Editorial

Editorial

Wer in der letzten Ausgabe von dérive gelesen hat, dass wir anstreben die coolste und angesehenste Zeitschrift Europas zu werden und dabei müde gelächelt hat, bzw. sich gedacht hat, die spinnen die DérivlerInnen, dem und der kann an dieser Stelle mitgeteilt werden, dass es erste Erfolge und zwar in der Kunstwelt zu vermelden gibt. Zu behaupten, dérive würde bei der Biennale in Venedig ausgestellt, entspräche zwar nicht ganz der Wahrheit, aber so fremd sind die Federn auch wieder nicht, mit denen wir uns schmücken. Andreas Fogarasi, verantwortlich für die grafische Gestaltung von dérive und Redakteur von zwei Schwerpunktheften – Argument Kultur (Heft 6) und Visuelle Identität (Heft 23) – ist mit seinem Beitrag „Kultur und Freizeit“ Vertreter Ungarns bei der Biennale (www.biennale07.hu), wozu ihm auf diesem Wege noch einmal herzlich gratuliert werden soll.

Wer daran denkt, Mitte August die documenta in Kassel zu besuchen und immer schon wissen wollte, wie dérive gemacht wird und wer diese Zeilen hier schreibt, hat gute Chancen auf beide Fragen eine Antwort zu bekommen. Arch hat uns freundlicherweise zu The Making of your Magazines eingeladen, d.h. Sie geneigte/r Leser/in sind herzlich eingeladen dérive im KulturBahnhof Kassel zu besuchen.

Zum aktuellen Heft: Entsprechend der Jahreszeit haben die meisten Artikel dieser Ausgabe eine Länge, die nicht für eine Straßenbahnfahrt sondern für den Aufenthalt im Liegestuhl optimiert sind. Denn Beginn macht Christian Teckert mit einem Beitrag über Standortproduktionsindustrien – den so genannten Keiretsus in Japan. Als zentrales Beispiel dient ihm dafür Tokyu, ein Konzern der seit mehreren Jahrzehnten konsequent das Ziel verfolgt, zwar nicht die Weltherrschaft an sich zu reißen, aber immerhin einen Stadtteil Tokyos mitsamt seinen BewohnerInnen. Und das ist ihm bereits überzeugend gelungen.

Henrik Lebuhn analysiert mit seinem Artikel Neoliberale Technokratie und Stadtpolitik die Herrschaftsfunktion von New Public Management am Beispiel Berlins. Mit New Public Management-Reformen wird – neben der üblichen Ökonomisierung von Stadtpolitik durch wettbewerbs- und standortpolitische Maßnahmen bei der Investition öffentlicher Mittel – auf eine Ökonomisierung der öffentlichen Institutionen selbst abgezielt. Besonders unter Druck geraten in Berlin dadurch ökonomisch bisher noch nicht verwertete öffentliche Räume.

Robert Temel umreißt mit seinem Beitrag Planung in der Stadtlandschaft eine Thematik, die viele wichtige Fragen aufwirft und bisher trotzdem wenig Beachtung fand. Der überraschende Verkaufserfolg und die breite Berichterstattung über Reinhard Seiß´ Buch Wer baut Wien eröffnet vielleicht die Chance, mehr Aufmerksamkeit für eine intensive Auseinandersetzung zu erreichen. Die Österreichische Gesellschaft für Architektur (www.oegfa.at) setzt ab Oktober mit einer Schwerpunktreihe unter dem Titel Links von Wien, die sich der Materie annimmt, fort.

Loïc Wacquant hat uns für dérive seinen Text Decivilizing and demonizing: the remaking of the black ghetto zur Verfügung gestellt, dessen erster Teil in dieser Ausgabe in deutscher Übersetzung erscheint. Thema sind die materielle Realität und der öffentliche Diskurs der Post-1960er Transformation von Amerikas schwarzem Ghetto als das Ergebnis zweier zusammenhängender Prozesse. Der erste dieser Prozesse ist die Entzivilisierung im Sinne Norbert Elias’, eine Folge des Rückzugs des Staates aus den Ghettos der Schwarzen und der darauf folgenden Erosion des öffentlichen Raumes und der sozialen Beziehungen in den urbanen Zentren.

Stadt-Beschreibungen – Texte im urbanen Raum – stehen diesmal im Zentrum von Daniel Kalts Serie über Kunst im öffentlichen Raum und die zweite dérive-Serie, Manfred Russos Geschichte der Urbanität setzt mit dem zweiten Teil zur Utopie fort. Ein Auszug aus Thomas Ballhausens demnächst erscheinendem Roman Die Unversöhnten bereichert das Spektrum dieser Ausgabe um einen literarischen Text.

In der Hektik der Produktion der letzten Ausgabe von dérive ist ein Fehler passiert, der dazu führte, dass Michael Blums Kunstinsert Istiklal Allee (bis 2066) mit zu geringer Auflösung gedruckt wurde. Das Insert liegt dieser Ausgabe noch einmal – und zwar als Plakat in einwandfreier Qualität – bei. Einen schönen Sommer wünscht

Christoph Laimer

Inhalt

Magazin

Total Living Industry. Strategien privater Stadtproduktion in Japan
Christian Teckert
Neoliberale Technokratie und Stadtpolitik. Zur Herrschaftsfunktion von New Public Management am Beispiel Berlins
Henrik Lebuhn
Planung in der Stadtlandschaft. Die Frage der Nachhaltigkeit
Robert Temel
Entzivilisierung und Dämonisierung: Die Neuauflage des Ghettos des schwarzen Amerika
Loïc Wacquant
Stadt-Beschreibung. Notizen zu Text im urbanen Raum
Daniel Kalt
Hinter den eigenen Linien
Thomas Ballhausen

Kunstinsert:
Book & Hedén

Serie:
Geschichte der Urbanität – Teil 20

Utopie II. Ihr Ursprung in der Apolitik. Von der Makroutopie bis zur Immanenz
Manfred Russo

