Editorial

Entwerfen im digitalen Zeitalter

Was ist nicht schon alles über die Folgen der Digitalisierung für die Architektur geschrieben worden? Wie oft wurde nichts weniger als ihre Entmaterialisierung, ihre Auflösung in den unendlichen Weiten der Datenströme und Netze vorausgesagt? Unzählige Male stand man bereits vor den Scherben der Disziplin – falls überhaupt noch von einer Disziplin die Rede war. Warum also nun, nach fast über zwei Jahrzehnten intensiver Auseinandersetzung mit den Implikationen der Digitalisierung, ein neues Heft zum Thema Entwerfen im digitalen Zeitalter? – Weil im Moment wieder zentrale Fragen der Architektur verhandelt werden, ohne dass man gleich wieder einen Paradigmenwechsel bemühen müsste. Es sind Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, die die Architektur als Disziplin insgesamt betreffen: Was heißt heute Entwurf, was Architektur, was Architekturtheorie?

Bekanntlich leben Totgesagte länger, wenn auch nur als Spukgespenster: „Nur weil die Architektur von Schatten und Geistern heimgesucht wird, die von Raum zu Raum schweben und den Bewohnern alte Geschichten ins Ohr raunen, erweckt sie trotz ihrer aufeinander folgenden Traditionen den Eindruck einer einheitlichen Disziplin.“ (Picon, S. 12 ff.) Die Architektur gleiche, so der französische Architekturtheoretiker Antoine Picon in diesem Heft weiter, einem Spukhaus, deren Geister ihr letztes Wort noch nicht gesprochen hätten. In diesem Sinne verstehen wir den von uns hier eingeführten Begriff des „Entwurfsmusters“, der nicht nur auf den letzten Hype um das Wiederaufleben des Ornaments abzielt, auch wenn die Konnotation durchaus beabsichtigt ist. Vielmehr macht er vor allem auf bestimmte, wiederkehrende (Handlungs-)Muster beim Entwerfen aufmerksam, die derzeit (wieder) aktuell sind.

Es scheint, dass das, was für die Gesellschaft im Ganzen gilt, nun auch für die Architektur zutrifft: Medientheoretisch gesprochen beginnen die Architekten heute für die „Strukturform“ des Computers endlich eine adäquate „Kulturform“ des Entwerfens zu entwickeln (eine Anregung von Dirk Baecker). Nach den freien Experimenten in der Frühzeit der Digitalisierung zeichnet sich heute eine einheitliche technologische Basis des Bauens ab, wie sie seit den 1920er Jahren in der Industrialisierung des Bauens mehr erträumt als verwirklicht wurde. Heute geht es allerdings nicht mehr um eine nachholende Bewegung der Modernisierung einer Branche, sondern um eine die gesamte Gesellschaft gleichzeitig erfassende Entwicklung: die Digitalisierung der geistigen Arbeit, die mit einer digitalen Produktionskette rückgekoppelt jeden einzelnen zum potentiellen Produzenten erhebt. Die moderne Trennung zwischen geistiger Arbeit und Produktion, zwischen Entwurf und Ausführung wird dadurch aufgehoben. Damit steht paradoxerweise mit der fortschreitenden Digitalisierung nicht die in den 1990er Jahren noch allenthalben beschworene Entmaterialisierung der Architektur zur Debatte, im Gegenteil: die „Materialisierung des Digitalen“ wird wichtiger, je intensiver der Mensch-Maschine-Dialog verläuft und sich CAD-CAM-Methoden, Mass-customization und Lasertechnologien verbreiten. Dadurch gelangt eine ganze Reihe verdrängter architektonischer Aspekte wieder auf die Agenda, darunter nicht zuletzt das Ornament (Gleiter, S. 78 ff.; LeCuyer, S. 100 ff.; Kockelkorn, S. 72 ff.; Barkow Leibinger, S. 84 ff.).

Die Digitalisierung der Architektur erfasste zuerst die Architekturdarstellung, wobei Computer und Software noch als Werkzeuge für Konzepte eingesetzt wurden, die selbst vordigital erdacht, entworfen und modelliert worden waren. Im Unterschied dazu greift die Digitalisierung heute in alle Arbeitsfelder des Architekten ein. Sie stellt dabei sein Berufsbild vom Kopf auf die Füße (der Maschine), verwandelt den Entwurf in einen Dialog zwischen Architekt und Software. Im Fall des Mercedes-Benz-Museums in Stuttgart erfolgt die Strukturbildung beispielsweise durch den Rekurs auf das Diagramm eines Kleeblatts. Die daraus resultierende komplexe Geometrie konnte nur noch ein parametrisches Datenmodell in den Griff bekommen (Schindler/Scheurer, S. 66 ff.). Dieses neue, nicht mehr euklidische Entwurfsmuster soll unter anderem den Zusammenhang zwischen den einzelnen Stationen der Ausstellung organisieren und damit eine Bedeutung wahrnehmen, die früher dem Typus als Entwurfsgenerator zukam. Selbstverständlich stößt ein solcher Ansatz auch auf Kritik. So diagnostiziert Christopher Alexander in seinem Gespräch mit Rem Koolhaas und Hans Ulrich Obrist denn auch eine verbreitete Angst unter den Architekten vor „tief verwurzelten Archetypen. Und weil sie solche Furcht davor haben, etwas zu entwerfen, das an etwas Vorhandenes erinnert, fühlen sie sich gezwungen, bestimmte Dinge nicht zu tun, die ansonsten jeder vernünftige Mensch machen würde, einfach weil sie praktisch sind.“ (Alexander, S. 20 ff.) Wie immer man zu Lösungen steht, Diagramme aus der Biologie oder aus der Topologie für die Architektur zu adaptieren, ist an dieser Herangehensweise in jedem Fall bemerkenswert, dass UN Studio mit dem Mercedes-Benz-Museum, aber auch schon mit dem Möbius-Haus, die Frage der Formfindung von der Ebene der Form auf die der Form vorgelagerte Ebene der Strukturbildung verschiebt. Form wird dadurch nicht mehr „gefunden“, sondern generiert.

