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13. September 2021Peter Payer
Spectrum

Die Tricks von Ikea und KaDeWe

Seit jeher trachten Kaufhäuser danach, ihre Kunden ins Innere zu locken und in Kauflaune zu versetzen, um sie danach zufrieden zu entlassen. Und wie sieht die Glücksmaschine „Warenhaus“ heute aus? Aktuelle grüne Beispiele aus Wien: der Stadt-Ikea und das KaDeWe.

Seit jeher trachten Kaufhäuser danach, ihre Kunden ins Innere zu locken und in Kauflaune zu versetzen, um sie danach zufrieden zu entlassen. Und wie sieht die Glücksmaschine „Warenhaus“ heute aus? Aktuelle grüne Beispiele aus Wien: der Stadt-Ikea und das KaDeWe.

Dass die Wiener Mariahilfer Straße als wichtigste Einkaufsmeile der Stadt eine ganz spezielle Geschichte und urbane Wirkungsmacht hat, ist allgemein bekannt. Dass sie sich derzeit aber mit gleich zwei großen Neubauprojekten wie ein Zeitfenster öffnet, durch das wir Einblicke in die gebaute Konsumkultur unserer Tage erhalten, kann als schöne Koinzidenz bezeichnet werden. Die Rede ist natürlich vom kürzlich eröffneten Ikea beim Westbahnhof und vom KaDeWe Wien, das gerade anstelle des alten Leiner-Hauses in Bau ist (der Name ist noch nicht fix; geplante Eröffnung: 2024).

Beide Projekte versuchen sich an einer Neuinterpretation des großstädtischen Warenhauses, transformieren die alte, stilprägende Idee der „Kathedralen der Moderne“ ins 21. Jahrhundert. Architektonische Statements mit Zukunftspotenzial. Doch was ist daran anders? Gibt es Kontinuitäten? Einige Anmerkungen aus stadthistorischer Sicht.

Warenhausarchitektur ist – und dies sei gleich als wichtigste Konstante hervorgehoben – zutiefst visuell determiniert. Es ist ein Zelebrieren der Schaulust. „Vollgefressene Pupillen“, wie Joseph Roth so treffend formulierte, stehen im Mittelpunkt, sinnliche Erlebnisse in all ihren Ausprägungen.

Das zeigten schon die ersten Großkaufhäuser, die sich in der Mariahilfer Straße etablierten: Stefan Esders' Zur großen Fabrik (1895; der spätere Leiner), Herzmansky (1897), Gerngroß (1904), Mariahilfer Zentralpalast (1911) – um nur die bekanntesten zu nennen. Sie alle setzten auf riesige Schaufenster und raffinierte Effektbeleuchtung innen wie außen. Ein visueller Sog und Zauber, vor allem nachts schier unwiderstehlich, wie der Journalist Paul Zifferer 1910 bemerkte: „Jedem einzelnen, den jetzt sein Weg des Abends durch die Mariahilferstraße hinauf führt, widerfährt etwas ganz Erstaunliches und Wunderbares. Alles ringsum scheint verzaubert, altvertraute Plätze tragen ein neues, fremdes Gewand, und man schreitet wie durch lauter Prunkgemächer, deren Türen weit geöffnet stehen und deren Kronleuchter ihr Licht als strahlende Dusche über die festlich geputzte Menge ergießen.“

Dieses Ziel haben auch die beiden Neubauten. Auch sie trachten danach, ihre Kunden ins Innere zu locken, ihre Herzen zu öffnen, sie in Kauflaune zu versetzen, um sie am Ende mit zufriedener Miene zu entlassen. Das Warenhaus als verführerische, wohl kalkulierte Glücksmaschine, mit Versprechen, die zwar oft nur allzu kurzlebig sind, aber dennoch unser Innerstes stets aufs Neue erreichen.