Besprechungen

Spaziergänge in Wien
Susanne Karr über Audio Walks Vienna, urban pilgrims und mis-guides Städtische Suburbaniten
Robert Temel über den Band Einfamilienhaus oder City? Wohnorientierungen im Vergleich herausgegeben von Jürgen Schmitt, Jörg Dombrowski, Jörg Seifert, Thomas Geyer, Faruk Murat
Post Skript: Manifeste jüngerer Architektur im neu eröffneten Az West
André Krammer über die Ausstellungen Young Blood: I’m a Young „Austerian” Architect! Positionen junger Architektur aus Österreich und Young Blood Export
Prost Mahlzeit
Susanne Karr über die Ausstellung Im Wirtshaus. Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit im Wien Museum
Krieg den Knöpfen
Iris Meder über den Band Lessons from Bernard Rudofsky. Das Leben eine Reise herausgegeben vom Architekturzentrum Wien.
Individualität und Originalität
Robert Temel über Architektur und Urheberrecht. Theorie und Praxis: Ein Leitfaden für Architekten, Ingenieure und deren Rechtsberater von Thomas Höhne
Utopie und Alltag
Iris Meder über die Bücher Le Corbusier / Pierre Jeanneret – Doppelhaus in der Weißenhofsiedlung Stuttgart herausgegeben von der Wüstenrot Stiftung und Die Weißenhofsiedlung von Jörg Kurz und Manfred Ulmer
Der elendige Blick auf das Elend
Christoph Laimer über die Ausstellung Ganz Unten. Die Entdeckung des Elends – Wien, Berlin, London, Paris, New York im Wien Museum
Die Bombe fährt im Kofferraum
Christoph Laimer über Eine Geschichte der Autobombe von Mike Davis

Attachment:
Istiklal Allee (bis 2066)
Michael Blum

Planung in der Stadtlandschaft. Die Frage der Nachhaltigkeit

Während sich Diskussionen über die europäische Stadt meist um den Erhalt des historischen Erscheinungsbildes, um Dachausbauten, leere Lokale und Denkmalschutz drehen, steht die Auseinandersetzung mit der Zwischenstadt, der Stadtlandschaft heute oft im Hintergrund. Die historische Stadt ist massiv „betreut“, von Gebietsmanagement bis zu Agenda-Büros, jedenfalls ist das in Wien der Fall –, doch an der Peripherie werden die Kommunikationsorte zwischen Politik, Verwaltung und Bevölkerung dünn. Auch wo in der Vergangenheit groß und diskursiv angelegte Planungsprozesse üblich waren, herrscht mittlerweile die Umsetzungsökonomie vor.

Das Problem beginnt jedoch bereits davor, beim weitgehenden Fehlen von großmaßstäblicher Raumordnung in Österreich, bei Zuständigkeitsgrenzen zwischen Staaten, Ländern und Gemeinden, bei verkehrspolitischen Festlegungen, bei Standortentscheidungen für Stadterweiterungsgebiete wie Wienerberg City, Monte Laa und Rothneusiedl in Wien und fehlender Diskussion über Entscheidungen, die die Entwicklung von Lebensräumen der nächsten Jahrzehnte gravierend beeinflussen. Wenn die Planungsabläufe in europäischen Städten genauer betrachtet werden, reichen die Reaktionen darauf von Unverständnis über die Realität bis zu resignativer Akzeptanz: Unter heutigen Bedingungen des Neoliberalismus sei das eben so. Daran könne auch der wohlmeinendste Politiker, die beste Raumplanerin nichts ändern.

Unabhängig davon ist klar, dass die Rahmenbedingungen heutiger Stadtproduktion sich grundlegend von denjenigen aus der Zeit der funktionalistischen Stadtplanung unterscheiden: Die meisten heutigen Gesellschaften sind zweifellos postfordistisch und neoliberal, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Weniger klar ist, welche „unhintergehbaren“ Rahmenbedingungen daraus für heute folgen. Unter dem Titel Instrumente der Stadtproduktion legte Johannes Fiedler kürzlich eine Auswahl dreier solcher Bedingungen vor: die Deterritorialisierung des Immobilienkapitals, die internationale Konvergenz der Verhaltensmuster unter den StadtbenützerInnen sowie die fehlende demokratische Legitimierung nicht-liberaler Politik.(1)

Dem ersten Argument der Deterritorialisierung des Immobilienkapitals ist zweifellos zuzustimmen: Immer seltener werden Gebäude von ihren zukünftigen BenützerInnen beauftragt, immer öfter dient ihre Errichtung als Kapitalanlage, die vorrangig entsprechende Rendite abwerfen soll – die Erfüllung eines Zwecks ist demnach erst in zweiter Linie von Bedeutung, quasi als Mittel, um die Rendite erreichen zu können. Und entsprechend den heutigen Möglichkeiten der internationalen Kapitalmärkte geschieht diese Anlage nicht an einem bestimmten Ort, sondern dort, wo die Bedingungen für die Rendite am besten sind, wo die Anlagesicherheit gegeben ist, die Steuern niedrig sind etc. Dieser Rahmenbedingung können heutige Städte nicht ausweichen – aber sie können versuchen, sie für ihre eigenen Zwecke zu nützen, das heißt für die Gewährleistung möglichst guter Lebensumstände für ihre BewohnerInnen.

Das zweite Argument ist das der Konvergenz der Verhaltensmuster unter den StadtbenützerInnen in aller Welt. Dies ist jedoch durchaus umstritten, jedenfalls im kulturwissenschaftlichen Diskurs: Dort geht man bezüglich der zweifellos vorhandenen kulturellen Globalisierungseffekte keineswegs nur davon aus, dass diese zu Vereinheitlichungen führen, sondern dass Kulturkontakte durchaus neue Hybridformen und damit weitere Differenzierung produzieren. Die Vereinheitlichung scheint eben nicht in den Verhaltensmustern der BenützerInnen der Städte und Gebäude zu liegen, sondern vielmehr in den Strategien des Immobilieninvestments und den rechtlichen Rahmenbedingungen. Und das macht durchaus einen Unterschied, weil man spätestens seit Stuart Halls Rezeptionstheorie(2) weiß, dass RezipientInnen bzw., in unserem Kontext gesprochen, BenützerInnen Nutzungsangebote durchaus auch in nicht-intendiertem Sinne verwenden können.

Das dritte Argument ist das der fehlenden demokratischen Legitimierung nicht-liberaler Politik. Zweifellos sind nationale Wirtschaftspolitiken der letzten Jahrzehnte in fast allen Ländern (mehr oder weniger) liberal. Und zweifellos werden die Regierungen, die diese Politiken verfolgen, in den Ländern mit repräsentativer Demokratie von Mehrheiten gewählt. Bei aller Achtung vor diesem demokratischen System scheint mir der Schluss daraus, dass diese Mehrheiten die vorgenommenen Deregulierungen anstreben, überzogen – vielmehr besteht diesbezüglich mittlerweile ein Wettkampf zwischen den Nationen, dem sich die einzelnen verpflichtet fühlen, und es existieren supranationale, gering oder gar nicht demokratisch legitimierte Körperschaften, die Deregulierungen befördern, wie die WTO, der IMF, die Weltbank oder Instanzen der EU. Die Deregulierung der vergangenen Jahrzehnte war keine Naturgewalt und wohl auch nicht so sehr durch politische Forderungen breiter Bevölkerungsschichten initiiert, sondern vielmehr Resultat staatlichen und in Folge auch supranationalen politischen Handelns aus einer neuen, den vorherigen politischen Konsens ablösenden Ideologie heraus.

