Editorial

Das Leben auf dem Land gilt aus Sicht des Städters gemeinhin als recht beschaulich. Tages-, Monats- und Jahresablauf sind klar strukturiert, Riten und Traditionen werden gepflegt, für Innovationen bleibt kaum Raum. Doch der ländliche Raum ist schon länger erheblichen Umwälzungen ausgesetzt. Wie lange wird es das Dorf in seiner ursprünglichen Form also noch geben? Oder existiert es am Ende schon jetzt nicht mehr? Und wie viel Veränderung ist überhaupt zulässig, bevor wir dem Dorf einen neuen Namen geben müssen?
Welche Wege Gemeinden wählen, um ihren Charakter zu wahren und dabei trotzdem mit der Zeit zu gehen, zeigen wir anhand von Beispielen aus Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden. Ulrike Kunkel

Inhalt

Diskurs
03 Kommentar
Perlen für die Presse | Ira Mazzoni

06 Magazin

12 On European Architecture
Good Bones: Pritzker-Preis für Richard Rogers | Aaron Betsky

14 Im Blickpunkt
Sèvres: Aus für die Cité Artisanale | Till Wöhler

16 Schwerpunkt:
Dorfstrukturen

17 Zum Thema: Stadt Land Dorf | Ulrike Kunkel
18 Umbau und Sanierung eines landwirtschaftlichen Nutzgebäudes in Oberscheinfeld, von Guido Neubeck | Christian Holl
24 Erweiterungsbau eines Wohnhauses in Soest (NL), von rooijakkers tomesen architecten | Anneke Bokern
32 Fraunberg: eine Gemeinde streicht die Gewerbegebiete aus ihrem Flächennutzungsplan | Prof. Matthias Reichenbach-Klinke
36 Schweizer Bergdörfer zwischen Abwanderung und Erneuerung | Hubertus Adam
42 Abriss und Neubau des Olympischen Frauendorfs in München, von Arge Werner Wirsing, bogevischs buero | Ira Mazzoni

48 db-Ortstermin: München

50 Sanierung eines Bauernhauses zum Marktmuseum in Gaimersheim von Paulus Eckerle | Christoph Gunßer

58 Erfahrungsbericht aus dem baden-
württembergischen Modellprojekt von MELAP | Prof. Günther Schöfl

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Schwimmhallendächern | Rainer Oswald Anhang

Lichtfang im Dorfkern

(SUBTITLE) Erweiterungsbau eines Wohnhauses in Soest (NL)

Im alten Dorfkern von Soest nahe Utrecht errichtete das Amsterdamer Architekturbüro einen Gartenpavillon, der einerseits sensibel auf seinen Standort reagiert, ihm andererseits aber die kalte Schulter zeigt. Offiziell als Scheune deklariert, dient er als Erweiterung eines zum Wohnhaus umfunktionierten historischen Altenstifts.

Soest ist ein Ort zwischen Utrecht und Amersfoort auf einem Ausläufer des Utrechter Hügelrückens. Bereits im Jahr 1029 wurde das Dorf, dessen Bewohner im Mittelalter größtenteils Bauern und Torfstecher waren, urkundlich erwähnt. Im 20. Jahrhundert stieg die Einwohnerzahl von Soest sprunghaft an: zunächst durch Eingemeindungen, dann durch den Neubau von Sozialwohnungssiedlungen in der Nachkriegszeit und Reihenhaussiedlungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Gab es um 1900 gerade einmal 4700 Soester, so zählt die Gemeinde heute etwa 45000 Einwohner und hat ihren dörflichen Charakter weitgehend verloren. Der lauschige alte Dorfkern mit der gotischen Kirche im Mittelpunkt existiert zwar noch, ist jedoch weit an den östlichen Rand der Gemeinde gerückt. Sein Dorfbild und ein Großteil der alten Gebäude, die das »Kirchenviertel« ausmachen, stehen unter Denkmalschutz. Wie in vielen Dörfern im Einzugsbereich des Ballungsraums Randstad, wurden die meisten ehemals öffentlichen Gebäude in Oud-Soest inzwischen zu Wohnhäusern umfunktioniert. So auch das frühere »Alte Männer- und Frauenhaus«, das 1782 als Altenstift errichtet wurde. Heute wohnt dort die Familie eines Zahnarztes und einer Unternehmensberaterin. Und wie so oft, genügte ihnen der Wohnraum im alten Gebäude auf Dauer nicht. Ihre Versuche, einen Ausbau des Hauses genehmigen zu lassen, scheiterten jedoch immer wieder am Protest der Nachbarn und am Denkmalschutzamt. Die Bauherrin ist die Schwester des Architekten Bjarne Mastenbroek (früher de architectengroep, heute SeArch), der einige Entwürfe für den Umbau ausarbeitete. Nach mehreren Anläufen überließ er den sensiblen Auftrag jedoch seinem ehemaligen Mitarbeiter Paddy Tomesen, der seit 2001 gemeinsam mit Theo Rooijakkers ein eigenes Büro in Amsterdam führt. Statt eines Umbaus schlug Rooijakkers vor, zwei Scheunen im Garten abzureißen und an ihrer Stelle einen freistehenden, hölzernen Pavillon zu errichten. Dessen Umfang durfte den einer Scheune nicht überschreiten, so dass die Architekten eines der zwei Geschosse unter die Erde verlegten, um auf eine Nutzfläche von insgesamt etwa 100 Quadratmetern zu kommen. Die Auftraggeber waren zufrieden, die Nachbarn immerhin geteilter Meinung. Nun galt es nur noch, die Mitarbeiter des Denkmalamtes für den Entwurf zu gewinnen, denn wie in den Niederlanden üblich, gab es nur wenige festgeschriebene Bauregeln, vieles beruhte auf persönlicher Überzeugungskraft. Letztlich ließen die Beamten sich unter anderem, wie Tomesen grinsend erzählt, durch ein speziell angefertigtes Modell »im Märklin-Stil« erweichen: Der Bau des Pavillons wurde genehmigt.

