Inhalt

WOCHENSCHAU
02 Paradies der Moderne? Chandigarh wird 55 | Jan Friedrich, Michael Kasiske
04 Biedermeier-Ausstellung in Wien | Friederike Meyer
05 Der „Abreißkalender“ | Gudrun Escher
05 Gebaute Bilder der Macht | Florian Heilmeyer
06 Bauten im Bild in Augsburg | Jochen Paul
06 James-Stuart-Retrospektive in London | Hubertus Adam

BETRIFFT
08 „El monumento a las víctimas del 11-M“ in Madrid | Kaye Geipel

WETTBEWERBE
12 Museumshöfe der Staatlichen Museen zu Berlin | Friederike Meyer
14 Entscheidungen
16 Auslobungen

THEMA
18 Villa Martemar in Benahavis | Kaye Geipel
26 Villa Hemeroscopium in Las Rozas
30 Silicon House in La Florida | Kaye Geipel
36 Haus T in Graz | Kaye Geipel
40 Haus H 16 auf der Alb | Christian Marquart
46 Haus in Upstate New York | Hubertus Adam
50 Desert House in Kalifornien | Michael Webb

RUBRIKEN
07 Leserbriefe
07 wer wo was wann
56 Kalender
58 Anzeigen

Paradies der Moderne?

(SUBTITLE) Chandigarh wird 55

In Delhi wird man ständig gefragt, wohin die Reise als Nächstes gehen soll. Unsere Antwort „Chandigarh“ sorgt immer für helle Begeisterung. Zwar ist kei­ner je dort gewesen: nicht der Rikscha-Fahrer, der uns durch den mörderischen Verkehr zum Bahnhof zu bringen versucht, und auch nicht der fliegende Händler, der uns zuvor fast eine Stunde lang auf den Fersen war. Aber alle wissen: „Chandigarh is the most beau­­ti­ful city of India“ und wurde von einem „famous french architect“ geplant. Aller Kritik am modernen Städtebau zum Trotz verkörpert Le Corbusiers Planstadt in Indien unvermindert die Verheißung auf ein besseres Leben.

Der Sababdi-Express verbindet zweimal täglich Delhi mit Chandigarh. Für die 247 Kilometer lange Strecke braucht der Schnellzug nur gut drei Stunden – eine für indische Verhältnisse rasant kurze Reisezeit. Der klimatisierte Waggon ist voller Passagiere, die offensichtlich einer westlich orientierten Mittelschicht an­gehören. Die Dame auf dem Nachbarsitz, eine Geschäftsfrau um die vierzig, schwärmt, zwischen im­-mer wieder abreißenden Mobiltelefongesprächen, von Chandigarh. Alle Inder würden gerne dort wohnen: Die Stadt habe den höchsten Lebensstandard des Lan­des, sei grün und sauber, die Luft nicht ungenießbar von Abgasen verunreinigt, der Verkehr fließend – und es liefen keine Kühe auf den Straßen herum. Doch so viele Vorzüge hätten ihren Preis. Die Grundstücke und Immobilien in Chandigarh seien so teuer wie nir­gends im Land, entsprechend hoch die Mieten. Somit sei die Stadt für Normalverdiener – damit meint sie die zu einigem Wohlstand Gekommenen wie sie selbst – inzwischen unerschwinglich.