Damit sind wir bei einem ganz grundsätzlichen Punkt, der zu diesen drei Bedingungen festzustellen ist: Es handelt sich dabei eben nicht nur um Bedingungen politischen Handelns, sondern auch um Effekte desselben. Deregulierung ist eine Selbstentmächtigung der Politik und nicht von irgendwo außerhalb der Welt auferlegt. Deshalb spielen auch öffentliche Verwaltungen in den betreffenden Prozessen nur deshalb keine Rolle mehr, weil sie sich zuvor selbst entmächtigt haben.

Die Bedingungen für die aktuelle Situation der Stadtplanung in Europa sind demnach nicht ganz so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint. Es lässt sich aber wohl sagen, dass es heute kein starkes Planungsparadigma für großflächige Stadtplanung gibt, das etwa dem ehemaligen funktionalistischen Paradigma entsprechen würde. Auch die liberale Stadtplanung der Gründerzeit, die in manchem der heutigen Situation durchaus ähnelt, besaß im Vergleich zur Gegenwart klarere stadtplanerische Vorstellungen. Eine Gemeinsamkeit der europäischen Städte ist die Suburbanisierung. Allgemein wird eine überwältigende Nachfrage nach Suburbanität konstatiert, die ungeregelte Suburbia ist gewissermaßen das „Planungs“-Leitbild der Gegenwart. Dieser Drang in die Suburbanität könnte aber durchaus ein Missverständnis sein: Viele der davon Betroffenen haben nicht das Bedürfnis nach Suburbanität, sondern vielmehr nach bestimmten Lebensqualitäten (Wohnraumgröße, wohnungsbezogener Freiraum etc.), die dort wesentlich kostengünstiger zu bekommen sind bzw. für die es im städtischen Kontext einfach kein Angebot gibt. Das heißt: Hier besteht einerseits ein mangelhaftes Angebot, also eine problematische Kopplung zwischen KonsumentInnen und ProduzentInnen am Wohnungsmarkt. Und andererseits fehlt Kostenwahrheit. Wenn die immensen Gemeinkosten, die vom Zug in die Suburbanität erzeugt werden, diesen Siedlungsräumen auferlegt würden, reduzierte sich dieser Zug wohl drastisch. Stattdessen wird – jedenfalls in Österreich – Pendeln und Einfamilienhausbau noch von der öffentlichen Hand gefördert. Es handelt sich also um einen Bereich, wo Stadt- und Raumplanung durchaus eingreifen könnten, wenn sie nur wollten. Das zeigt sich ja schon allein daran, dass es in Mitteleuropa Regionen gibt, in denen die Zersiedlung nicht österreichische Maßstäbe annimmt.

Es bleibt also die Frage, welche Möglichkeiten der Stadtplanung in der Stadtlandschaft es heute für die Städte gibt. Die Orientierung von Stadtplanung an Kriterien der Nachhaltigkeit wird oft als sinnvoll, aber unrealistisch dargestellt – jüngst in einer Studie zur Mobilität 2015/2030 in Europa:(3) dort scheint der Gedanke, Städtebau mobilitätsvermeidend anzulegen, das heißt Regionalentwicklungskonzepte einzusetzen, weniger Zersiedelung zuzulassen und eine hohe EinwohnerInnendichte zu fördern, als „geeignet, aber nicht realistisch“. Diese weit verbreitete Sicht der Dinge sollte nicht akzeptiert werden – Nachhaltigkeit hätte jedenfalls das Potenzial für ein zukünftiges Planungsparadigma. Wichtige, wenn auch bei weitem nicht die einzigen Domänen einer solchen Planung sind Verkehr und Grünraum. Es geht einerseits genau darum, was in der genannten Studie als geeignet, aber nicht realistisch bezeichnet wurde, also die Reduktion des Straßenbaus auf das nötige Minimum, der Ausbau von Infrastruktur für öffentlichen Verkehr und die Förderung von Rad- und Fußgängerverkehr sowie Maßnahmen zur Erhöhung der Bebauungsdichte und Verringerung des Flächenverbrauchs und der Zersiedelung. Dazu gehört es auch, Nutzungsbereiche so anzulegen, dass weniger Verkehr induziert wird. Und es geht andererseits darum, Grünraumzonen als Naherholungsgebiete und Regenerationsbasis für Luft, Wasser etc. von jeder Bebauung freizuhalten, egal ob extensiv oder intensiv. Bei der Frage des Verkehrs gibt es viele hehre Zielsetzungen im Hinblick auf eine Verbesserung des Modal Split, die leider in der alltäglichen planerischen Praxis kaum jemals eingehalten werden. Und bei der Frage des Grünraums existiert in Wien das große historische Vorbild des Wald- und Wiesengürtels, dessen Bestand 1905 gesetzlich festgeschrieben wurde und bis heute garantiert ist. Seither gibt es viele gute Vorsätze, diesen Gürtel auszuweiten – doch auch hier gilt, was für den Verkehr gesagt wurde. In der alltäglichen Stadtplanungsarbeit gibt es immer gewichtige Argumente dafür, ein Areal doch zur Nutzung freizugeben und nicht als Grünraum zu erhalten.

Wie können also diese Ziele erreicht werden? Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung wäre es, planerische Entscheidungen hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeitseffekte zu bewerten. Ein interessantes Modell für eine solche Vorgangsweise führte die Stadt Zürich 2004 ein.(4) Anhand von 21 Indikatoren für den „Erfolg“ der Stadtentwicklungsplanung wird die eigene Arbeit bewertet, um daraus wieder Leitlinien für die Zukunft zu ziehen. Dieses Indikatorenset haben unabhängige WissenschaftlerInnen entwickelt; es umfasst Wertschöpfung, Arbeitsplätze, Arbeitslosigkeit, Steuerkraft, Verschuldung des städtischen Haushalts, Einkommen der EinwohnerInnen, individuelle Wohnfläche, Treibhausgasemissionen, Anteil umweltfreundlicher Mobilität, Wasserverbrauch, Abfall, Luftqualität, Lärmbelastung, versiegelte Fläche, Zufriedenheit, Sozialleistungsquote, Kriminalität, Lohngleichstellung, Kinderbetreuung, Integration: Bildungschancen sowie Auslandshilfe. Zumindest kann am Verhältnis der Verbesserung oder Verschlechterung der Indikatoren in Zukunft abgelesen werden, welche Politik die Stadt Zürich verfolgt …

Robert Temel ist Architekturkritiker und Architekturtheoretiker in Wien sowie Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ÖGFA).

