Editorial

„I’m coming from where you’re going – and it’s not worth going there.“ In einer Parabel verpackt, berichtet Charles Correa in seinem Buch „The New Landscape“ von dem gegenseitigen Unverständnis, das zwischen den westlichen Hippies und wohlhabenden Indern im Indien der 1960er bis 70er Jahre herrschte. Die einen, die den materiellen Reichtum des Westens hinter sich gelassen und nun zerlumpt und barfüßig auf den Straßen Indiens nach einem tieferen Sinn des Lebens suchten, und die anderen, die ihren neu erworbenen Wohlstand stolz und ostentativ auslebten, fühlten sich durch den Anblick des jeweils anderen direkt angegriffen. Denn mit ihrem Lebensstil signalisierten sie einander, dass weder der Fortschritt noch das vermeintlich Authentische eines vormodernen Lebens „der Mühe wert ist“, also Erfüllung verspreche. „Ich komme daher, wo du hingehst – und es ist der Mühe nicht wert.“ Mit dieser knappen Formel bringt Correa, ein Altmeister der indischen Architektur, die Ambivalenz von Modernisierungsprozessen auf den Punkt.
In dieser Parabel begegnen sich Modernisierungsgewinner und -verlierer in vertauschten Rollen. Die Begegnung entmystifiziert ein Indienbild, das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts im Westen, vor allem im deutschsprachigen Raum vorherrschte, in welchem Indien immer wieder als geistige Projektionsfläche gedient hatte. Der Indien-Mythos, der von der Romantik bis zum Aussteigertum der Hippie-Kultur reichte, speiste sich aus einem mutmaßlich ganzheitlichen Lebensmodell, welches das aufgeklärte Europa im alten Indien wiederentdeckt zu haben glaubte. Zugleich fungierte das Ideal Indien gewissermaßen als Kritik am Rationalismus der eigenen aufgeklärten Kultur und dem damit einhergehenden Verlust an Spiritualität. In diesem Sinne haben fast alle wichtigen Denker und Dichter der deutschen Romantik (u.a. Goethe, Novalis, die Brüder Schlegel, Schopenhauer) die altindische Kultur und deren Schriften rezipiert. Die Beschäftigung mit einem idealisierten antiken Indien diente, wie die indische Kulturwissenschaftlerin Miksha Sinha darlegt, auch der Vergewisserung und der Konstruktion der eigenen kulturellen Identität. Diese „asiatische Renaissance“, die mit einer „Asiatisierung“ des Denkens einhergeht, wie Peter Sloterdijk dies zugespitzt formuliert, bietet nach Sloterdijk und Sinha den Schlüssel für ein postkoloniales, multiperspektivisches Verständnis von Kultur und Identität, das heute wichtiger ist denn je.

Auch Architekten haben wiederholt im Geiste dieser Rezeptionsgeschichte die indische Architektur als Referenz angeführt. Adolf Behne entdeckte in seinen Volksbildungsvorträgen für die Sozialdemokratie im Jahre 1915 zwischen der indischen Architektur und der Gotik eine Seelenverwandtschaft. Für Bruno Taut und Hans Poelzig versprach der Osten gar die Rettung der als geistig verarmt empfundenen, westlichen Kunst. Aber selbst der Mystik unverdächtige Architekten wie Walter Gropius und Adolf Meyer ließen sich von der Orient-Euphorie anstecken und sahen in der indischen Architektur und Skulptur „ein Ziel“.

Was aber sagt uns Indien heute? Der Modernisierungsprozess, der das Land seit der Unabhängigkeit vor genau 60 Jahren erfasste, lüftete spätestens mit Beginn der verschärften Globalisierung und der Liberalisierung der Wirtschaftspolitik Anfang der 1990er Jahre den mystischen Schleier, nur um im Westen einem anderen Indienbild Platz zu machen: Aus der spirituellen „Weisheit“ des „gesuchten Landes“ (Hegel) ist ein global konkurrierendes „Wissen“ (IT) einer Wirtschaftsmacht geworden. Reinhold Martin und Kadambari Baxi weisen in ihrem Buch „Multi-National City“, aus dem wir Auszüge in Erstübersetzung bringen, die folgerichtige Entwicklung Indiens zu einem IT-Standort nach, eine Entwicklung, die im Zusammenhang mit der Modernisierung des Landes gesehen werden muss. Statt die jüngsten Auswüchse der Globalisierung, die lediglich eine weitere Stufe des Modernisierungsprozesses darstellt, als ahistorisch zu mystifizieren, wie es viele Kritiker häufig tun, zeichnen die beiden Autoren in einem virtuosen Bogen die Geschichte der indischen Moderne nach: die Aufbruchsstimmung der Nachunabhängigkeitszeit, von der Le Corbusiers Chandigarh und viele andere öffentliche Bauten und Projekte künden, die Identitätssuche der 1970er und 80er Jahre und die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Liberalisierung der 1990er Jahre (S. 56 ff.).

„Das gute Leben ist insulär“

Im Gegensatz zu dieser teleologischen Sichtweise betont Gyan Prakash, Historiker und Mitglied der bekannten Subaltern Studies Group, dass die sozio-räumliche Organisation der Stadt sich ahistorisch verhält. Ahistorisch in der Bedeutung, dass die urbane Entwicklung sich nicht unbedingt linearer im Sinne einer historischen Evolution à la Hegel vollzieht. Die Stadt als der Ort, an dem Modernisierungsprozesse in verschärfter Form ablaufen, sei kein Stadium im Übergang von Tradition zu Moderne, sie bringt keine Erlösung oder Verbesserung für alle, sie ist modern und vormodern zugleich. In ihr finden gegensätzliche Entwicklungen gleichzeitig statt, existieren unterschiedliche Entwicklungsstadien nebeneinander, ohne dass sie auf ein gemeinsames geschichtliches Ziel hinauslaufen (S. 28 f.). Darin folgt Prakash der Argumentation von Michel Foucault, der in seinem Essay „Andere Räume“ feststellt, dass die Zeit der teleologischen Erfüllung der Geschichte in einem linearen Fortschritt vorbei sei: „Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, ... des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes, sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt.“ In dieser Beschreibung spiegelt sich die städtische Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts wider. Es ist eine Wirklichkeit, die von Zeitsprüngen durchlöchert ist: einerseits sprießen unaufhörlich neue Inseln des Wohlstands und des High-Techs hervor, andererseits existieren große Flächen und Bevölkerungsgruppen in prekärer Unterentwicklung und Armut. Diese extreme sozio-räumliche Diskrepanz ist Kennzeichen der urbanen Entwicklung Indiens, die wir in diesem Heft mit der These des Indischen Inselurbanismus zusammenfassen.