Die Scheune, die eine Wohnung ist

Im Inneren des Holzbaus befindet sich eigentlich eine komplette Wohnung, inklusive Küche und Bad. Genutzt wird sie allerdings als Atelier, Orangerie und Abstellraum und offiziell musste sie sogar als Scheune deklariert werden, um die Baugenehmigung zu erhalten. Holz ist zweifelsfrei das Hauptthema des Gebäudes: Abgesehen vom Kellergeschoss, wurde der Pavillon ganz aus sibirischem Lärchenholz errichtet, das teils massiv, teils in Form von Laminat oder Furnier verwendet wurde. Nur das Souterrain besteht aus Beton, aber auch dort kehrt das Thema Holz zumindest optisch in der Brettschalungsstruktur der unverputzten Wände wieder. Die Konstruktion des Gartenhauses besteht aus 15 Rahmenbindern, die in einem Raster von 90 Zentimetern platziert wurden und ein Pultdach tragen. Zur Straße und zur Hecke hin, die das Grundstück im Norden von dem des Nachbarn trennen, erhielt das Haus je eine geschlossene Wand aus Multiplexplatten, die die Konstruktion aussteifen. Darüber ist außen eine Verkleidung aus überlappenden, ungeschliffenen Lärchenbrettern angebracht, die an die Stulpschalung traditioneller niederländischer Scheunen erinnert. Einziger Unterschied ist, dass die Bretter hier nicht geteert, sondern schwarz gestrichen sind. Die Seiten des Gebäudes, die für die Anwohner sichtbar sind, unterscheiden sich also auf den ersten Blick so gut wie gar nicht von den alten Scheunen, die auf mehreren Grundstücken in Oud-Soest stehen. Nähert man sich dem Gebäude jedoch vom Garten her, ist es kaum wieder zu erkennen. Während die Straßenfassaden völlig geschlossen und sehr rau sind, öffnet sich der Bau zum Garten und bietet einen leichtfüßigen, eleganten, ganz und gar nicht rustikalen Anblick. Das liegt nicht nur an der Glasfassade mit schlanken Holzsprossen, sondern auch daran, dass der Bau ein Stück über dem Erdboden zu schweben scheint. Denn quer über das Souterrain haben die Architekten 25 Zentimeter dicke Balken gelegt, die den Geschossboden tragen, und die Zwischenräume zwischen Balken und Betonwänden verglast. Vor allem nachts verwandeln sich diese Fensterchen auf Fußniveau in einen etwas zurückliegenden Leuchtstreifen, der das Gebäude optisch abheben lässt. An der Südseite des Baus ragen die Balken über die Betonwanne hinaus und tragen eine überdachte Terrasse, die eine Übergangszone zwischen Innen- und Außenraum schafft. Als Sicht- und Sonnenschutz wurden sechs Schiebepaneele aus vertikalen Holzlatten vor der Glasfassade angebracht, die einzeln bewegt werden können aber kaum die Hälfte der Fassadenfläche bedecken. Es bleibt ein halboffenes, wintergartenähnliches Gebäude, das als modernes Gegenstück zum schweren, historischen »Alte Männer- und Frauenhaus« erscheint.

