achse» schafft Monumentalität, sondern es entsteht Massstab durch Grössenvergleich. Die Häuser und Freiräume werden komplex in Beziehung gesetzt, in der Summe von Fassaden entsteht ein stadträumliches Ensemble – und, wenn man so möchte, im Ergebnis sogar ein «malerisches» Stadtbild.

Hier wird Stadt nach der Formidee, als komplexe Ordnung der einzelnen Elemente sichtbar. Denn für Theodor Fischer ist die Stadt «eine Anhäufung von menschlichen Wohnungen und Einrichtungen mit der Wirkung einer Einheit». In der Konsequenz begreift er daher die Stadtbaukunst als «Ortsbau», da «Ort» entsteht, wenn bei Gruppen von Häusern, durch Überordnung und Unterordnung der Elemente, durch Ähnlichkeit oder Kontrast der Massen, Einheit erzielt wird. Dies bedeutet auch, dass städtischer Raum als Kontinuum verstanden wird, bei der unterschiedliche Situationen und Quartiere, die aneinandergrenzen, keine Aneinanderreihung solitärer Elemente sind, sondern fugenlos ineinander übergehen und sich dabei wandeln können. So ist auch auf dem Plan und in der Realität der Übergang der streng orthogonal gerasterten (damals bereits bestehenden) Ludwigsvorstadt zum weiterführenden «stadtbaukünstlerischen» Städtebau Fischers unmerklich. Die Strassen werden weitergeführt, verändern sich fliessend und vermeiden subtil den abrupten Wechsel zwischen den städtebaulichen Paradigmen des «geometrischen» und des «räumlichen» Städtebaus im Strassenraum – die Gesamtstadt als Einheit des Verschiedenen.

Der Normalblock – Strasse und Verkehr

Bei der Ordnung und Gliederung der öffentlichen Räume stehen also weniger die «grosse Achse» oder der «geometrische Stadtgrundriss» im Mittelpunkt, sondern eine grundlegende Ordnung, denn «alle menschliche Tätigkeit ordnet, gestaltet die unregelmässige Natur regelmässig (ohne mathematische Exaktheit)».

Diese Tendenz sieht Fischer auch im grundlegenden Element der Stadt, dem Baublock. In seiner elementaren rechteckigen Grundform ist er selbstähnlich «dem Ziegel …, dem Zimmer und dem einzelnen Haus», das ihn bildet. Somit ist die Grundform des städtischen Bau­blocks ein Rechteck (idealerweise im Verhältnis 1: 2, ca. 50 × 100 m, basierend auf den passenden Parzellengrössen der Wohnhäuser), das er aus ganz pragmatischen Gründen (um Strassenfläche zu sparen und um eine bessere Aufteilung mit mehr Parzellen pro Block zu bekommen) dem Quadrat vorzieht. Dies ist für ihn der «Normalblock», den er als Abweichung, als Block mit bogenförmigen Kanten in den fliessenden Linien der Strassenzüge verwendet. Wichtig sind ihm dabei das Halten der Ecken im rechten Winkel und das Verziehen der Krümmung innerhalb der Längsseiten des Blocks.

So bleiben die Strassenkreuzungen und Platz­einmündungen verkehrsgerecht und vermeiden die Spitzwinkligkeit der Blockecken, die neben der verkehrlichen Unübersichtlichkeit auch den im Grundriss der Wohnungen kaum lösbaren Eckgrundriss und den Eckeingang bedingen würden.

Dieser (verzogene) Normalblock bildet das Grundmodul, aus dem sich die Stadt entlang von räumlichen Kanten/Strassen additiv fügen lässt. Er ist nicht mehr das Resultat eines divisiven Teilens der Stadt­fläche im geometrisch-grafischen Städtebau seiner ­Zeitgenossen (Baumeister, Stübben), bei der die Diagonale, als betonte Verkehrsachse, in ein quadratisches Blocksystem geschnitten wird und so die Blockflächen zu Restflächen der Teilung im «Dreieck-System» macht, was für Fischer zum «schlechten Block» führt.

Zur Ehrenrettung von Stübben und Baumeister sollte jedoch hinzugefügt werden, dass das Einführen der Diagonalen im Quadratraster aus Verkehrsgründen durchaus sinnvoll sein kann. Es schafft eine Hierarchisierung der Wegebeziehung, da beim reinen Quadratraster die Verbindung zwischen zwei Orten auf verschiedensten Wegen gleich lang bleibt. Erst durch die Diagonale wird eine Abkürzung möglich, die dann den Verkehr an sich zieht und über die Kreuzung der Diagonalen zum Sternplatz führt, auf dem der Verkehr verteilt werden kann. Jedoch kann auch durch die Methode des «verzogenen» Blocks eine Bogenform generiert und damit Verkehrsströme gelenkt werden.

Durch die undogmatische Handlungsweise Fischers, frei von der Rigidität der Symmetrien und zwanghaften Rechteckformen, entsteht ein zwangloser, entspannter Städtebau von grosser Permanenz, der von strassenseitigen Baulinien definiert wird.

Baulinie und Raum/Parzellierung

Aber was unterscheidet denn die geschwungene Stras­sen­führung Fischers von den angeblich rein künst­lerischen Überlegungen Sittes zum «malerischen»
Städtebau? Es ist die Beziehung der Strassenlinie zur vorgefundenen topografischen Situation und Parzellierung. Fischer fordert, den «alten Strassen nach[zu]gehen und alte Beziehungen [zu] respektieren». Das bedeutet, nach Möglichkeit die vorhandenen Feldwege und Stras­sen aufzunehmen, auszubauen und in das neue Stras­sensystem einzubinden. Dies hat wesentliche Vorteile: So bilden vorgefundene Wegebeziehungen (da sie z. B. als Feldwege praktisch und nicht geometrisch angelegt wurden) die bestehende Topografie ab (die Wege orientieren sich am Verlauf der Höhenlinien) und schaffen so eine selbstverständliche Einbettung der neuen Stadt in das Gelände. Ausserdem wechselt, in einem praktisch vollständig und meist kleinteilig parzellierten Land, am Weg die Parzelle, sodass bei einer Verbreiterung der Wege zu Strassen die einzelne Parzelle nicht zerschnitten, sondern nur vom Rand her belastet wird (Strassenmitte = alte Grundstücksgrenze) und dadurch in der Nutzung weniger gestört wird. Dies bedeutet auch, dass durch die Neuanlage nicht ein einzelner Eigentümer, sondern jeweils die Nachbarn gleichmässig an den ­Rändern der Grundstücke belastet werden, was eine wesentlich höhere Akzeptanz des Eingriffs in das Grundstückseigentum erwarten lässt – ein praktischer Kompromiss auf Grundlage bestehender Verhältnisse.

Dieses Vorgehen stellte für München am Ende des 19. Jahrhunderts eine neuartige, ganzheitliche Konzeption dar (in Verbindung mir einem ausgeklügelten Vertragswesen der städtischen Juristen), die eine grossmassstäbliche Durchsetzung der Stadterweiterung erst ermöglichte. Sie stellte einen wesentlichen Aspekt und eine konstruktive Möglichkeit in der Auseinandersetzung mit privaten Grundstücksbesitzern und Terraingesellschaften dar, da der Stadt selbst kaum Eigentum über die Grundstücke (allenfalls Sperrgrundstücke) und keine praktikablen Möglichkeiten zur zwangsweisen Zusammenlegung und Enteignung von Grundstücken zur Verfügung standen. Die Zusammenarbeit von Architekt und Verwaltungsjuristen stellte eine Kompensation der beschränkten Mittel zum Eingriff in das Privat­eigentum der Grundstücksbesitzer dar, bei der praxisorientierte Kompromisse zur «Stadtbaukunst» führten.

Diese ästhetisch und räumlich motivierte Vorgehensweise, befreit vom Zwang des Schemas, erleichterte die praktikable Umsetzung im Alltag, auch im Sinn eines «harten Realismus» und einer Auseinandersetzung mit dem «Wirklichen», und spiegelte im Ergebnis mit «krummen und geraden» Strassen sowohl die Eigentumsverhältnisse als auch die Ästhetik Sittes.

Räumliche Zonierung/Staffelbauordnung

Für die räumliche, dreidimensionale Ausformulierung des Stadtraums ist jedoch über die Baulinienfestlegung hinaus noch ein weiteres Werkzeug notwendig. Erst durch die «Staffelbauordnung» mit zugehörigem «Staffelbauplan» vollendete Fischer (1904) die funktionale, räumliche und ästhetische Festlegung des Stadtkörpers. Mit neun (später zehn) festgelegten Bebauungstypo­logien in geschlossener bzw. offener Bebauung wurden die Dichte und Höhe für die einzelnen Strassenzüge im Staffelbauplan parzellenübergreifend definiert. Dieses sehr einfache Werkzeug, gepaart mit seiner präzisen räumlichen Vorstellung, formulierte einen Gesamtstadtkörper, der sich über die prinzipielle Auseinander­setzung mit dem öffentlichen bzw. dem Strassenraum definierte.

Es wurde strassenseitig die Staffel festgelegt, und so konnten nicht nur blockweise, sondern stras­senweise die räumlichen Festlegungen entlang der ­Bau­linien getroffen werden. Dies bot die Möglichkeit, z. B. auch hohe, dichte Strassen an den Stadtrand zu führen (Radialstrassen), von denen niedrigere Strassen (Wohnstrassen) abzweigen. So gliederte sich das Bauliniennetz in Strassen für den Verkehr und Strassen für das Wohnen. Diese Dichtefestlegung war grundsätzlich unabhängig von der Entfernung vom Zentrum. So konnten auch vom Zentrum entfernt dezentrale Plätze mit höherer Umgebungsbebauung angelegt und besondere Orte und Plätze mit entsprechend passender Rahmung der Bebauung einfach definiert werden.

Im Ergebnis spiegelt nun der öffentliche Raum einerseits die zugrunde liegende Parzellierung und Topografie wider, andererseits ist es eine Konzeption des Stadtraums, bei der «Mannigfaltigkeit» und dennoch Einheit durch Unter- und Überordnung («nur einer soll herrschen, nichts ist’s mit der Vielherrschaft») erzeugt wird – Stadt als Formidee mit dem Ziel der Geschlossenheit des ästhetischen Eindrucks. Es entstand also aus den Überlegungen der «Stadtbaukunst» ein auch nach heutiger Sicht «hochmoderner» Städtebau mit konsequenter Trennung von Verkehrs- und Wohnstrassen, einer hochdifferenzierten Zonung und Modellierung des Stadtkörpers mit einer geschlossenen Raumästhetik, die immer noch wirksam ist und die Verfügungsgewalt der privaten Eigentümer begrenzt, da die da­maligen Überlegungen bis heute räumlich prägend für die gesamten Stadtquartiere und damit für die ­Einfügung von Neubauten sind.

Permanenz

«Der Wandel im Wesen der Stadt und der Wandel in der Form, sollte man meinen, ist eins; denn wie anders als durch die Erscheinung drückt sich der Wandel des Wesens aus? Wir sehen aber, dass manchmal die alte Hülle, da sie schwerer ist als geistige Dinge, lange noch aushält, wenn schon der Gehalt ein anderer geworden ist.» So formulierte Theodor Fischer (1927 in «Die Stadt»). Und in dieser alten räumlichen Hülle steht München immer noch.

Trotz der massiven Kriegszerstörungen und dem darauf folgenden Wiederaufbau mit «modernen» Gebäuden, der jedoch im Wesentlichen den Baulinien und der Staffelbauordnung (im Gebrauch bis 1979) ­folgte, erkennt man, dass sich durch Fischers «Stadtbaukunst», die sich selbstbewusst der Realität stellt, eine stadträumliche Qualität und Permanenz entwickelt, wenn Baulinie und resultierender Raum weiter existieren, unabhängig von den einzelnen Gebäuden. Da spielt es für die Einheit der Stadt auch keine wesentliche ­Rolle, dass zumeist mediokre Einzelarchitekturen die Stadtmasse bilden.

Es bleibt noch die Frage nach dem Künstlerischen in der «Formidee», für die «Anhäufung von menschlichen Wohnungen und Einrichtungen mit der Wirkung einer Einheit». Und als knappe Antwort die These Theodor Fischers: «Das Künstlerische kann nicht gewollt werden. Es kommt als Gnade, oder es bleibt aus.» 

TEC21, Fr., 2016.04.08



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TEC21 2016|15 Stadtbaukunst

01. Mai 2009Matthias Castorph
db

Zwillingshäuser

Mitten hinein in die vielfältigen Wohnträume einer Eigenheimsiedlung setzten die Architekten zwei Doppelhäuser, die demonstrieren, dass auch unter Berücksichtigung aller Vorgaben Baukultur entstehen kann. Dabei ging es nicht nur darum, den Absichten, die mit dem Bebauungsplan verfolgt werden, zu entsprechen. Die Häuser müssen auch den unterschiedlichen Ansprüchen wechselnder Mieter gerecht werden, die sich aus der nahe gelegenen Ramstein Air Base rekrutieren.