„Das gute Leben ist insulär“, schreibt Gautam Bhatia in seinem Beitrag (S. 89 ff.). Dieses Bonmot könnte stellvertretend für die gesamte räumliche Entfaltung heutiger Städte stehen. Von der Schaffung eines modernistischen homogenen Raums mit dem Ziel, gleiche Lebensbedingungen für alle herzustellen, haben die verantwortlichen Kräfte längst abgesehen: die Wirtschaft mit ihren Sonderwirtschaftszonen und den IT-Parks, die Gesellschaft mit den Wohlstandsenklaven des Mittelstands, den Gated Communities und Shoppingmalls, die Politik mit dem Fokus auf die Bereitstellung guter Investitionsbedingungen für private Investoren. Das Ergebnis ist eine Form des Inselurbanismus, wie er heutzutage zwar überall auf der Welt anzutreffen ist, in Indien jedoch ungekannte Ausmaße annimmt. In archplus 183 Situativer Urbanismus lieferten Urban Catalyst eine Definition für das Phänomen: „Räumlich manifestiert sich dieser „Unternehmerische Städtebau“ in einem „Inselurbanismus“: Investitionsrelevante Standorte werden als enklavenartige „Projekte“ bis ins letzte Detail geplant, die dazwischen liegenden Territorien verschwinden aus dem öffentlichen Bewusstsein.“ Dass die dadurch entstehenden urbanen Brachräume auch eine neue Freiheit für alternative Akteure bedeutet, wie Urban Catalyst feststellt, ist für den Westen neu. In Indien hingegen bilden gerade diese ambivalenten städtischen Zwischenräume die Existenzgrundlage von Millionen marginaliserter Stadtbewohner. Sie rücken sofort in diese Räume nach und besetzen und verteidigen ihre in Besitz genommenen Nischen, seien sie noch so prekär, da deren engmaschige Vernetzung mit der Stadt ihre einzige Überlebenschance darstellt (Philipp Rode, S. 86 f.). Die Enklaven des Wohlstands sind aufs Engste mit der flächendeckenden prekären Wohnsituation des Großteils der Bevölkerung verwoben. Der informelle Sektor mit seinem schier unerschöpflichen Reservoir von Niedriglohnarbeitern versorgt die neue Mittelklasse mit den notwendigen Dienstleistungen, ohne die sie gar nicht lebensfähig wäre. Diese symbiotische Beziehung, wenn man es so euphemistisch ausdrücken will, beschreibt Kiran Nagarkar in seinem Portrait von Mumbai als ein Merkmal der Lebensqualität dieser ansonsten dysfunktionalen Megastadt (S. 24 ff.). Unabhängig von einer moralischen Bewertung kommt eine kritische Stadtplanung nicht umhin, genau dort anzusetzen und zu untersuchen, wie sich dieser Zustand auf den Raum und dessen Nutzung auswirkt. Denn „was die Wohnviertel der Mittelschicht von den Slums trennt, ist nicht Zeit, sondern Raum; nicht bloß der physische Raum, sondern auch der Raum der Macht.“ (Prakash)

Der Rückzug des Staates

Während sich der Modernisierungsdiskurs der indischen Staatsgründung noch um den Gegensatz zwischen Stadt und Land entzündete, hat der Staat, wie es scheint, das Ziel einer gleichmäßigen Entwicklung inzwischen vollends aufgegeben. In 60 Jahren Unabhängigkeit vermochte der Staat nicht, das drängende Problem der städtischen Armut und einer angemessenen Wohn- und Infrastrukturversorgung zu lösen. Fast alle großmaßstäblichen Lösungsversuche haben stattdessen neue Probleme nach sich gezogen. So führen Sanierungsprojekte häufig dazu, dass die Menschen ihre wirtschaftliche Grundlage verlieren, sei es, dass sie aus der Stadt hinaus in abgelegenen Wohnsilos vertrieben werden und ihre Dienstleistungen nicht mehr oder nur unter erschwerten Bedingungen anbieten können. Sei es, dass in den zugewiesenen Wohnungen keine Möglichkeit und Räumlichkeit besteht, ihr Handwerk auszuüben und ortsnah an Kunden zu verkaufen. Dieses Unvermögen des Staates hat dazu geführt, dass die Menschen auf Selbsthilfe angewiesen sind und sich ein regelrechter Wirtschaftszweig von Nichtregierungsorganisationen (NGOs)herausgebildet hat, die sich als Intermediäre um jeden Aspekt des Lebens kümmern. Allerdings weiß man häufig nicht mehr, welche Agenda die vielen NGOs vertreten oder für wen sie kämpfen. Diese zivilgesellschaftlichen Prozesse des Interessensausgleichs werden zunehmend funktionalisiert und manipulativ eingesetzt, so dass vielfach private Investoren und der Staat eigene NGOs für bestimmte Zwecke gründen, beispielsweise um Slumbewohner zum Auszug aus ihren Slums zu bewegen und damit lukrative Entwicklungsflächen zu räumen. Mike Davis nennt dies NGO-Liberalismus (S. 70 ff.).
Gleichwohl funktioniert der demokratische Prozess in Indien erstaunlich gut, denn die Slumbewohner machen ausdrücklich Gebrauch von ihrem Wahlrecht. Dadurch sind sie eine nicht zu vernachlässigende politische Größe, allerdings konterkariert die so genannte „Vote Bank Politics“, sprich die einheitliche Stimmabgabe von ganzen Gruppen, ein effektives Durchsetzen eigener Interessen und verzerrt zudem regelmäßig die komplexe politische Realität vor Ort. „Die Betroffenen, die da opponieren, wissen bisweilen nicht einmal von ihrem Widerstand“, heißt es bei Solomon Benjamin und Bhuvaneshwari Raman, die in ihrem Beitrag für einen offensiven „okkupativen Urbanismus“ und eine „Politics of Stealth“ eintreten (S. 97 f.). Eindeutige Zuordnungen erweisen sich als unzureichend; es scheint, als könne man für fast jede Aussage gleich das Gegenbeispiel finden: NGOs als Vertreter der Armen oder als Manipulateure, die Slumbewohner als die Marginalisierten oder als Kleinunternehmer, als Stimmenpotenzial und Entwickler (CRIT, S. 84 f.). Die Verwaltung als unfähiger Wasserkopf oder als Refugium kollektiver Interessen. Vor der Prämisse, dass Planer zunehmend im Ungewissen agieren, sowohl was die Grundlagen als auch die Ansprechpartner betrifft, erscheinen die subversiven Strategien, die Solomon und Raman beschreiben, als fluide Aneignungsstrategien, die das Funktionieren des Gesamtorganismus gewährleisten. Die Besetzung öffentlicher Räume ist – entgegen westlicher Vorstellung – eine Folge, die sich aus dem Nutzungs- und Eigentumsverständnis ergibt, und nicht nur dem generellen Mangel an Raum geschuldet. Diese Form der Inbesitznahme trägt nicht nur zur – chaotischen oder bisweilen pittoresken – „Lebendigkeit“ der indischen Stadt bei, sondern produziert auch eine notwendige Toleranz.