Entwurfsgenerator

Als eigenständige Disziplin ist der Entwurf an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert an der Pariser École Polytechnique von Jean-Nicolas-Louis Durand eingeführt worden. Wie ein Naturforscher, der die Vielfalt der Natur durch Gliederung nach Arten zu beherrschen sucht, begann Durand, die Gebäude auf Tafeln nach Zweck und Größe anzuordnen. Mittels solcher wissenschaftlicher Synopsen, wie sie in der Enzyklopädie bereits entwickelt waren, suchte er einen analytischen Blick auf die Baugeschichte im Sinne einer historischen Beispielsammlung zu etablieren und dadurch den Entwurf auf eine rationale Grundlage zu stellen. Diese bestand zum einem in der Vergleichbarkeit der Gebäude nach Nutzung und Maß – später im Tafelwerk der „Recueil“ (Sammlung) veröffentlicht –, und zum anderen in der Isolierung wiederkehrender Elemente, genauer räumlicher Module, aus denen die Gebäude zusammengesetzt waren. Als solche Module identifizierte er in dem Werk „Précis“ (Kompendium) Portiken, Vestibüle, Säle und Zimmer, Treppenanlagen und Höfe.
Um diese Elemente im Entwurf wieder zusammenzuführen, bediente Durand sich eines Hilfsmittels, das später Schule machen sollte, nämlich des Rasters. Damit sollte nicht nur die Vergleichbarkeit der Module erleichtert werden, sondern auch ihre Re-Kombination zu einem neuen Projekt – ein Begriff, den nicht erst Durand verwendete, der aber erst durch ihn seine methodische Schärfe erfuhr und sich über die Beaux-Arts-Tradition bis hin zur Moderne verbreitete und durchsetzte. Diese lief zwar gegen den Schematismus des Beaux-Arts-Systems Sturm. Es gelang ihr aber nicht, den Schritt „Von der Poesie der Kunst zur Methode“ – wie Antoine Picon seinen grundlegenden Beitrag zu Durand nennt, der hier unter dem Titel „Das Projekt“ leicht gekürzt erstmals auf Deutsch erscheint – durch methodische Präzisierung voranzutreiben. Picon zufolge operierte die Moderne wie der Wächter eines Panoptikums, der von einem leeren (methodischen) Zentrum aus die Peripherie (der Disziplin) zu kontrollieren versucht. Im Gegensatz zur Laxheit der Moderne in methodischen Fragen wird dagegen der Schritt zur methodischen Fundierung der Architektur heute durch die Digitalisierung der Architektur erzwungen. Dennoch mangelt es weiterhin an der Präzisierung dessen, was unter einem architektonischem Regelwerk zu verstehen ist, was Regeln sind und was schließlich die Rationalen der Form ausmachen. Denn die Antwort auf die Digitalisierung der Architektur kann nicht darin bestehen, sich immer neuen und weiterentwickelten Programmen zu unterwerfen. Stattdessen muss die beschriebene Entwicklung zum Entwurf einer neuen Architekturtheorie führen, welche die eingangs erwähnten zentralen Fragen der Disziplin thematisiert:

Was heißt heute Entwurf, wenn die Rationalen der Form von Durands Raster bis zur durchrationalisierten Planung der 1960er Jahre nicht mehr greifen und durch neue assoziative Geometrien ersetzt werden, die auf die „Überwindung des Rasters“ abzielen? Diese „verhalten sich“, so Ludger Hovestadt, „wie Schäume. Die einzelnen Elemente kommunizieren untereinander, sie wachsen oder schrumpfen, sie verändern ihre Position, verschwinden an der einen Stelle und entstehen an der anderen Stelle neu. Solche Prozesse sind freilich mit der Hand nicht mehr kontrollierbar, sondern nur noch mit dem Rechner“ (Hovestadt, S. 11). Systemisch gesprochen bedeutet dies, dass die Beziehungen zwischen den Elementen und die zwischen den Elementen zum Ganzen respektiert und nicht getrennt werden – wie dies zum Beispiel beim Raster der Fall ist. In diesem Sinne geht es beim Übergang vom analogen zum digitalen Entwurf um eine Revision der Rationalen der Form, also der geometrischen Grundlagen des Entwurfs.

Was heißt heute Architektur, wenn es im Rahmen der Strukturalisierung der Architektur in einer neuen Weise wieder um regelbasiertes Entwerfen geht? Unter Regeln ist nicht mehr ein klassischer Kanon kultureller Codes zu verstehen, sondern algorithmische Verfahrensregeln, die umso bedeutsamer werden, je weiter der Übergang vom analogen zum digitalen Entwurf voranschreitet. Ins Zentrum rückt damit die Frage nach der Unterscheidung zwischen der „programmtechnischen Funktion“ und der „architektonischen Bedeutung“ dieser Regeln. Für den Fall, dass Architektur tatsächlich auf Strukturen reduzierbar ist, verliert sie jede Eigenständigkeit. Hinter dieser Alternative lauert die klassische Frage nach der Autonomie der Architektur, jedoch in neuen Kontexten und unter veränderten Bedingungen.

Was heißt heute Architekturtheorie, wenn die herrschenden Narrative statt zur Klärung beizutragen sich in immer neue Erklärungsnöte verstricken? Weder der Schwur auf den Vitruvianismus der neueren Berliner Architektur noch die Bekräftigung der Moderne durch die Neo-Modernisten sind in diesem Fall hilfreich. Stattdessen ist eine Revision der Architekturgeschichtsschreibung notwendig, damit man sich endlich den Fragen des digitalen Zeitalters praktisch und theoretisch stellen kann. Hierfür wird man zwischen der Architekturgeschichte als Mediengeschichte, die nach dem Verhältnis von „technischem a priori“ und Architektur fragt, und der klassischen Baugeschichte als Formenlehre unterscheiden müssen. Erst damit lässt sich klären, welche Folgen der Neo-Strukturalismus digitaler Prägung für die Architektur hat. Denn eine der Grundannahmen des Strukturalismus lautet, dass Objekte nicht essentialistisch zu verstehen sind, sondern erst in ihrer Einordnung in Strukturen überhaupt bestehen. Mit der Digitalisierung der Architektur, die dadurch relational und parametrisch erfassbar wird, liegen die technischen Voraussetzungen für eine strukturale Lesart der Architektur vor, nur diesmal nicht mehr sprachanalytisch, sondern geometrisch begründet.