1 Fiedler, Johannes (2007): Instrumente der Stadtproduktion. In: Architektur- und Bauforum, 07/April.
2 Hall, Stuart (1973): Encoding and Decoding in the Television Discourse. University of Birmingham, Centre for Contemporary Cultural Studies, Birmingham.
3 ÖAMTC-Akademie (Hg.) (2007): Mobilität 2015/2030. Potenziale für eine nachhaltige Entwicklung, Wien.
4 Ich danke Reinhard Seiß für den Hinweis auf dieses Modell.

dérive, Mo., 2007.08.06

06. August 2007 Robert Temel

Stadt-Beschreibung. Notizen zu Text im urbanen Raum

Die Stadt als Text, ein Getöse der Worte, weitläufiges Wortgeflecht oder Überlappung von Textfetzen allerorts – über die Angelegenheit lässt sich auf viele Weisen nachdenken. Text jedenfalls ist in der Stadt allgegenwärtig. Freilich muss der Begriff hier insoferne präzisiert werden, als es nicht ausschließlich um tatsächlich syntagmatisch geordnete, narrativ-beschreibende Wortreihen gehen kann. Jedes einzelne Wort, das im öffentlichen Raum steht, soll vielmehr als Partikel eines großen Ganzen verstanden werden, welches dann den Stadt-Text darstellt. Ich möchte versuchen, ein paar Aspekte des Phänomens anhand einiger konkreter, von mir als originell und repräsentativ angesehener Beispiele zu thematisieren: Diese sollen so weit als möglich dem Bereich der Kunst im öffentlichen Raum (KöR) zuzählbar sein, wobei diese – ob der etwas vagen Gestalt, welche Text-Körper gemeinhin einnehmen – sich ein wenig von der massiven Präsenz dekorativer Kunst-Körper wegbewegt, wie sie noch zuletzt Gegenstand dieser Serie waren. Textbausteine gereichen in diesem Zusammenhang mitnichten zur Hinterlassung monumentaler Drop Sculptures, so dass die Herausforderung vielmehr – ob der Omnipräsenz von (nicht notwendigerweise als solchem wahrgenommenem) Text nämlich – darin besteht, das kritische Wahrnehmungs-Vermögen der StadtnutzerInnen zu überprüfen oder zu stimulieren bzw., wie Roland Schöny über KöR allgemein schreibt, „geeignete Repräsentationsmöglichkeiten ausfindig zu machen und eine urbane Praxis zu entwickeln, welche auf eine dem Spektakel abgewandte kontrapunktische Codierung von Orten, Flächen oder Objekten mit adäquaten Mitteln […] zur Erweiterung des Möglichkeitssinns ausgerichtet ist.“(1)

Ich möchte vorschlagen, folgende grobe Typologie der Bezugnahme von Text auf Stadt und Stadt auf Text zu umreißen: in der Stadt platzierter Text bzw. die kreativ-kritische Auseinandersetzung mit ihm // Text, der aus der Stadt extrahiert und verbildlicht wird // Text, in dem Stadt und Stadtleben konvertiert werden. Bei Letzterem handelt es sich, doch darauf soll hier nicht näher eingegangen werden, in etwa um das literarische Subgenre des Stadt-Romans, in welchem der urbane Raum als allerlei Handlungsstränge bestimmende Komponente herhält. Literaturgeschichtlich betrachtet verändert sich die Schilderung der Stadt nachhaltig ab der Herausbildung industrialisierter Großstädte mit deren vielfältiger Bevölkerungsstruktur, wie sie sich aus einer massiven Landflucht sowie transnationalen Migrationsbewegungen ergibt. Charakteristisch ist in der frühen Massenliteratur das Auftauchen eines die Lebensläufe aller AkteurInnen unerbittlich vorgebenden Kosmos, welcher sich als omnipräsente Folie über die Handlung stülpt. Ein aktueller Ableger solcher Stadt-Texte – gemeinhin von geringerem literarischem Wert – ist das Konvolut mehr oder minder origineller Stadtgeschichten, die nahezu jedes Printmedium mit urbaner Zielgruppe auf die eigenen Seiten presst: Unmittelbarer lässt sich das Transformieren von Stadtleben in Text kaum mehr zelebrieren; mitunter hat die/der Lesende gar den Eindruck, auch die unspektakulärste Busfahrt werde sogleich ohne großes Reflektieren als mittelprächtig unterhaltsames Episödchen städtischen Lebens verwurstet.

Text aus der Stadt gewinnen und verbildlichen

Von solchem in der Folge absehend, möchte ich vielmehr einer Sichtweise anhängen, welche aufmerksam auf die Verbildlichung von Text in der Stadt bzw. Auseinandersetzungen mit textuellen Präsenzen ebenda abzielt. Michel Butor, illustrer Vertreter der Nouveau Roman-LiteratInnen und darob Wortführer eines nach neutraler Objektivität strebenden Experimentalismus in der französischen Literatur ab den 1950er Jahren, regt an, die Stadt überhaupt als eine Text-Sorte wahrzunehmen; als ein auf Texten basierendes Spektakel: „Die Stadt mag als ein literarisches Werk gesehen werden, das non-verbale Teile miteinschließt – wie ein Theaterstück – und seine eigenen Regeln und Kompositionsprinzipien hat; welches seinerseits einem außergewöhnlich umfangreichen Genre angehört, da ja, über den Umweg von Bibliotheken, Buchhandlungen, Schulen usw., die gesamte Literatur von mindestens einer Sprache als eines seiner Kapitel, seiner Akte, seiner Abschnitte gelten mag.“(2) Das Stichwort des Theaters lässt unweigerlich an das gesprochene PassantInnenwort denken: Vor der massenweisen Vervielfältigung verschriftlichter Texte zirkulierte bekanntermaßen eine orale Literatur im öffentlichen Raum, und wenn sich auch die Dinge nachgerade verändert haben, sind doch die Straßen weiterhin erfüllt vom ständigen Gemurmel und Geraune der sprechenden StadtnutzerInnen. Ein möglicher Ansatzpunkt für Kunst, die den Text des öffentlichen Raumes in einen rein musealen Innenraum transportieren mag.