Das Paradox der indischen Urbanisierung

Im Hinblick auf die überlastete, teilweise dysfunktionale Infrastruktur der indischen Metropolen, müsste das städtische System längst zusammengebrochen sein. Dass es weiterhin funktioniert, hängt unter anderem an der Eigeninitiative der Bewohner, die in vielen indischen Städten, vor allem in den Slums, eigene Versorgungssysteme entwickelt haben, die – trotz aller Missstände – erstaunlich gut funktionieren. Beispiele dafür sind das System der Dabba Wallas, die täglich mehrere Hunderttausend Essensrationen in der Stadt ausliefern, das informell organisierte Recyclingsystem in Mumbai oder informelle Kanalisationsleitungen in Slums. Martin Fuchs beschreibt in seinem Artikel eindrücklich das soziale Netzwerk und die Mechanismen der Selbstregierung, die in Dharavi, dem größten Slum Mumbais, existieren (S. 77).
Wie aber wird der Staat mit seinen Aufgaben in Zukunft zurechtkommen, wenn die Urbanisierung weiter voranschreitet? Denn zur Zeit, und da täuschen die indischen Megastädte in der Bilanz, liegt Indien mit einem Urbanisierungsgrad von 30 Prozent weit hinter der weltweiten Entwicklung zurück, die gerade die 50-Prozentmarke überschritten hat. Dass einige wenige Metropolen fast die gesamte Last der städtischen Entwicklung eines Landes tragen müssen, ist das „Paradox der indischen Urbanisierung“ (Ravi Ahuja, S. 38 ff.). Dieses ungleichmäßige Wachstum wird zu einer weiteren Verschärfung der bestehenden Probleme führen. Kann die Zivilgesellschaft sie alleine bewältigen? Welche Mechanismen der Planung, der Verwaltung und des Interessensausgleichs gibt es, um dieser Herausforderung zu begegnen? Die Konferenz Urban Age India, die im November 2007 in Mumbai stattfinden wird, wird sich mit der zentralen Frage, wie die größte Demokratie der Welt mit der fortschreitenden Urbanisierung und der dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung umgeht, befassen müssen. Urban Age – Das Zeitalter der Städte ist eine Konferenzreihe, welche die Alfred Herrhausen Gesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Cities Programme an der London School of Economics and Political Science (LSE) ins Leben gerufen hat, um die Implikationen des weltweiten städtischen Wachstums mit allen Verantwortlichen aus Politik, Planung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zu diskutieren. Die Alfred Herrhausen Gesellschaft ermöglichte mit ihrer Unterstützung die umfangreiche Recherche und die Publikation von archplus 185. Ein besonderer Dank gilt Wolfgang Nowak (Sprecher der Geschäftsführung) und Ute Weiland sowie Jessica Barthel und Priya Shankar. Für die inhaltliche Zusammenarbeit danken wir dem Urban-Age-Team der LSE, insbesondere Ricky Burdett, Philipp Rode und Pamela Puchalski.
www.alfred-herrhausen-gesellschaft.de
www.urban-age.net

Anh-Linh Ngo, Kristina Herresthal, Anne Kockelkorn, Martin Luce

Inhalt

02 Zeitung
Ronneberger, Klaus / Schöllhammer, Georg / Busenkell, Michaela / Kuhnert, Nikolaus

11 Indischer Inselurbanismus
Ngo, Anh-Linh / Herresthal, Kristina / Kockelkorn, Anne / Luce, Martin

14 Die Chance einer asiatischen Renaissance
Sloterdijk, Peter

16 Der deutsche Orientalismus und die Neuorientierung des Westens
Sinha, Mishka

20 Indien und der Orient im Blick deutscher Architekten 1915-1920
Speidel, Manfred

24 Diese Stadt bläst dir dein Gehirn raus!
Nagarakar, Kiran

27 Die britische Herrschaft in Indien
Marx, Karl

28 Die städtische Wende
Prakash, Gyan

30 Rourkela - Das Doppelleben einer indischen New Town
Saad, Ali

34 Indigene Moderne
Hosagrahar, Jyoti

38 Das Dickicht indischer Megastädte
Ahuja, Ravi

41 Urbane Schaumblasen
Gupte, Rupali / Mehrotra, Rahul / Shetty, Prasad

46 Wohntypologie Mumbai
CRIT

52 Sabarmati Riverfront
HCP Design and Project Management

54 Goa 2100
Revi, Aromar / Prakash, Sanjay / Bhat, G K / Gupta, Kapil / Mehrotra, Rahul / Gore, Rahul

58 Die multinationale Stadt
Martin, Reinhold / Baxi, Kadambari

62 Cyberabad
Gotsch, Peter / Kohte, Susanne

66 Indien scheint
Brosius, Christiane

70 Planet der Slums
Davis, Mike

74 Bombay: Maximum City
Mehta, Suketu

77 Slum als Projekt
Fuchs, Martin

81 Quoten für Unberührbare
Agrawal, Purushottam

84 Slum as Real Estate - Immobilienmarkt Slum
CRIT

86 Mumbai: Die kompakte Megacity
Rode, Philipp

89 Auf dem Weg zu einem hässlichen Indien
Bhatia, Gautam

92 Die Erfindung des modernen indischen Architekten
Krishna Menon, A.G.

96 Forschungswelten
Herresthal, Kristina / Kockelkorn, Anne

98 Okkupativer Urbanismus
Benjamin, Solomon / Raman, Bhuvaneshwari

100 Cybermohalla Hub
Bagchi, Jeebesh / Hirsch, Nikolaus / Müller, Michel

102 Playbox
S PS Architects

103 Wohnhaus und Studio
Rajesh Renganathan Architects

104 Kantine Delhi
Romi Khosla Design Studio

105 Paper Log Houses
Ban, Shigeru / Shodan, Kartikeya

106 Contemporary Urban India
Chris Lee Architects / Gupta, Kapil

108 Synopse - Indien 1850 bis heute
archplus

118 Produktschau
Luce, Martin

Indigene Moderne

Keiner wird bezweifeln, dass sich Indien auf eine rasante Entwicklung und Modernisierung eingelassen hat. Die Städte agieren in der ersten Reihe, wenn es um Modernität und Globalisierung geht. Aber kann man Indiens Architektur und Städtebau eigentlich schon „modern“ nennen oder ist Indien bis heute nur auf dem Weg dorthin? Ich kann diese Frage nicht stellen, ohne zuvor zu definieren, was „modern“ bedeutet, was ganz allgemein darunter verstanden wird. Was „modern“ oder „die Moderne“ in Indien bedeuten, lässt sich nicht sagen, ohne auf die Interpretationen des westlichen Europas und Nordamerikas zurückzugreifen, und darin liegt unsere Crux.

Manche glauben, dass die Wolkenkratzer aus Glas und Stahl in den Finanzzentren der Welt, dass die multinationalen Konzerne in den Sonderwirtschaftszonen, dass die exorbitanten Shopping Malls und die sich rasch verbreitenden Gates Communities untrügliche Zeichen seien für eine globalisierte Moderne. Jenseits dieser einprägsamen Bilder gibt es aber auch noch eine ganze Reihe von Formen der Moderne im „transitorischen Zustand“, worin die Moderne avisiert wird, aber noch nicht wirklich präsent ist.