Generatives Entwerfen

Nach der Seite des Entwurfs fokussieren wir im Heft auf die Ansätze regelbasierten Entwerfens und gehen bis auf die Versuche von Jean-Nicolas-Louis Durand um 1800 zurück. Ein weiterer Schwerpunkt sind dementsprechende Ansätze aus den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Hierzu gehören die von den italienischen Architekten Saverio Muratori und Gianfranco Caniggia angestoßene Typologiediskussion sowie die „Pattern Language“ von Christopher Alexander (zur Typusdiskussion s. Trummer, S. 46 ff.; zur Pattern Language s. Alexander, S. 20 ff.; Kühn, S. 26 ff.). Beide Ansätze hatten es sich zum Ziel gesetzt, das Stigma der modernen Typisierung zu überwinden: Wiederholung ohne Differenz. Was für die Moderne noch Programm war, nämlich dem Maschinenzeitalter gemäß in Standards zu denken und in Serien zu bauen, sollte nun im Rückgriff auf historische Typologien bzw. durch empirisch belegte Patterns überwunden werden. Doch der Versuch, entweder mit historisch destillierten (Muratori/Caniggia) oder idealiter angenommenen Typen (Aldo Rossi) zu arbeiten, führte statt zur Variation einerseits zu differenten Modellen, die Individuation durch Orientierung an historizistischen Stadtbildern erkauften, andererseits zu indifferenten Wiederholungen immer gleicher Grundformen. Damit wurde ein Problem wieder auf die Tagesordnung gesetzt, das sich angesichts des mechanischen Zeitalters scheinbar erübrigt hatte: die Frage der Individuation.

Eben mit dieser ungelösten Frage befassen sich nun die heutigen Ansätze. Das Versprechen der Individuation scheint endlich einlösbar, zum einen durch numerische Planungs- und Fertigungstechnologien, zum anderen durch Verfahrensregeln, die diese Techniken beherrschbar und produktiv machen. Diese ersetzen die durch Quatremère de Quincy (1755–1849) eingeführte moderne Unterscheidung von Typus und (zu reproduzierendem) Modell, eine Unterscheidung, die in der Nachfolge des französischen Architekten stets unhinterfragt blieb. Interessanterweise rückt mit diesen Verfahrensregeln, die zur Überwindung des mechanischen Zeitalters beitragen, eine unausgesprochene, medientheoretisch jedoch höchst bedeutsame Nähe zwischen vormodernem und heutigem Entwurf in den Fokus: die zentrale Stellung von „Sprache“ als Medium. Denn was in der Vormoderne eine Sache des baumeisterlichen Wissens war, das durch Erfahrung immer wieder korrigiert und als sprachliche (Geheim-)Überlieferung innerhalb der Zunft weitergegeben wurde, ist heute eine Sache des Dialogs zwischen Entwerfer und Entwurfsgenerator mittels Skripten, die, wenn auch nicht als Geheimwissenschaft, so doch als zu beherrschende Programmiersprachen erlernt werden müssen. Vielleicht erklärt sich damit auch die wiedergewonnene Bedeutung der Hochschulen in diesem Kontext (Gruber, S. 116 ff.; Wallisser, S. 120 ff.; Schroth, S. 124 f.).
Technisch betrachtet handelt es sich bei diesen Verfahrensregeln um die Anwendung von Algorithmen. Ein frühes Beispiel für einen solchen Algorithmus ist der Entwurf des Pavillons der Serpentine Gallery von Toyo Ito und Cecil Balmond (S. 70 f.). Aus der Anwendung eines einfachen generativen Algorithmus zieht Balmond den Schluss: „Geometrie ist Struktur. Und Struktur ist Architektur.“ Er sieht damit schon eine strukturale Architektur am Horizont aufscheinen, die den Funktionalismus ablösen könnte. Diesen Schluss mag man teilen oder nicht. Er wirft dennoch ein Schlaglicht auf die zentrale Frage des Verhältnisses von Strukturbildung und Architektur.
Das Beispiel der Serpentine Gallery ist deshalb so bestechend, weil es in einfachster Form alle Elemente des programmierten Entwerfens umfasst, gleichgültig, ob man es als parametrisch oder generativ bezeichnet: es geht um Prozesse, die emergent, also ergebnisoffen sind. Diese Prozesse führen zu einer schier endlosen Varianz von Alternativen, die den uralten Traum des typologischen Denkens zu erfüllen scheinen, in der Vielfalt den Beweis für die Individuation eines Grundmodells zu sehen. Entscheidend ist aber, was unter Vielfalt zu verstehen ist: Bedeutet Vielfalt letztlich die Reduzierbarkeit auf ein Gemeinsames bzw. die Deduzierbarkeit aus demselben oder ist sie das Ergebnis materieller Selbstorganisation, die keinerlei Rechtfertigung durch wie auch immer geartete letzte Gründe mehr bedarf? Muss man Vielfalt nicht als das Ergebnis des Zusammenspiels von inneren und äußeren Umwelten sehen, also systemisch begreifen und nicht idealistisch missverstehen? Folgen wir diesem Gedanken, dann geht es um ein Verständnis von Materie, welches dem Stand ihrer wissenschaftlichen Durchdringung entspricht. Materie wird nicht mehr im Aristotelischen Sinne als etwas Formbares, sondern als etwas Organisiertes beziehungsweise Selbst-Organisiertes angesehen. Die klassische Dichotomien von Geist und Materie, Wesen und Erscheinung, Einheit und Vielfalt verlieren dadurch ihre Basis und müssen durch Kategorien, die diese Gegensätze in sich aufheben, ersetzt werden.

Architektur im Zeitalter ihrer digitalen Generierbarkeit

Für die Frage der Typologie bedeutet das, dass es nicht mehr um die Erneuerung des typologischen Denkens durch den Rekurs auf die klassische Architekturgeschichte oder auf die Moderne geht, sondern um ihre Fortschreibung als eine Frage der Strukturbildung. Im Sinne einer Disziplin, die die Architektur trotz aller Auflösungserscheinungen bleibt, werden darin die Vorarbeiten aus vordigitaler Zeit eingehen, nur anders akzentuiert und neu interpretiert. Anders akzentuiert: indem die Typen als Geometriemodelle verstanden und als Entwurfsmuster baulich organisierter Elemente behandelt werden; neu interpretiert: indem die Entwurfsmuster in Form von Variablen oder Konstanten parametrischer Software in Strukturen geometrischer Abhängigkeit übersetzt werden.