Andrea van der Straeten, die ihre Arbeiten gemeinhin nicht ungern mit dem öffentlichen Raum korrelieren lässt, beschäftigt sich in einer Werkserie aus dem Jahr 2004 mit Gerüchten über stadtplanerische Projekte für vier neuralgische Punkte in der Linzer Innenstadt. Was ich gehört habe, so der Titel, zeigt den öffentlichen Raum als Gegenstand des Gerüchtes zum Einen und als Austragungs Ort (die Matrix? Den Ort des Heran- und Nachreifens?) des Gerüchtes zum Anderen. Fünf Wandzeichnungen im Linzer O. K. Centrum für Gegenwartskunst verarbeiteten eine Auswahl von im öffentlichen Raum – auf der Agora, gewissermaßen – gesammelten Gerüchten. Im Zentrum des künstlerischen Interesses stand bei diesen großflächigen Wandtafeln (im Übrigen verzichtete die Künstlerin darauf, die Arbeiten auf Papier zu übertragen – und so bleibt das Dynamische des öffentlichen Raums in der temporären Natur der Innenraumarbeiten gewahrt) die unverbindliche Rede der PassantInnen, welche eine breite Palette abdeckte: von profundem Hintergrundwissen genährt, von kühnen Mutmaßungen getragen, ziemlich wahllos vorgebracht oder einfach „Klatsch & Tratsch“.(3) Van der Straeten setzte die Visualisierung der gesprochenen Rede auf eine für sie charakteristische Weise um: Wandskizzen des Stadtraumes wurden mit Post-Its überklebt, auf denen die von Hand transkribierten Gerüchte zu lesen waren, welche sich auf den jeweils dargestellten Stadtteil bezogen. Eine derartige Aufbereitung der charakteristischen Rede-Substanz des öffentlichen Raumes ist eine jedenfalls spannende Strategie, welche darüber hinaus einer profunden und lange anhaltenden Auseinandersetzung der Künstlerin mit diesem „Material“ entspringt. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2001(4) präsentiert van der Straeten die Ergebnisse einer in Chicago angestellten Untersuchung zur Einrichtung so genannter Rumor Clinics, in welchen die ordnungshütende Obrigkeit versuchte, Massenaufständen durch das Entkräften (Entschärfen) von kursierenden Gerüchten entgegen zu treten. Stellten sich die Rumor Clinics circa 25 Jahre nach ihrem Verschwinden ihrerseits als gerüchtähnlich ungreifbare Institution dar, über die Informationen einzuholen sich als über die Maßen schwierig gestaltete, verdeutlicht die Wortwahl (die Klinik – also die Heilanstalt) einmal mehr, dass im öffentlichen Raum Kursierendes mitunter als von pathologisch-viraler Bedrohlichkeit wahrgenommen wird.

Löschung des Stadt-Textes

Für den – auch geschriebenen, zumeist kommerziell interessierten – Text im öffentlichen Raum trifft eine Metaphorik der wuchernden Ausbreitung schon deshalb ebenfalls zu, weil dieser nicht nur kein Einhalt zu bieten ist, sondern der Text sich im Konkreten einer bewussten Erfassbarkeit entzogen zu haben scheint. Mit ihrem Projekt Delete! , das sich 2005 in der Wiener Neubaugasse niederließ (einer Einkaufsstraße eher geruhsamen Ausmaßes, einer Seitenstraße der Mariahilfer Straße, Wiens Shopping-Meile par excellence allerdings), unternahmen Rainer Dempf und Christoph Steinbrener den Versuch, den öffentlichen Raum zu „entschriften“ und durch das Löschen jeglicher Schrift ein neues Bewusstsein für die kaum mehr wahrgenommene Omnipräsenz von Stadt-Text zu generieren. Und wohl auch für den Umstand, dass die unbeschriebene Fläche ein vergleichbar rares Brachland darstellt wie unbebaute inner-städtische Grundstücke. Von der harmlosesten Hinweistafel, die der Orientierung der PassantInnen dient, über das Geschäftsschild, die Auslagenbeschriftung und den Werbeslogan: Überall gibt es etwas zu lesen und Information zu verarbeiten. Die Redundanz eines Großteils von solchem Text wird erst offenbar, wenn die Information kurzzeitig verloren geht. Ob nämlich der Großstadtdschungel durch den Wegfall von (pseudo-)informativer Beschriftung tatsächlich an Unergründlichkeit gewinnt, ist zu bezweifeln. Vielmehr dürfte so in den Augen der Meisten der Stadt eines ihrer Charakteristika abhanden kommen. Immerhin: Eine palimpsestische Abdeckung urbanen Texts durch monochrome Planen schafft neue Oberflächen für die kommunikative Verwirklichung der City-User. Bzw. (siehe oben) die Niederschrift von Gerüchten – vielleicht ist eine Stadt ganz ohne Schrift einfach nicht auszuhalten?

Ganz ohne – nicht kommerziellen – Text ginge es darüber hinaus ja wohl auch nicht. Abgesehen von Gebots- und Verbotstafeln, wie sie gerne einmal von findigen Kommunikationsguerilleros persifliert werden(5), gibt es jene Textfragmente, ohne die kein Auskommen wäre: Orientierungshilfen, Pläne, Richtungsweiser, Sraßenschilder. Die jeweils gewählte Schriftart bestimmt die Corporate Identity der Stadt, welche das Verortungsbdürfnis der BewohnerInnen bedient. Ein Blick auf den U-Bahn-Plan oder das nächste Straßeneck genügt, um festzustellen, dass man sich noch immer „daheim“ befindet. Wiewohl im Zeitalter globalen Wirtschaftstreibens einem solchen ortsspezifischen Schriftbild durch die Gegenwart weltweit gleich lautender, gleich anzuschauender Werbe-Texte die Vorrangstellung deutlich abgelaufen wird.