Ich denke an den Städtebau in Indien, der voller Probleme steckt und dessen Kennzeichen die Armut ist: ungezügeltes Wachstum, unzureichende Infrastruktur und ärmliche illegale Siedlungen. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet aber repräsentieren gerade diese Städte mit ihren brodelnden Basaren, ihren traditionellen Quartieren und ihren historischen Stadtkernen die reinste Form des exotisch Anderen, des „Non-West“. Da sie anscheinend von der Globalisierung unberührt blieben, feiert man sie als Symbole für indische Kultur und den unberührten „Geist des Ortes“, und es gibt viele, die den Einbruch der Moderne als Übel deuten.

In Indien vermischen die sonst so sauber getrennten Kategorien von „modern“ und „traditionell“, von „westlich“ und „nicht-westlich.“ Das betrifft die Architektur wie die Gesellschaft. Wie sollen wir die ambivalente Modernität der gebauten Umwelt verstehen? Ist die Fragmentierung ein Zeichen für die mangelnde Durchsetzungskraft der Moderne, gar ihr Scheitern, oder für die allmähliche Auflösung der Tradition?[1] Ich werde am Beispiel von zwei Orten zu klären versuchen, wie sich die Annäherung an Moderne und Globalisierung vollzogen hat. Doch das wirft mich noch einmal auf die Frage zurück, wie „Moderne“ und „Tradition“ in der gebauten Umwelt zu definieren sind und wer über solche Definitionen bestimmt.

Die Denker der Aufklärung in Westeuropa haben etwas in Gang gesetzt, das Jürgen Habermas das „Projekt der Moderne“ nennt.[2] Zu dessen Eckdaten gehören: das Primat der Wissenschaften über die Natur, die Rationalität des Denkens, die Organisation von Gesellschaft und Raum, wodurch man sich von Mythos, Aberglauben und Religion befreien will.[3] Aus der Moderne als globalem Projekt gingen als erstes die Kolonialisierungen von Asien und Afrika hervor. Die europäischen Herrscher beanspruchten ein Hoheitsrecht auf die Moderne, sie gaben ihre Bedeutung vor und legten ihre Formen fest. Die Definition bestand in einem Widerspruchspaar: Was „modern“ war, war „nicht traditionell.“ Innerhalb dieses binären Schemas wurden die, die weder das eine noch das andere repräsentierten, ganz einfach zu Kräften erklärt, die dabei waren, sich zu modernisieren, wobei das Ziel von vornherein vorgegeben war. Sie hatten gar keine Wahl. Zu Traditionalisten gestempelt, konnten sie moderne Formen nur noch anstreben, adoptieren oder imitieren. Doch haben sie das Projekt des Übergangs nie vollendet, nie sind sie so „modern“ geworden wie das Original.[4]
Ich führe hier den Terminus „indigene Moderne“ ein, um die paradoxen Erscheinungsformen jener Modernitäten zu beschreiben, die anderen Vorgaben folgen als dem universellen Paradigma, das auf einer Idealvorstellung des Westens von sich selbst beruht.[5] Wenn eine scheinbar einheitliche traditionelle Bauweise anfängt sich aufzulösen, wird die indigene Moderne sichtbar, und zwar in Abweichungen oder unerwarteten Lösungen. Bei der Anwendung universeller Gesetzmäßigkeiten auf einen ganz bestimmten Ort vermittelt die „indigene Modernität“ zwischen der historischen wie regionalen Einmaligkeit des Ortes und den Universalien Wissenschaft, Vernunft und Befreiung. Indem ich das Wort „indigen“ benutze, lege ich die Betonung auf Ort und Kontext und meine mit Moderne immer deren regionale formale Interpretation. Anders als das rigide Gegensatzpaar mit seinen monolithischen Blöcken „traditionell“ und „modern“ setzt die indigene Moderne auf Gleichzeitigkeit und Austausch. Die Kategorien vernetzen sich, die Eigenschaften greifen ineinander, keines ist mehr das eine oder das andere. Das räumliche Experiment mit indigenen Modernitäten erzeugt formale Widersprüche und stellt keine einfachen Zusammenhänge her, denn beide, das moderne wie das traditionelle Vokabular bleiben, wenn auch unvollständig, bestehen.

Zwei Vignetten

Gurgaon
In den vergangenen zehn Jahren ist Gurgaon, ein Mega-Gewerbepark und Standort der DLF City, zu einem bedeutenden Zentrum globaler Netzwerke geworden (siehe auch den Beitrag von Reinhold Martin, S. xx in diesem Heft). Die Grundstücksgesellschaft „Delhi Land and Finance“ (DLF) hat hier eine der größten privaten Wohnsiedlungen in ganz Asien gebaut. Diese Welt, aus glitzernden Shopping Malls, spiegelnden Bürotürmen und Luxuswohnungen in mehrgeschossigen Gated Communities, erscheint vielen Kommentatoren als Symbol für den Einzug der Moderne in Indien.
Die Apartmenthäuser von Gurgaon sind, wie die Bürotürme, die Malls, die Schulen, die Krankenhäuser und die Golfplätze, alle umzäunt und gesichert und liegen weit auseinander. In die Zwischenräume schieben sich die Siedlungen der Bewohner der Dörfer ringsum. Deren Entwicklung stößt überall an die Grenzen dieser neuen Welt, die den Dorfbewohnern Äcker genommen hat und innerhalb derer ganz andere Flächennutzungen und Eigentumsverhältnisse gelten.[6] Gemüseverkäufer und fliegende Händler (mit Stofftieren, Moskitonetzen, Zeitschriften und anderem Krimskrams) etablieren sich an Bushaltestellen und Straßenkreuzungen, sie definieren so etwas wie öffentlichen Raum, der allerdings von ganz anderer Art ist als der, den die Shopping Malls offerieren.
Das Bild des neuen Gurgaon ignoriert ganz offensichtlich Ort und Tradition. Dennoch gibt es im historischen Rückblick bei der Entwicklung von DLF City zu dieser globalen modernen Stadtlandschaft eine komplizierte Verflechtung mit Gurgaons besonderer institutioneller und sozialer Struktur. Durch den Delhi Development Act von 1957 wurde Stadtentwicklung zum Staatsmonopol und sollte eigentlich dazu dienen, Spekulationen durch private Entwicklungsträger zu verhindern.
Nun gab es aber einen Mann namens K.P. Singh von der DLF, der in Neu Delhi aus dem Geschäft gedrängt worden war. Er begann, in Gurgaon Land aufzukaufen, und zwar zu einem Zeitpunkt, als es noch weitgehend landwirtschaftlich genutzt wurde. Die Eigentumsverhältnisse waren kompliziert, wegen der patriarchalischen Struktur und des daraus folgenden Erbrechts, so dass es manchmal für eine Farm von nur wenigen Hektar verschiedene Eigentümer gab, die sich untereinander einigen mussten. Außerdem gab es kein „modernes“ Bankensystem, das Kredite für Entwicklungsmaßnahmen bereitgestellt hätte. Singh musste sich also auf überlieferte Tugenden verlassen, auf das soziale Kapital und den guten Willen der Menschen, und er musste persönlich haften.[7] Am Ende haben die DLF und andere private Bauträger das riesige Bauprojekt ohne allzu viele Planungsvorgaben begonnen und seine Entwicklung den Gesetzen des Marktes überlassen.[8]