Was bleibt jedoch von der Architektur, wenn die programmatische Effizienz auf diesem Wege droht überhand zu nehmen? Was passiert mit den politischen und gesellschaftlichen Idealen, mit denen die Moderne als Projekt gestartet war? Werden sie als Geister im Spukhaus der Architektur, um noch einmal Picon zu bemühen, „all denjenigen, die ihnen zuhören wollen, alte Geschichten von Projekten ins Ohr (flüstern), die auf eine untrennbare Weise zugleich ästhetisch, politisch und sozial sein könnten“? Zu hoffen wäre es, denn „die politische und soziale Utopie, die die Entstehung der modernen Ausprägung des Projekts begleitete, scheint gänzlich abwesend zu sein in den Verfahren, die heute aus der digitalen Kultur hervorgehen. Sollte uns deren Abwesenheit beunruhigen?“ (Picon, S. 12 ff.)

Mit dieser Ausgabe wollen wir die historische Zäsur beschreiben, die durch den Übergang vom analogen zum digitalen Entwerfen ausgelöst wurde. Damit geht die Vorstellung von einer, frei nach Walter Benjamin, „Architektur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“ ebenso zu Ende wie der lange und mühsame Übergang von den ersten krisenhaften Erschütterungen der Moderne bis zur Gegenwart. Dass derzeit die Frage nach dem Ornament wieder aufbricht, deutet Jörg Gleiter in diesem Sinne als „Zeichen eines grundlegenden Strukturwandels in der Architektur, eines Wandels, der mithin als Krise und tiefer Einschnitt in das etablierte Selbstverständnis der Disziplin erfahren wird“. Denn weit davon entfernt, als Verbrechen aus der Architektur verbannt worden zu sein, wie viele es in der verkürzten Rezeption von Adolf Loos immer wieder behaupten, war das Ornament stets Teil der Debatte, weil „sich an ihm die zentralen theoretischen Fragestellungen einer Zeit auskristallisieren“ (Gleiter, S. 78 ff.). Damit verbunden ist eine Akzentverschiebung von der Formfindung zur Strukturbildung und von dieser wiederum zur Architektur. Ob sich damit ein strukturales Architekturverständnis abzeichnet, wird noch zu klären sein.

Unter dem Titel „Architektur im Zeitalter ihrer digitalen Generierbarkeit“ wird ARCH in Folge dieser Ausgabe eine Konferenz in Kooperation mit der Professur für CAAD an der ETH Zürich organisieren. Diese wird die Fragestellungen des Heftes vertiefen und um den städtischen Aspekt erweitern. Die Konferenz soll wiederum Ausgangspunkt einer kommenden Ausgabe sein, in der wir Stadt im Sinne einer Post-Oil-City unter dem Gesichtspunkt des Klimawandels systemisch zu betrachten versuchen. Diese Fragen werden ohne ein neues Entwurfsverständnis nicht mehr anzugehen sein. Allerdings auch nicht ohne die politische und soziale Utopie, die für das Projekt der Moderne symptomatisch war. Mit der Konferenz soll die hierzu notwendige Diskussion auf eine breitere Basis gestellt werden als es eine einzelne Ausgabe einer Zeitschrift zu leisten vermag. Die Konferenz wird im Newsletter angekündigt.

Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo

Inhalt

02 Zeitung
Soziale Diagramme. Planning Reconsidered

03 Begriffsgeschichten für die Architektur

04 Bytes, Bytes, Bytes sind alle meine Teile …

06 Editorial: Entwurfsmuster

10 Überwindung des Rasters

12 Das Projekt
Antoine Picon

18 Regelbasiertes Entwerfen: Pattern, Diagramm, Archetyp

20 Von fließender Systematik und generativen Prozessen
Christopher Alexander im Gespräch mit Rem Koolhaas und Hans Ulrich Obrist

26 Christopher Alexanders Pattern Language
Christian Kühn

32 Space Matters
Anna Rose mit Christian Schwander, Claudia Czerkauer und Raluca Davidel

38 Der Idealismus der Verknüpfung und der Realismus der Maße
Gunnar Tausch

46 Vom Typus zur Population
Peter Trummer

52 Generatives Entwerfen

54 Generatives Design
Georg Vrachliotis

60 Programmiertes Entwerfen
Oliver Fritz

66 Die Rückkehr der Geometrie
Christoph Schindler und Fabian Scheurer

70 Geometrie ist Struktur. Struktur ist Architektur.
Serpentine Galerie Pavillon
Toyo Ito, Cecil Balmond

72 Zur Kommunikation zwischen Zimmermeistern und CNC-Fräsen
Centre Pompidou Metz, Shigeru Ban
Anne Kockelkorn

76 Das neue Ornament

78 Zur Genealogie des neuen Ornaments im digitalen Zeitalter
Jörg H. Gleiter

84 Architektur muss nicht brennen … sie kann glühen
Barkow Leibinger

90 Betriebsrestaurant in Ditzingen
Barkow Leibinger

96 Formsteinsystem
Karl-Heinz Adler und Friedrich Kracht

100 Die Materialisierung des Digitalen
Der Watercube in Peking, PTW Architekten
Annette LeCuyer

104 Puppentheater
Michael Meredith

106 Textiles Entwerfen ... jenseits der gespannten Oberfläche
Dewi Schönbeck, Christine Lemaitre, Werner Sobek

109 Ist Ornamentkritik noch aktuell?
Ausgestaltung des Münchener U-Bahnhofs Oberwiesenfeld durch den Bildhauer Rudolf Herz
Wolfgang Fritz Haug

112 Kontinuität und Unendlichkeit
Erwin Hauer

114 Forschung

116 Von Formfindung zu performativen Strukturen
Stefan Gruber

120 Vom Blob zur algorithmisch generierten Form
Tobias Wallisser

124 Digitale Formgenerierung
Überblick über digitale Formgenerierungsansätze durch parametrische CAD-Systeme
Martin Schroth

126 Autoren

128 Baufokus: Bodenbeläge

Das Neue Ornament

(SUBTITLE) Puppentheater

Das Puppentheater am Carpenter Center in Cambridge schiebt sich unter den vorhandenen Bau Le Corbusiers und erschließt einen Ort, der bisher für Nutzungen unzugänglich war. Die Gesamtstruktur musste sich den verschiedenen Gegebenheiten des Ortes anpassen, sollte jedoch nur auf sich selbst bezogen sein und sich selbst tragen. Der Bau erscheint wie ein Hybrid aus organischen und synthetischen Formen. Auf der Außenhaut wächst grünes Moos, das mit dem glänzend weißen Baumaterial im Inneren kontrastiert.