Mitten hinein in die vielfältigen Wohnträume einer Eigenheimsiedlung setzten die Architekten zwei Doppelhäuser, die demonstrieren, dass auch unter Berücksichtigung aller Vorgaben Baukultur entstehen kann. Dabei ging es nicht nur darum, den Absichten, die mit dem Bebauungsplan verfolgt werden, zu entsprechen. Die Häuser müssen auch den unterschiedlichen Ansprüchen wechselnder Mieter gerecht werden, die sich aus der nahe gelegenen Ramstein Air Base rekrutieren.

»Auch die beste Gestaltung der einzelnen Bauformen […] kann nichts frommen, wenn die große Form, die sie alle zusammenfasst, unzweckmäßig und hässlich ist. […] Umgekehrt ist es natürlich auch nicht zu vergessen, dass selbst die besten Bebauungspläne nichts frommen, wenn die Formen der Bebauung ihrem Sinn stracks entgegenlaufen und die jämmerlichen Formen unsrer heutigen Bauerei jeder Baugruppe ihren Stempel aufdrücken.«
Diese Feststellung von Paul Schultze-Naumburg hat auch nach über hundert Jahren noch Aktualität, wenn man die gebaute Realität in den Wohnsiedlungen in der Agglomeration betrachtet. Denn an der Fragestellung, wie Gesamtqualität von Siedlungen entstehen kann, in gegenseitiger Abhängigkeit von Einzelinteressen und öffentlichem Willen, individueller Architektur und Bebauungsplan, hat sich bis heute nichts geändert und lässt sich in jedem Neubaugebiet nachvollziehen.

Üblichkeitsbauten und Normalhausparadox

Die Wohnsiedlung, die in den letzten zehn Jahren am Dorfrand des westpfälzischen Rodenbach, einem Vorort von Kaiserslautern, entstand, besteht aus Einfamilien- und Doppelhäusern, die vorrangig an amerikanische Militärangehörige der nahe gelegenen Ramstein Air Base vermietet werden. Ein qualifizierter Bebauungsplan mit Gestaltungssatzung regelt die Genehmigungsfähigkeit. Die mediokre Gesamterscheinung des Ortsteils summiert sich aus den bunten Üblichkeitsbauten, mit ihren landläufig immergleichen formalen Ausblühungen der Erker, Gauben, Wintergärten, Tonnendächer, Säulenportale und den öden Vorgärten an den Wohnstraßen.
Bemerkenswert sind nur zwei Einfamilienhäuser in hellen Grautönen, die zwischen den anderen Bauten an der Südgrenze des Baugebietes stehen und durch ihre relative Zurückhaltung auffallen. Wie Zwillinge, baugleich, lediglich horizontal gespiegelt, markieren sie an den Abzweigungen, die hangaufwärts ins Neubaugebiet führen, die Straßenecken.

Die beiden Satteldachhäuser zeigen sich zum Hang hin traufständig, hangabwärts zweigeschossig, mit großen Öffnungen, bergwärts eingeschossig, mit kleinen Fenstern, die die Nebenräume belichten. Der Gebäudetyp ist für die Situation sinnfällig, die Aufenthaltsräume sind nach Süden hin ausgerichtet und die Erschließung sowie die Bäder und die Küche zum Hang hin nach Norden in einer schmalen Nebenraumzone. Die drei Individualräume im Obergeschoss sind nutzungsneutral geschnitten, das lang gestreckte Wohn- und Esszimmer im Erdgeschoss beansprucht die ganze Hausbreite und ist dreiseitig belichtet. Davor liegt über die gesamte Hausbreite eine ¬Veranda, die über die in den Hang eingeschnittene Einfahrt der im Keller liegenden Garage auskragt. Die hellen Markisen können die gesamte Veranda schließen und schaffen so einen sommerlichen Zusatzraum, der das schmale Wohnzimmer ideal erweitert. Auch Konstruktion und Materialität sind der Bauaufgabe und dem Umfeld angemessen: Betondecken und verputzte Ziegelwände mit Wärmedämmverbundsystem, das die Anforderungen der EnEV erfüllt. Graue Dachsteine sowie Holzfenster und einfache, braunschwarz gestrichene Stabgeländer ergeben im Wesentlichen das Bild eines »normalen« Hauses.

Der darüber hinausgehende formale Anspruch der Architekten zeigt sich in der subtraktiven Verformung des Baukörpers auf der Giebel- und rückwärtigen Eingangsseite. Statt additiver Vordächer und Vorbauten ergibt sich durch das skulpturale, winkelförmige Einziehen des Baukörpers die lang gestreckte Vorzone zum Hauseingang, in die auch die außen liegende Keller- und Garagentreppe mündet. Die Schnittflächen sind an Wand und Decke heller abgetönt und verstärken so die räumliche Wirkung. Im Gesamten eine ruhige und nachvollziehbare Architektur, die auf Nutzung, Lage und Budget zugeschnitten ist.

Die besondere Qualität liegt in der Selbstverständlichkeit, mit der auf die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen reagiert wird: Man verkünstelt sich nicht in ambitionierten Details und gestalterischen Dogmen, sondern baut konventionelle »Normallösungen« wie zum Beispiel eine knapp vorgehängte Regenrinne, die den Dachrand klar akzentuiert. Eine Gestaltung, die nicht versucht, notwendige Bauteile mit hohem konstruktivem Aufwand und Schadensrisiko zu verbergen, sondern gestalterisch zu bewältigen. Man fragt sich, wenn man die Nachbarschaft betrachtet, warum dieses anscheinend so unspektakuläre Vorgehen offensichtlich der Sonderfall ist. Warum ist das Normale das Besondere?

Annahme

Warum entstand hier in den beiden Einzelgebäuden Qualität, während dies bei den Bauten der Umgebung, die identische Anforderungen an Gebrauchsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit haben, offensichtlich nicht der Fall ist? Am Bebauungsplan kann es wohl nicht liegen, da doch alle Häuser im Neubaugebiet den gleichen Festsetzungen, die klar und nachvollziehbar formuliert sind, unterliegen. Wenige Festsetzungen regeln die Nutzung der Grundstücke (Bauraum, Wandhöhe und Geschossfläche), und die in den B-Plan integrierte Gestaltungssatzung reglementiert im Rahmen der gesetzgeberischen Möglichkeiten die Gestaltung der Dächer, Fassaden, Anbauten und Nebenanlagen.

Der Grund dafür ist, dass Bayer | Uhrig die Bedingungen des Bebauungsplans einfach angenommen haben. Ganz ohne Befreiungen, ohne ironische Reflexion der Festsetzungen und ohne die baurechtlichen Möglichkeiten bis zum Letzten auszuschöpfen, haben sie den Bebauungsplan als abstrakten Kontext und Möglichkeitsraum akzeptiert und im Freistellungsverfahren gebaut.
Denn wie will man sonst an einem Ort Hinweise für relevante Entwurfsentscheidungen bekommen, wenn Geschichte, Landschaft, Nutzung oder besondere Lebensweise im Kontext der überplanten Zersiedelungsflächen der Vorstadt fehlen, die dem Entwurf Impulse geben können?

Die Architekten verfolgen eine an sich sehr nahe liegende Strategie, die allgemein jedoch in Vergessenheit geraten zu sein scheint: einen Bebauungsplan als das anzunehmen, was er ist; eine möglichst gerechte wirtschaftliche Verteilung von Baurecht gepaart mit einer Gestaltungssatzung, die die wildesten Ausblühungen vermeiden will, und darin ein Haus entwerfen, das in der Alltäglichkeit bestehen kann. So einfach könnte es sein, auch im Unterschied zu den Planern, die sich in ihrer ambitionierten kreativen Freiheit eingeschränkt fühlen und märtyrerhaft, von Juristen unterstützt, in Auseinandersetzungen mit den Behörden für die in ihren Augen allein selig machende »Befreiungsarchitektur« der spektakulären Einzelbauten kämpfen.

Selbsterfüllende Prophezeiungen

In der Nachbarschaft führt das Prinzip der Grundflächenarithmetik dazu, dass sich Baukörper nicht nach architektonischen Gesichtspunkten entwickeln, sondern aus Gründen der Flächenmaximierung in alle Richtungen verformen. Im Bebauungsplan benannte Einschränkungen für Bauelemente (Gauben, Zwerchgiebel, Vor- und Rücksprünge), kommen anscheinend allein schon ihrer Erwähnung wegen reflexhaft zur Anwendung. Gestaltfestsetzungen als architektonische Musterbücher des 21. Jahrhunderts?
Vielleicht sind die ausufernden Bauformen mit den formalen Ausblühungen auch in der Haltung begründet, man müsse so bauen, wie es sich ein zukünftiger Nutzer vielleicht wünschen könnte – selbsterfüllende Prophezeiungen?

Normalhaus

Erwartungsbildern lassen sich die Zwillingshäuser in Rodenbach nicht so leicht zuordnen. Ihre Erscheinung beziehen sie aus einfachen, modernen architektonischen Operationen, wie zum Beispiel der volumetrischen Verformung des Hauskörpers oder dem Ablösen des Gebäudes vom Gelände sowie der großzügigen Verteilung der notwendigen Öffnungen – eine an sich bild- und methapherfreie Architektursprache. Es ist eine Architektur entstanden, die gerade ohne die heute gerne in der Fachpresse und von den Architekten evozierten Bilder auskommen kann und sie nicht für ihre Legitimation benötigt. Da ist es eigentlich unnötig, darüber zu spekulieren, ob man die Veranda als Anklang an den Porch eines Südstaatenhauses und die drei Fenster im Obergeschoss als die drei Dachgauben der Heimstatt der Waltons interpretieren möchte oder bei den Außenanlagen vielleicht ungewollt an Cézannes Bahndurchstich erinnert wird.

So stehen die beiden Häuser wie selbstverständlich entlang der Straße, die aus dem Dorf herausführt; spiegeln akzentuiert Elemente der im Ort vorhandenen dörflichen Alltagsbauten und zeigen, wie einfach es eigentlich trotz aller Zwänge sein könnte zu bauen, ohne auf architektonischen Anspruch zu verzichten. Da fügt es sich, dass man sich die Bauplätze an verschiedenen Ecken im Baugebiet mit gleicher Ausrichtung und Hangneigung geschickt aussuchen konnte – nicht nur um Zwillingshäuser als städtebaulichen Akzent in die heterogene Umgebung einzustreuen – sondern auch ganz pragmatisch, um einen Entwurf zweimal – einfach gespiegelt – verwenden zu können.

db, Fr., 2009.05.01



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Zwillingshäuser in Rodenbach



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db 2009|05 Bebauungsplankonform

04. November 2008Matthias Castorph
db

Der Eingang zum Mittelpunkt der Erde

Vor knapp drei Jahren eröffnet, ist das Besucherzentrum auf der Azoreninsel ein Ort, dessen Faszination man sich nur schwer entziehen kann. Gigantische Kräfte aus dem Inneren der Erde, eine rau-ursprüngliche weite Landschaft und das schnell wechselnde Lichtspiel der besonderen Wetterverhältnisse bilden die Kulisse, in die sich das Gebäude als Schnittstelle einfügt und die Besonderheit des Gesamtschauspiels erlebbar werden lässt. Nur ein Besuch vor Ort kann dies allerdings wirklich vermitteln.

Vor knapp drei Jahren eröffnet, ist das Besucherzentrum auf der Azoreninsel ein Ort, dessen Faszination man sich nur schwer entziehen kann. Gigantische Kräfte aus dem Inneren der Erde, eine rau-ursprüngliche weite Landschaft und das schnell wechselnde Lichtspiel der besonderen Wetterverhältnisse bilden die Kulisse, in die sich das Gebäude als Schnittstelle einfügt und die Besonderheit des Gesamtschauspiels erlebbar werden lässt. Nur ein Besuch vor Ort kann dies allerdings wirklich vermitteln.

Reist man über den Atlantik nach Pico, einer der zentralen Inseln der Azoren, erhebt sich schon von Weitem die imposante Silhouette des Vulkans Pico Alto, dem die Insel auch ihren Namen verdankt. Fast 1700 Kilometer vom vom portugiesischen Festland entfernt, ist er mit 2351 Metern zudem der höchste Berg des Landes. Der Vulkankegel ist ein beliebtes Ziel von Wanderern, aber man kann den Vulkan nicht nur von oben erleben, sondern auch von innen, zumindest in Teilen, denn unter der Oberfläche der Insel erstrecken sich kilometerlang seine Ausläufer, Vulkanhöhlen, sogenannte Lavaröhren, die an einigen Stellen die Oberfläche aufbrechen und so die im Innern schlummernden Kräfte elementar spürbar werden lassen.