Srirangapatna
Srirangapatna ist eine kleine Stadt zwischen Bengaluru und Maisuru. Gegründet im 9. Jahrhundert als Tempelstadt wuchs sie über die Jahrhunderte zuerst zur befestigten Hauptstadt des Königreichs Vijayanagar heran und wurde später zur britischen Garnisonstadt.[9] Doch der von den Engländern verursachte, dramatische kulturelle Umbruch im 19. Jahrhundert machte aus ihr keine Handelsstadt, keine Industriestadt und auch keine Verwaltungsstadt. Ganz im Gegenteil: Srirangapatna fiel dem Vergessen anheim.
Wenn man heute die gewundenen Straßen entlanggeht, die auf beiden Seiten von mehr als hundert Jahre alten Häusern gesäumt werden, könnte man meinen, hier sei ein Ort, den die Moderne einfach übersehen hat. Der räumliche Zusammenhang, wie ihn Religion und Kastenwesen vorgaben, ist an vielen Plätzen noch spürbar, die ältesten Gehöfte sind die der Brahmanenpriester nahe dem Tempel.[10] Alles unterstreicht den Eindruck einer stehen gebliebenen Zeit: die gepflasterten und ungepflasterten Straßen, die ein- und zweistöckigen Häuser, die weiß getünchten Ziegelwände, die Dächer mit ihren handgefertigten Terracottaziegeln, die hölzernen Säulen und Konsolen mit ihren Schnitzereien. Wer darauf aus ist, Formen zu entdecken, die der europäischen Moderne verwandt sind, muss Srirangapatna – im Gegensatz zu der globalen Moderne in Gurgaon – als exotisches Relikt wahrnehmen.
Und doch wird das vollkommene Bild inzwischen gestört: von Sendemasten, von Brücken, von Häusern aus Beton mit flachen Dächern und von den zahlreichen neuen Luxusanwesen nahe dem Flussufer. Die Bezirksverwaltung drängt auf vereinfachte Administration und hat begonnen, Wasserleitungen zu verlegen. Einer der Bürger von Srirangapatna, Krishna Prasad, besaß einst einen Familienwohnsitz, doch seit die alten Familienstrukturen auf kleine Kernfamilien zusammengeschrumpft sind, hat man auch seinen Besitz aufgeteilt. Was ihm blieb, ist eine Zweizimmerwohnung mit Dachspeicher.[11] Inzwischen gibt es auch die traditionellen Handwerker nicht mehr, wer früher auf dem Feld gearbeitet hat, sitzt jetzt meist auf einem Bürostuhl in Manya, Maisuru oder Bengaluru.
Einige Hotelketten, die sich schon Grundstücke am Ufer reserviert haben, weil sie den Blick auf die Palmenhaine und den heiligen Fluss Kaveri vermarkten wollen, verhandeln jetzt über die „Ghats“, die Stufen und Plattformen im Wasser, auf denen die rituellen Waschungen vollzogen werden.

Ambivalente Modernitäten

Beide Orte – der eine offensichtlich global und modern, der andere lokal verortet und traditionell – sind, das können wir feststellen, nicht eindeutig dies oder das. Während wir in Gurgaon den selbstbewussten Drang erleben, sich mit identifizierbaren Bildern einer universellen Moderne auszustatten, die aus dem Westen kommt, sehen wir in Srirangapatna zu, wie die einstige Raumordnung durch das Eindringen der Moderne erschüttert wird. Alte Formen werden durch neue Ansprüche umgedeutet und fremde Elemente mischen das vertraute Bild auf.
Kulturell mag man das Gegensatzpaar „modern“ und „traditionell“ aufrechterhalten, in die gebaute Form ist weder das eine noch das andere eingeschrieben. Deshalb ist jede Modernität „indigen“ und jede ihrer Ausdrucksformen gleichermaßen gültig. Wenn man beobachtet, wie die Moderne anderswo aussieht, wird einem plötzlich klar wie sich bestimmte Bauformen oder auch Formen des Zusammenlebens, in ein anderes kulturelles Milieu übertragen, verändern. Erkennen wir doch die Pluralität der Modernitäten an, durch die sich ihre vielen verschiedenen Interpretationen legitimieren. Dann erst könnten wir endlich aufhören, einer universellen Moderne nachzujagen oder sie zu verteufeln, und es wäre endlich auch Schluss mit der Romantisierung eines wirklichen oder nur erträumten Traditionalismus. Wenn das eine nicht vollen Herzens akzeptiert und das andere nicht vehement abgelehnt wird, verschmelzen Moderne und Traditionalismus, obwohl objektiv getrennt, zu indigenen Modernitäten.[12]
Was die indische Architektur oder den indischen Städtebau als „modern“ ausweist, ist nicht die Anwendung globaler Planungsstrategien oder anerkannter Formen. Auch ist die gebaute Umwelt in Indien nicht in Mythen und Traditionen erstarrt, die nur auf Modernisierung warten. Ich wehre mich gegen solche linearen Schlussfolgerungen. Stattdessen schlage ich vor, dass wir die Schwierigkeiten beim Übersetzen der Moderne und die Ambivalenz indischer Städte einfach als Reflektion der unzähligen Interpretationen einer indigenen Moderne verstehen. Wenn der Lauf der Moderne sich als konstanter Zyklus von Zerstörung, Aufbau und (auch) Tradition erweist, offen für Anpassung und Veränderung, dann ist eins mit dem anderen untrennbar verbunden. Das beunruhigende Konzept indigener Modernität enthält die Möglichkeit, die Vergangenheit in eine Moderne hinüberzuretten, deren Entwicklungsrichtung wir in einer postkolonialen Zukunft besser verstehen werden und besser lenken können.

ARCH+, Do., 2007.11.22

22. November 2007 Jyoti Hosagrahar

Auf dem Weg zu einem hässlichen Indien

Geht man in irgendeiner beliebigen Stadt die Hauptstraße hinunter, ist es immer dieselbe Geschichte: Straßen voller schreiender Reklame. Zwischen alten Monumenten liegen Exkremente im Müll. Entlang der Straße Imitate westlicher Bars, französische Restaurants, Hallen aus Granit und klimatisierte Einkaufsarkaden. Bittere deutsche Schokolade, Kaffee und warme Croissants inmitten des Gestanks eines Markturinals. Man watet durch den Schlamm eines überlaufenden Abflusses, um in einem imitierten Londoner Gasthaus zu speisen. So kontrastieren Momente des völligen Verfalls und des übersteigerten Genusses. Dies ist der neue Geschmack des urbanen Indien.