Licht durchflutet

Im Inneren des Hauses befindet sich im Wesentlichen in jedem Geschoss ein großer, offener Raum, in dem ein Kern steht, durch den sämtliche Leitungen laufen und der auch die Treppe aufnimmt. Sowohl im Ober- als auch im Untergeschoss lässt sich der Raum mittels zweier Schiebetüren in Höhe des Kerns unterteilen. Während das Obergeschoss auch innen rundum lärchenholzverkleidet ist, sind die Wände im Souterrain weiß gestrichen. Dort wird ein weiterer Effekt der Fensterbänder zwischen den Balken deutlich: Sie sorgen dafür, dass viel Tageslicht eindringen kann, so dass kein frösteliges Kellergefühl aufkommt, sondern eher ein intimer Wohnraum entsteht. Im Obergeschoss wurden außerdem zwischen den Pfosten der geschlossenen Fassadenseiten die Zwischenräume im Boden verglast, so dass ein Bezug zwischen den beiden Geschossen entsteht und am Abend indirektes Licht aus dem Souterrain nach oben dringt. Solch liebevolle Details machen die Qualitäten des Gartenpavillons aus, den die Architekten als »Light Catcher« (Lichtfang) bezeichnen. Man kann dem Gebäude – seiner Formensprache, aber vor allem den für niederländische Verhältnisse unglaublich aufwendigen Details – auf den ersten Blick ansehen, dass Paddy Tomesen mehrere Jahre in Japan studiert und gearbeitet hat. Gleichzeitig schließt es in seiner Handwerklichkeit und mit seinen natürlichen Materialien an den alten Dorfzusammenhang an, ohne sich bei den historischen Gebäuden in der Umgebung anzubiedern. Im Gegenteil: Eigentlich zeigt es dem Dorf die kalte »Stulpschalungs-Schulter«, während es für seine Besitzer den Blick auf den gotischen Kirchturm von Soest, den Garten und das dahinter liegende Deichvorland so großzügig wie möglich in Szene setzt.

db, Mo., 2007.05.07

07. Mai 2007 Anneke Bokern

Mythos, Brachen, Branding

(SUBTITLE) Schweizer Bergdörfer zwischen Abwanderung und Erneuerung

Über Jahrhunderte prägte ein rurales Selbstverständnis die Identität der Schweiz; Dörfliche Strukturen finden sich nicht nur in den ländlichen Gemeinden, sondern wurden auch auf die Städte übertragen. Sie bestimmten Wohnungsgrößen ebenso wie das Prozedere der politischen Entscheidungsbildung. Auch wenn die Zahl der Bewohner, die ihr Einkommen aus der Landwirtschaft beziehen, seit Langem rückläufig ist, das Selbstbild blieb bis vor einigen Jahren erstaunlich konstant. Wenn es nach der Meinung einiger ginge, sähe die Schweiz vielleicht bald nicht mehr so aus, wie es die Bilder des Artikels zeigen.

Die Schweiz vollzieht seit einiger Zeit einen Imagewandel: weg vom ländlich geprägten Idyll hin zu einem modernisierten Bild des Landes. Dass auch die lokale Tourismusorganisation Zürich nicht mehr als »Little Big City«, sondern als »Downtown Switzerland« vermarktet, ist dabei eher nebensächlich. Als signifikanter muss man das beinahe völlige Fehlen des Sektors Landwirtschaft auf der Schweizerischen Landesausstellung Expo.02 einstufen. Auf allen Landesausstellungen zuvor war der rurale Mythos als ein Kernelement der eigenen Identität inszeniert worden; im Jahr 2002 zeigte er sich völlig marginalisiert.

»Alpine Brachen«

Am deutlichsten in Frage gestellt wird das agrarische Selbstverständnis des Landes durch die Ende 2005 publizierte Studie »Die Schweiz. Ein städtebauliches Porträt« des ETH Studio Basel. In der Veröffentlichung, die Jacques Herzog und Pierre de Meuron gemeinsam mit Studenten sowie mit ihren Kollegen Marcel Meili, Roger Diener und dem Wirtschaftsgeografen Christian Schmid am Studio Basel der ETH Zürich erarbeit haben, geht es um die sachliche Analyse dessen, was die Schweiz heute ausmacht, gewissermaßen um ein neues »Branding«. Attestiert wird dem Land ein hohes Maß an Urbanisierung, welche auch die entlegenen Regionen ergriffen hat. Das Problem sehen die Autoren in einer nicht zuletzt aufgrund der Gemeindeautonomie fortschreitenden Nivellierung – das Postulat, überall gleiche Lebensbedingungen zu schaffen, wird zunehmend zum Problem. Am umstrittensten sind die Aussagen der Verfasser zu den geografischen Bereichen, die sie als »alpine Brachen« bezeichnen. Dabei handelt es sich um alpine Siedlungsräume, deren Ökonomie heute weitgehend auf diverse Transferleistungen angewiesen ist. Bekannt sind Subventionen für die Berglandwirtschaft, doch weitaus größere Kosten entstehen durch die Aufrechterhaltung der Infrastruktur sowie die Sicherung der Siedlungsgebiete und Verkehrswege gegen Naturgefahren wie Lawinen und Hochwasser. Da die »alpinen Brachen« ohnehin seit langem von einer kontinuierlichen Tendenz der Abwanderung und Entvölkerung betroffen sind, schlägt das ETH Studio Basel den kontrollierten Rückzug vor, weil »für diese Gebiete das traditionelle Modell der Bestandswahrung keine Perspektiven mehr eröffnet«. Sie exemplifizieren die Idee der Abwanderung am Beispiel des Calancatals, deren 500 Bewohnerinnen und Bewohner von Bund und Kanton jährlich 4 Mio Franken für Infrastrukturmaßnahmen und 0,9 Mio an Agrarsubventionen erhalten. Aus ökonomischen und ökologischen Überlegungen sei es sinnvoller, Siedlungen im zentralen Alpenraum aufzulösen und den Siedlungsraum der Natur zurückzugeben.