Die Fassadengestaltung der beiden Neubauten versucht dies auf durchaus unterschiedliche Weise. Der vom Wiener Architekturbüro Querkraft entworfene Ikea-Bau setzt auf ein in dieser Form völlig neuartiges Stahlregalsystem, offen und luftig-leicht wirkend, begrünt mit windsicher verankerten Topfbäumen. Das schwedische Einrichtungshaus in nuce, in rechtwinkelig klar strukturierter Form, handsome und beinahe zurückhaltend und dennoch ein spannender Kontrast zur Umgebung. Leider wirkt der Baublock – er umfasst nur rund 22.000 Quadratmeter – durch seine Lage in der zweiten Reihe, hinter beziehungsweise neben dem dominanten Westbahnhof, allzu eingezwängt. Mehr Fernwirkung und Ausstrahlung auf den Europaplatz wären durchaus verdient und auch aus städtebaulicher Sicht interessant gewesen.

Ein ganz anderes Bild zeigen die Renderings des künftigen KaDeWe. In dem von Rem Koolhaas' Büro OMA (Office for Metropolitan Architecture) entworfenen Bau werden nach außen hin weiche, abgerundete Formen dominieren. Ein zwar reich gegliederter, aber relativ geschlossen wirkender Baukörper ist geplant, der nur im Erdgeschoß von Rundbogenportalen und Arkaden mit großflächigen Schaufenstern – ganz in der Tradition der Moderne – durchbrochen wird. Der acht Stockwerke hohe, dominante Bau ist von seinen Dimensionen her natürlich ein ganz anderes Kaliber. Als Eckgrundstück ist hier Fernwirkung garantiert. Kurzum: kein bescheidenes, vielmehr ein bewusst auf Monumentalität abzielendes architektonisches Statement.

Beiden Bauten gemeinsam ist ihre Multifunktionalität, neben Einkaufen wird auch ausgiebig Gastronomie angeboten und – anders als bei den historischen Vorgängern – ein Hotel integriert. Neu sind außerdem großzügige begrünte Dachterrassen inklusive Fotovoltaikanlagen. Mehr öffentliche Räume gehören angesichts von Corona-Krise und Klimawandel zum Gebot der Stunde. Nachhaltig, leicht zugänglich und möglichst konsumfrei sollen sie sein.

Im Falle von Ikea wurde im städtebaulichen Vertrag eine tägliche Öffnung von acht bis 24 Uhr vereinbart, und dies ist – so viel kann jetzt schon gesagt werden – ein absoluter Gewinn. Denn der Fernblick von oben begeistert (und entschädigt für die oft allzu große Enge in den Verkaufsräumen darunter): Hier lässt sich gut durchatmen, an Heurigenbänken und -tischen (!) rasten und eine durchwegs lässige Atmosphäre genießen. Etwas störend ist lediglich die aufdringliche, vom Wind in alle Ecken getragene Hintergrundmusik. Die ausgedehnte und stellenweise parkähnliche Dachlandschaft des KaDeWe wird sich im Unterschied dazu wohl deutlich nobler präsentieren, der freie Rundumblick wird aber sicher auch dort seine Anhänger finden.

Spannend ist auch das unterschiedliche Mobilitätskonzept der beiden Häuser. Während man im innerstädtischen Einkaufstempel nach wie vor auf das Auto setzt und ausreichend Garagenplätze für die Kunden vorsieht, versucht man beim schwedischen Möbelhaus eine zwar nicht völlige, so doch weitgehend autofreie Lösung. Kundengarage gibt es keine mehr, gute Erreichbarkeit mit Öffis, Fahrrad oder zu Fuß muss genügen. Da vor allem Kleinwaren angeboten werden, können diese problemlos selbst mitgenommen werden. Die wenigen größeren Produkte respektive Möbel werden von Ikea mit Elektrofahrzeugen nach Hause geliefert. Wenngleich das Ausmaß des künftigen An- und Auslieferverkehrs bei Anrainern wie Politikern für Diskussionen sorgt und hier längst nicht alles final geregelt scheint, kann man mit Interesse auf das Funktionieren dieses weltweit einzigartigen Experiments blicken.