Ich weiß nicht, warum ich begonnen habe, die Stadt zu hassen. Wann immer ich das Haus verlasse, erfasst mich das Grauen. Wohin man sieht, begegnet man Augenblicken der Verzweiflung – immer mehr hoffnungslose Menschen, die Raum herausschinden: Gehsteige zum Schlafen, Bahnlinien für die Notdurft, abgerissene Bungalows, aus denen Apartments entstehen, Dienstbotenzimmer, die an Studenten und Garagen, die an Ärzte vermietet werden Mauern, die immer enger zusammenrücken und Häuser zu Apartments, Gärten zu Veranden reduzieren, Märkte, die sich auf Gehsteige ausbreiten und Gehsteige, die Straßen in Beschlag nehmen.

Und es gibt eine wachsende Kluft zwischen den Menschen, die den gleichen Raum besetzen: Parkplätze, die für Hotels reserviert sind, Migrantenfamilien in Abwasserkanälen, Wachhunde und hohe Schutzmauern, Sicherheitsdienste und BMWs. Wohnungen in Industriesümpfen, mit Reklame verunstaltete Bürofassaden, Farmhäuser ohne Farm oder irgendeine Beziehung zum Land, barocke Villen ohne Verbindung zu Rom. Ist es überraschend, wenn wir so angewidert sind von den Orten, die wir für uns selbst schaffen?

Die Zusammenhanglosigkeit der Stadt

Kürzlich erkannte ich auf einer Reise nach Rishikesh blitzartig, woher der Hass kam. Denn dort am Ufer des Flusses waren zwei Ansichten der Stadt tief in die Skyline geprägt. Jenseits des rauschenden Flusses konnte ich die freundliche Silhouette des Hinduismus erkennen – eine Linie von Ghats dicht am Ufer, schlichte Tempelumrisse und eine Folge von Ahram-Fenstern in weiß getünchten Wänden entlang der Straße. Ein einfaches Leben, einfach ausgedrückt. Doch auf meiner Seite des Flusses bot die Stadt ein erschreckendes, zeitgenössisches Bild. Entlang der Hauptverkehrsstraße erstreckte sich die nordindische Standardstadt mit ihren Slums. Rosa und gelb verputzte Häuser, unvollendete pastellfarbene Bauten, vom Monsun beschmutzt, an der Basis mit ausgespucktem Betel und Urin besudelt und an der Spitze durch Reklamezeichen verunstaltet. Es gab Pepsi-Schilder, klimatisierte Einkaufsarkaden und Hotels aus Rajasthani-Sandstein, alle mit getönten, an den Rändern gewellten Fenstern, die der Fassade einen speziellen ironischen Anklang verliehen, einen architektonischen Akzent, damit die Leute wussten, dass dies das Mughal Ganga Hotel war, schöner als die Krishna Palace Lodge unten an der Straße. Jedes Hotel hatte eine Bar und ein Restaurant im Freien. Jedes hatte Ausblick auf den Fluss. Jedes versuchte das andere in Design, Farbe, Details und Reklamemätzchen zu übertreffen. Die alte Stadt am anderen Ufer dagegen war ein stummer, melancholischer Zeuge der architektonischen Veränderungen.

Sollte die Architektur wie andere Bereiche der Populärkultur etwas vom Geschmack und von den Verhältnissen der Gegenwart widerspiegeln? Tut sie es, so wird sie schließlich auch die Trostlosigkeit der Straßen aufzeigen, die Verwahrlosung der kommerziellen Zonen, die Zusammenhanglosigkeit des öffentlichen Wohnbaus, die alle zu jenem Gefühl der Isolation beitragen, das die Menschen in der Stadt empfinden. Eine positive Identifikation zu vermitteln, ist die schwere Bürde, die der alten Architektur überlassen bleibt: die Ashrams von Rishikesh, die Ghats von Vrindavan, die Moscheen von Delhi – Bauten, die nicht nur unsere Vorstellungswelt bilden, sondern auch die notwendigen Orte schaffen, die Geschichte, die wir für uns selbst brauchen.

Die Zusammenhanglosigkeit der Stadt hat freilich eine lange Entwicklung hinter sich. Rapide steigende Bevölkerungszahlen, das Wachstum der Stadtzentren, chronische Arbeitslosigkeit und die schwierige Wirtschaftslage haben in den letzten fünfzig Jahren auf die gebaute Landschaft der Stadt eingewirkt. Der wachsende Druck auf städtische Grundstücke aufgrund der zunehmenden Urbanisierung führte zu unkontrolliert wuchernden Stadtzentren, die dem öffentlichen Raum und der urbanen Architektur einen neuen Maßstab verliehen.

Öffentlicher Raum: eine westliche Vorstellung

Architektur beeinflusst den öffentlichen Raum in vielfältiger Weise. Sie bestimmt, was wir im öffentlichen Bereich einer Stadt erleben, wie wir uns zwischen den Gebäuden bewegen, wie diese Bewegung in Bild und Klang eingefangen wird, wie sie sich durch Objekte und Landmarken verändern kann – Parks, Gebäude, Reklamewände. Alle diese Elemente, ob bewusst geplant oder zufällig vorhanden, ihre physische Erscheinung und ihre Wahrnehmung, Distanz und Nähe sind Teil des Szenarios, das sich urbanes Leben nennt.
Gibt es in Indien einen bewusst kultivierten Sinn für den öffentlichen Raum, den Bereich außerhalb unseres Hauses? Erfassen wir intuitiv, wie die Stadt angelegt und genutzt werden muss? Gibt es also eine indische Identifikation mit öffentlichen Räumen – ein Gefühl der Zwanglosigkeit und der Aneignung, das sich von den Normen des öffentlichen Lebens im Westen unterscheidet?

Man betrachte den Nehru Place. Er wurde in den 1960er Jahren als erhöhte Plaza mit Arkaden und Fußgängerzugang zu den Läden und Büros konzipiert. Die offenen Fronten sollten an die großen Plätze Europas erinnern – San Marco, vielleicht die Piazza Navona. Die Menschen sollten sich in den offenen Bereichen versammeln, umgeben von klaren modernistischen Bauten, mit Freiluftcafés auf den asphaltierten Flächen und Straßenmusikern im Herbstlicht. So entstand ein sozial idealisierter Außenraum nach den Vorstellungen der städtischen westlichen Mittelklasse. Gab es eine Diskrepanz zwischen dem Ideal und der Realität? Oder war das Konzept des Nehru Place von vornherein verfehlt?

Vielleicht ist dies ein zu harsches und unfaires Urteil über die Architekten des Nehru Place. Schließlich erleiden alle Bauten in Indien das Schicksal dieses Platzes. Wie hässlich, ordinär, armselig und geistlos der Nehru Place auch ist – an ihm vollzieht sich ein typisch indisches Phänomen, das man jeden Tag in jeder indischen Stadt beobachten kann. Man überlasse irgendein Gebäude unkontrolliert der freien Aneignung – sei es das Taj Mahal, der Connaught Place oder das Victoria Memorial, irgendeins. Man lehne sich zurück und warte. Man warte eine Woche, einen Monat, ein Jahr. Die Leute würden anfangen, jede freie Fläche in Beschlag zu nehmen: Paan-Shops auf Fensterbänken, Kopierzentren in Nischen für Feuerlöscher, Restaurants in fensterlosen Kellern, Küchen unter Treppen. Wäsche trocknet an Straßensperren, Menschen schlafen auf den Gehsteigen. Büros umbauen Balkone als eigene Räume. Der städtische Inder nimmt hemmungslos alles in Besitz, was sich im öffentlichen Raum befindet. Dass dieser Raum niemandem gehört, ist eine merkwürdige westliche Vorstellung; dass er von jedermann erhalten und bewahrt werden muss, eine völlig fernliegende Idee.