Das kleine Theater setzt sich aus ca. 500 einfarbig weißen, rautenförmigen Polycarbonat-Elementen zusammen, die alle leicht unterschiedlich sind. Den modifizierten Elementen lag die „Urform“ eines einzelnen Diamant-Elements zugrunde. Dieses wurde entsprechend der Krümmung des Objektes immer wieder angepasst. Die variierenden Module konnten mit Hilfe neuer Fertigungstechniken der Mass-customization hergestellt werden. Die einzelnen Elemente folgen dabei wenigen einheitlichen, geometrischen Regeln, lassen sich auf verschiedenen Maßstäben umsetzen, in vielfältigen Kontexten anwenden und ordnen sich gleichzeitig den ökonomischen sowie technischen Produktionsbedingungen unter. Die Struktur steht somit für eine komplexe Verbindung formaler und materieller Entwurfstechniken.

Durch die Verwendung einfacher Bolzen kann die Struktur unkompliziert auf- und abgebaut werden. Zur Aussteifung werden die hohlen Polycarbonat-Elemente mit einem Schaumstoff gefüllt. Aus statischen Gründen und um Deckenlichter zu schaffen, sind einzelne Elemente in der Decke nicht ausgefüllt. Die Gestaltung der Sitzreihen im Inneren nimmt das Diamant-Raster auf und erzeugt ein einheitliches Raumbild.

Durch das vom Architekten selbst verwandte Bild des „Augapfels“ will die selbsttragende Schalenkonstruktion den Sehvorgang thematisieren. Die intensiven Reflektionen im Inneren des Puppentheaters bedingen, dass der Raum größer wirkt als sein Äußeres vermuten lassen würde. Ist das Puppentheater nicht in Benutzung, richtet sich sein Fokus auf einen Baum nahe des Carpenter Centers und stellt nicht erst darüber einen subtilen Bezug zur Natur her: In diesem Bau verschmelzen geometrische, modulare, standardisierte Prozesse mit organischen Formen und stellen so einen Bezug zu natürlichen Phänomenen wie Komplexität, Wachstum oder Symbiose her.

ARCH+, Di., 2008.11.18

18. November 2008 Michael Meredith

Forschung: Von Computerisation zur Computation

(SUBTITLE) Vom Blob zur algorithmisch generierten Form

Ob das Mercedes-Benz-Museum, der Watercube oder das Olympia-Stadion in Peking – die meisten spektakulären Großbauten der letzten Jahre wären ohne die Verfügbarkeit neuer Software und numerischer Fertigungsmethoden nicht realisierbar gewesen. Der Einsatz digitaler Techniken ist bei Konzeption, Entwicklung und Umsetzung architektonischer Entwürfe ablesbar geworden. Das konzeptuelle Arbeiten mit dem Computer hat sich stark in Richtung eindeutig definierter Geometrien regelbasierter Formen entwickelt und die Formgenerierung mittels Animationen abgelöst.

Im September 1995 erschien ARCH 128 zum Thema „Entwerfen am Computer“. [1] Wenn man heute die im Editorial formulierten konzeptionellen Ansätze der vorgestellten Projekte liest, stellt man fest, dass diese im Prinzip noch immer aktuell sind. Es ist vom Einfließen der „Komplexität multipler Beziehungen“ in den Entwurf und der Übertragung von „Prozessen des Lebendigen“ auf die Entwurfsmethodik die Rede. Prozesstechniken aus der Filmanimationsbranche, die Transformationen und Austauschprozesse fließend darstellen können (Morphing), waren die Vehikel für die Entwicklung neuartiger Formen und beeinflussten vor allem die Darstellungstechniken. Computerarchitektur war vor allem eine kulturelle Metapher.
In einem der Artikel im Heft verglich Annette LeCuyer den unterschiedlichen Einsatz des Computers in Entwürfen von Frank Gehry auf der einen Seite und Peter Eisenman auf der anderen Seite. Sie sah darin zwei Pole im Umgang mit dem Computer, den pragmatischen Zugang von Gehry, der hauptsächlich auf die Umsetzung des Entwurfs gerichtet ist, sowie den konzeptuellen von Eisenman, bei dem die Abkoppelung des Objekts von der Voreingenommenheit seines Schöpfers ein zentrales Thema war. [2]

Dieser Gegensatz wird heute mehr und mehr aufgehoben und zunehmend ersetzt durch eine Kombination von experimentellen Entwurfstechniken mit der simultanen Integration von herstellungsrelevanten Faktoren im Prozess.
Greg Lynn, der den Begriff „Blob“ in die Architekturterminologie eingeführt hat [3] sprach unter Berufung auf Husserl von „anexakten“ Geometrien der erzeugten Objekte. Damit wurde im Gegensatz zu exakten, also mathematisch eindeutig definierten und jederzeit wiederholbaren sowie inexakten Formen eine figürliche, jedoch nur im Kontext sinnvoll definierte Form beschrieben.
Diese Definition lässt sich auf parametrische Entwurfsprozesse übertragen, da dort zwar präzise definierte Ergebnisse durch die Anwendung mathematischer Regeln entstehen, die Überlagerung verschiedener regelbasierter Prozesse mit Eingriffsmöglichkeiten zur experimentellen Veränderung der Parameter jedoch die Emergenz nicht vorher bestimmter Typen erlaubt. Werden die Parameter vom Kontext her gedacht, könnte man auch hier von anexakten Formen sprechen, die jedoch geometrisch definiert sind. Das Problem der Animationstechniken, die visualisierten Vorgänge an einem Punkt „einzufrieren“ und das entstehende Gebilde in eine definierbare Geometrie zu übersetzen, spielen deshalb bei den aktuellen algorithmisch definierten Prozessen keine Rolle mehr.