Ein Blick zurück: Nach der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 wird die Region Punjab in einen indischen und einen pakistanischen Teil gespalten. Die alte Kapitale Lahore liegt nun in Pakistan. Schon 1948 fällt die Entscheidung, in der nur dünn besiedel­ten Ebene im Vorfeld des Himalaya eine neue Hauptstadt zu bauen. „Auf dass diese Stadt eine neue Stadt werde, Symbol der Freiheit Indiens, ohne Fesseln durch Tradition aus der Vergangenheit, ein Ausdruck des Glaubens der Nation an die Zukunft“, so formuliert Jawaharhal Nehru, der erste indische Minister­prä­sident, seine Vision für Chandigarh, als er im April 1952 den Grundstein legt. 1966 wird der Bundesstaat erneut gespalten, in einen von Sikhs dominier­ten Teil, weiterhin Punjab genannt, und in das hin­du­istisch geprägte Haryana. Chandigarh ist seither gemeinsame Hauptstadt beider Regionen, gehört selbst jedoch zu keinem der Staaten dazu, sondern wird als Unionsterritorium von der Bundesregierung in Delhi verwaltet. Punjab und Haryana sind der „Brotkorb“ Indiens. Nahezu ein Viertel des indischen Weizens und ein Drittel der Molkereiprodukte werden hier erzeugt. Das Bruttoeinkommen ist doppelt so hoch wie im indischen Durchschnitt.

Das politische Kalkül Nehrus, mit einer gänzlich neuen Stadt ein Zeichen für das moderne Indien zu setzen, soll zwar mit ausländischer Unterstützung um­gesetzt werden, Voraussetzung ist aber, dass die Architekten nach Indien übersiedeln. Auch wenn Le Cor­busier seine persönliche Anwesenheit als „Planning Advisor“ auf einige Aufenthalte beschränkt, kann er diese Maßgabe erfüllen: durch den Einsatz seines Cousins Pierre Jeanneret, der bis 1965 dauerhaft in Chandigarh bleibt, und der Mitarbeit der in Afrika auslandserprobten Briten Maxwell Fry und Jane Drew, die mit der Entwicklung des Wohnungsbaus betraut werden und drei Jahre lang vor Ort sind. Streng genommen ist Le Corbusier nur die zweite Wahl. Ursprünglich hat die Regierung den US-Amerikaner Albert Mayer, der während des Zweiten Weltkriegs in Indien gearbeitet hat, mit der Planung der neuen Hauptstadt beauftragt. Als dessen Partner Matthew Nowicki bei einem Unfall ums Leben kommt, gibt Mayer den Auftrag zurück. Le Corbusier übernimmt die grobe städtebauliche Struktur von Mayers Masterplan, passt sie jedoch seiner eigenen Vorstellung von Maßstäblichkeit für einen Regierungssitz mit durchaus imperialer Attitüde an: Aus Mayers Gartenstadt-Layout mit geschwungenen Hauptstraßen und unterschiedlich großen „Superblocks“ wird bei Le Corbusier die rechtwinklige Rasterstadt aus je 1200 x 800 Meter großen „Sektoren“.

Wer heute die schnurgeraden Magistralen entlangfährt, wird dennoch unwillkürlich „Gartenstadt“ denken. Vielleicht sogar nur „Garten“ – und die „Stadt“ zunächst vergebens suchen. Das Gefühl, man befände sich längst in der Mitte einer Metropole, die fast die Eine-Millionen-Einwohner-Grenze genommen hat, und nicht in deren Außenbezirken, will nicht so recht aufkommen. Denn die 70 Meter breiten Hauptstraßen, die die Sektoren voneinander trennen, sind von derart üppiger Vegetation begleitet, dass die im Durchschnitt nur dreigeschossigen Häuser, die zudem ausschließlich zum Sektoreninnern orientiert sind, nahezu vollständig verschwinden; die zahlreichen Parks in der Stadt tun ein Übriges. Ausnahmen bilden allein jene Abschnitte, an denen Geschäftszeilen oder öffentliche Gebäude stehen. Nein, die aktuelle europäische Vorstellung von Urbanität greift hier nicht. Wer zuvor allerdings einige Tage im Moloch von Delhi zugebracht und dort die ins Chaos gestürzte vormoderne Stadt erlebt hat, der wird Chandigarh kaum als unstädtisch empfinden, sondern nur als ausgesprochen erholsam. Und nahezu körperlich die einstige Motivation dafür spüren, der Vision einer auf­gelockerten Stadt nachzugehen.