Das gute Leben ist insulär

Die Architekturgeschichte der Stadt ist eine Geschichte der Interessenkonflikte, in denen persönliche, nationale, regionale und internationale Identitäten aufeinander stoßen. Unbekümmert breiten sich hybride Stile wie Chandni-Chowk-Chippendale, Tamil-Tiffany, Marwari-Manierismus, Punjab-Barock, Bania-Gotik, anglo-indisches Rokoko und viele andere in den expandierenden Vororten so unterschiedlicher Orte wie Delhi, Madras, Bangalore und Lucknow aus. Sie verströmen einen gewissen selbstbewussten Charme. Eine solche trotzige Architektur ist jedoch nur die angstvolle Antwort auf das umgebende Elend, auf die langsam um sich greifende Hoffnungslosigkeit der Lehmhütten, der Notbehausungen in Abflussrohren und Schlaflager auf Gehsteigen, die in jedem Viertel einer jeden Stadt zu finden sind. In diesem Kontext dient Architektur lediglich dazu, Abstand zur deprimierenden Realität zu schaffen.
Aus Furcht vor der umgebenden Armut und Unsicherheit müssen die Bauten für angemessene Distanz sorgen, zwischen ihnen und uns, zwischen tiefster Not und unermesslichem Reichtum, zwischen ihrem abstrakten Leiden und unserem spürbaren Komfort, zwischen 80 Menschen an einer Handpumpe und einem Mann auf einem 80 Morgen großen Golfplatz. Ist diese Exklusivität aus irgendeinem Grund gefährdet, passt sich die Architektur einfach an. Scheint die Sicherheit bedroht, erheben sich Mauern; wird der Status in Frage gestellt, erscheinen neue, prunkhaftere Symbole an der Fassade. Reicht die städtische Wasserversorgung nicht aus, wird ein Röhrenbrunnen benutzt; fällt der Strom aus, übernimmt ein Inverter. Polizei, Wasser, Strom, wer braucht sie? Wer braucht die Stadt? Das gute Leben ist insulär, und die Architektur muss dafür sorgen, dass es so bleibt.

Architektur und kollektive Identität

Indien ist heute der größte Markt der Bauwirtschaft, mit Projekten im Wert von geschätzten 500 Milliarden Rupien (ca. 9 Milliarden Euro), die derzeit im Bau oder in Planung sind. Allein im letzten Jahr wurden 80 Postämter sowie 120 Bahnhöfe und 160 Brücken im Land gebaut. In Delhi wurden 140 Busstationen und 12 neue Depots errichtet. Natürlich gingen alle 80 Postämter, ob in den Stammesgebieten von Madhya Pradesh oder in den schneebedeckten Bergen Ladakhs, auf die Standardentwürfe der Regierung zurück. Sie sehen alle gleich aus, ohne Rücksicht auf Besonderheiten der Lage, des Klimas und der Vegetation. Gerichtsgebäude sehen aus wie Feuerwehrwachen, Schulen wie Krankenhäuser und Krankenhäuser wie Gerichtsgebäude.

In unserem Zeitalter der Stilkopien, der schnellen Akzeptanz und Ablehnung, der Langeweile gibt es in Indien nur wenige Versuche, öffentliche Bauten als einprägsame Orte zu gestalten, die für die lokalen Gegebenheiten charakteristisch sind. Hat eine bestimmte Brücke sich einmal als erfolgreich erwiesen, wird sie überall im Land immer wieder gebaut, über jeden Kanal, jede Schlucht und jedes Flussbett, bis alles gleich aussieht.

Uns bleibt nichts, was einen dauerhaften architektonischen Wert besitzt. Nichts, was sich lokal entwickelt hat, von heutigen Händen und im Rahmen unseres eigenen Lebens innerhalb unserer Zeit geschaffen wurde, entstand in einem Augenblick des Stolzes. Immer, wenn Mike Woolridge von BBC vor dem India Gate seinen Bericht abliefert, bin ich von stillem Zorn erfüllt. Nicht, weil hier ein Engländer vor einer englischen Landmarke in meiner Stadt steht. Nein. Sondern weil ich mich frage, warum wir in den 70 Jahren seit dem India Gate immer noch kein architektonisches Symbol produziert haben, das einer Darstellung wert ist. Etwas, das Bürgerstolz entstehen lässt.

Was als neue Ikone für Delhi in Frage kommt, sind die Kilometer von Wohnsiedlungen, sich selbst finanzierende Projekte, die verfallen, abblättern, bröckeln und verschmutzen, gelbe Zitadellen, die sich auf Brachland unendlich bis zum fernen Horizont erstrecken. Sie definieren das neue öffentliche Bild Indiens. Es sind genau diese Bilder, die im Gedächtnis bleiben werden.

Inwieweit symbolisiert das heutige Erscheinungsbild Indiens die Identität einer jungen Nation und einer alten Kultur? Spielt Architektur eine Rolle in der kollektiven Identität eines Volkes? Tragen Bauwerke dazu bei, unser Selbstwertgefühl zu stärken?
Wann begann der indische Traum zu schwinden? Gab es je einen indischen Traum? Oder war unsere Baukultur stets auf Anleihen angewiesen? Der Weg von Mohenjo-Daro und Fatehpur Sikri nach New Jersey ist lang. Doch wir sind genau dort angekommen, vielleicht ein wenig müde nach der langen Reise, ein wenig erschöpft durch die Überquerung von Kontinenten und Jahrhunderten – aber es war die Sache wert. Jedes neue Geschäft in der Stadt – ob in Ahmedabad, Delhi, Bombay oder Bangalore – hat nun eine glitzernde Granitfassade, ein Glanz, der ein Jahrhundert der offiziellen Pastellfarben und Monsunflecken sofort beseitigt. Im Innern einer Shopping Mall wird der suburbane amerikanische Traum wahr, werden Dritte und Erste Welt unterschiedslos. Aber wen kümmert es? Schließlich gibt es keine bessere Alternative für Freizeit und Vergnügung als frei nach Gusto die Symbole des suburbanen Amerika zu plündern.

Endlich begegnen sich Kommerz und Architektur in einer globalen Umgebung. Es könnte Kairo sein oder Rio oder Delhi; nur die Gesichter sind brauner, und es gibt rote Betel-Spucke in den Ecken und einen Staubschleier auf dem Granit. Doch Architektur spielt nur eine geringe Rolle. Sie überspielt das sterile Gesicht der Bauten mit ihrer eigenen Kultur der Zerstreuung, passt sich den Wünschen an und prägt kurzlebige, häufig missverstandene Identitäten.