Welche konkreten Auswirkungen all dies auf die Umgebung haben wird, nicht nur verkehrstechnisch, auch ökonomisch und soziokulturell, wird sich zeigen. Zweifellos werden beide Neubauten vielfältige Impulse auslösen, die vor allem bei der äußeren Mariahilfer Straße durchaus notwendig und wünschenswert wären. Allzu lange schon steht sie im Schatten ihrer innerstädtischen Schwester. Vielleicht ist gerade das radikale Konzept von Ikea der Startschuss für ein geändertes Einkaufs- und Freizeitverhalten, das letztlich allen in der Stadt zugute kommt.

Spectrum, Mo., 2021.09.13

15. Juli 2021Peter Payer
Spectrum

Wenn Pflanzen Paternoster fahren

Der Österreicher Othmar Ruthner versuchte in den 1960er-Jahren, mit vertikalen Gärten den Pflanzenanbau zu revolutionieren. Er scheiterte. Doch die Idee erlebt eine Renaissance: In New York wird auf Wolkenkratzern Gemüse angebaut, das dann unten im Supermarkt verkauft wird.

Der Österreicher Othmar Ruthner versuchte in den 1960er-Jahren, mit vertikalen Gärten den Pflanzenanbau zu revolutionieren. Er scheiterte. Doch die Idee erlebt eine Renaissance: In New York wird auf Wolkenkratzern Gemüse angebaut, das dann unten im Supermarkt verkauft wird.

Es wirkt wie ein übrig gebliebenes Skelett. Verwachsen und mittlerweile fast eins geworden mit den umgebenden Büschen und Bäumen. Und doch verbirgt sich hinter dieser unscheinbaren Installation eine technische Innovation, die einst von Wien aus um die Welt ging. Die Rede ist von jenem Eisengerüst, das sich im Kurpark Oberlaa, auf dem Gelände der ehemaligen WIG (Wiener Internationale Gartenschau) 74, befindet. Es sind letzte Erinnerungsstücke an ein bemerkenswertes Experiment. Grüne Wegweiser mit der Aufschrift „Turmglashaus“ führen noch heute hierher; eine Tafel verrät die ursprüngliche Bestimmung des Ganzen: „Kontinuierliche Produktionsanlage für Pflanzen und Pflanzeninhaltsstoffe – System Ruthner.“ Was bedeutet: Hier stand einmal ein Turmgewächshaus zum Zwecke der Pflanzenzucht.

Begonnen hatte es zehn Jahre zuvor, auf der WIG 64. Es war die Zeit, als Wien sich erneut als Weltstadt zu positionieren begann und dazu im Donaupark eine ausgedehnte Gartenschau, die europaweit größte, ins Leben rief. Stolz präsentierte man von Frühjahr bis Herbst nicht nur Tausende Sträucher und Blumen, auch neue technische Attraktionen sorgten bei Besuchern wie in den Medien für Furore: der Donauturm mit seinem Expressaufzug etwa, ein Sessellift, eine Kleinbahn oder eben ein „Turmglashaus“, in dem vorgeführt wurde, wie die voll automatisierte Pflanzenaufzucht der Zukunft aussehen könnte.

Rekordernte vom grünen Fließband

Das vertikale Glashaus befand sich nicht weit vom Donauturm entfernt, war längst nicht so elegant wie dieser, aber mit seinen 41 Metern Höhe, seiner runden, 50 Quadratmeter großen Grundfläche und seinem transparenten Aussehen doch ein beachtlicher Eye-Catcher. In seinem Inneren herrschte reger Betrieb: Insgesamt 35.000 Pflanzentöpfe, in eigenen Hängevorrichtungen montiert, fuhren unentwegt im Paternoster-Prinzip auf und ab, wurden dabei automatisch besprüht, gedüngt und gewässert. Oberstes Ziel war es, möglichst gleiche klimatische Bedingungen für alle Pflanzen zu bieten. Der Ertrag war beachtlich. Gezogen wurden vor allem Blumen wie Primeln und Veilchen, und frisches Gemüse wie Tomaten, Paprika und Salat. All das wurde sodann gleich direkt in den acht Restaurants auf dem Ausstellungsgelände weiterverwendet.