Auflehnung und Verweigerung

Den zweifellos größten Anteil an Text im öffentlichen Raum macht wohl das Waren bewerbende Wort aus. An allen Ecken und Enden angebracht, auf fast jeder freien Fläche lesbar, ist es Teil eines ökonomisch interessierten Stadtapparates, der nicht darauf vergisst, jede mögliche Anbringungsstelle kommerziell nutzbar zu machen. Das Platzieren von Text im öffentlichen Raum gerät jedenfalls zum kostenintensiven Unterfangen. Dabei bleibt den StadtnutzerInnen kaum die Wahl, sich rezeptionsbereit oder – einverständig zu zeigen. Die Präsenz der Werbetexte ist ein nicht auszuschaltendes Faktum, dem gemeinhin mit dem Schutzmechanismus größtmöglicher Indifferenz begegnet wird – vielleicht auch, weil man ständig an die eigene Unzulänglichkeit erinnert werden soll, die es mit dem einen oder anderen „Gadget“ auszubessern gälte. Baudrillard äußert sich über den städtischen diskursiven Raum als einen kompetitiven Kontext wie folgt: „Die Dichte an Menschen [in der Stadt] ist faszinierend, aber vor allem ist der Diskurs der Stadt an sich ein Wetteifern: Motive, Wünsche, Treffen, Stimuli, unablässige Urteilsbildung durch die Anderen, kontinuierliche Erotisierung, Information, Beanspruchung durch die Werbung: Das alles ergibt eine Art abstrakten Schicksals kollektiver Partizipation vor dem realen Hintergrund eines allgemein gewordenen Wetteiferns.“(6)

Der Ansatzpunkt für engagierte BürgerInnen, ob antikapitalistisch motiviert oder um die neutrale Nutzbarkeit des öffentlichen Raumes bzw. sein Erscheinungsbild besorgt, besteht in einem Aufbegehren gegen die Verkaufbarkeit ihres visuellen Empfindens. Im Unterschied zu TV-Werbung oder den Einschaltungen in Printmedien, die sich auf eine bewusst getroffene Entscheidung potenzieller KonsumentInnen berufen können (umschalten, Seiten überblättern …), gibt es angesichts des immensen Ausmaßes plakatierter Flächen im öffentlichen Raum keine ernsthaft denkbare Alternative zum Hinschauen und Beglückt-Werden mit Text und Bild. Es sei denn, man wollte um jeden Preis dieser Text-Sorte und ihrer graphischen Aufbereitung auskommen und nähme also die Gefahr eines ständigen Anprallens gegen Hindernisse und PassantInnen in Kauf, weil man stets gesenkten Blickes die Straßen abschreiten müsste. Eine couragierte Organisation in Frankreich, die déboulonneurs(7), hat sich zum Ziel gesetzt, dieser Überfrachtung des öffentlichen Raumes Einhalt zu gebieten. Der klar formulierte Slogan: „objectif 50 x 70“. A1 somit als das maximal zulässige Plakatformat, und eine strikt durchgezogene proportionale Durchrechnung der höchstens beklebbaren Fläche eines besiedelten Raumes, abhängig von der Anzahl der EinwohnerInnen. Unablässig aktiv in zahlreichen großen Städten des Landes, berufen sich die déboulonneurs auf ihr Recht zivilen Ungehorsams, um medienwirksam tätig bleiben zu können und die gesetzgebende Instanz auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. In ihren Aktionen überschreiben sie existierende Plakate und nutzen die vorhandenen Flächen zum Affichieren ihres Anliegens. Damit erfolgt eine Brechung des üblicherweise clean angelegten grafischen Codes: Der gesprayte Text überlagert den auf kommerziellen Erfolg ausgerichteten Ursprungstext und erfüllt ob seiner Unbeholfenheit eine eigene Appellfunktion.

Freilich schläft auch die Werbung nicht und reagiert auf solche unverblümten, ja krude anmutenden Adbusting-Strategien mit ihrer ureigensten Waffe: der Imitation und Adaptation für die eigenen Zwecke. Während man in Frankreich landesweit organisiert und anderswo etwas verstreuter einen Kampf gegen Windmühlen führt, zeigt zum Beispiel die Plakatkampagne eines österreichischen Mobilfunkunternehmes vom Herbst 2006, dass nicht einmal die Adbuster vor der Heimholung in den lauschigen Werbetümpel gefeit sind.(8)

Text, der die Stadt durquert – oder verschenkt

Im Grunde tragen freilich auch TrägerInnen von Markenware, die sich offenkundig selbst bewirbt, bzw. KonsumentInnen mit großzügig beschrifteten Einkaufstaschen zur Verstärkung der Gegenwart von Werbung im öffentlichen Raum bei. Paradoxerweise zahlen in diesem Fall die KonsumentInnen mitunter sogar einen Aufpreis, um als Werbefläche fungieren zu dürfen. Beschriftetes Textil mag freilich jenseits bloßer Markenschriftzüge oder Modetrends auch als Statement gelesen werden, wiewohl im Regelfall – also bei massenweise verbreiteter Ware – der Individualitätseffekt oder die tatsächliche Identifikation mit dem dekorativ-textilen Textteil ein wenig auf der Strecke bleiben. Erwähnenswert finde ich in diesem Zusammenhang ein Projekt an der Berliner Rütli-Schule, die nach Vorkomnissen im März 2006 als Austragungsort einer von den PädagogInnen nicht mehr bändigbaren Gewaltbereitschaft der SchülerInnen in die Schlagzeilen geraten war. Etwas später wurde im schulinternen Kunstunterricht das Projekt gestartet, dieser Verfemung durch selbstbewusst inszenierte Identifikation der Schulangehörigen mit ihrer Anstalt entgegen zu treten. Einfärbige T-Shirts wurden mit einem unübersehbaren RÜTLI-Schriftzug bedruckt und ließen keinen Zweifel darüber, dass die Text-TrägerInnen im öffentlichen Raum eine konkrete Aussage tätigen wollten.(9)