Nach den vereinheitlichenden Stilen der Mogul-Kaiser und den axialen Stadträumen des kolonialen Delhi spricht die neue Stadt nun eine zusammenhanglose Sprache. Reines Geschwätz. Ein Spektakel der Oberflächen. Eine unverschämte architektonische Praxis – und ein kollektives Signal für schrille Effekte ohne Methode. Die neue Stadt ist ein Ort der kurzfristigen Versuchung, nicht des vergnüglichen Schlenderns. Sie hat Platz für das Fast-Food-Restaurant, nicht jedoch für den duftenden Mogul-Garten.
Natürlich wäre es töricht, eine Rückkehr zu den Werten und Räumen der Vergangenheit zu fordern. Es lohnt sich tatsächlich wenig, den gegenwärtigen fehlgeleiteten Reichtum des Landes in Frage zu stellen oder abzulehnen: die wenigen materiell Reichen streben nicht gerade nach Veränderungen. Doch angesichts von Armut, falsch angewendeter Technologie und ineffizienter Ausnutzung bestehender Einrichtungen und Ressourcen sollte vielleicht eine rationalere Programmatik den Entwurfsprozess öffentlicher Räume bestimmen.
Vor dem Hintergrund der extremen Situation mit anhaltender ländlicher Armut, Landflucht, Obdachlosigkeit und städtischem Elend ist eine radikale Position erforderlich. Die unvorstellbar großen Unterschiede in der Lebensqualität, der Würgegriff der Baugesetze und die Überbevölkerung zwingen zu fantasievollen Lösungen beim Entwurf von Orten für Wohnen, Arbeit, Freizeit und Unterhaltung.

Wie sähe die städtische oder ländliche Umwelt aus, wenn wir einen anderen Kurs eingeschlagen hätten? Lebten wir ein anderes Leben, wenn sich andere Ideen im Bauen, in der Planung, im Urbanismus und im Design ausgedrückt hätten? Ist es möglich, aus Fehlern zu lernen und jetzt eine neue Orientierung zu finden, unsere Wahrnehmung der Stadt und ihrer öffentlichen Orte mitsamt ihrer Einzelbauten zu ändern? Oder ist es zu spät?

ARCH+, Do., 2007.11.22

22. November 2007 Gautam Bhatia

Playbox

Entsprechend ihrer wachsenden Bedürfnisse sollte die achtjährige Tochter der Hausbesitzer ihr eigenes Zimmer erhalten. Der benötigte Raum wurde jedoch nicht einfach außen angebaut, sondern im Inneren des Hauses gefunden: Das Gebäude bot, dank einer großzügigen Dachkonstruktion, bisher unbeachtete Reserven.
In den 1950er Jahren erbaut, wird der Wohn- und Essbereich von einer zweifach gewölbten Betonschale überspannt und rundum durch Lichtbänder erhellt. Die Raumhöhe im Zentrum der Schale wird für den Einbau des gerade mal 10,5 qm großen Raums genutzt. Strukturell aufgesetzt auf die stabile Trennwand zwischen Küche und Wohnbereich, wird der Raum durch Rahmen und Paneele aus Teakholz definiert. Die Wände sind dagegen mit Elementen aus Polycarbonat verkleidet und können teilweise, entsprechend der Bedürfnisse des Mädchens, geöffnet werden. Auch im geschlossenen Zustand ermöglichen die transluzenten Paneele zumindest noch das Durchscheinen des Lichts. Der Raum wird so fast zu einem Spielzeug, durch das immer wieder von neuem das Verhältnis zur Umgebung definiert werden kann.

Das Projekt macht deutlich, dass gerade bei Indiens Mittelklasse inzwischen ein Bedarf nach ganz unmittelbaren architektonischen Lösungen jenseits aufwändiger Neubauten besteht. Wie auch andere Entwürfe des Büros zeigen, liegt gerade in der Niederschwelligkeit solcher Projekte ein großes Potenzial für Architekten in einem schwierigen Umfeld zwischen großen Bauunternehmern und selbständigen Handwerkern, die als Kleinbauunternehmer auftreten.

ARCH+, Do., 2007.11.22

22. November 2007 S PS Architects

Wohnhaus und Studio

Das Gebäude folgt keinem einfachen Konzept, sondern nutzt vielmehr eine Mischung unterschiedlicher Strategien und Techniken für die Anpassung sowohl an die Bedürfnisse der Nutzer und das schnell wechselnde Wetter wie auch an den städtischen Kontext. So wird in der Offenheit einerseits an indische Typologien angeknüpft, diese aber zugleich auch nach modernen Vorbildern weiterentwickelt.
Ausschlaggebend für die Positionierung des Gebäudes war der Wunsch nach möglichst viel Freiraum trotz der geringen Maße des urbanen Grundstücks. Das Programm wurde daher auf zwei Baukörper verteilt, die L-förmig an den Grundstücksgrenzen positioniert und durch einen Erschließungstrakt miteinander verbunden wurden. Die Wohnräume der dreiköpfigen Familie befinden sich in den oberen Geschossen, während das Studio im Erdgeschoss untergebracht ist.
Die Raumorganisation folgt dabei weniger den heute auch in Indien üblichen funktionalen Festlegungen des Einfamilienhauses, sondern bietet eine Reihe ähnlicher, polyvalenter Räume. Im Sinne dieser Flexibilität sind auch die Badezimmer nicht den Schlafzimmern zugeordnet, sondern in den Erschließungstrakt integriert.

Die Lage Bangalores nahe dem Äquator, jedoch auf fast 1.000 Meter Höhe, erzeugt schnell wechselnde Wetterbedingungen. Es war ein Bedürfnis der Bewohner, auf diese Veränderungen schnell und einfach reagieren zu können. Ein wesentliches Element des Gebäudes ist daher die durch Schichtung mehrerer Funktionen extrem tiefe Fassade, welche als präzise zu regulierender Filter das Verhältnis zur Umwelt bestimmt.
Konstruktiv findet dabei eine einfache Glasfassade in Systembauweise aus Stahl Verwendung, die sowohl transparente wie auch transluzente und opake Elemente trägt. Hinter dieser Schicht befinden sich Insektengitter, welche dank beweglicher Holzrahmen je nach Bedarf genutzt werden können. Die innere Schicht für Sonnen- und Blickschutz besteht aus einfachen Bastmattenrollos. Eingefasst wird die Fassade weithin sichtbar durch überdimensioniert wirkende Sicherheitsgitter. Nachts erhält das Gebäude als eine Art vergitterter Leuchtkasten eine symbolische Präsenz.
Die Verbindung industrieller Techniken mit einfachen, traditionellen Lösungen zeigt sich auch an anderer Stelle. So bestehen große Teile des Gebäudes aus ortsüblichem Mauerwerk, die Decken dagegen aus lokal gebrochenen Granitblöcken. Diese werden sonst meist nur für einstöckige Konstruktionen genutzt, in diesem Fall jedoch auf Stahlträger aufgelegt und so für größere Spannweiten in mehrstöckiger Bauweise nutzbar gemacht

ARCH+, Do., 2007.11.22

22. November 2007 Rajesh Renganathan

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