Sie entstanden während früherer Vulkaneruptionen: Der an der Oberfläche bereits zu einer starren Kruste erhärtete Lavastrom bildete eine thermische Isolierung, so dass der heißflüssige Gesteinsstrom in den darunter liegenden Kanälen thermisch isoliert wurde und noch kilometerweit vom ursprünglichen Eruptionsherd entfernt weiterfließen konnte. Nach dem Versiegen verblieben die Lavaröhren als Hohlräume. An ihren Oberflächen lässt sich der Lavastrom noch heute unmittelbar ablesen, sei es als hochglänzende, glatte Formationen ehemals schnell fließender oder als biskuitähnliche Erstarrungen zähfließender Lava.

Mit etwa fünftausend Metern Länge sind die vulkanischen Höhlen der »Gruta das Torres« nicht nur die längsten der Azoren, sondern zählen weltweit zu den längsten. Den Zugang markieren zwei nahe beieinander liegende Öffnungen, die durch den Einsturz der spröden Lavakruste an der Höhlendecke entstanden.

Gruta das Torres – Höhle der Türme

Die »Gruta das Torres« wurde erst 1990 entdeckt. Nachdem man sich entschieden hatte, die Höhle als Touristenattraktion öffentlich zugänglich zu machen und sie 2004 als »Regional Natural Monument« eingestuft wurde, konnte bereits 2005 das Besucherzentrum eröffnen. So wurde zum einen dieses Naturphänomen touristisch erlebbar, zum anderen durch den Neubau der fragile und einsturzgefährdete Höhleneingang vor Vandalismus und Beschädigungen geschützt.

Fast sechstausend Besucher informieren sich seitdem jährlich während der Sommermonate im Besucherzentrum über die Entstehungsgeschichte der vulkanischen Insel und ihrer Lavahöhlen und können anschließend von dort aus – mit Helm und Grubenlampem ausgestattet – einen Teil des Röhrensystems besichtigen.

SAMI:arquitectos (Ines Vieira da Silva und Miguel Vieira) bekamen als junges Architekturbüro aus Setubal bei Lissabon den Auftrag, dieses sehr spezielle Besucherzentrum auf Pico zu entwerfen. Während ihrer zweijährigen Tätigkeit in den Jahren von 2002 bis 2004 bei der Verwaltungsbehörde hatten sie schon auf der Insel gelebt und unter anderem an der Vorbereitung der Eintragung der Weinanbaugebiete unterhalb des Pico zum Weltkulturerbe der Unesco mitgearbeitet. In dieser Zeit, vor dem Bau des Besucherzentrums, konnten sie beispielsweise bei der Bauberatung der Inselbewohner sowie an kleineren öffentlichen Projekten und Planungsprozessen professionelle Erfahrungen und Einblicke auf Pico Island sammeln und durch die intensive Auseinandersetzung mit der Insel auch ein sehr persönliches Verhältnis zum Ort und zu der unvergleichlichen Landschaft entwickeln.

Die Schwierigkeit der Aufgabe lag weniger im minimalen Budget oder im Raumprogramm, sondern vor allem in der Fragestellung, wie man diesem grandiosen Naturschauspiel noch etwas hinzufügen oder es architektonisch akzentuieren könnte. Sie entschlossen sich für einen minimalen, aus der Ferne fast unsichtbaren Eingriff in die landschaftliche Situation, der das Vorgefundene kongenial aufnimmt, sich einpasst und trotzdem eine selbstbewusste architektonische Sprache spricht. Ein Kleinod, das als erster Baustein der nun folgenden Projekte von SAMI:arquitectos auf der Insel noch einiges erwarten und die Insel auch als Reiseziel für zeitgenössische Architektur interessant werden lässt. So bauen sie momentan zwei Einfamilienhäuser, und es entstand ein Konzept für ein vielversprechendes Ferienresort, das vielleicht in den nächsten Jahren verwirklicht werden kann. Das von ihnen ebenfalls entworfene Informationszentrum zum Weinbau auf Pico als Teil eines Freilichtmuseums, ein Umbau eines landwirtschaftlichen Bestandsgebäudes, wird nächstes Jahr fertiggestellt.

Besucherzentrum

Nähert man sich dem Besucherzentrum, erkennt man aus der Ferne lediglich eine Mauer aus großformatigen Lavabrocken. Sie ist an die in der Umgebung aufgeschichteten Lavastein-Mauern angeglichen, die als orthogonale Schutzmauern um Wingerts und halbkreisförmig um Feigenbäume errichtet wurden und so seit Jahrhunderten die Anbauflächen vor Wind und Seewasser schützen. Diese besondere Art des Weinbaus auf den Lavafeldern ist seit 2004 ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.

Das Vorbild wurde im Neubau in der Größe etwas skaliert – von etwa 1,5 Metern auf 3,5 Meter – und die Einfassung locker spiralförmig um die zwei natürlichen »Oberlichter« der Vulkanhöhle gelegt. Die beiden Enden der Einfassung bilden den Zwischenraum für das Eingangsgebäude, das hinter der Mauer vollständig verschwindet. Lediglich die Eingangsfassade im Zwischenraum, mit ihrer glatten Oberfläche akzentuiert den Eingang, der mit einem Faltklappladen über die Wintermonate hermetisch geschlossen werden kann. Im Bereich der Außenwand des Hauses wurden die Steine so aufgeschichtet, dass sie ein kontinuierliches, lichtdurchlässiges Steingitter bilden, das die Belichtung der Innenräume ermöglicht, ohne die Erscheinung der geschlossenen Wand aufzulösen.

Das Gebäude als Weg

Hinter dem Eingangsportal liegt ein kleiner Patio mit einem quadratischen Wasserbecken. Ein großes Panoramfenster ermöglicht einen Blick in den Vorraum des eigentlichen Gebäudes. Im Inneren führt der Weg entlang der Außenmauer durch das Foyer, dessen Vorbereich mit Kassentheke, Backoffice und Sanitäranlagen eine Stufe höher liegt und so die räumliche Wirkung der radialen Erschließung noch verstärkt.

Am Ende des Ganges weitet sich der Weg zu einem kleinen Auditorium, wo man nach einem kurzen Einführungsfilm, der auf das Erlebnis der Höhle vorbereitet – ohne die reale Steigerung vorwegzunehmen – mit Helm und Grubenlampe ausgestattet wird, da im Vulkantunnel keine Beleuchtung eingebaut wurde, um den ursprünglichen Charakter zu erhalten. Sodann verlässt man das Gebäude und nimmt von einem kleinen Plateau den Weg in die Unterwelt. Weiter steigt man über eine Rampe und eine Treppe aus Lavastein dem Profil des Höhlenbodens folgend durch die erste Deckenöffnung hinunter, geht unter dem zweiten Oberlicht hindurch und ist nun inmitten der Lavahöhle, auf deren erstarrter Lava die ersten Meter des Wegs noch mit einem vom Boden abgehobenen Laufsteg baulich markiert sind. Danach ist man allein in der Dunkelheit und erkennt fragmentarisch, im Lichtkegel der Grubenlampe, an der Decke die grandiosen Stalagmiten und tropfenförmigen Oberflächen, die sich im geschmolzenen Gestein gebildet haben – und fühlt sich im Eingang zum Mittelpunkt der Erde.
Der Weg zurück führt in umgekehrter Reihenfolge die Treppen und Rampen hinauf. Entlang der inneren, fast schwarzen, glatten Außenwand gelangt man auf einer auskragenden Stufe seitlich wieder in das Eingangsfoyer oder nimmt Platz auf der Stufe, um die eindrucksvoll verwunschene Situation der überwucherten Gesteinsformationen im Inneren des hortus conclusus noch länger auf sich wirken zu lassen.

So klar wie die Konzeption des Gebäudes ist auch seine Konstruktion. Die Außenwände und das Dach sind aus Stahlbeton und mit einer glatten Putzschicht überzogen. Eine anthrazitfarbige Polyurethan-Dünnbeschichtung dient als Wetterschutz und Abdichtung der Oberflächen. Sie erinnert dabei an die zum Teil sehr glatten Lavaoberflächen in der Höhle. Die Eingangstüren und das Fenster zum Patio sind scharfkantig mit silbernen Aluminiumzargen gerahmt und die polygonale Glasfassade, als »kontinuierliches Fenster« mit Abstand hinter dem lichtdurchlässigen Gitter der Lavamauer, bildet die thermische Grenze. Im Inneren sind die Böden als glatter Estrich belassen. Die Wände haben eine verputzte Vormauerung als »homöopathische« Innendämmung. Die Decke ist mit Dämmung unterlegt und mit Gipskarton abgehängt. Eine einfache Konstruktion, die sicher auch den Möglichkeiten einer Inselbaustelle geschuldet ist.

Lava, Himmel und Erde

Die Beschränkung der architektonischen Mittel ist sicherlich die Stärke des Objekts. Zum vorgefundenen Archetyp der Höhle kommt nur das Thema der ringförmigen Mauer als Rahmung des Ortes und Referenz an die Umgebung. Im Dazwischen entsteht ungezwungen der Innenraum des Besucherzentrums. Die architektonische Formulierung kann bei klarer und einfacher Geometrie, aller zeitgenössischer Härte und Präzision, auf dem dünnen Grat zwischen Kontrast und Anpassung an diesem Ort bestehen und eine echte Poesie des Ortes schaffen. Sie verliert sich nicht in Sichtbetonkitsch und gebauter Plangrafik anderer zeitgenössischer Vulkanmuseen, wie es beispielsweise in Capelinhos auf der Nachbarinsel Faial geschah.

Ganz selbstverständlich, ruhig und schwer, inmitten der weichen Landschaft liegt es am Hang, vor dem Hintergrund des gewaltigen Vulkans, so als ob es schon immer hier gewesen wäre und lässt einen dabei nicht unberührt. Denn es selbst bleibt völlig unverändert in seiner Dunkelheit, unter dem sich ständig wechselnden Licht der Inselsonne, dessen Stimmung man auf Fotografien nicht wiedergeben kann. Dabei wirkt es einfach besonders, nicht besonders hübsch – einfach schön.

Oder, akademisch ausgedrückt: Die Architektur von Gruta das Torres resultiert aus einem tiefen Verständnis der Landschaft, des Ortes, als notwendige Voraussetzung zum Entwurf einer »sinnvollen Umwelt« im Sinne von Christian Norberg-Schulz (Phänomenologie des Ortes), als Zusammenkommen und dem Zusammenspiel der einzelnen Phänomene (natürlich/artifiziell) und als Übersumme. Eine präzise Widerspiegelung des Genius loci an einer vorgefundenen, beeindruckenden Schnittstelle zwischen Himmel und Erde, am Übergang von vertikal und horizontal, als eine in ihrer Einfachheit komplexe Architektur in einer Vulkanlandschaft von elementarer Schönheit.

db, Di., 2008.11.04



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db 2008|11 Genius Loci

Presseschau 12

13. Oktober 2017Matthias Castorph
TEC21

Stadtgewebe

Die Arbeit an der Struktur der Stadt gleicht dem Bearbeiten eines Stoffs. Wenn wir Raum verstehen wollen, reicht eine zweidimensionale Betrachtung nicht aus. Theodor Fischers Staffelbauplan von München, ­verstanden als Schnittmuster für ein zu entwickelndes Stadtgewebe, zeigt exemplarisch eine Lösung. Dies prägt den Stadtkörper bis heute.

Die Arbeit an der Struktur der Stadt gleicht dem Bearbeiten eines Stoffs. Wenn wir Raum verstehen wollen, reicht eine zweidimensionale Betrachtung nicht aus. Theodor Fischers Staffelbauplan von München, ­verstanden als Schnittmuster für ein zu entwickelndes Stadtgewebe, zeigt exemplarisch eine Lösung. Dies prägt den Stadtkörper bis heute.

Wenn man über die gebaute Stadt sprechen möchte und sie nicht nur mit funktionalen Parametern erfassen will, stösst man unweigerlich an Grenzen. Das, was eben Stadt ausmacht, lässt sich nicht funktional beschreiben. Es ist die Gleichzeitigkeit vieler relevanter Aspekte, die uns ästhetisch betreffen – Aspekte wie Stimmungen, Atmosphären, Zustände, Fügungen, Brüche, die der gebauten Entwicklung hinterlegte Geschichte und die Geschichten, die sich in der Stadt ereignen und sie in der Vergangenheit geprägt haben.

Wie lässt sich also das wohl komplexeste Thema der Architektur, die ortsbildende Häufung von Architekturen und Behausungen, betrachten und beschreiben? Welche Werkzeuge und Sehweisen können wir anwenden, um sinnvoll über Stadt zu kommunizieren, wenn wir nicht nur Erkenntnisse sammeln, sondern auch ästhetische Entscheidungen und Urteile fällen wollen? Ein probates Mittel scheinen – zumindest für formale Fragen der Stadtbaukunst – morphologische Studien und Beschreibungen sowie Argumentationen mittels Bildern, Allegorien und Metaphern zu sein, um nicht eindeutig messbare Zusammenhänge darzustellen und nachvollziehbar zu machen.