»Alpine Chancen«

Der Architekt Gion A. Caminada ist ein entschiedener Gegner dieser Überlegungen. Er unterrichtet an der ETH Zürich – und arbeitet als Architekt in seinem Heimatdorf Vrin. Zu seiner Ausstellung 2005 in Meran legte er »Neun Thesen für die Stärkung der Peripherie« vor. Caminada hofft auf Impulse, die von der Peripherie ins Zentrum ausstrahlen, und sieht die alpine Kulturlandschaft als größtes ökonomisches Kapital der Alpen: »Landschaft und Kultur sind wichtige Faktoren für den Tourismus. Kultur bedeutet Kultivierung und meint die Veredelung von dem, was auch Natur sein kann. Kultur zu haben bedeutet aber auch, anders zu sein. Globale Normen sind die größten Feinde der Natur. Der Kulturtourist sucht eine Gegenwelt zu seiner eigenen Kultur.« Auch Produktionsprozesse könnten – so postuliert er – wieder in der Peripherie stattfinden.

Das Dorf Vrin

Vrin, wo Caminada lebt und arbeitet, ist ein abgelegener Ort im Lumneziatal, ein Bergbauerndorf, in dem der Asphalt seitlich der Hauptstraße aussetzt. Wer hierhin gelangt, unternimmt eine Zeitreise: Ziegen und Kühe laufen durch das Dorf, die Häuser werden seit alters her aus Holz errichtet – nur Kirche und Schule bestehen aus Stein. Wie viele Dörfer in den Alpen befand sich auch Vrin in einer Krise: Die Bevölkerungszahl nahm ab – 1950 zählte man 441 Einwohner, 2000 nur noch 249. Seit Inkrafttreten des interkantonalen Finanzausgleichs (1958) erhält das Dorf Transferleistungen zur Sicherung seines eigenen Haushalts. Dazu kommen Gelder, die als Kompensationszahlungen für das nicht realisierte Greina-Kraftwerk gezahlt werden; die geplante Anlage hätte den beiden Gemeinden Vals und Sumvitg jährliche Einnahmen von 2,4 Mio Franken gebracht, doch wurde die Realisierung seitens der Betreiberin »Nordostschweizerische Kraftwerke« gestoppt. Für die heutige Struktur des Dorfes entscheidend ist die »Gesamtmelioration«, deren Planung 1982 begann. Aus den früher bestehenden 3500 kleinen bewirtschafteten Parzellen wurden nach Abschluss des Programms, das Forderungen der Landwirtschaft, der Raumplanung und des Umweltschutzes zu vereinen hatte, 600. Zu etablieren waren neue, konkurrenzfähige Formen landwirtschaftlicher Betriebe. Indem Caminada den in Graubünden seit alters her üblichen Strickbau in einen anderen Maßstab übertrug, sorgte er dafür, dass dies nicht in Form der omnipräsenten Banalarchitektur geschah. So entwickelte er für die großen Ställe, die ortsbildschonend am Rande der Siedlung entstanden, ein System präfabrizierter modularer Elemente – aus dem Verständnis der Moderne heraus wurde eine althergebrachte Bauweise neu formuliert. Realisiert wurden neben diversen privaten Bauten auch die Mehrzweckhalle und ein von der Bauern-Genossenschaft betriebenes Schlachthaus mit Direktvermarktung, außerdem, an der Schnittstelle von Friedhof und Dorfplatz, die so genannte Totenstube, in der die Verstorbenen aufgebahrt werden und Kleinstarchitekturen wie beispielsweise eine Telefonzelle in Strickbau- technik. Seit mehr als 15 Jahren ist Caminada der Architekt, der Vrin und seine Umgebung prägt. Eine Baugesetzgebung, die man inzwischen erlassen hat, unterstützt die Anliegen: Eine Bauberatung ist obligatorisch, eine Einzäunung ist nur zum Schutz von Tieren zulässig und die Topografie eines Grundstücks darf nur verändert werden, wenn dadurch Orts- und Landschaftsbild nicht beeinträchtigt werden. Die Leistungen zur Erhaltung des Ortsbilds von Vrin sind inzwischen mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden. Ohne Zweifel ist hier ein vorbildliches und nachhaltiges Konzept umgesetzt worden, selbst wenn es in Zukunft nicht gelingen sollte, Vrin zu einem sich selbst finanzierenden Dorf zu entwickeln. Eine gewisse Hoffnung ruht auf einem umweltverträglichen Tourismus, für den sich die 1990 installierte Initiative »Pro Val Lumezia« einsetzt. Doch der Tourismus ist eine zweischneidige Angelegenheit: Peter Zumthors Therme Vals im Nachbartal ist so erfolgreich, dass einige Bewohner des Ortes inzwischen über den Zustrom von Besuchern klagen. Nicht ohne Grund wird Vals denn auch von den Autoren des ETH Studio Basel nicht mehr als »alpine Brache«, sondern als »alpines Ressort« klassifiziert.