Seinen bei genauerem Hinsehen doch vorhandenen städtischen Charme offenbart Chandigarh im Innenbereich der Sektoren. Diese sind als „self sufficient neighbourhoods“ geplant, als selbständige „Städte in der Stadt“. So sind in jedem der Sektoren infrastrukturelle Einrichtungen, Schulen, Sporteinrichtungen, Theater, Kinos, Gesundheitszentren und Einkaufsmöglichkeiten, vorhanden. Je nach Dichte, in einem Sektor leben zwischen 5000 und 25.000 Menschen, changiert die Atmosphäre zwischen aus­gesprochen beschaulich bis laut und geschäftig. Die Gebäude sind für indische Verhältnisse fast aus­nahms­­los in gutem Zustand. So sehr vor allem die standardisierten Geschäftsgebäude von ihren Nutzern auf landestypische Art auch vereinnahmt wurden – in grel­len Farben gestrichen, mit Werbung zugekleistert, zu Halterungen für Klimaanlagen reduziert –, der öffentliche Raum ist auffallend gepflegt und wird größtenteils als gesellschaftlicher Ort genutzt: als Treffpunkt, zum Flanieren. Auch wenn immer wieder freie Flächen dazwischen liegen, bei denen unklar bleibt, ob es sich um eine vernachlässigte Grünanlage oder eine noch zur Bebauung stehende Brache handelt.

Kaum zu unterschätzen für den visuellen und räumlichen Zusammenhalt von Chandigarh sind die strengen Regeln des „architectural control“, eine Art „Gestaltsatzung“, die Le Corbusier für die ganze Stadt festgelegt hat. Die Regeln reichen, je nach Lage in der Stadt und im Sektor, von der Bestimmung der Ma­terialien (Ziegel, Beton, Holz) über die Festlegung von Baulinien und Formaten für Fenster- und Türöffnungen bis hin zur Verbindlichkeit bestimmter Entwürfe für Geschäfts-, Verwaltungs- oder Sonderbau­ten. Der „architectural control“ ist bisher von allen Chefarchitekten in der Nachfolge Pierre Jeannerets gegen allerlei Begehrlichkeiten eisern verteidigt und immer wieder auf seine Praktikabilität hin überprüft und angepasst worden. Was Chandigarh blüht, falls es diese Regeln irgendwann aufgibt, lässt sich in den bei­den Satellitenstädten begutachten, die in den letzten Jahren jenseits der Stadtgrenze im Punjab und in Haryana entstanden sind – ebenfalls auf dem Prinzip der Sektoren begründet, aber ohne architek­tonisches Regelwerk.

Chandigarh vermittelt dem Besucher heute den Eindruck, die Moderne habe im Kontext des indi­schen Subkontinents ihr Ziel erreicht, nämlich ein zufriedenstellendes Lebensumfeld bereitzustellen. Doch die wirkliche Bewährungsprobe steht der Stadt vermutlich erst noch bevor. Ursprünglich für maximal 500.000 Einwohner geplant, muss Chandigarh jetzt schon über 900.000 Menschen beherbergen; Tendenz steigend. Eine Erweiterung war im Masterplan Le Corbusiers jedoch nicht vorgesehen. Im Gegenteil, ein mehrere Kilometer breiter Gürtel um die Stadt herum sollte unbebaut bleiben. Über diesen Bereich hat die Stadtregierung aber keinerlei Kontrolle, da er auf dem Territorium der beiden benachbarten Bundesstaaten liegt. Ein Konzept, wie Chan­di­garh, etwa durch behutsame Nachverdichtung, wachsen kann, ohne seinen Charakter als Modellstadt der Moderne preiszugeben, ist bislang noch nicht entwickelt worden. Ein Schritt zum Erhalt ist freilich vollzogen: Am 23. Oktober 2006 wurde Chandigarh in die vorläufige Liste der Weltkulturdenkmäler aufgenommen.