Dieses Denken und Entwerfen in Vorstellungen, Metaphern und Analogien, Modellen, Zeichen, Symbolen und Allegorien, das gerade auch von Rationalisten wie Oswald Mathias Ungers und Aldo Rossi theoretisch hinterlegt wurde, fand 1976 eine konzise Zusammenschau in der Ausstellung «MAN transFORMS» im New Yorker Cooper Hewitt Museum[1], bei der Oswald Mathias Ungers seine morphologische Betrachtungsweise von Stadt anhand von Bildpaaren darlegte: Stadtgrundrisse aller möglichen Orte, Epochen usw., denen er morphologisch passende Metaphern und Allegorien gegenüberstellte.

1982 veröffentlichte er die Zusammenschau, erweitert als Buch, unter dem Titel «City Metaphors», bei denen sich unter den insgesamt 57 Bildpaaren Begriffe finden wie: Ausstrahlung, Fühlungnahme, Verteidigung, Entfaltung, Verdopplung, Schutz, Brennpunkt, Regelmässigkeit, Organismus, Wiederholung, Abschirmung, Umhüllung, Netzwerk, Einförmigkeit, Begegnung, Umschliessung, Zirkulation, Verwirrung, Verkleinerung, Verästelung, Kristallisierung, Labyrinth, Schichtung, Wachstum, Verdichtung und Gewebe.

Ungers schrieb, die Städtebilder seiner persönlichen morphologischen Betrachtungsweise, die in dieser Anthologie gezeigt werden, seien nicht nach Funktionen und messbaren Kriterien analysiert – Methoden, wie sie normalerweise angewandt werden –, sondern auf einem konzeptionellen Niveau interpretiert, was Ideen, Vorstellungen, Metaphern und Analogien zeigen solle. Im morphologischen Sinn begriffen seien die Interpretationen weit offen für subjektive Spekulationen und Transformationen. Anders ausgedrückt zeige es das allgemeine Prinzip, das gleich ist in ungleichen Situationen oder ungleichen Bedingungen.[2]

City Metaphors – Gewebe als Pars pro Toto

Es würde sich lohnen, über jedes dieser einzelnen Paare nachzudenken und die jeweilige Sichtweise von Stadt zu untersuchen. Nehmen wir jedoch als Pars pro Toto das Paar «texture/Gewebe», das auf der einen Seite einen Plan der chinesischen Stadt Canton (heute Guangzhou) von 1665 zeigt und als gegenübergestellte Metapher ein Strickgewebe mit horizontaler Gliederung (Abb. hier und hier). Die breiteren Abstände im Gewebe verweisen morphologisch auf das Strassennetz im alten Plan von Canton – eine Stadt als Grafik, als Stadtplan, als «verarbeitetes Material», geordnet, in Form und Funktion einem Form- bzw. Materialwillen untergeordnet. Es ist ein Gewebe, das sich über die flache Landschaft legt – Stadtgewebe.

Über den konkreten Plan einer alten Stadt und eine einfache metaphorische Gegenüberstellung können wir also Stadt im doppelten Sinn als stofflich betrachten; und wenn man sich an andere Stadtpläne und Karten erinnert, so lässt sich die metaphorische Idee des Stadtgewebes weiterdenken: Wie ist die Struktur, die Textur, die Materialität? Sind die Fäden des Gewebes natürlich oder synthetisch? Wie ist dieses Gewebe entstanden? Ist es aus einem einzigen Garn gestrickt? Ist es gehäkelt oder gewebt? Ein Netz? Gibt es eine Unterscheidung zwischen Faden und Schuss – analog den Haupt- und Nebenstrassen, Achsen und Querbezügen? Geordnete Einheiten, Muster bildend im Gewebe? Oder besteht das Ganze aus zusammengesetzten Stücken, ähnlich einem Patchwork, in Farbe, Textur, Muster unvermittelt vernäht?

Das Gewebe gibt nicht nur Hinweise auf Herstellungsart und Material. Man bemerkt die mögliche Elastizität, Anschmiegsamkeit, unterschiedliche Maschenweiten, die auf Dehnungen zurückgehen, Transparenz, Durchlässigkeit, Verstrickungen. Das Interesse fällt auf die Übergänge, Nähte, Ränder, Muster und Wiederholungen, letztendlich auf die Gesamtkomposition als Raster oder eingewobenes Muster. Wie bei der Betrachtung von Kleidung, bei der das Gewebe, der Stoff die Fläche bildet, interessiert aber eigentlich etwas anderes: der Schnitt, das Zusammenkommen von Körper und Stoff und die entscheidenden Punkte: die Ränder, der Saum, die Nähte und die Übergänge vom einen Stück ins andere.

Mehrwert der Stadt-Gewebe-Metapher

Über diese vielleicht schöngeistige, aber passive Betrachtung des Gewebes hinaus bietet die Stadt-Gewebe-Metapher aber auch einen Mehrwert, um Vorstellungen von der Stadt zu entwickeln. Es sind die Aspekte, die uns bei der Stadtbaukunst und dem städtebaulichen Entwurf im Kern beschäftigen, auch wenn – um in der metaphorischen Sprache zu bleiben – das Stricken und Weben der grossen Stoffe eigentlich die Ausnahme bleibt. Auf die Aufgaben der heutigen Stadtplanung übertragen ist es eher die Frage nach Gewebereparatur, dem Flicken von Löchern, dem Verlängern an den Rändern, dem Weiterstricken an Vorhandenem und der Notwendigkeit, das bestehende Gewebe den aktuellen Erfordernissen anzupassen.

Man wird sich dabei fragen, wann sich eine Reparatur überhaupt noch lohnt. Wie viel kann man vom Alten noch behalten? Ersetzt man wie ein Kunststopfer die Lücke aus dem Kontext heraus, oder nimmt man sie zum Anlass, etwas Neues als offensichtliche Überarbeitung einzuweben? Bleibt der Eingriff unauffällig normal oder wird er heroisch ideal? Das sind Fragen eines kontextuellen Stadtentwurfs, bei dem weniger die Idealstadt als Neugründung relevant ist, die alle Probleme auf einmal lösen will, sondern der an Vorhandenes bewahrend oder weiterentwickelnd anknüpft. Sollte der Saum besser nicht zu eng genäht sein, um noch später ein Stück vom gleichen Stoff herauslassen zu können, ohne gleich etwas anderes annähen zu müssen? Diese Vorstellungen funktionieren immer im Kontext der «schönen» Stadtkerne und des zusammenhängenden Stadtgewebes. Aber wie verhält es sich zum Beispiel im Teppichgewebe der Agglomeration, wenn dort eine Lücke zu schliessen wäre? Nimmt man den Faden der räumlich nichtssagenden umgebenden Typologien auf und affirmiert so das Bestehende? Kann man in der Agglo überhaupt kunststopfen?

Verlassen wir die Agglo und die Gewebemetapher wieder in Richtung Architekturtheorie, so begegnen wir dem «tessuto urbano», einer besonderen Ausprägung des Kontextbegriffs bei Aldo Rossi[3] und Saverio Muratori, die das Verständnis des Stadtgewebes als Grundlage für das Weiterbauen und die Stadtreparatur voraussetzen, die Bestehendes verstehen wollen, um es interpretativ weiterzubauen. Stadtreparatur ist mehr als Flicken.[4]

Können wir Stadträume anhand von 2-D-Darstellungen verstehen?

Es ist das Suchen von Typen im Stadtgewebe und die Feststellung von Permanenz, von dem, was sich im «tessuto urbano» ändert und was über die Zeiten der (Be-)Nutzung, des Tragens bleibt. Dazu wurden in jenen Jahren mit grosser Begeisterung Unmengen von Plänen (vorzugsweise mit Studierenden) gezeichnet und morphologisch an Schwarzplänen die Körnungen der Stadt diskutiert. Grundrisspläne ganzer historischer Städte (Venedig, Rom usw.) entstehen. Angeregt durch die Einflüsse Colin Rowes versuchen wir auch die städtischen Räume in Figur-Grund-Karten zweidimensional, schwarz-weiss zu begreifen. Es ist die Zeit der Wiederentdeckung der alten Stadtpläne, die mit der grossen Faszination an Plänen einhergeht, wie dem alten Stadtgrundriss Roms von Giambattista Nolli (1748), bei dem im Stadtgewebe sogar die öffentlichen und privaten Flächen erkennbar werden (Abb. hier).

Im Lauf der Jahre verschwindet diese Begeisterung für das «tessuto urbano» im Diskurs um Stadt, zurück bleiben aber die Werkzeuge von damals – keine städtebauliche Analyse und kein Wettbewerb, der ohne Schwarzpläne bzw. Figur-Grund-Kartierung durchgeführt werden kann. Eigentlich seltsam, da die zweidimensionale Abbildung in diesen Karten doch nur eingeschränkt Hinweise auf den tatsächlichen, also räumlichen Stadtkörper zulässt, da weder die Topografie noch die Feststellung, ob Wasser oder Land, geschweige denn Gebäudehöhen eindeutig nachvollziehbar wären. Eine sehr hübsche Plangrafik aus Gottvater-Perspektive, die eigentlich nichts aussagt, was für Stadtraum dreidimensional massgebend wäre, ausser der Textur. Diese Art der Darstellung würde allenfalls funktionieren, wenn alle Häuser ähnlich hoch wären und in einer Ebene lägen. Warum verwenden wir also explizit 2-D-Darstellungen, wenn wir Raum verstehen wollen?

Flächen versus Raum

Liegt die Faszination vielleicht immer noch darin, dass wir Stadt, gerade im Hinblick auf die Gewebemetapher, die so nah liegt und viele Aspekte der Stadt anschaulich macht, als Webereien mit Mustern betrachten – und dass uns die Flächen mehr interessieren als das räumliche «Unideale» einer Stadt beim Beobachten auf Augenhöhe? Sind es die abstrakten Bilder und Metaphern, die mehr faszinieren als die räumliche Realität? Oder liegt die Begeisterung für diese Darstellungen letztendlich in den metaphorischen Kartierungen eines «Stoffs», eines Gewebes, das losgelöst vom eigentlichen Körper, wie ein ausgezogenes Kleidungsstück, als Abdruck eines Körpers im Gewebe vor uns liegt? Liegt sie im Moment, wenn wir uns – über das Bild im Stoff – den Körper in unserer Fantasie vorstellen und ihn vielleicht verehren möchten, wie z. B. beim Turiner Grabtuch oder den anthropometrischen Drucken von Yves Klein?

Welche weitere Form der zweidimensionalen Darstellung von Körpern oder eben des Stadtgewebes, das den Körper der Stadt aus dem Plan ablesen lässt, gäbe es denn noch, um abstrakt Stadt wahrnehmen oder sogar planerisch beschreiben zu können? Lässt sich der Schnitt der Stadt in den flächigen Plan als Muster und Bild eines Gewebes übertragen?

Eine schöne und praktikable Möglichkeit bietet hier die Form des «Staffelbauplans», wie ihn Theodor Fischer bereits am Ende des 19. Jahrhunderts mit den Planungen zur Stadtentwicklung in München entwickelte. Ein «synthetischer» Plan, bei dem die Strassen, also die wesentlichen Fäden des Stadtgewebes, dargestellt sind und durch farbige Flächen die gewünschte Dichte (Gebäudehöhe) und die zu wählende Typologie (geschlossene oder offene Bebauung) angegeben werden. Damit wird in diesem Plan die Darstellung eines Stadtkörpers möglich (Fischers Modell ging von einer dichten und hohen Stadtmitte aus, die an den Rändern verflachend in den Landschaftsraum übergehen sollte).