Die Öffentlichkeit war begeistert. In- und ausländische Medien berichteten darüber, sprachen von einer „Weltsensation“ und einer „Revolution im Pflanzenbau“. Sogar die „New York Times“ lobte die ingenieurwissenschaftliche Meisterleistung, die – so die große Hoffnung – eine von Klima und Standort weitgehend unabhängige Landwirtschaft vorstellbar machte und mit dazu beitragen könnte, die Ernährungsprobleme der Welt zu lösen.

Erfinder dieser Weltneuheit war ein heute weitgehend vergessener Österreicher, der Wiener Ingenieur Othmar Ruthner (1912–1992). Er war bereits in den 1930er-Jahren als Unternehmer in Niederösterreich tätig, galt als Experte im Bereich des Maschinenbaus und der elektrochemischen Industrie – und als überaus innovativ. Schon 1945 war er Inhaber von 30 Patenten und Patentanmeldungen. Kurz nach Kriegsende gründete er in Waidhofen an der Ybbs eine Fabrik zur Stahlerzeugung und -veredelung, die rasch expandierte und bald mehr als tausend Arbeiter beschäftigte. Daneben machte Ruthner als einer der ersten in Österreich erfolgreich Experimente mit der industriellen Verarbeitung von Kunststoffen.

„Die Pflanze kommt zum Gärtner“

Anfang der 1960er-Jahre wurde er für seine Verdienste dann auch mehrfach geehrt: Die Technische Hochschule in Wien verlieh ihm den akademischen Titel Ehrensenator, der Bürgermeister von Waidhofen an der Ybbs ernannte ihn zum Ehrenbürger der Stadt, und vom Bundespräsidenten erhielt er das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. Othmar Ruthner war – wie es schien – im Zenit seiner Karriere; er hatte bis dahin 80 verschiedene Verfahren entwickelt und verfügte über mehr als 200 eigene Patente. Doch nun ging der rastlose Innovator auch noch daran, den Pflanzenbau zu revolutionieren. Im Jahr 1964 gründete er die Ruthner Industrieanlagen für Pflanzenbau GmbH und promotete unermüdlich seine Idee des Turmgewächshauses.

Zwar wurde die Anlage im Donaupark nach Beendigung der Gartenschau abgebrochen, doch in den kommenden Jahren konnten zahlreiche weitere Türme in verschiedenen, meist kleineren Varianten errichtet werden, neben Österreich etwa in Deutschland, der Schweiz, Norwegen, Polen, Russland, Kanada bis hin zu Libyen und Saudiarabien. Insgesamt weltweit etwa 25 Stück. Fasziniert berichtete der „Spiegel“ von der fast greifbaren Utopie einer Rekordernte im Fließbandtempo, und das mit minimalem Arbeitsaufwand: „Ein einziger Arbeitsmann genügt, das grüne Uhrwerk in Gang zu halten. Nach dem Ruthner-Motto ,Die Pflanze kommt zum Gärtner‘ lässt er die Gondeln zu sich heranschweben, stoppt sie für die Zeit der nötigen Handgriffe und setzt dann den Paternoster wieder in Bewegung. An einem Kontrollpult bestimmt er mittels Knopfdrucks die richtige Zusammensetzung der Nährlösung und die erwünschte CO2-Begasung; Messinstrumente geben ihm Aufschluß über Wurzelfeuchtigkeit, Temperatur und Lüftungsstrom.“

Dank der Forschungen der beiden Historiker Werner Sulzgruber und Christian Hlavac wissen wir mittlerweile Genaueres über die Turm-Standorte in Österreich und die unterschiedlichen Konstruktionen, die man hier im Lauf der Jahre, insbesondere zur Verbesserung der Durchlüftung, erprobte. So wurden die ersten beiden Prototypen des Ruthner-Turms eigentlich bereits 1963/64 im niederösterreichischen Langenlois errichtet (elf bzw. 22 Meter hoch), und nach der WIG 64 folgten weitere Türme in Wiener Neustadt und Imst in Tirol und schließlich jener in Oberlaa.