Bauwelt, Fr., 2007.04.20

20. April 2007 Jan Friedrich

„... to interpenetrate without distraction“

Das Denkmal für die Opfer des Terroranschlags vom 11. März 2004 in Madrid bezieht sich in seiner Form auf eine Idee der Transparenz, die sich an die Ästhetik der Medien und deren Spiel mit Auflösung und Zersetzung anlehnt. Der Konzeption liegt eine fragwürdige These zugrunde. Trotzdem entstand ein überzeugendes Projekt.

Colin Rowe hat den zweiten Teil des großen Essays, den er 1956 mit Robert Slutzky über die Transparenz in der Moderne geschrieben hatte, später mit einem Hinweis versehen: Das helle Licht und die Landschaft von Texas seien mitentscheidend für die Ideen gewesen. Der Essay wendet sich gegen die krude Durchsichtigkeit der gläsernen Moderne und plädiert für eine mehrdeutige Definition der Transparenz. Er macht sich stark für geschichtete Gebäudehüllen, die imstande sei­­en „to interpenetrate without optical distraction“. Diese raf­finierten Eigenschaften des Rowe’schen Transparenzbegriffs sind von den Medienbildern längst eingeholt worden. Sie haben heute einen manchmal drohenden Unterton bekommen: In der filmischen Darstellung ist alles was transparent ist, meist auch grell und farbig beleuchtet, und dort wo die Räume durchsichtig werden, ist deren Zerstörung oft nicht weit. In Kinofilmen wie „Matrix“ und „Face/Off“ und in un­zähligen Fernsehserien in deren Manier fliegen Räume reihenweise in die Luft, kurz nachdem sie für den Zuschauer durchsichtig wurden. – In diesem Zusammenhang scheint die Idee eines diffus transparenten Denkmals fragwürdig zu sein.

Das Attentat in den Zügen vor dem Madrider Bahnhof Atocha geschah am 11. März 2004, drei Tage vor der Parlamentswahl, um 7 Uhr 40 früh, und forderte 191 Tote, 1824 Verletzte, davon 81 schwer. Drei Jahre nach dem Terroranschlag wurde jetzt im Beisein des spanischen Königs Juan Carlos das „monumento a las víctimas del 11-M“ in einer kurzen Zeremonie eingeweiht. Nachdem es zuvor Streit um die Instrumentalisierung der Ereignisse durch die großen Parteien gegeben hat, belies man es bei der Eröffnung bei drei Schweigeminuten. Es gab keine Reden, nur Musik. Das Denkmal, entworfen und geplant von der Architektengruppe FAM, basiert auf einem Konzept, das einen Schweigeraum vorsieht und das in seinen ephemeren Bestandteilen der filmischen Ästhetik nahesteht. Der Entwurf setzt sich zusammen aus einer überirdischen Konstruktion, die auf einer Verkehrsinsel neben dem Bahnhof platziert ist, und einem unterirdischen Gedenkraum in der Bahnhofspassage. Die Verbindung zwischen beiden erfolgt über eine von oben belichtete Öffnung. Der überirdische Teile des Denkmals besteht aus einem 11 Meter hohen, gläsernen Zylinder in Form eines Ovals, der mit seiner Höhe auf das Datum 11. März anspielt. Der direkt unter diesem Zylinder platzierte 500 Quadratmeter große Gedenkraum ist kobaltblau gestrichen. Von ihm aus kann man in das gläserne Oval hinaufschauen. Dieses Oval hat eine innere Blase aus bedruckter ETFE Folie, die durch Überdruck in eine amorphe Form gebracht wird. Auf ihr finden sich in vielen Sprachen die Trauerbotschaften, die die Passanten in den Tagen nach dem Attentat teils auf die Mauern des Bahnhofs geschrieben, teils auf Zetteln hinterlassen haben.