Der Einfluss der Darstellungstechnik auf den Entwurf

Der englische Architekturtheoretiker und -historiker Robin Evans hat in seinem Buch „The Projective Cast“ dargelegt, dass Architektur traditionell unlösbar mit Geometrie verbunden ist. Er beschreibt, wie die historische Entwicklung der Architektur durch die Möglichkeiten der zweidimensionalen Darstellung, insbesondere der Technik der Projektionszeichungen geprägt wurde. Der Zusammenhang zwischen der durch die zur Verfügung stehenden Techniken definierten Wiedergabe und der Konzeption von architektonischen Entwürfen ist nach Evans daran erkennbar, dass alle architektonischen Aktivitäten (Entwerfen, Bauen und Überprüfen) mittels einer „projektiven Transaktion“ stattfinden. Dies gilt für alle nacheinander folgenden Zwischenschritte gleichermaßen, vom Aufskizzieren der inneren Vorstellung über die Präsentation des Projekts mittels einer Perspektivdarstellung an den Bauherrn bis zur Ausführung mittels orthografischer Pläne. Entwerfen ist „Handeln aus der Distanz“, schließt Evans, beschränkt durch die zur Verfügung stehenden Übersetzungsmöglichkeiten der verwendeten Darstellungstechniken. [4]

Der Einfluss des Computers auf die Realisierung zeigt sich besonders deutlich im Werk von Frank O. Gehry. Dessen Guggenheim Museum in Bilbao war im Hinblick auf den Einsatz von Computern in der Architektur ein Meilenstein. Bei seiner Planung fand eine fundamentale Verschiebung zwischen Repräsentation und Konstruktion statt, da die beschriebene zweifache Übersetzung aufgrund der Entwicklung in Zeichnungen einerseits und der Ausführung mittels Werkplanen andererseits durch die direkte Umsetzung der 3D-Datenmodelle überwunden wurde. Der Entwurf wurde noch mittels Skizzen und am Modell entwickelt, der konsequente Einsatz des Softwarepakets CATIA aus der Flugzeugindustrie führte jedoch zur parametrischen Optimierung der Bauteile und zur konsequenten Berücksichtigung ausführungsrelevanter Parameter im Planungsstadium.

Der Einsatz von Computern hat generell den Arbeitsalltag des Architekten verändert. CAD-Programme werden heute in fast allen Architekturbüros eingesetzt, allerdings in den seltensten Fällen als Entwurfswerkzeuge. Im englischen Sprachgebrauch wird bei der Definition der Art der Computernutzung zwischen „Computerisation“ und „Computation“ unterschieden. In seinem Buch „Algorithmic Architecture“ [5] hat Kostas Terzidis die Begriffe folgendermaßen definiert:
„Computerisation“ bezeichnet den Vorgang der Eingabe, Weiterentwicklung oder des Speicherns von Information in einen Computer, während „Computation“ einen Prozess der Kalkulation, also der Bestimmung durch mathematische oder logische Methoden beschreibt. Die Mehrzahl aller Computernutzungen in der Architektur ist demnach also noch „Computerisation“; Elemente oder Prozesse, die bereits als Konzept in der Vorstellung des entwerfenden Architekten existieren, werden in den Computer eingegeben und „digitalisiert“. Die Erforschung von unbestimmten, vagen oder zu Beginn noch undeutlichen Prozessen, „Computation“, spielt dagegen in der Praxis noch kaum eine Rolle und ist überwiegend den akademischen Institutionen vorbehalten. Dadurch entsteht zum ersten Mal seit langer Zeit die Situation, dass Hochschulen eine Pionierleistung vollbringen und Impulse für die Praxis geben können. Ganze Abschlussklassen verschiedener Architekturschulen wie z.B. der Architectural Association in London bringen das erworbene Wissen direkt in die Büros ein und prägen dort die Entwürfe. Auch an der Klasse für „Innovative Bau- und Raumkonzepte“ an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart steht im Fach „Digitales Entwerfen“ die Erforschung dieses Potentials im Vordergrund.

Das kreative Potential des Computers

Was kann man unter „digitalem“ Entwerfen verstehen? Wenn Computerprogramme im Entwurfsstadium angewendet werden, kann noch nicht von „digitalem Entwerfen“ die Rede sein. „Digital“ beschreibt die Reduktion eines Prozesses in diskrete Muster und die Verknüpfung dieser Muster zu neuen Strukturen, die von einem Computer genutzt werden sollen, das heißt, „digital“ beschreibt einen Prozess, nicht ein Produkt.
Digitale Techniken bieten auf jeder der von Robin Evans beschriebenen Ebenen neue konzeptionelle Möglichkeiten: bei der Darstellung und Konzeption, der Präsentation und der Realisierung. Die erweiterten Möglichkeiten der Darstellung helfen sicherlich bei der Kommunikation mit dem Bauherrn und dem Planungsteam. Die Möglichkeiten der direkten Umsetzung auf Basis von Datenmodellen vereinfachen nicht nur die Kommunikation und die Herstellung, sondern haben auch einen weit reichenden konzeptuellen Einfluss auf den Entwurf.