Dorfbewohner als Kulturpfleger

Welche Probleme der Erhalt von Bergdörfern in der Schweiz gemeinhin bereitet, lässt sich in den meisten Regionen der Schweiz beobachten. Die gewaltigen Engadinerhäuser um St. Moritz werden bei Bewahrung der äußerlichen Hülle zum Beispiel zu Luxusapartments umgebaut, innerhalb des Mauerkranzes von Tessiner Rustici entstehen Ferienwohnungen. Das abgelegene Vrin ist von derlei Entwicklungen verschont geblieben; indem die ökonomische Erwerbsstruktur lediglich leicht modernisiert wurde, ist ein radikaler Strukturwandel ausgeblieben. Natürlich bedarf es dazu kontinuierlicher Transferleistungen – doch sind Subventionen hier zweifelsohne besser eingesetzt als anderswo. Vielleicht kann die Studie des Studio Basel trotz ihrer Zuspitzungen dazu beitragen, Gelder bewusster zu verteilen. Der Dorfbewohner erhielte dann Subventionen für seine Leistungen als Landschafts- und Kulturpfleger.

db, Mo., 2007.05.07

07. Mai 2007 Hubertus Adam

Das Experiment von Fraunberg

(SUBTITLE) Eine bayrische Gemeinde streicht die Gewerbegebiete aus ihrem Flächennutzungsplan

In unmittelbarer Nähe zum Flughafen München gelegen, unterliegt die Gemeinde Fraunberg einem enormen Veränderungs- und Anpassungsdruck, der alle Lebensbereiche umfasst. Gemeinderat und Bürger haben sich entschlossen, der Entwicklung nicht freien Lauf zu lassen, sondern aktiv einen neuen Weg zu gehen, bei dem die Nachhaltigkeit und der schonende Umgang mit der Ressource Grund und Boden an erster Stelle stehen.

»Weil das Dorf seine Identität bewahren will, hat der Gemeinderat die Gewerbegebiete gestrichen«, so hieß es in der Süddeutschen Zeitung vom 1. Juli 2005. [1] Das Vorgehen der Gemeinde Fraunberg, die im FNP ausgewiesenen Gewerbegebiete zu streichen und gezielt die Ansiedelung von Gewerbe auf leer gefallenen, innerörtlichen Hofstellen zu betreiben, sucht in Deutschland seinesgleichen. Zur Realisierung der Ziele wurde ein Entwicklungs- und Handlungskonzept [2] aufgestellt, das im Weiteren vorgestellt wird und von folgenden vier Grundsätzen ausgeht:

Aus der Sicht der Denkmalpflege und Heimatpflege ist es von prinzipieller Gewichtung, die kulturellen Werte zu bewahren und weiterzuentwickeln.
Die Kulturlandschaft Bayerns ist in weiten Teilen von Einzelhof- und Weilerbesiedlung gekennzeichnet – ein kulturelles Identitätsmerkmal. Allerdings entwickelt sich der Erwerbstätigenanteil in der Landwirtschaft nach wie vor rückläufig. In Fraunberg reduzierten sich die landwirtschaftlichen Betriebe von 1994 bis 2002 um ca. 20 Prozent, die prägenden Siedlungselemente der etwa 240 Gehöfte sind nur noch zu ca. ¼ der landwirtschaftlichen Nutzung vorbehalten (Erhebungen 2003). Das heißt, die Idee der traditionellen Kulturlandschaft, die im Wesentlichen auf der landwirtschaftlichen Funktion beruht, muss weiterentwickelt werden, um im Sinne der Nachhaltigkeit bestehende untergenutzte Bausubstanz mit neuen Funktionen zu beleben. Dabei darf nicht verkannt werden, dass im ländlichen Raum die unterbäuerliche Schicht mit etwa 60 Prozent immer in der Überzahl war, ergänzende Berufszweige also die Regel waren. [3] In der Typologie prägt noch heute das Wohnstallhaus in differenzierten Vorkommen die menschliche Besiedlung: als Streusiedlung (Einzelhof, 1 bis 3 Wohnstätten), als Weiler (Hausgruppe 3 bis 20 Wohnstätten) oder im Dorfverband (überwiegend Straßendörfer); und im Einzelnen als Winkelhof, Dreiseit- oder Vierseithof.
Dass die Bevölkerungszahlen in den Außenbereichsstandorten der Streusiedlungen und Weiler stärker sinken, weist die ortsteilbezogene Statistik der letzten zehn Jahre nach. Das heißt, das kulturell-soziale Identitätsmerkmal der Siedlungsmodelle im ländlichen Raum ist von zunehmender Erosion bedroht. Die Tendenz wird durch das attraktive Arbeitsplatzangebot im nahen Münchner Flughafen noch unterstützt.
Die Landwirtschaft ist angesichts der ökonomischen Randbedingungen nicht mehr in der Lage, allein den siedlungskulturellen Auftrag im Außenbereich wahrzunehmen. Ökonomisch tragfähige Betriebe entwickeln sich zudem verstärkt als agrarindustrielle Sondergebiete.
Die Landwirtschaft ist nicht nur ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, sondern von soziokultureller Bedeutung, Pfleger der Kulturlandschaft und Sicherer der natürlichen Ressourcen. Die folgenden Faktoren bestimmen tendenziell die Entwicklung der Landwirtschaft [4].
Der Strukturwandel wird sich weiter beschleunigen und zu neuen Unternehmensformen in der Landwirtschaft führen, wobei Eigentums- und Bewirtschaftungsstrukturen nicht – wie im traditionellen Bauernhof – identisch sein müssen.
Großmaschinen prägen den Ackerbau und bedingen für deren überbetrieblichen Einsatz Feldschläge > 10 ha (in Bayern derzeit nur 1 Prozent der Feldschläge!). Zur Sicherung des Agrarstandortes Bayern sind deshalb neue Formen der Flurzusammenlegung ohne aufwändige Eigentumsübertragungen zu entwickeln.
Rationelle und tiergerechte Ställe sprengen die Dorfstruktur. Sie erfordern geeignete Standorte in der Feldflur, während die Dörfer ihre landwirtschaftliche Prägung zunehmend verlieren.
Intensive und extensive Landbewirtschaftungen driften weiter auseinander und gefährden eine flächendeckende agrarische Landnutzung auf benachteiligten Standorten; hier sind neue Modelle einer Kulturlandschaftspflege als »Koppelprodukt« von agrarischen und landespflegerischen Zielen zu entwickeln. Für die weltweite Ernährungssicherung sind günstige und international konkurrenzfähige Agrarstandorte vor einer weiteren Zersiedlung zu schützen.
Ökologische Dienstleistungen und die Multifunktionalität des ländlichen Raums weisen der Landwirtschaft neue Aufgaben zur Erzeugung von Biomasse für die energetische Nutzung, aber auch als Dienstleister für die Landschaftspflege und für Urlaubs- und Freizeitaktivitäten der Bevölkerung zu.
Der Außenbereich ist im Wesentlichen über die Privilegierung der Bauvorhaben definiert. Das Baugesetzbuch ermöglicht jedoch, dass alle Gemeinden ihre Planungshoheit im Außenbereich stärker wahrnehmen können. Hier hat sich eine wahre Pilothaftigkeit für Fraunberg ergeben.
Der gesamte Gemeindebereich wird als »wertvolle Kulturlandschaft« dargestellt. Diese wird als eigene Legendenziffer vermerkt und beinhaltet die Qualität des ganzheitlichen Zusammenwirkens von Siedlung, Wegenetz und Landschaft. Städtebauliches Ziel ist es, die Kulturlandschaft lebendig zu halten, Leerstand zu vermeiden und in qualitätsvoller Weise weiterzuentwickeln. Die Grundsätze nachhaltiger Siedlungsentwicklung werden hier als besonderer Belang der gemeindlichen Bauleitplanung und als Ziel der gemeindlichen Entwicklung (Planungshoheit) dargestellt.
2005 hat die Gemeinde Fraunberg im Wettbewerb »Zukunftsfähige Landnutzung in Bayerns Gemeinden« eine Auszeichnung für »Nachhaltige Gemeindeentwicklung« erhalten, in der es heißt: Im Zuge einer Flächennutzungsplanänderung wird der Flächenverbrauch in der Gemeinde eingedämmt, Ausweisungen von Gewerbegebieten oder Wohnbauflächen werden zugunsten einer angepassten baulichen und wirtschaftlichen Weiterentwicklung in den Dörfern und Ortschaften zurückgenommen. Neben langfristigen Perspektiven für die Landwirtschaft und einer zukunftsorientierten Weiterentwicklung der kleinen Ortschaften und Weiler durch zeitgemäße, der Situation angepasste Formen von »Wohnen und Arbeiten« entstehen neue Modelle zur besseren Kooperation und Vernetzung verschiedener Stellen.
Im Zuge des Strukturwandels in der Landwirtschaft freiwerdende Bausubstanz und Grundstücke sollen einer neuen Nutzung zugeführt werden. Mehrere kleinere Gewerbebetriebe konnten bereits in vorhandener Bausubstanz im Außenbereich untergebracht werden.