Als die jungen Architekten vor zweieinhalb Jahren als Sieger aus dem Wettbewerb hervorgingen, galt deren Wahl als gewagte Entscheidung. Die fünf Architekten, alle unter 30, hatten noch kein wichtiges Projekt realisiert. Der Büroname FAM, hinter dem sich der rätselhafte Begriff „faszinierender Wohlgeruch des Apfels“ verbirgt, kennzeichnete sie vor al­­lem als Szenemitglieder des Architektenportals „Freshmadrid“. „Unser Wettbewerbsbeitrag zielte auf die Darstellung einer Idee, baubar war er in dieser Form nicht“, sagt einer der Architekten, Pedro Colón, im Rückblick. Der preisgekrönte Entwurf zeigte im Straßenraum einen diffus zersprengten Lichtre­­gen. „Wir wollten ein Denkmal ohne Struktur, ohne tragen­de Stahlkonstruktion. Wir wollten nur die Addition von immaterieller Hülle, Licht und Botschaft.“

Licht aber braucht einen materiellen Träger, wenn es nicht nur nachts mittels Projektoren sichtbar gemacht wird, sondern auch im grellen Licht der Sonne bestehen soll. Als Material kamen schließlich nur Glaswände in Frage. In der zwei­jährigen Realisierungsphase besuchten die Architekten die verbliebenen Glasbläsereien am Rande Madrids. Sie brachten große mundgeblasene Vasen ins Büro, die aufeinandergestapelt aber keiner weiteren Belastung standhielten. In Tschechien fanden sie dann eine Fabrik, die in der Lage war, sehr dicke Glasblöcke herzustellen. Einen plötzlichen Temperatur­abfall, zum Beispiel wenn die Sonne die Blöcke aufgeheizt und sie dann durch plötzlichen Regen abgekühlt worden wären, hätte allerdings auch eine Wand aus solchen Brocken nicht verkraftet. Der Tragwerksplaner Mike Schlaich wurde bei der Suche nach einer „transparenten Konstruktion ohne Struktur“ beteiligt. Die Lösung fand sich schließlich in massiven Glasziegeln der Firma Schott aus Borosilicatglas, 30 Zentimeter lang, 8 Zentimeter dick und mit einer konkaven und einer konvexen Seite ausgestattet, so dass sie sich mit unterschiedlichen Radien ineinander schieben lassen.

Die Umsetzung ist gelungen. Der Glaszylinder, hinter dem die amorphe Folienhülle gerade noch sichtbar ist, macht vor allem bei Nacht jene Nahtstelle zwischen Realität und Simulation deutlich macht, in der sich das Material zugunsten einer semitransparenten Erscheinung ganz wegduckt. Sicher, dieser Glaszylinder lässt Lesarten der Trauer zu, die naive Lesart einer visuellen Beliebigkeit kann die irrisierende Zauberkugel nicht verleugnen. Im Zusammenspiel zwischen unten und oben ist das Monument trotzdem gelungen: Ohne einen Hinweis auf ihre Funktion tauchen die Vitrinen des blauen Raums in der Bahnhofspassage auf, kenntlich nur durch die Schlange der Leute, die vor den gewellten Plexiglasscheiben anstehen. Die Wartenden werden zunächst in eine Vorhalle eingelassen, vor eine Wand mit den Namen der Toten. Eine weitere Tür öffnet das dunkelblaue Souterrain um den beschriebenen Zylinder. Dieser kryptaartige Raum lässt jedem Besucher Zeit für das Lesen der Satzfragmente, er ermöglicht fragendes Schweigen und ein eigens für diesen Ort geschaffenes Ritual, das den irrisierenden Charakter an der Oberfläche konterkarriert.

Bauwelt, Fr., 2007.04.20

20. April 2007 Kaye Geipel



verknüpfte Bauwerke
Denkmal für die Terroropfer von Atocha

Brückenträger als Art brut

Die Villa in Las Rozas ist ein zurzeit noch unvollendetes Konzept. Wie sein Pendant in Benahavis unterscheidet sich auch dieser Bau in fast jeder Hinsicht von den Nachbarvillen. Das Arrangement von Stahl- und Betonträgern erweckt schon im Rohbau den Eindruck von Schwere, als würde hier der Schacht in ein Bergwerk geöffnet. Die geschosshohen Träger wurden während der letzten Sommerferien angeliefert und in zwei Ta­gen aufeinander fixiert. Die Nachbarn waren erstaunt. Solche Bauteile hätten sie sich vor ihrem Wohnzimmerfenster nicht träumen lassen.