Bei der Computerdarstellung eines Entwurfs werden geometrische Elemente durch variable Attribute definiert, die Parameter heißen. Eine so genannte parametrische Software erlaubt die Darstellung und Erstellung von Variationen parametrisch definierter Elemente in Echtzeit und ermöglicht dem Entwerfer dadurch direkte Eingriffsmöglichkeiten und Kontrolle. Im Prinzip ist parametrisches Entwerfen kein neues Verständnis des Entwurfsvorganges und kann anhand historischer Beispiele illustriert werden.
In der barocken Kuppel der Kirche San Carlo alle Quattre Fontane in Rom von Borromini (1638-1641) werden die Ornamente durch „assoziative“ Anpassung einzelner Formen an die Gesamtform verzerrt und geometrisch variiert. Hier ist die Form der Ornamente nicht invariabel, jedoch die Regeln, die hinter ihrer Entstehung stehen.
Dies kommt nahe an das Verständnis einer Form als Abbild eines Kräftediagramms oder als Momentaufnahme einer Konstellation unterschiedlicher Krafteinflüsse heran. Im Gegensatz zur Beschreibung von D’Arcy Thompson in seinem Buch „On Growth and Form“ von 1917 handelt es sich hierbei jedoch nicht nur um Deformationen (Verzerrungen, affine Abbildungen) eines Umrisses bzw. Transformationen, bei denen weder neue Elemente hinzugefügt noch weggenommen werden. Der Prozess der regelbasierten Formgenerierung kann im Gegensatz dazu eine unendliche Formvielfalt hervorbringen.
In Zusammenarbeit von Toyo Ito mit Cecil Balmond und der Advanced Geometry Unit von ARUP entstand 2002 ein Pavillon für die Serpentine Galerie, der als frühes Beispiel des Einsatzes eines algorithmisch definierten Entwurfsmodells gelten kann. Die Notwendigkeit des schnellen Entwerfens und Realisierens verlangte nach einem Prozess, der eine möglichst nahtlose Umsetzung des Entwurfsthemas ermöglichte. Die Festlegung einiger weniger Ausgangspunkte wurde konsequent am Computer untersucht, wobei zuerst der Prozess aufgesetzt wurde und anschließend das Entwurfsmodell optimiert und selektiert wurde. Form, Struktur und Raum entstanden als Einheit und gleichzeitig mittels eines evolutionären Prozesses. Das Ganze und die einzelnen Komponenten sind integral miteinander verknüpft.

Assoziative Geometrien

Die aktuelle Softwareentwicklung erlaubt es, Beziehungen zwischen einzelnen Elementen festzulegen. Bei diesen assoziativen Geometriemodellen werden Objekte als parametrische Geometrien definiert, die direkt vom Prozess ihres Entstehens abhängig sind; trotz gleicher Form sind verschiedene Eigenschaften möglich. In einer solchen Umgebung „weiß“ ein Rechteck, dass der Winkel zwischen zwei Kanten ein rechter sein muss. Deformationen durch Verschiebung eines Punktes sind nicht möglich bzw. resultieren in einer Skalierung des Objekts.
Die Arbeit mit diesen Programmen ermöglicht es dem Entwerfer Grenzwerte festzulegen und so zum Beispiel Materialeigenschaften zu simulieren. Es wird nicht nur die Form bestimmt, sondern darüber hinaus auch mögliche Reaktionen auf Kräfte und Veränderungen. Zusammenhänge und Abhängigkeiten werden zu untrennbaren Eigenschaften jeder Form.
Durch assoziatives Einfügen von generischen Elementen auf geometrisch komplexe Oberflächen wird eine große Vereinfachung in der Differenzierung von standardisierten Elementen möglich. Die automatische Adaption der Teile auf die Oberflächengeometrie lässt ein Gesamtsystem entstehen, in dem zwar alle Teile im gleichen Prozess hergestellt werden, jedoch jedes eine unterschiedliche Form hat. Hierbei gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Gesetzmäßigkeiten und die resultierenden Einflusskräfte auf ein Element zu steuern, entweder mittels grafischer oder numerischer Eingaben oder der Kombination von beidem. Entwerfen wird hier zum interaktiven Entwickeln unterschiedlicher Varianten, zur Steuerung eines Zusammenspiels von Maschine und Gestalter. Form entsteht in einem emergenten Prozess.

Die Kirche Sagrada Familia in Barcelona ist der bekannteste Entwurf von Antoni Gaudi und ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Bauwerk, das seiner Zeit weit voraus war. Gaudi veränderte seine Entwurfsstrategie weg von der reinen Komposition freier Formen wie beim Apartmentblock Casa Milla zu einer rigiden, regelbasierten Formbeschreibung. Auch wenn der Entwurf lange vor der Erfindung des Computers konzipiert wurde, ist er als Beispiel einer parametrischen Entwurfsweise wegweisend. Er ist gekennzeichnet durch die systematische Herangehensweise an die Schaffung von Formen und bietet einen guten Ausgangspunkt, den Nutzen des Computers bei Entwurf und Konstruktion zu analysieren. Da die meisten der Originalmodelle von Gaudi zerstört waren, wurde mittels „Reverse Engineering“ versucht, die ursprüngliche Logik nachzuvollziehen und die eingescannten Fragmente der Gipsmodelle zu ergänzen.
Dem Entwurf liegt ein Codex für reichhaltige Formgeneration zugrunde, der eine wiederholbare, innerhalb von Regeln veränderbare, präzise Beschreibung der Geometrie erzeugt. Viele Elemente bei Gaudi sind geometrische Regelflächen, der Herstellungsprozess war Teil der Formentwicklung. Regelflächen sind mit wenigen Hilfsmitteln baubar, ihre einfache Abwickelbarkeit erlaubt es, gerade Bewehrungsstäbe in doppelt gekrümmten Flächen anzuordnen. Durch Überlagerung einfacher Elemente entsteht Komplexität und Formenvielfalt im Gesamtprojekt.
Durch den Einsatz des Computers war eine parametrische Annäherung und Weiterentwicklung des Gebäudes möglich. Die Verarbeitung von großen Mengen an Daten erlaubt die parallele Betrachtung unterschiedlicher Aspekte und damit eine experimentell-spekulative Weiterentwicklung des Entwurfs auf Basis der gefundenen Regeln. Faszinierend ist, dass seine Konzeption ohne Computer erfolgte, es aber erst durch den Einsatz assoziativer Computermodelle im Team weiterentwickelt und gebaut werden konnte und in wenigen Jahren seiner Vollendung entgegensieht. An diesem Prozess zeigen sich prototypische und richtungweisende Tendenzen für den Einsatz des Computers in der heutigen Zeit:
- Die rationale Beschreibung und Herstellung ist wichtiger als die Ästhetik des Ergebnisses,
- Die Logik ist klar beschrieben, aber das Resultat ist nicht vorhersehbar und lässt viele mögliche Aktualisierungen zu.
Marc Burry, der seit mehr als 25 Jahren die computerunterstütze Arbeit an der Sagrada Familia leitet, kommt aufgrund seiner Erfahrungen zum Schluss, dass Computer einen ablesbaren Effekt auf die Entwurfsqualität und die gebaute Form haben. Das Verständnis von Raum und Zeit ändert sich von stabilen Konzepten in der Klassik oder der Renaissance zu einem dynamischeren, unvorhersehbaren Modell, das näher am Verständnis von natürlichen Systemen liegt, die von Wachstum, Form und Evolution gekennzeichnet werden. [6]

Ausblick

Was sind die Auswirkungen digitaler Entwurfsmöglichkeiten auf das Berufsfeld? Welche Entwicklungen werden in den nächsten Jahren auf uns zukommen?