Gleichzeitig zeigt sich in diesem Plan auch seine synthetische Auffassung der Stadtentwicklung und ein tiefes Verständnis eines Stadtgewebes und dessen sinnfälliger Weiterentwicklung. An den bestehenden Rändern der damaligen Stadt wurde im Zuge der Stadterweiterung ab 1893 der Faden aufgenommen und auf den alten Parzellierungen und Strassenführungen weitergestrickt und somit die bestehende Stadt mit den neuen Quartieren verwoben (vgl. TEC21 15/2016). Die Synthese aus dem Zusammenweben von Vorhandenem und Neuem bestand aber auch darin, dass die beiden Haltungen zur Strassenführung, die geschwungene, «malerische Strassenführung» im Sinn eines Camillo Sitte gegenüber der geraden Strassenführung, nicht gegeneinander ausgespielt wurden.[5]

Staffelbauplan als «Schnittmuster»

In Fischers Plan des zu entwickelnden Stadtgewebes zeigt sich ein «Schnittmusterbogen, der beides miteinander zu versöhnen weiss», wie es seiner synthetischen Grundauffassung zur Stadtbaukunst entsprach, indem er Form und Gestalt der Stadt «aus dem breiten Grund der realen Voraussetzungen entwickelte»[6] und es in seiner Einführung zu den sechs Vorträgen zur Stadtbaukunst deutlich formulierte: «(…) so werde ich mich leicht aller dogmatischen Enge enthalten können (…). Ich werde Sie also weder davon zu überzeugen suchen, dass die freie, malerische Form der Stadt das Richtige sei, noch Ihren Glauben an die allein seligmachende Wirkung der Regelmässigkeit zu stärken mich bemühen. Wohl aber will ich versuchen, Ihnen zu zeigen, dass beide Formen, um diese Extreme zunächst einmal festzuhalten, gut und schön sein können, wenn sie aus der Entwicklung notwendig entstanden sind, und dass beide schlecht und leer sein können (…)».[7]


Anmerkungen:
[01] «Man transforms» war die Eröffnungsausstellung im Cooper Hewitt National Museum of Design in New York, 1976. Sie wurde kuratiert von Hans Hollein und Lisa Taylor und enthielt Beiträge von Hans Hollein, Richard Buckminster Fuller, Arata Isozaki, Richard Meier, Ettore Sottsass und Oswald Mathias Ungers.
[02] Oswald Mathias Ungers, «Morphologie City Metaphors», 1982, S. 14–15.
[03] Vgl. Wolfgang Sonne, Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts, 2014, S. 275: «(…) Aldo Rossi kommt der Verdienst zu, durch eine Kritik der funktionalistischen Stadtauffassung, in der sich das Gebaute der Stadt durch die sich stets wandelnden Funktionen verflüssigte – und in seinem Anspruch als künstlerisch Bleibendes gar verflüchtigte –, der Architektur der Stadt wieder eine eigenständige und konstitutive Rolle im Städtebau zugewiesen zu haben. In seinem epochemachenden Buch ‹L’architettura della città›, 1966, unterschied er die Bauten der Stadt in primäre Elemente, die auch in ihrer Materialität erhalten bleiben und die Wohnbebauung, die sich im Lauf der Jahrhunderte materiell verändere, aber geistig – in ihrem Typus – bewahrt bleibe und auch im Entwurf prägend bleiben solle: ‹Aufgrund all dieser Überlegungen können wir die Stadt als eine Architektur deuten, die aus verschiedenen Komponenten, insbesondere den Wohngebieten und den primären Elementen, besteht (…)›.»
[04] Vgl. Zierau, Malfroy «Stadtquartiere vom Webstuhl – wie textile Metaphern ab 1950 die Komplexität der Stadt veranschaulichen», in: «Multiple City: Stadtkonzepte 1908 bis 2008», hrsg. von Sophie Wolfrum und Winfried Nerdinger, 2008.
[05] Gemeint ist hier die krumme Strasse als «Weg des Esels», wie Le Corbusier sie bezeichnete, gegenüber der geraden, «langweiligen», wie es Karl Henrici formulierte. Vgl. dazu Karl Henrici, «Langweilige und kurzweilige Strassen», Erstveröffentlichung in «Deutsche Bauzeitung», Juni 1893, und in «Beiträge zur praktischen Ästhetik im Städtebau», München, 1904. Le Corbusier, «Der Weg der Esel», in Le Corbusier, Städtebau, S. 5, hrsg. von Hans Hildebrandt, 1929.
[06] Theodor Fischer, 1–6 Vorträge über Stadtbaukunst, 1. Vortrag, S. 10, 2. erweiterte Auflage, hrsg. von Matthias Castorph, 2012.
[07] Ebenda S. 10.

TEC21, Fr., 2017.10.13



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|41 Stoff und Raum II – die Arbeit am Textilen

08. April 2016Matthias Castorph
TEC21

Stadtbaukunst heute?

Theodor Fischer prägte als Architekt und Stadtplaner im ausgehenden 19. Jahrhundert das Stadtbild von München massgeblich – und zeigte damit, wie sich städtebauliche Theorien in die Praxis überführen lassen. Auch heute können wir von seiner Herangehensweise lernen.

Theodor Fischer prägte als Architekt und Stadtplaner im ausgehenden 19. Jahrhundert das Stadtbild von München massgeblich – und zeigte damit, wie sich städtebauliche Theorien in die Praxis überführen lassen. Auch heute können wir von seiner Herangehensweise lernen.

Wenn heute der Begriff «Stadt­baukunst» im Raum steht, fällt praktizierenden Architekten und Stadtplanern meist relativ wenig dazu ein, was denn ­diese vergangene «Kunst» für das ­heutige Handeln und Entwerfen der Stadt noch beitragen könnte. «Stadtbaukunst» scheint aus der Zeit gefallen zu sein.

Ihr haftet etwas leicht Skurriles an, wenn man sich erinnert, dass am Ende des 19. Jahrhunderts trefflich über «kurz­weilige und langweilige Strassen» gestritten wurde. Sie  scheint, wenn überhaupt, nur noch als histo­risches Phänomen der Stadtbaugeschichte interessant zu sein.

So steht dann «Stadtbaukunst» für einen «malerischen Städtebau», wie ihn der Wiener Camillo Sitte 1889 in seinem Buch «Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen» im Rückgriff auf die mittel­alterlichen Stadtanlagen (vorzugsweise Italiens) postuliert hatte. Heute wird sie meist verstanden als eine versponnene Gegenposition zur Entwicklung einer technisch effizient organisierten und formal-geometrisch geordneten Stadt, wie sie Reinhard Baumeister und Joseph Stübben seinerzeit propagierten.

Wie sollte «Stadtbaukunst» für aktuelle Planungen etwas beitragen, da sie schon längst von der Moderne überholt wurde, die ihr eine Sicht auf die Stadt unterstellte, die die «tatsächlichen» Bedingungen ausblendet und die Stadt lediglich als «Stadtbild» mit der romantischen Vorstellung von «krummen Strassen» künstlerisch betrachtet wissen möchte? Was bleibt nach der polemischen Kritik und Ablehnung durch die Moderne im 20. Jahrhundert, wenn zum Beispiel Sigfried Giedion artikulierte, Sitte sei ein «Troubadour, der mit seinen mittelalterlichen Liedern das Getöse der modernen Industrie übertönen wollte …», oder wenn Le Corbusier die krumme Strasse als «Weg des Esels» denunzierte? Dabei gingen leider auch inter­essante, undogmatische und pragmatische Überlegungen zur Stadt, ihrer Elemente und deren Protagonisten für ­heute fast verloren.

Es scheint an der Zeit, unter der Oberfläche dieses seltsamen Begriffs zu schürfen und festzu­stellen, was für uns Architekten, Ingenieure und Planende und unser «Handwerk» zur Stadtentwicklung abhanden gekommen ist. Wo sind die Inhalte verschüttet, die dem planerischen Repertoire wieder erschlossen und verfügbar gemacht werden sollten?

Denn Stadtbaukunst ist mehr als ein Camillo Sitte und «malerische Strassen». Auch heute, als räumliche Haltung gegenüber einer ingeniösen und politischen Stadtplanung, könnte sie mehr Anwendung finden, als gemeinhin erinnert wird. Auch wäre es angebracht, dass «Stadtbaukunst» und ihre Vertreter und Ergebnisse nicht nur als architektur­historisches Thema (um das sich vorzugsweise Geisteswissenschaftler kümmern) gesehen werden, sondern als höchst fruchtbares Feld, auch für die zeitgenössische Stadtentwicklung. Wir sollten dieses Terrain zurückgewinnen.

Stadtbaukunst praktisch?

Wenn man die Brille des Historikers ablegt und sich aus freien Stücken mit Stadtbaukunst intensiver und nicht nur aus Sekundärliteratur beschäftigt, so fällt auf, dass etwas ausserhalb des allgemein bekannten theoretischen Fokus der «Stadtbaukunst» die Archi­tektenpersönlichkeit Theodor Fischers steht. Dessen Bauten und vor allem seine städtebaulichen Planungen lohnen den Besuch in München, da sie in situ eine (vom Plan beziehungsweise Foto fast nicht vorstellbare) stadträumliche Qualität entfalten. In ihrer Unaufdring­lichkeit, ihrer zeitlosen Eleganz der städtebaulichen Einheit und trotz ihrer «Selbstverständlichkeit» sind die Strassenzüge und Plätze komplexe räumliche ­Situationen, die auch heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, begeistern und als sichtbare und erfolgreiche Ergebnisse einer richtig verstandenen «Stadtbaukunst» einzuordnen sind.

Theodor Fischer kann daher, auch wenn er heute immer noch etwas in Vergessenheit geraten ist, wohl als der interessanteste und präziseste Vertreter einer frühen, anwendungsbezogenen Stadtbaukunst gelten.

Ein Architekt und Stadtentwerfer, der als Kind seiner Zeit (geprägt von den Thesen Camillo Sittes und Karl Henricis) als Pragmatiker, Denker und Lehrer die komplette Stadtentwicklung Münchens bis zur Millionenstadt im gesamten Massstab räumlich vorbestimmt und geprägt hat. Als Leiter des ab 1893 neu eingerichteten «Stadterweiterungsbureaus» definierte er die massgeblichen Linien und Räume der Stadt München, den Zielen der Ergebnisse des grossen Stadterweiterungswettbewerbs folgend, die bis heute die lebens­werte und manchmal sogar städtische Atmosphäre Münchens bestimmen.

Kern seiner Planungsidee ist dabei die Annahme, dass Stadtplanung und -entwicklung kein zweidimensionales, grafisches oder geometrisches Zeichnen auf dem Plan sind, sondern die planerische, grundsätzliche und undogmatische Entwicklung von städtischen Raumvorstellungen. Diese schaffen die massstäblichen und lebenswerten Orte für die Bewohner, einer einheitlichen Formidee anhängend – wenn also eine Raumvorstellung als grosser, langer Atem vor der Gestaltung der einzelnen Solitäre und Situationen steht. Dies wird besonders relevant, wenn in der Stadtplanung konkret die Frage nach der Qualität des öffentlichen Raums, nach Einheit und nach möglicher Über- und Unterordnung der Stadtbausteine gestellt wird.

Die Handlungsweise Fischers ist auch deshalb (zumindest für München) so relevant, weil sich aktuell Parallelen in der Stadtentwicklung zeigen lassen, die im Kern mit der damaligen Situation Münchens vergleichbar sind: die Probleme eines starken Stadtwachstums durch Zuzug und Bevölkerungswachstum, die Wohnungsfrage (zumindest für Normalverdiener) und die realen Planungszwänge durch überwiegendes Privateigentum an Haus und Grund und die daraus resultierenden Partikularinteressen.

Sechs Vorträge über Stadtbaukunst

«Harter Realismus, Hingabe an das Seiende und Dienst am Wirklichen ist die Aufgabe des Städtebaus.» Mit diesem Satz fasste Theodor Fischer (1926 im «Colleg für Städtebau») seine Haltung zusammen, die sein Handeln bei der Stadterweiterung Münchens und dann in der Ausbildung seiner Studenten als erster Professor für Städtebau an der Technischen Hochschule in München geprägt hatte. Sein undogmatisches und im besten Sinn pragmatisches Verständnis von europäischer Stadt und Städtebau, seine Begeisterung für die Geschichte der Stadt und seine Verweigerung gegenüber formalen Dogmen und simplen Lehrsätzen formuliert er dann 1921 in der übersichtlichen Publikation «Sechs Vorträge über Stadtbaukunst» in direkter und unverblümter Sprache.

Diese «sechs Vorträge über Stadtbaukunst» sind die ausformulierte Zusammenfassung, das «Skript» seiner Vorlesungsreihe, die er als Professor für seine Studenten gehalten hatte. Die Vorlesungen wurden von Lichtbildern und Tafelzeichnungen begleitet, für die sich Theodor Fischer handschriftliche Notizen und ­Skizzen gemacht hatte, die er von Jahr zu Jahr immer wieder neu festhielt. Viele dieser Skizzen sind in der Sammlung des Architekturmuseums der Technischen Universität München erhalten. Sie geben einen Einblick in die Stichwortstruktur und sind Dokumente einer vergangenen Lehrkultur.

Er beleuchtet in seinen Vorträgen die Kernfragen und typischen Problemstellungen des Wohnens, des Verkehrs und des Verhältnisses von Stadt und Natur. Bei deren Lösung im Planungsprozess ist für ihn der «Stadtentwerfer» nicht Ausführungsgehilfe von Politikern, Ökonomen und Ingenieuren, sondern die zentrale Figur. Dabei schmälert er nicht die notwendigen Leistungen der anderen und lehnt es ab, über ihren Sachverstand aus rein formal-ästhetischen Gründen hinwegzugehen, ohne jedoch den Kunstanspruch bei der Planung und Realisierung von Stadt aufzugeben. Theodor Fischer hat dabei keine Berührungsängste vor dem direkten Kontakt von Theorie und Praxis und den alltäglichen Fragen der städtebaulichen Normalität. Für seine Lösungsansätze und deren Erläuterung spielt es keine Rolle, ob ein Beispiel als theoretische Ikone aus der Stadtgeschichte von Priene oder der gebauten Realität der schwäbischen Kleinstadt Reutlingen stammt.