Zum Abschluss, und etwas weniger mobil den öffentlichen Raum durchquerend als eine Armada von T-Shirt-TrägerInnen, soll eine Initiative Erwähnung finden, die Weihnachten 2006 im Kleinraum des fünften Wiener Gemeindebezirkes fast unbemerkt stattfand: nidako verschenkt Margareten titelte die Aktion und bestand in der Anbringung von grellbunten Geschenksanhängern, bedacht mit Namen aus verschiedenen Sprachkontexten, an alltäglichen Objekten im Stadtraum(10): Stoppschilder, Parkbänke, Kinderschaukeln … Hintergrund eines solchen Tuns, wie auch die Mitorganisatorin und nidako-Mitglied Nina Ober heraus streicht, ist der spielerische Umgang mit der leidigen Frage, wem der öffentliche Raum zu gehören habe. Wenn nämlich alle ein Anrecht darauf haben, die von nidako verschenkten Gegenstände zu nutzen, dann kann für kurze Zeit wohl der eine oder andere davon ins Eigentum einer/s konkreten Stadtnutzerin/s übergehen. Im Pressetext lautet dies: „Und so überlegt sich nidako, dass freilich alle ein Besitzrecht an den öffentlichen Raum stellen dürfen. Dass aber kaum eineR ihn jemals so richtig bewusst als potenziell eigenes Besitztum wahrnimmt. Eine generöse Weihnachtsaktion schafft diesem Umstand Abhilfe: nidako verschenkt die Stadt. Im mittelgroß gehaltenen und – wacker den Temperaturen trotzend – öffentlich angesiedelten Rahmen verteilt nidako vielerlei Öffentliches. Altbekannte Geschenksanhänger verurkunden temporäre Besitzansprüche. Wer will, wird beschenkt und muss zu diesem Zwecke nur bei der Weihnachtsaktion anwesend sein. nidakos Gaben sind großartig und übertreffen den kühnsten Wunschzettel.“

Auf diese Weise ist sicher gestellt, dass es ein verbrieftes Anrecht auf öffentlich Zugängliches gibt. Eine willkommene Abwechslung zum bis auf den letzten Quadratzentimeter durchbudgetierten Regelfall. Und auch dies, wie denn sonst, lässt sich am besten durch das Anbringen von Text verdeutlichen. Der, wie das unsichtbare Gerücht, dazu beiträgt, Kommunikationsmuster aufrecht zu erhalten und demokratisierende Ahnungen zu festigen.


Daniel Kalt ist Kulturwissenschaftler,freiberuflicher Journalist und Übersetzer.

1 Schöny, Roland (2005): Kunstprojekte im Spannungsfeld des Öffentlichen. In: dérive, 21/22. S. 5 - 7
2 Butor, Michel (2006): La ville comme texte. In: Œuvres complètes de Michel Butor. Tome III. Paris, Éditions de la différence. S. 567 - 574. Hier S. 569. Übersetzung: Daniel Kalt
3 Die Liste der eingeholten Gerüchte, dazumal ausstellungsbegleitend im O. K. ausgelegt, wurde mir von der Künstlerin freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Besonders heiß brodelt es in der Gerüchteküche, meine ich, wenn aus der kolportierten Rede ihre Entstehungsgeschichte ablesbar ist. Beispielhaft: „Ich hab gehört, dass man in der letzten Zeit die Frau vom Dobusch zusammen mit der Frau vom Gneidinger so oft zusammen einkaufen gesehen hat. Aus so was entsteht in Linz auch schnell einmal was. Angeblich hat der Dobusch vor, mit dem Urfahraner Markt ein Zeichen gegen den Trend zu setzen und alles zu lassen, wie es ist. Aber dann hätte die Politik ja verstanden, dass eine unbebaute Fläche in der Stadt, die von vielen genutzt wird, kein Schandfleck ist, sondern ein sinnvoller Luxus.“
4 van der Straeten, Andrea (2001): Rumor Clinics. In: springerin ,4. Nachzulesen auch unter www.springerin.at/dyn/heft_text.php?textid=739〈=de
5 Man erinnere sich an die, andernorts besprochenen, Designated Graffiti Areas by Royal Appointment, die der illustre Street Artist Banksy im Stadtraum per kommunikationsguerilleristischem Text markiert oder ähnliche Interventionen desselben Künstlers. Kommunikationsguerilla und Adbusting möchte ich in diesem Zusammenhang allerdings nicht konkret besprechen, weil die Diskurslage ein über die Grenzen dieses Artikels hinaus gehendes Ausmaß erfordern würde und mein Interesse an dieser Stelle anders gelagerten Projekten gilt.
6 Baudrillard, Jean (2001): La société de consommation. Paris: Denoël. S. 25. Übersetzung: Daniel Kalt
7 Wörtlich: die HerunterreißerInnen. Vgl. www.deboulonneurs.org
8 Zunächst völlig unspektakuläre Plakate, die ein neues Tarifschema bewarben, änderten kurze Zeit nach ihrem ersten Auftauchen das Erscheinungsbild und wurden mit fetten, scheinbar gesprayten Protestschriftzügen überzogen, welche sich allerdings nur gegen die ungeheure Kostengünstigkeit richteten. Das Ganze war also relativ schnell durchschaubar. Aber es nötigte der/m FlaneurIn doch einen zweiten Blick ab. Und das ist ja schon fast mehr, als WerbekundInnen verlangen können...
9 Vgl. zum Beispiel: Kiffmeier, Jens (2006): Provokation in XXL. Süddeutsche Zeitung, 141/2006. S. 9
10 Vgl. die Homepage www.nidako.tv für eine Dokumentation des Projekts.

dérive, Mo., 2007.08.06

06. August 2007 Daniel Kalt

Prost Mahlzeit

Wer ins Wirtshaus geht, ist hungrig oder zumindest durstig, wahrscheinlich beides. Darüber hinaus bestehen vielleicht weitere Ansprüche, die erfüllt werden sollen. Welche, und warum gerade hier? Und nicht etwa im Kaffeehaus oder am nahe gelegenen Würstelstand? Was macht aus der Gaststätte ein typisch wienerisches Wirtshaus? Gibt es das Wirtshaus tatsächlich als mythischen Ort oder wird hier von Mythos gesprochen, um ihn herbeizureden?

Auf der Suche nach markanten Merkmalen sind die MacherInnen der Ausstellung Im Wirtshaus. Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit auf maßgebliche Objekte gestoßen, die unbedingt zur Requisite eines Wirtshauses gehören: darunter die hölzerne Schank und Kühlwand aus der vorigen Jahrhundertwende und die bekannte schwarze Tafel mit den Tagesempfehlungen, außerdem das Würzensemble mit der berüchtigten Maggiflasche. Ein sowohl architektonisch als auch soziologisch wichtiges Element, der teils hölzerne, teils verglaste Raumteiler, der die Trennung zwischen Schwemme und Gastzimmer markiert, wird ebenso als relevant vorgestellt wie Seidel und Viertel-Glaserl.