Die vorbildliche Bürgerbeteiligung in Fraunberg zeigt sich insbesondere durch den Verein »Gemeindeentwicklung Fraunberg e.V.«. Er versteht sich als Dachorganisation, die allen Bürgern fachliche und finanzielle Hilfestellung anbietet. Es wird folgendes mögliches Schema der planungsrechtlichen Umsetzungen erarbeitet:
Im Flächennutzungsplan wird die Kategorie »Erhaltenswerte Kulturlandschaft« über eine flächige Schraffur dargestellt (Außenbereich insgesamt). Die Kategorie entspricht dem Inhalt »Erhaltung und Weiterentwicklung charakteristischer ländlicher Strukturen – funktional, sozial, ökologisch, städtebaulich«. Damit ist der öffentliche Belang der Kulturlandschaft dargestellt, auf dessen Grundlage weitere Planungen aufbauen. Dabei handelt es sich nicht um eine Bauflächenkategorie – der § 35 bleibt gültig. Danach sind allerdings nach mehrfacher Bestätigung innerhalb der Bausubstanz weitgehend sämtliche Nutzungen möglich – § 35 [5] Zulässigkeit von sonstigen Vorhaben.
Die neue Kategorie im Flächennutzungsplan bildet den Ausgangspunkt für eine Satzung mit besonderen Gestaltungsauflagen, z. B. maximale Breiten und Längen, Höhenentwicklungen und Materialfragen. Erhöhter Beratungsbedarf ist hier gegeben.
Bei entwicklungsorientierten Vorhaben mit hohen Neubauanteilen sind Bebauungsplanungen (einfach oder qualifiziert) notwendig. Für besondere Entwicklungen – z. B. Aussiedlung, Hotel sind Bauflächenkategorien im Flächennutzungsplan (Deckblatt) mit Bebauungsplan aufzustellen.
Nachdem die Darstellung mit der genannten Kategorie im Flächennutzungsplan in der Regel nicht ausreicht, eignet sich vor allem das Instrument des einfachen Bebauungsplans.
Im Außenbereich werden zwei Siedlungskategorien unterschieden.
Ortsteile mit Eigenentwicklung: Diese Ortsteile stellen aufgrund der Einwohnerzahl und der vorhandenen Bebauung eine »Zwischenkategorie« zu den kleinen Dörfern in der wertvollen Kulturlandschaft dar. Es bestehen starke soziale Strukturen, die einer Stützung bedürfen. Diese Ortsteile sind nur für eine begrenzte Entwicklung geeignet. Diese Ortsteile werden »landläufig« auch als »Ortsteile mit vorhandener Bebauung von einigem Gewicht« bezeichnet und sind als Dorfgebiet (MD) dargestellt. Im Fall der Gemeinde Fraunberg handelt es ich um 12 Ortsteile mit 23 bis 10 Wohnstätten, 68 bis 14 Einwohner.
Prägende Siedlungselemente in der Kulturlandschaft: Die Gemeinde hat insgesamt 42 Ortsteile, davon 6 Dorfanlagen. Der Begriff der prägenden Siedlungselemente in der Kulturlandschaft erfasst als Kategorie Strukturen mit mehr als drei Wohnstätten sowie Einzelstandorte, die als prägende Elemente besonderer Begründung bedürfen.
Zur Sicherung des Siedlungsmodells ist ein dreistufiges System entwickelt worden:
Nutzungsänderungen in der vorhandenen Bausubstanz Beurteilung nach § 34/35 in der Regel ohne Bebauungsplan.
Maßvolle Weiterentwicklung, Ersatzbauten oder weitergehende
Umbauten werden in der Regel durch einfache Bebauungspläne
definiert. [6]
Erhebliche Neuentwicklungen werden über qualifizierte Bebauungspläne abgesichert. Unter diese Kategorie fallen auch Aussiedlungen von landwirtschaftlichen Betrieben, die damit auch über die Planungshoheit der Gemeinden in ihrer Ausprägung bestimmt werden.
In den Stufen 1 und 2 müssen ortsbildprägende Vorhaben oder Vorhaben die aufgrund der vorgesehenen Nutzung für den Ortsteil erhebliche Auswirkungen haben, vor der Behandlung im Bauausschuss und Gemeinderat eine Bauberatung mit dem Bauherrn durchlaufen. Nur dem zwischen Bauwerber und Gemeinde erzielten einvernehmlichen Ergebnis der Bauberatung wird das gemeindliche Einvernehmen nach § 36 BauGB erteilt. Als Grobraster für eine Vorhabensbeurteilung und Bauberatung durch die Gemeinde werden folgende Kriterien angewandt:
Das Planvorhaben bewegt sich überwiegend in dem bestehenden Bauvolumen vorhandener Gebäude.
Es sind nur dorfgebietsverträgliche (dorfverträgliche Landwirtschaft, typgerechtes Gewerbe, ländliches Wohnen) Vorhaben zulässig.
Die Erschließung ist gesichert.
Die vorhandene Infrastruktur ist für die beabsichtigte Bebauung ausreichend.
Zusammenfassung
Aufgrund der neuen städtebaulichen Randbedingungen ist es möglich, Neuausweisungen von Bauflächen zugunsten der Wiederverwendung bestehender Strukturen zu vermeiden. Insbesondere die eingangs genannte Aussage »Weil das Dorf seine Identität bewahren will, hat der Gemeinderat die Gewerbegebiete gestrichen«, ist vor dem Hintergrund des städtebaulichen Modells plausibel.
Im ländlichen Raum verlangen die differenzierten Siedlungsmodelle in der Kulturlandschaften vor dem Hintergrund nachhaltiger Zielsetzungen differenzierte Auslegungen der Planungsgesetze und vor allem verstärkte fachlich qualifizierte städtebauliche Modelle im Sinne verantwortungsvoller Planungshoheit. Das häufig vernachlässigte Instrument der vorbereitenden Bauleitplanung und den im § 1 BauGB definierten Aufgaben kann die Schlüsselstellung wieder einnehmen, um Nachhaltigkeit im Sinne ressourcenschonender, sozialverträglicher und intelligenter Weise zu realisieren. Die besondere Verantwortung besteht in der Wahrung der naturgegebenen Daseinsgrundlagen und der Fortführung der kulturellen Qualitäten. »Eine überzeugende Ideenvielfalt entspringt aus dem eigens gegründeten Gemeinde-Entwicklungs-Verein und der überaus starken Beteiligung der Bürger. Die Rücknahme von Gewerbe- und Wohngebietsausweisungen erhält die traditionelle Ortstruktur mit Weilern und Ortsteilen.« [7]