Und so beginnt Theodor Fischer seine Vorträge mit einer These: «Über Stadtbaukunst reden heisst für mich nicht etwa, ästhetische Gesetze des Städtebaus aufstellen. Nichts liegt mir ferner, als in den Ton derer einzustimmen, die da zu sagen pflegen: Die Kunst soll, die Kunst muss. Die Kunst soll und muss nichts, ausser was sie aus sich heraus tut und tun muss, was sie im Zwang der Entwicklung schafft, unabhängig vom Willen des einzelnen, ja auch vom Willen vieler. Ob diese Entwicklung freilich Gesetzen folgt, dem nachzuspüren, verlohnt sich; und erkennen wir solche, so wird auch der Ausführende sich ihrer vernünftigerweise erinnern, wenn er nicht Gefahr laufen will, grosse Umwege zu machen oder sich in Sackgassen zu verlieren …».

Ohne Umwege und Sackgassen: Was ist die Stadt?

Vertiefen wir diese Aspekte exemplarisch an zwei konkreten und heute zumindest räumlich noch existierenden Situationen in München (Abb. S. 34–35). Was wir erkennen, ist die im Wesentlichen geschlossene Be­bauung, die Blockstruktur. Es zeigt sich die Geschlossenheit der räumlichen Wirkung, bei der sich der Blick nicht in der Weite verliert, durch leicht geschwungene Strassen und meist stark gekrümmte Einführungen der Zufahrten zu den Plätzen. Die gekurvte Reihe der Häuser ermöglicht die Sichtbarkeit der einzelnen Fassaden, die ein abwechslungsreiches und gleichzeitig geschlossenes Bild für den Fussgänger und «Flaneur» bilden. Nicht «die Achse» schafft Monumentalität, sondern es entsteht Massstab durch Grössenvergleich. Die Häuser und Freiräume werden komplex in Beziehung gesetzt, in der Summe von Fassaden entsteht ein stadträumliches Ensemble – und, wenn man so möchte, im Ergebnis sogar ein «malerisches» Stadtbild.

Hier wird Stadt nach der Formidee, als komplexe Ordnung der einzelnen Elemente sichtbar. Denn für Theodor Fischer ist die Stadt «eine Anhäufung von menschlichen Wohnungen und Einrichtungen mit der Wirkung einer Einheit». In der Konsequenz begreift er daher die Stadtbaukunst als «Ortsbau», da «Ort» entsteht, wenn bei Gruppen von Häusern, durch Überordnung und Unterordnung der Elemente, durch Ähnlichkeit oder Kontrast der Massen, Einheit erzielt wird. Dies bedeutet auch, dass städtischer Raum als Kontinuum verstanden wird, bei der unterschiedliche Situationen und Quartiere, die aneinandergrenzen, keine Aneinanderreihung solitärer Elemente sind, sondern fugenlos ineinander übergehen und sich dabei wandeln können. So ist auch auf dem Plan und in der Realität der Übergang der streng orthogonal gerasterten (damals bereits bestehenden) Ludwigsvorstadt zum weiterführenden «stadtbaukünstlerischen» Städtebau Fischers unmerklich. Die Strassen werden weitergeführt, verändern sich fliessend und vermeiden subtil den abrupten Wechsel zwischen den städtebaulichen Paradigmen des «geometrischen» und des «räumlichen» Städtebaus im Strassenraum – die Gesamtstadt als Einheit des Verschiedenen.

Der Normalblock – Strasse und Verkehr

Bei der Ordnung und Gliederung der öffentlichen Räume stehen also weniger die «grosse Achse» oder der «geometrische Stadtgrundriss» im Mittelpunkt, sondern eine grundlegende Ordnung, denn «alle menschliche Tätigkeit ordnet, gestaltet die unregelmässige Natur regelmässig (ohne mathematische Exaktheit)».

Diese Tendenz sieht Fischer auch im grundlegenden Element der Stadt, dem Baublock. In seiner elementaren rechteckigen Grundform ist er selbstähnlich «dem Ziegel …, dem Zimmer und dem einzelnen Haus», das ihn bildet. Somit ist die Grundform des städtischen Bau­blocks ein Rechteck (idealerweise im Verhältnis 1: 2, ca. 50 × 100 m, basierend auf den passenden Parzellengrössen der Wohnhäuser), das er aus ganz pragmatischen Gründen (um Strassenfläche zu sparen und um eine bessere Aufteilung mit mehr Parzellen pro Block zu bekommen) dem Quadrat vorzieht. Dies ist für ihn der «Normalblock», den er als Abweichung, als Block mit bogenförmigen Kanten in den fliessenden Linien der Strassenzüge verwendet. Wichtig sind ihm dabei das Halten der Ecken im rechten Winkel und das Verziehen der Krümmung innerhalb der Längsseiten des Blocks.

So bleiben die Strassenkreuzungen und Platz­einmündungen verkehrsgerecht und vermeiden die Spitzwinkligkeit der Blockecken, die neben der verkehrlichen Unübersichtlichkeit auch den im Grundriss der Wohnungen kaum lösbaren Eckgrundriss und den Eckeingang bedingen würden.

Dieser (verzogene) Normalblock bildet das Grundmodul, aus dem sich die Stadt entlang von räumlichen Kanten/Strassen additiv fügen lässt. Er ist nicht mehr das Resultat eines divisiven Teilens der Stadt­fläche im geometrisch-grafischen Städtebau seiner ­Zeitgenossen (Baumeister, Stübben), bei der die Diagonale, als betonte Verkehrsachse, in ein quadratisches Blocksystem geschnitten wird und so die Blockflächen zu Restflächen der Teilung im «Dreieck-System» macht, was für Fischer zum «schlechten Block» führt.

Zur Ehrenrettung von Stübben und Baumeister sollte jedoch hinzugefügt werden, dass das Einführen der Diagonalen im Quadratraster aus Verkehrsgründen durchaus sinnvoll sein kann. Es schafft eine Hierarchisierung der Wegebeziehung, da beim reinen Quadratraster die Verbindung zwischen zwei Orten auf verschiedensten Wegen gleich lang bleibt. Erst durch die Diagonale wird eine Abkürzung möglich, die dann den Verkehr an sich zieht und über die Kreuzung der Diagonalen zum Sternplatz führt, auf dem der Verkehr verteilt werden kann. Jedoch kann auch durch die Methode des «verzogenen» Blocks eine Bogenform generiert und damit Verkehrsströme gelenkt werden.

Durch die undogmatische Handlungsweise Fischers, frei von der Rigidität der Symmetrien und zwanghaften Rechteckformen, entsteht ein zwangloser, entspannter Städtebau von grosser Permanenz, der von strassenseitigen Baulinien definiert wird.

Baulinie und Raum/Parzellierung

Aber was unterscheidet denn die geschwungene Stras­sen­führung Fischers von den angeblich rein künst­lerischen Überlegungen Sittes zum «malerischen»
Städtebau? Es ist die Beziehung der Strassenlinie zur vorgefundenen topografischen Situation und Parzellierung. Fischer fordert, den «alten Strassen nach[zu]gehen und alte Beziehungen [zu] respektieren». Das bedeutet, nach Möglichkeit die vorhandenen Feldwege und Stras­sen aufzunehmen, auszubauen und in das neue Stras­sensystem einzubinden. Dies hat wesentliche Vorteile: So bilden vorgefundene Wegebeziehungen (da sie z. B. als Feldwege praktisch und nicht geometrisch angelegt wurden) die bestehende Topografie ab (die Wege orientieren sich am Verlauf der Höhenlinien) und schaffen so eine selbstverständliche Einbettung der neuen Stadt in das Gelände. Ausserdem wechselt, in einem praktisch vollständig und meist kleinteilig parzellierten Land, am Weg die Parzelle, sodass bei einer Verbreiterung der Wege zu Strassen die einzelne Parzelle nicht zerschnitten, sondern nur vom Rand her belastet wird (Strassenmitte = alte Grundstücksgrenze) und dadurch in der Nutzung weniger gestört wird. Dies bedeutet auch, dass durch die Neuanlage nicht ein einzelner Eigentümer, sondern jeweils die Nachbarn gleichmässig an den ­Rändern der Grundstücke belastet werden, was eine wesentlich höhere Akzeptanz des Eingriffs in das Grundstückseigentum erwarten lässt – ein praktischer Kompromiss auf Grundlage bestehender Verhältnisse.

Dieses Vorgehen stellte für München am Ende des 19. Jahrhunderts eine neuartige, ganzheitliche Konzeption dar (in Verbindung mir einem ausgeklügelten Vertragswesen der städtischen Juristen), die eine grossmassstäbliche Durchsetzung der Stadterweiterung erst ermöglichte. Sie stellte einen wesentlichen Aspekt und eine konstruktive Möglichkeit in der Auseinandersetzung mit privaten Grundstücksbesitzern und Terraingesellschaften dar, da der Stadt selbst kaum Eigentum über die Grundstücke (allenfalls Sperrgrundstücke) und keine praktikablen Möglichkeiten zur zwangsweisen Zusammenlegung und Enteignung von Grundstücken zur Verfügung standen. Die Zusammenarbeit von Architekt und Verwaltungsjuristen stellte eine Kompensation der beschränkten Mittel zum Eingriff in das Privat­eigentum der Grundstücksbesitzer dar, bei der praxisorientierte Kompromisse zur «Stadtbaukunst» führten.

Diese ästhetisch und räumlich motivierte Vorgehensweise, befreit vom Zwang des Schemas, erleichterte die praktikable Umsetzung im Alltag, auch im Sinn eines «harten Realismus» und einer Auseinandersetzung mit dem «Wirklichen», und spiegelte im Ergebnis mit «krummen und geraden» Strassen sowohl die Eigentumsverhältnisse als auch die Ästhetik Sittes.

Räumliche Zonierung/Staffelbauordnung

Für die räumliche, dreidimensionale Ausformulierung des Stadtraums ist jedoch über die Baulinienfestlegung hinaus noch ein weiteres Werkzeug notwendig. Erst durch die «Staffelbauordnung» mit zugehörigem «Staffelbauplan» vollendete Fischer (1904) die funktionale, räumliche und ästhetische Festlegung des Stadtkörpers. Mit neun (später zehn) festgelegten Bebauungstypo­logien in geschlossener bzw. offener Bebauung wurden die Dichte und Höhe für die einzelnen Strassenzüge im Staffelbauplan parzellenübergreifend definiert. Dieses sehr einfache Werkzeug, gepaart mit seiner präzisen räumlichen Vorstellung, formulierte einen Gesamtstadtkörper, der sich über die prinzipielle Auseinander­setzung mit dem öffentlichen bzw. dem Strassenraum definierte.

Es wurde strassenseitig die Staffel festgelegt, und so konnten nicht nur blockweise, sondern stras­senweise die räumlichen Festlegungen entlang der ­Bau­linien getroffen werden. Dies bot die Möglichkeit, z. B. auch hohe, dichte Strassen an den Stadtrand zu führen (Radialstrassen), von denen niedrigere Strassen (Wohnstrassen) abzweigen. So gliederte sich das Bauliniennetz in Strassen für den Verkehr und Strassen für das Wohnen. Diese Dichtefestlegung war grundsätzlich unabhängig von der Entfernung vom Zentrum. So konnten auch vom Zentrum entfernt dezentrale Plätze mit höherer Umgebungsbebauung angelegt und besondere Orte und Plätze mit entsprechend passender Rahmung der Bebauung einfach definiert werden.

Im Ergebnis spiegelt nun der öffentliche Raum einerseits die zugrunde liegende Parzellierung und Topografie wider, andererseits ist es eine Konzeption des Stadtraums, bei der «Mannigfaltigkeit» und dennoch Einheit durch Unter- und Überordnung («nur einer soll herrschen, nichts ist’s mit der Vielherrschaft») erzeugt wird – Stadt als Formidee mit dem Ziel der Geschlossenheit des ästhetischen Eindrucks. Es entstand also aus den Überlegungen der «Stadtbaukunst» ein auch nach heutiger Sicht «hochmoderner» Städtebau mit konsequenter Trennung von Verkehrs- und Wohnstrassen, einer hochdifferenzierten Zonung und Modellierung des Stadtkörpers mit einer geschlossenen Raumästhetik, die immer noch wirksam ist und die Verfügungsgewalt der privaten Eigentümer begrenzt, da die da­maligen Überlegungen bis heute räumlich prägend für die gesamten Stadtquartiere und damit für die ­Einfügung von Neubauten sind.

Permanenz

«Der Wandel im Wesen der Stadt und der Wandel in der Form, sollte man meinen, ist eins; denn wie anders als durch die Erscheinung drückt sich der Wandel des Wesens aus? Wir sehen aber, dass manchmal die alte Hülle, da sie schwerer ist als geistige Dinge, lange noch aushält, wenn schon der Gehalt ein anderer geworden ist.» So formulierte Theodor Fischer (1927 in «Die Stadt»). Und in dieser alten räumlichen Hülle steht München immer noch.

Trotz der massiven Kriegszerstörungen und dem darauf folgenden Wiederaufbau mit «modernen» Gebäuden, der jedoch im Wesentlichen den Baulinien und der Staffelbauordnung (im Gebrauch bis 1979) ­folgte, erkennt man, dass sich durch Fischers «Stadtbaukunst», die sich selbstbewusst der Realität stellt, eine stadträumliche Qualität und Permanenz entwickelt, wenn Baulinie und resultierender Raum weiter existieren, unabhängig von den einzelnen Gebäuden. Da spielt es für die Einheit der Stadt auch keine wesentliche ­Rolle, dass zumeist mediokre Einzelarchitekturen die Stadtmasse bilden.