Das künftige Zweifamilienhaus hebt sich von dem Haus in Martemar dadurch ab, dass es die plastische Qualitäten der einzelnen Träger noch entschiedener in den Vordergrund rückt. Es gibt kein paralleles Nebeneinander, sondern eine spiralförmige Schichtung: Zum Tal hin, über der Einliegerwohnung, spannt ein Doppel-T-Träger aus Stahlbeton; die Straßenfassade bildet ein gekippter U-Träger, zur rechten Grundstücksseite folgt wieder ein Stahlbetonträger, die Gartenfas­sa­­de formt ein Vierendeelträger, darüber liegen ein Fach­werk­trä­ger aus Stahl und ein Doppel-T aus Beton, die übereck fest mitein­- ander verbunden sind. Da es an dieser Ecke keine Stüt­ze gibt, benötigen sie einen Schlussstein, einen 19 Tonnen schwe­ren Granitblock, der die Konstruktion am Kippen hindert. Dieser Schlussstein ist fraglos ein Zitat auf Cecil Balmonds Konstruktion der Villa von OMA in Bordeaux. Die Stahlträger wiegen ca. 12 Tonnen, die Stahlbetonträger bringen es auf 60 Tonnen.

Die spiralförmige Anordnung der unterschiedlichen Träger antwortet auf die Hanglage. Durch das Emporschrauben der Konstruktion erhebt sich die Villa über ihre Nachbarn, jeder Stahlträger formt für sich eine anders gestaltete Fassade. Die einzelnen Plateaus orientieren sich zum Tal nach Südwesten und im Nordwesten auf die Gebirgszüge der Sierra de Gredos, der Sierra de Guadarrama und der Somosierra, die Madrid in einem Halbkreis flankieren.
Die eigentliche Wohnfläche unter diesem Materialgebir­-ge wirkt im Gegensatz zur Konstruktion bescheiden. Es gibt links einen langen, seitlich geschlossenen Wohnraum, und im rechten Winkel dazu entlang der Rückfassade die Küchenzeile und den Essbereich. Eine schmale Stahltreppe führt von hier zum Schlafgeschoss. Ein Großteil der Dachflächen liegt als überdeckte Loggia im Freien. Durch Verrücken der Glasfassaden lassen sich diese für eine spätere Ausdehnung der Wohnfläche nutzen. Der im Obergeschoss in den Straßenraum auskragende U-Träger erhält an beiden Seiten einen gläsernen Verschluss und wird so zu einem schmalen Schwimmbecken.

Ob seiner heterogenen Anordnung überdimensionierter Tragelemente reizt das Haus in Las Rozas mehr noch zum Widerspruch als die Villa in Martemar. Die Fachwerkfassaden aus Stahl lassen sich noch als Anspielung auf die Eisenkonstruktionen des 19. Jahrhunderts lesen. Dort aber, wo die Stahlbeton­träger als rohe Wände eingesetzt werden, scheint die Referenz nurmehr in den simplen Konstruktionen heutiger Einkaufszentren zu bestehen. Antón García Abril geht es um die skulpturale Qualität der banalen Elemente. Die Skulpturen Eduardo Chillidas sind ein Vorbild. Aber er zielt mit seinen monumentalen Entwürfen auch auf die Provokation des common sense. Wenn sich die Infrastruktur eines ganzen Landes, sichtbar in großen Autobahnbrücken, Industriehallen und Shopping Malls, aus solchen Tragwerkselementen zusammensetzt, dann müsste es gelingen, sie auch zu luxuriösen Wohnhäusern zusammenzufügen.

Bauwelt, Fr., 2007.04.20

20. April 2007 Kaye Geipel



verknüpfte Bauwerke
Villa Hemeroscopium

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