Unterteilt in thematische „Extrazimmer“, und mit ansprechenden Details versehen, zeigt die Ausstellung auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches: eine dekorative Gläsersammlung etwa, Würfel- und Kartenspiele. Nicht das Spektakuläre wird thematisiert: Seitdem das Wirtshaus Ende des 18. Jahrhunderts entstanden ist, spielen sich hier die alltäglichen Dinge des Lebens ab. Wobei der Charakter einer Halböffentlichkeit entscheidend ist: einerseits das verlängerte Speise- oder Wohnzimmer, der Ort an dem gegessen wird, und das nicht aus dem bohemienhaften Geist heraus, der in den Kaffeehäusern anzutreffen ist. Das Wirtshaus ist Nahversorger, nicht in jedem Haushalt wird gekocht, und in den Fabriksgegenden in den Vorstädten sind Geschäfte rar. Auch Wein und Bier wurden beim Wirt gekauft – oft wurden die Kinder mit dem eigenen Seiderl- oder Vierterl-Glas hingeschickt, um diese befüllen zu lassen. Es ist beheizter Aufenthaltsraum in Zeiten extremer Wohnungsknappheit. Hier konnten BettgeherInnen die Zeit zwischen Arbeit und Schlafmöglichkeit überbrücken. Andererseits bietet es die Möglichkeit der Unterhaltung und Begegnung: Viele sehr große Wirtshäuser in den ehemaligen Vororten, also jenseits des „Linienwalls“, besser bekannt als Gürtel, hatten regelmäßig große Tanz- und Konzertveranstaltungen. Nicht nur die Strauß-Brüder fanden dort mit ihren Orchestern ihr Publikum, und nicht immer genossen die Veranstaltungen einen guten Ruf. Moralisierende Beamte der Zensur mögen sich über lose Sitten ereifert haben, noch schärfer beobachteten sie politische Umtriebe. Denn auch als Versammlungsorte politischer Gruppierungen waren die Hinterzimmer prädestiniert, wie auch für Vereinigungen und Vereine verschiedenster Interessen.

Das Wirtshaus fungiert gleichsam als neutrale Bühne. Seine Eignung als Film- bzw. Theaterschauplatz illustrieren Filmausschnitte, z. B. aus „Wienerinnen“, einem Film von Kurt Steinwendner von 1952: Eine Frau holt ihren Mann aus dem Wirtshaus nach Hause, eine zeitlose Szenerie. Auf das nicht einfache Verhältnis zwischen Frau und Wirtshaus wird extra eingegangen: Frauen in der Gastronomie wurden oft zweideutige Motive unterstellt, wodurch man sie gleichzeitig zum Freiwild machte. Nur die Wirtsfrau hatte eine relativ unangefochtene Position – ein herzerfrischendes Beispiel war die resolute frühere Wirtin des Gmoa-Kellers, die missliebige Gäste einfach hinauswarf. Die Beobachtungen eines ehemaligen „Brotschani“ im Schweizerhaus, Josef Kurt Darmstädter, können über Kopfhörer nachvollzogen werden. Dieses Tondokument, berührend in seiner Nähe zum beschriebenen Objekt und bestechend in seiner klaren Beobachtung, lässt das Prater-Milieu vor dem inneren Auge lebendig werden. Videos, die drei Varianten der Wiener-Schnitzel-Zubereitung zeigen, tragen zum kurzweiligen Charakter des Ausstellungsbesuches bei. Für sehr junge BesucherInnen gibt es im Atrium des Hauses eine „Kinderwirtschaft“, eine Art Mini-Wirtshaus mit Wirts- und KellnerInnen-Garderobe etc. Spielerisch angehen können auch erwachsenere BesucherInnen die Frage nach dem Typischen des Wiener Wirtshauses: der „Wegweiser zur Gemütlichkeit“, eine Schautafel mit fotografierten Gasthausszenerien aus verschiedenen Städten Europas, von einer Berliner(!) KünstlerInnengruppe festgehalten, ist als Ratespiel aufgebaut: die Photos sollen den entsprechenden Städten zugeordnet werden. Durch Drücken der zugehörigen Taste leuchtet am richtigen Ort auf der Europakarte ein Lichtlein auf.

So kann die „Wiener Gemütlichkeit“ im europäischen Vergleich erprobt bzw. relativiert werden. Der mit dem Untertitel der Ausstellung „Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit“ aufgeblitzte Verdacht, es gehe bei der Beschäftigung mit einem angeblich vergessenen Mythos um das Heraufbeschwören von Identität, bestätigt sich glücklicherweise nicht. Die AusstellungsgestalterInnen legen im Gegenteil Wert darauf zu zeigen, dass das Wirtshaus eine Größe mit fließenden Grenzen darstellt, offen zu den nobleren Restaurants, aber auch zu den Kaffeehäusern und Heurigen andererseits: naturgemäß ein Konglomerat verschiedener Einflüsse, nicht nur der alteingesessenen Bevölkerung, sondern auch der zugereisten, und selbstverständlich beeinflusst durch die jeweilige Umgebung. Es lässt sich erahnen, wie viel sich seit seiner Etablierung, bei gewisser Wahrung des äußeren Erscheinungsbildes, verändert hat.

Vielleicht bezieht sich das Charakteristische eher auf eine Funktion, auf eine gewisse Atmosphäre. In seiner heutigen Erscheinung beruft sich das Wirtshaus auf eine Tradition, die es großteils erst schafft, es scheint eher einer Sehnsucht nach Solidität zu entspringen als einer lebendigen Tradition. Gleichzeitig fordert der gastronomische Zeitgeist eine gewisse Qualität – nicht alle Gäste wären mit tatsächlich traditionellen Angeboten glücklich. Im heutigen Wirtshaus werden Bouteillenweine verkostet und an so mancher Adresse zeigt das Speisenangebot deutliche Einflüsse der Haubenküchen. Die traditionelle bodenständige Fleischküche erhält oftmals leichter verdauliche Konkurrenz.

So wird das angeblich so typisch Wienerische auf beruhigende Art und Weise ins Reich der Mythen verwiesen: Es entwindet sich einer Definition, es ist und war immer offen für Einflüsse verschiedenster Art – authentisch wie das Schnitzel aus Milano, der Strudel aus Böhmen und, nicht zu vergessen, das „Beisl“ aus dem Jiddischen, höchstselbst.


Im Wirtshaus. Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit
Wien Museum
19. April 2007 bis 23. September 2007
www.wienmuseum.at

Katalog zur Ausstellung:
Kos, Wolfgang & Spring, Ulrike (Hgg.)
Im Wirtshaus. Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit
Wien: Czernin Verlag
320 Seiten, 29 Euro

dérive, Mo., 2007.08.06

06. August 2007 Susanne Karr

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