Es bleibt noch die Frage nach dem Künstlerischen in der «Formidee», für die «Anhäufung von menschlichen Wohnungen und Einrichtungen mit der Wirkung einer Einheit». Und als knappe Antwort die These Theodor Fischers: «Das Künstlerische kann nicht gewollt werden. Es kommt als Gnade, oder es bleibt aus.» 

TEC21, Fr., 2016.04.08



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|15 Stadtbaukunst

01. Mai 2009Matthias Castorph
db

Zwillingshäuser

Mitten hinein in die vielfältigen Wohnträume einer Eigenheimsiedlung setzten die Architekten zwei Doppelhäuser, die demonstrieren, dass auch unter Berücksichtigung aller Vorgaben Baukultur entstehen kann. Dabei ging es nicht nur darum, den Absichten, die mit dem Bebauungsplan verfolgt werden, zu entsprechen. Die Häuser müssen auch den unterschiedlichen Ansprüchen wechselnder Mieter gerecht werden, die sich aus der nahe gelegenen Ramstein Air Base rekrutieren.

Mitten hinein in die vielfältigen Wohnträume einer Eigenheimsiedlung setzten die Architekten zwei Doppelhäuser, die demonstrieren, dass auch unter Berücksichtigung aller Vorgaben Baukultur entstehen kann. Dabei ging es nicht nur darum, den Absichten, die mit dem Bebauungsplan verfolgt werden, zu entsprechen. Die Häuser müssen auch den unterschiedlichen Ansprüchen wechselnder Mieter gerecht werden, die sich aus der nahe gelegenen Ramstein Air Base rekrutieren.

»Auch die beste Gestaltung der einzelnen Bauformen […] kann nichts frommen, wenn die große Form, die sie alle zusammenfasst, unzweckmäßig und hässlich ist. […] Umgekehrt ist es natürlich auch nicht zu vergessen, dass selbst die besten Bebauungspläne nichts frommen, wenn die Formen der Bebauung ihrem Sinn stracks entgegenlaufen und die jämmerlichen Formen unsrer heutigen Bauerei jeder Baugruppe ihren Stempel aufdrücken.«
Diese Feststellung von Paul Schultze-Naumburg hat auch nach über hundert Jahren noch Aktualität, wenn man die gebaute Realität in den Wohnsiedlungen in der Agglomeration betrachtet. Denn an der Fragestellung, wie Gesamtqualität von Siedlungen entstehen kann, in gegenseitiger Abhängigkeit von Einzelinteressen und öffentlichem Willen, individueller Architektur und Bebauungsplan, hat sich bis heute nichts geändert und lässt sich in jedem Neubaugebiet nachvollziehen.

Üblichkeitsbauten und Normalhausparadox

Die Wohnsiedlung, die in den letzten zehn Jahren am Dorfrand des westpfälzischen Rodenbach, einem Vorort von Kaiserslautern, entstand, besteht aus Einfamilien- und Doppelhäusern, die vorrangig an amerikanische Militärangehörige der nahe gelegenen Ramstein Air Base vermietet werden. Ein qualifizierter Bebauungsplan mit Gestaltungssatzung regelt die Genehmigungsfähigkeit. Die mediokre Gesamterscheinung des Ortsteils summiert sich aus den bunten Üblichkeitsbauten, mit ihren landläufig immergleichen formalen Ausblühungen der Erker, Gauben, Wintergärten, Tonnendächer, Säulenportale und den öden Vorgärten an den Wohnstraßen.
Bemerkenswert sind nur zwei Einfamilienhäuser in hellen Grautönen, die zwischen den anderen Bauten an der Südgrenze des Baugebietes stehen und durch ihre relative Zurückhaltung auffallen. Wie Zwillinge, baugleich, lediglich horizontal gespiegelt, markieren sie an den Abzweigungen, die hangaufwärts ins Neubaugebiet führen, die Straßenecken.

Die beiden Satteldachhäuser zeigen sich zum Hang hin traufständig, hangabwärts zweigeschossig, mit großen Öffnungen, bergwärts eingeschossig, mit kleinen Fenstern, die die Nebenräume belichten. Der Gebäudetyp ist für die Situation sinnfällig, die Aufenthaltsräume sind nach Süden hin ausgerichtet und die Erschließung sowie die Bäder und die Küche zum Hang hin nach Norden in einer schmalen Nebenraumzone. Die drei Individualräume im Obergeschoss sind nutzungsneutral geschnitten, das lang gestreckte Wohn- und Esszimmer im Erdgeschoss beansprucht die ganze Hausbreite und ist dreiseitig belichtet. Davor liegt über die gesamte Hausbreite eine ¬Veranda, die über die in den Hang eingeschnittene Einfahrt der im Keller liegenden Garage auskragt. Die hellen Markisen können die gesamte Veranda schließen und schaffen so einen sommerlichen Zusatzraum, der das schmale Wohnzimmer ideal erweitert. Auch Konstruktion und Materialität sind der Bauaufgabe und dem Umfeld angemessen: Betondecken und verputzte Ziegelwände mit Wärmedämmverbundsystem, das die Anforderungen der EnEV erfüllt. Graue Dachsteine sowie Holzfenster und einfache, braunschwarz gestrichene Stabgeländer ergeben im Wesentlichen das Bild eines »normalen« Hauses.

Der darüber hinausgehende formale Anspruch der Architekten zeigt sich in der subtraktiven Verformung des Baukörpers auf der Giebel- und rückwärtigen Eingangsseite. Statt additiver Vordächer und Vorbauten ergibt sich durch das skulpturale, winkelförmige Einziehen des Baukörpers die lang gestreckte Vorzone zum Hauseingang, in die auch die außen liegende Keller- und Garagentreppe mündet. Die Schnittflächen sind an Wand und Decke heller abgetönt und verstärken so die räumliche Wirkung. Im Gesamten eine ruhige und nachvollziehbare Architektur, die auf Nutzung, Lage und Budget zugeschnitten ist.

Die besondere Qualität liegt in der Selbstverständlichkeit, mit der auf die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen reagiert wird: Man verkünstelt sich nicht in ambitionierten Details und gestalterischen Dogmen, sondern baut konventionelle »Normallösungen« wie zum Beispiel eine knapp vorgehängte Regenrinne, die den Dachrand klar akzentuiert. Eine Gestaltung, die nicht versucht, notwendige Bauteile mit hohem konstruktivem Aufwand und Schadensrisiko zu verbergen, sondern gestalterisch zu bewältigen. Man fragt sich, wenn man die Nachbarschaft betrachtet, warum dieses anscheinend so unspektakuläre Vorgehen offensichtlich der Sonderfall ist. Warum ist das Normale das Besondere?

Annahme

Warum entstand hier in den beiden Einzelgebäuden Qualität, während dies bei den Bauten der Umgebung, die identische Anforderungen an Gebrauchsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit haben, offensichtlich nicht der Fall ist? Am Bebauungsplan kann es wohl nicht liegen, da doch alle Häuser im Neubaugebiet den gleichen Festsetzungen, die klar und nachvollziehbar formuliert sind, unterliegen. Wenige Festsetzungen regeln die Nutzung der Grundstücke (Bauraum, Wandhöhe und Geschossfläche), und die in den B-Plan integrierte Gestaltungssatzung reglementiert im Rahmen der gesetzgeberischen Möglichkeiten die Gestaltung der Dächer, Fassaden, Anbauten und Nebenanlagen.

Der Grund dafür ist, dass Bayer | Uhrig die Bedingungen des Bebauungsplans einfach angenommen haben. Ganz ohne Befreiungen, ohne ironische Reflexion der Festsetzungen und ohne die baurechtlichen Möglichkeiten bis zum Letzten auszuschöpfen, haben sie den Bebauungsplan als abstrakten Kontext und Möglichkeitsraum akzeptiert und im Freistellungsverfahren gebaut.
Denn wie will man sonst an einem Ort Hinweise für relevante Entwurfsentscheidungen bekommen, wenn Geschichte, Landschaft, Nutzung oder besondere Lebensweise im Kontext der überplanten Zersiedelungsflächen der Vorstadt fehlen, die dem Entwurf Impulse geben können?

Die Architekten verfolgen eine an sich sehr nahe liegende Strategie, die allgemein jedoch in Vergessenheit geraten zu sein scheint: einen Bebauungsplan als das anzunehmen, was er ist; eine möglichst gerechte wirtschaftliche Verteilung von Baurecht gepaart mit einer Gestaltungssatzung, die die wildesten Ausblühungen vermeiden will, und darin ein Haus entwerfen, das in der Alltäglichkeit bestehen kann. So einfach könnte es sein, auch im Unterschied zu den Planern, die sich in ihrer ambitionierten kreativen Freiheit eingeschränkt fühlen und märtyrerhaft, von Juristen unterstützt, in Auseinandersetzungen mit den Behörden für die in ihren Augen allein selig machende »Befreiungsarchitektur« der spektakulären Einzelbauten kämpfen.

Selbsterfüllende Prophezeiungen

In der Nachbarschaft führt das Prinzip der Grundflächenarithmetik dazu, dass sich Baukörper nicht nach architektonischen Gesichtspunkten entwickeln, sondern aus Gründen der Flächenmaximierung in alle Richtungen verformen. Im Bebauungsplan benannte Einschränkungen für Bauelemente (Gauben, Zwerchgiebel, Vor- und Rücksprünge), kommen anscheinend allein schon ihrer Erwähnung wegen reflexhaft zur Anwendung. Gestaltfestsetzungen als architektonische Musterbücher des 21. Jahrhunderts?
Vielleicht sind die ausufernden Bauformen mit den formalen Ausblühungen auch in der Haltung begründet, man müsse so bauen, wie es sich ein zukünftiger Nutzer vielleicht wünschen könnte – selbsterfüllende Prophezeiungen?

Normalhaus

Erwartungsbildern lassen sich die Zwillingshäuser in Rodenbach nicht so leicht zuordnen. Ihre Erscheinung beziehen sie aus einfachen, modernen architektonischen Operationen, wie zum Beispiel der volumetrischen Verformung des Hauskörpers oder dem Ablösen des Gebäudes vom Gelände sowie der großzügigen Verteilung der notwendigen Öffnungen – eine an sich bild- und methapherfreie Architektursprache. Es ist eine Architektur entstanden, die gerade ohne die heute gerne in der Fachpresse und von den Architekten evozierten Bilder auskommen kann und sie nicht für ihre Legitimation benötigt. Da ist es eigentlich unnötig, darüber zu spekulieren, ob man die Veranda als Anklang an den Porch eines Südstaatenhauses und die drei Fenster im Obergeschoss als die drei Dachgauben der Heimstatt der Waltons interpretieren möchte oder bei den Außenanlagen vielleicht ungewollt an Cézannes Bahndurchstich erinnert wird.

So stehen die beiden Häuser wie selbstverständlich entlang der Straße, die aus dem Dorf herausführt; spiegeln akzentuiert Elemente der im Ort vorhandenen dörflichen Alltagsbauten und zeigen, wie einfach es eigentlich trotz aller Zwänge sein könnte zu bauen, ohne auf architektonischen Anspruch zu verzichten. Da fügt es sich, dass man sich die Bauplätze an verschiedenen Ecken im Baugebiet mit gleicher Ausrichtung und Hangneigung geschickt aussuchen konnte – nicht nur um Zwillingshäuser als städtebaulichen Akzent in die heterogene Umgebung einzustreuen – sondern auch ganz pragmatisch, um einen Entwurf zweimal – einfach gespiegelt – verwenden zu können.

db, Fr., 2009.05.01



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Zwillingshäuser in Rodenbach



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db 2009|05 Bebauungsplankonform

04. November 2008Matthias Castorph
db

Der Eingang zum Mittelpunkt der Erde

Vor knapp drei Jahren eröffnet, ist das Besucherzentrum auf der Azoreninsel ein Ort, dessen Faszination man sich nur schwer entziehen kann. Gigantische Kräfte aus dem Inneren der Erde, eine rau-ursprüngliche weite Landschaft und das schnell wechselnde Lichtspiel der besonderen Wetterverhältnisse bilden die Kulisse, in die sich das Gebäude als Schnittstelle einfügt und die Besonderheit des Gesamtschauspiels erlebbar werden lässt. Nur ein Besuch vor Ort kann dies allerdings wirklich vermitteln.

Vor knapp drei Jahren eröffnet, ist das Besucherzentrum auf der Azoreninsel ein Ort, dessen Faszination man sich nur schwer entziehen kann. Gigantische Kräfte aus dem Inneren der Erde, eine rau-ursprüngliche weite Landschaft und das schnell wechselnde Lichtspiel der besonderen Wetterverhältnisse bilden die Kulisse, in die sich das Gebäude als Schnittstelle einfügt und die Besonderheit des Gesamtschauspiels erlebbar werden lässt. Nur ein Besuch vor Ort kann dies allerdings wirklich vermitteln.