db, Mo., 2007.05.07

Literaturnachweis:
[1] SZ, 1.7.05. Hans Kratzer, Das Exempel von Fraunberg.
[2] Entwicklungs- und Handlungskonzept für die Gemeinde Fraunberg, 9.12.2003, Auftraggeber: Bereich Zentrale Aufgaben BZA der Direktion für ländliche Entwicklung München. Von Prof. Reichenbach-Klinke,
H. Schranner, Architekten; Dr. K. Zeitler, Soziologe; Juristische Beratung: Dr. F. Dirnberger, Bayerischer Gemeindetag.
[3] Ideen zum Neuen Dorf – Forschungsvorhaben, Auftraggeber: Bayer. Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Von Prof. Reichenbach-Klinke, Lehrstuhl für Planen und Bauen im ländlichen Raum, TU München 2000, Veröffentlichte Materialien zur ländlichen Entwicklung, Heft 38, 2000.
[4] Nach Prof. Dr. H. Schön, Leiter LfL, Landesanstalt für Landwirtschaft Weihenstephan, 2003.
[5] Dokumentation Zukunftsfähige Landnutzung in Bayerns Gemeinden, Wettbewerb 2005, Hrsg. Bayer. Staatsministerium für Landwirtschaft und Forsten, München 2005.
[6] Planungshilfen für die Bauleitplanung 2005, Hrsg. Oberste Baubehörde im Bayer. Staatsministerium des Innern.
[7] Zitat aus [3].

07. Mai 2007 Matthias Reichenbach-Klinke

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