1. Der Einsatz des Computers erleichtert die Kommunikation zwischen allen Beteiligten, komplexe Aufgaben können im Team so bearbeitet werden, dass alle Beteiligten am gleichen Datenmodell arbeiten. Die Zusammenarbeit zwischen Ingenieuren und Architekten wird dadurch fließender. In großen Büros entstehen vermehrt interdisziplinäre Teams.

2. Architektonische Projekte entstehen in einem emergenten Prozess, ähnlich evolutionären Prozessen in der Natur, wobei das Entwerfen zum Festlegen von Funktionen und Parametern sowie der permanenten gestalterischen Auseinandersetzung mit den eigenen Vorgaben wird. Der Entwurf wird dabei nicht mittels Zeichnungen, sondern durch das Programmieren und dem Festlegen von Flächen und Formen mittels numerischer und algorithmischer Vorgaben weiterentwickelt.

3. Algorithmisches Entwerfen macht aus dem Computer ein robustes Werkzeug, das die Manipulation und das Hinzufügen weiterer Parameter und Elemente, die beim architektonischen Entwurf relevant sind, erlaubt.

4. Es bilden sich Spezialisten, die sich ihre eigenen Softwareanwendungen programmieren und sich ganz speziell für die Aufgaben zugeschnittene Werkzeuge selbst erstellen können. Dabei werden Tätigkeiten zur parametrischen Optimierung vor allem für die Ausführung sowie konzeptuelle Entwurfswerkzeuge für die Anfangsphase eines Projekts unterschiedlich behandelt. In großen Architekturbüros (wie Foster oder SOM und KPF) sind „Special Geometry Units“ entstanden, die anfänglich eher Optimierung betrieben, nun aber vermehrt ihre Kenntnisse zur algorithmischen Formgenerierung verwenden. Vor allem in der formalen Entwicklung von Hochhausprojekten lässt sich ihr Beitrag bereits ablesen. (7)

5. Neben der Spezialisierung entsteht eine Individualisierung der Arbeitsplätze durch Werkzeuge, die von den Bearbeitern selbst für Projekte oder Projektaufgaben maßgeschneidert werden. Dies wird durch die Softwareentwicklung ermöglicht, bei der
Programme stets mehr als Plattformen verstanden werden (siehe Übersicht Martin Schroth).

6. Die Übertragung von Informationen von einem Medium in das nächste kann vermieden werden. Die simultane Bearbeitung großer Datenmengen erlaubt die Beherrschung von Komplexität und das parallele Betrachten unterschiedlicher Aspekte.

7. Faktoren aus dem Herstellungsprozess können früher und einfacher in den Entwurfsprozess integriert werden, so dass es kaum eine Kluft zwischen Form und Materialisierung mehr gibt. Geometrie und Materie werden als kontinuierlich gesehen, allerdings besteht keine lineare Abhängigkeit, so dass sich dem Entwerfer Raum für eigene Entscheidungen, Anpassungen und Veränderungen des geometrischen Modells auf dem Weg zu einer baubaren Struktur bieten.

8. Durch eine prozesshafte Arbeitsweise unter Erzeugung vieler Varianten entsteht ein anderes Verständnis von Form. Entwerfen wird zur Mischung aus regelbasierten Festlegungen und experimentellem Erkundungsprozess, was grundsätzlich neue Raumkonzepte ermöglicht.

9. Die Wechselwirkung zwischen den kreativen Anforderungen von Seiten der Entwerfer an die Werkzeuge einerseits und den technischen Möglichkeiten der zur Verfügung stehenden Werkzeuge andererseits generieren neue unvorhersehbare Ergebnisse und tragen zur Weiterentwicklung der Disziplin Architektur bei.

10. Wie bei vielen technischen Anwendungen werden wir eine Konvergenz der unterschiedlichen Computer-Programme aus dem 2D- und 3D-Bereich sehen, die sich zu Plattformen entwickeln werden. Auf dem Markt ist bereits der Trend zur Versammlung unterschiedlichster Pakete bei einigen wenigen Anbietern als Vorstufe abzulesen.

11. In der Ausbildung sollte das notwendige Wissen vermittelt werden. Fähigkeiten wie darstellende Geometrie, das Denken in Prozessketten und 3D-Kenntnisse beim Entwurf werden Grundbestandteile werden.

In Kürze werden wir die Qualität der so entstandenen architektonischen Ergebnisse beurteilen können. Der Einsatz computerbasierter generativer Methoden der Formfindung wird dabei die zentrale Rolle spielen.


Fußnoten:
[1] Nikolaus Kuhnert, Angelika Schnell: „Computerarchitektur“, in: Editorial ARCH 128 „Entwerfen am Computer“, September 1995
[2] Annette LeCuyer: „Entwerfen am Computer. Frank Gehry und Peter Eisenman“, in: ARCH 128, September 1995, S. 26ff.
[3] Greg Lynn: „Das Gefaltete, das Biegsame und das Geschmeidige“, in: ARCH 131, S. 62ff.
[4] siehe ARCH 137 („Die Anfänge moderner Raumkonzeptionen“), mit deutschen Auszügen aus Evans’ „The Projective Cast“, Juni 1997; Jules Moloney, Collapsing the Tetrahedron: Architecture with(in) Digital Machines, CHArt Conference Proceedings, Bd. 2, 2000
[5] Kostas Terzidis, Algorithmic Architecture, Amsterdam 2006
[6] Mark Burry, Jane Burry: Gaudi and CAD, http://itcon.org, 2006
[7] Vortrag von Tobias Schwinn, SOM London, an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart am 7. Juli 2008

ARCH+, Di., 2008.11.18

18. November 2008 Tobias Wallisser

4 | 3 | 2 | 1