Reist man über den Atlantik nach Pico, einer der zentralen Inseln der Azoren, erhebt sich schon von Weitem die imposante Silhouette des Vulkans Pico Alto, dem die Insel auch ihren Namen verdankt. Fast 1700 Kilometer vom vom portugiesischen Festland entfernt, ist er mit 2351 Metern zudem der höchste Berg des Landes. Der Vulkankegel ist ein beliebtes Ziel von Wanderern, aber man kann den Vulkan nicht nur von oben erleben, sondern auch von innen, zumindest in Teilen, denn unter der Oberfläche der Insel erstrecken sich kilometerlang seine Ausläufer, Vulkanhöhlen, sogenannte Lavaröhren, die an einigen Stellen die Oberfläche aufbrechen und so die im Innern schlummernden Kräfte elementar spürbar werden lassen.

Sie entstanden während früherer Vulkaneruptionen: Der an der Oberfläche bereits zu einer starren Kruste erhärtete Lavastrom bildete eine thermische Isolierung, so dass der heißflüssige Gesteinsstrom in den darunter liegenden Kanälen thermisch isoliert wurde und noch kilometerweit vom ursprünglichen Eruptionsherd entfernt weiterfließen konnte. Nach dem Versiegen verblieben die Lavaröhren als Hohlräume. An ihren Oberflächen lässt sich der Lavastrom noch heute unmittelbar ablesen, sei es als hochglänzende, glatte Formationen ehemals schnell fließender oder als biskuitähnliche Erstarrungen zähfließender Lava.

Mit etwa fünftausend Metern Länge sind die vulkanischen Höhlen der »Gruta das Torres« nicht nur die längsten der Azoren, sondern zählen weltweit zu den längsten. Den Zugang markieren zwei nahe beieinander liegende Öffnungen, die durch den Einsturz der spröden Lavakruste an der Höhlendecke entstanden.

Gruta das Torres – Höhle der Türme

Die »Gruta das Torres« wurde erst 1990 entdeckt. Nachdem man sich entschieden hatte, die Höhle als Touristenattraktion öffentlich zugänglich zu machen und sie 2004 als »Regional Natural Monument« eingestuft wurde, konnte bereits 2005 das Besucherzentrum eröffnen. So wurde zum einen dieses Naturphänomen touristisch erlebbar, zum anderen durch den Neubau der fragile und einsturzgefährdete Höhleneingang vor Vandalismus und Beschädigungen geschützt.

Fast sechstausend Besucher informieren sich seitdem jährlich während der Sommermonate im Besucherzentrum über die Entstehungsgeschichte der vulkanischen Insel und ihrer Lavahöhlen und können anschließend von dort aus – mit Helm und Grubenlampem ausgestattet – einen Teil des Röhrensystems besichtigen.

SAMI:arquitectos (Ines Vieira da Silva und Miguel Vieira) bekamen als junges Architekturbüro aus Setubal bei Lissabon den Auftrag, dieses sehr spezielle Besucherzentrum auf Pico zu entwerfen. Während ihrer zweijährigen Tätigkeit in den Jahren von 2002 bis 2004 bei der Verwaltungsbehörde hatten sie schon auf der Insel gelebt und unter anderem an der Vorbereitung der Eintragung der Weinanbaugebiete unterhalb des Pico zum Weltkulturerbe der Unesco mitgearbeitet. In dieser Zeit, vor dem Bau des Besucherzentrums, konnten sie beispielsweise bei der Bauberatung der Inselbewohner sowie an kleineren öffentlichen Projekten und Planungsprozessen professionelle Erfahrungen und Einblicke auf Pico Island sammeln und durch die intensive Auseinandersetzung mit der Insel auch ein sehr persönliches Verhältnis zum Ort und zu der unvergleichlichen Landschaft entwickeln.

Die Schwierigkeit der Aufgabe lag weniger im minimalen Budget oder im Raumprogramm, sondern vor allem in der Fragestellung, wie man diesem grandiosen Naturschauspiel noch etwas hinzufügen oder es architektonisch akzentuieren könnte. Sie entschlossen sich für einen minimalen, aus der Ferne fast unsichtbaren Eingriff in die landschaftliche Situation, der das Vorgefundene kongenial aufnimmt, sich einpasst und trotzdem eine selbstbewusste architektonische Sprache spricht. Ein Kleinod, das als erster Baustein der nun folgenden Projekte von SAMI:arquitectos auf der Insel noch einiges erwarten und die Insel auch als Reiseziel für zeitgenössische Architektur interessant werden lässt. So bauen sie momentan zwei Einfamilienhäuser, und es entstand ein Konzept für ein vielversprechendes Ferienresort, das vielleicht in den nächsten Jahren verwirklicht werden kann. Das von ihnen ebenfalls entworfene Informationszentrum zum Weinbau auf Pico als Teil eines Freilichtmuseums, ein Umbau eines landwirtschaftlichen Bestandsgebäudes, wird nächstes Jahr fertiggestellt.

Besucherzentrum

Nähert man sich dem Besucherzentrum, erkennt man aus der Ferne lediglich eine Mauer aus großformatigen Lavabrocken. Sie ist an die in der Umgebung aufgeschichteten Lavastein-Mauern angeglichen, die als orthogonale Schutzmauern um Wingerts und halbkreisförmig um Feigenbäume errichtet wurden und so seit Jahrhunderten die Anbauflächen vor Wind und Seewasser schützen. Diese besondere Art des Weinbaus auf den Lavafeldern ist seit 2004 ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.

Das Vorbild wurde im Neubau in der Größe etwas skaliert – von etwa 1,5 Metern auf 3,5 Meter – und die Einfassung locker spiralförmig um die zwei natürlichen »Oberlichter« der Vulkanhöhle gelegt. Die beiden Enden der Einfassung bilden den Zwischenraum für das Eingangsgebäude, das hinter der Mauer vollständig verschwindet. Lediglich die Eingangsfassade im Zwischenraum, mit ihrer glatten Oberfläche akzentuiert den Eingang, der mit einem Faltklappladen über die Wintermonate hermetisch geschlossen werden kann. Im Bereich der Außenwand des Hauses wurden die Steine so aufgeschichtet, dass sie ein kontinuierliches, lichtdurchlässiges Steingitter bilden, das die Belichtung der Innenräume ermöglicht, ohne die Erscheinung der geschlossenen Wand aufzulösen.

Das Gebäude als Weg

Hinter dem Eingangsportal liegt ein kleiner Patio mit einem quadratischen Wasserbecken. Ein großes Panoramfenster ermöglicht einen Blick in den Vorraum des eigentlichen Gebäudes. Im Inneren führt der Weg entlang der Außenmauer durch das Foyer, dessen Vorbereich mit Kassentheke, Backoffice und Sanitäranlagen eine Stufe höher liegt und so die räumliche Wirkung der radialen Erschließung noch verstärkt.

Am Ende des Ganges weitet sich der Weg zu einem kleinen Auditorium, wo man nach einem kurzen Einführungsfilm, der auf das Erlebnis der Höhle vorbereitet – ohne die reale Steigerung vorwegzunehmen – mit Helm und Grubenlampe ausgestattet wird, da im Vulkantunnel keine Beleuchtung eingebaut wurde, um den ursprünglichen Charakter zu erhalten. Sodann verlässt man das Gebäude und nimmt von einem kleinen Plateau den Weg in die Unterwelt. Weiter steigt man über eine Rampe und eine Treppe aus Lavastein dem Profil des Höhlenbodens folgend durch die erste Deckenöffnung hinunter, geht unter dem zweiten Oberlicht hindurch und ist nun inmitten der Lavahöhle, auf deren erstarrter Lava die ersten Meter des Wegs noch mit einem vom Boden abgehobenen Laufsteg baulich markiert sind. Danach ist man allein in der Dunkelheit und erkennt fragmentarisch, im Lichtkegel der Grubenlampe, an der Decke die grandiosen Stalagmiten und tropfenförmigen Oberflächen, die sich im geschmolzenen Gestein gebildet haben – und fühlt sich im Eingang zum Mittelpunkt der Erde.
Der Weg zurück führt in umgekehrter Reihenfolge die Treppen und Rampen hinauf. Entlang der inneren, fast schwarzen, glatten Außenwand gelangt man auf einer auskragenden Stufe seitlich wieder in das Eingangsfoyer oder nimmt Platz auf der Stufe, um die eindrucksvoll verwunschene Situation der überwucherten Gesteinsformationen im Inneren des hortus conclusus noch länger auf sich wirken zu lassen.

So klar wie die Konzeption des Gebäudes ist auch seine Konstruktion. Die Außenwände und das Dach sind aus Stahlbeton und mit einer glatten Putzschicht überzogen. Eine anthrazitfarbige Polyurethan-Dünnbeschichtung dient als Wetterschutz und Abdichtung der Oberflächen. Sie erinnert dabei an die zum Teil sehr glatten Lavaoberflächen in der Höhle. Die Eingangstüren und das Fenster zum Patio sind scharfkantig mit silbernen Aluminiumzargen gerahmt und die polygonale Glasfassade, als »kontinuierliches Fenster« mit Abstand hinter dem lichtdurchlässigen Gitter der Lavamauer, bildet die thermische Grenze. Im Inneren sind die Böden als glatter Estrich belassen. Die Wände haben eine verputzte Vormauerung als »homöopathische« Innendämmung. Die Decke ist mit Dämmung unterlegt und mit Gipskarton abgehängt. Eine einfache Konstruktion, die sicher auch den Möglichkeiten einer Inselbaustelle geschuldet ist.

Lava, Himmel und Erde

Die Beschränkung der architektonischen Mittel ist sicherlich die Stärke des Objekts. Zum vorgefundenen Archetyp der Höhle kommt nur das Thema der ringförmigen Mauer als Rahmung des Ortes und Referenz an die Umgebung. Im Dazwischen entsteht ungezwungen der Innenraum des Besucherzentrums. Die architektonische Formulierung kann bei klarer und einfacher Geometrie, aller zeitgenössischer Härte und Präzision, auf dem dünnen Grat zwischen Kontrast und Anpassung an diesem Ort bestehen und eine echte Poesie des Ortes schaffen. Sie verliert sich nicht in Sichtbetonkitsch und gebauter Plangrafik anderer zeitgenössischer Vulkanmuseen, wie es beispielsweise in Capelinhos auf der Nachbarinsel Faial geschah.

Ganz selbstverständlich, ruhig und schwer, inmitten der weichen Landschaft liegt es am Hang, vor dem Hintergrund des gewaltigen Vulkans, so als ob es schon immer hier gewesen wäre und lässt einen dabei nicht unberührt. Denn es selbst bleibt völlig unverändert in seiner Dunkelheit, unter dem sich ständig wechselnden Licht der Inselsonne, dessen Stimmung man auf Fotografien nicht wiedergeben kann. Dabei wirkt es einfach besonders, nicht besonders hübsch – einfach schön.

Oder, akademisch ausgedrückt: Die Architektur von Gruta das Torres resultiert aus einem tiefen Verständnis der Landschaft, des Ortes, als notwendige Voraussetzung zum Entwurf einer »sinnvollen Umwelt« im Sinne von Christian Norberg-Schulz (Phänomenologie des Ortes), als Zusammenkommen und dem Zusammenspiel der einzelnen Phänomene (natürlich/artifiziell) und als Übersumme. Eine präzise Widerspiegelung des Genius loci an einer vorgefundenen, beeindruckenden Schnittstelle zwischen Himmel und Erde, am Übergang von vertikal und horizontal, als eine in ihrer Einfachheit komplexe Architektur in einer Vulkanlandschaft von elementarer Schönheit.

db, Di., 2008.11.04



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Gruta das Torres Centre



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db 2008|11 Genius Loci

Profil

1990 – 1996 Studium an der TU München
1996 Diplom bei Uwe Kiessler
1996 – 1998 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Andreas Hild an der Universität Kaiserslautern
1998 Förderpreis Architektur der Landeshauptstadt München
1999 Promotion an der Universität Kaiserslautern
1998 – 2000 Baureferendar bei der Bayerischen Staatsbauverwaltung,
2000 II.Staatsprüfung zum Regierungsbaumeister
2001 – 2002 Lehrauftrag an der Universität Kaiserslautern
2001 – 2003 Bauanstalt mit Regina Baierl und Monika Supé, München
2002 – 2008 Juniorprofessor an Kaiserslautern,
Seit 2004 ständiger Projektpartner bei Goetz und Hootz Architekten BDA
2005 Visiting Professor an der Central Academy of Fine Arts (CAFA), Beijing
Seit 2008 außerplanmäßiger Professor und Vertretungsprofessor für Stadtbaukunst an der TU Kaiserslautern
Seit 2008 Gesellschafter und Geschäftsführer in Goetz Hootz Castorph Architekten und Stadtplaner GmbH

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