Das Technische Museum Wien besitzt in seinem Archiv einige Prospekte von Ruthners Pflanzenproduktionsfirma. Bilder und Texte verdeutlichen die Fortschrittlichkeit und radikale Modernität seiner Idee der „kontinuierlichen Gewächshäuser“. Und seine anhaltend große Vision, die da lautete: „Bald werden wir zwischen Wäldern aus durchsichtigen Pfeilern wandeln.“

Die Zuversicht des Erfinders sollte sich jedoch als verfrüht erweisen. Zwar verstärkte Ruthner nochmals seine fachlichen Kompetenzen (1972 beendete er sein Studium an der TU, zwei Jahre später hängte er einen Diplomingenieur am Institut für Biochemie und Lebensmitteltechnologie daran), dennoch: Der Betrieb seiner Türme blieb durch hohe Baukosten, vor allem aber durch zu hohe Energiekosten für den Antrieb des Aufzugs und die notwendige Luftumwälzung letztlich unrentabel. Ende der 1980er-Jahre beendete die Firma daher ihre Tätigkeit in diesem Bereich.

Sämtliche Türme verschwanden von ihren Standorten, wurden sukzessive demontiert – außer jenem in Wiener Neustadt. Das frühe, sechseckige Exemplar stammte aus den Jahren 1964/65, wies eine Höhe von knapp zehn Metern auf und war bis zum Jahr 2006 auf dem Gelände der städtischen Gärtnerei in Betrieb, ehe es 2017 abgebaut und zwischengelagert wurde. Werner Sulzgruber, Stadthistoriker von Wiener Neustadt, hat die Geschichte und Konstruktion des Objekts penibel dokumentiert. Alle wichtigen Einzelteile, von Stützen und Transportketten über Ventilator bis hin zu Kuppel und Motor, sind erhalten und harren der Wiederaufstellung bzw. musealen Verwendung.

Ein technikhistorisches Denkmal also, dem gerade heute steigende Bedeutung zukommt. Denn die Idee des „Vertical Farming“ erlebt seit geraumer Zeit eine Renaissance. Insbesondere in dicht verbauten Großstädten, wo es nicht so viel Platz für flächenintensive Landwirtschaft gibt, die Nachfrage nach Nahrungsmitteln jedoch anhaltend hoch ist. Beispiele in Südkoreas Metropolen oder in New York zeigen beachtliche Erfolge. So gibt es in der US-amerikanischen Megastadt bereits zahlreiche Wolkenkratzer, auf deren Dächern großflächig Gurken, Tomaten oder Mangold angebaut und sodann unten im Supermarkt verkauft werden. Und auch der Gemüseanbau in mehreren Etagen ist mit modernen Hightech-Methoden längst technisch machbar. Bis zu 400-mal höhere Erträge als auf dem flachen Land machen die neuen City-Farmen rentabel und für die Konsumenten zunehmend erschwinglich. Ganz abgesehen von der ökologischen Sinnhaftigkeit. Denn angesichts des anhaltenden Trends zur Urbanisierung scheint es ein Gebot der Stunde, nach nachhaltigen Möglichkeiten zur Ernährung der rapide wachsenden Stadtbevölkerung zu suchen. Ganzjährige Kultivierung, geringe Fläche und kurze Lieferwege sprechen mehr als eindeutig für die vertikale Landwirtschaft.

Dickson Despommier, amerikanischer Vertical-Farming-Guru der ersten Stunde, spricht voller Überzeugung von der „nächsten landwirtschaftlichen Revolution“. Und auch in Österreich wird die Diskussion über „urban food“ intensiv geführt. Letztes Jahr etwa bei den Alpbacher Technologiegesprächen, bei denen auch der Wiener Architekt Daniel Podmirseg referierte. Er griff Ruthners Idee schon früh auf, gründete das Vertical Farm Institute und gehört heute zu den gefragtesten Experten auf diesem Gebiet.

Gemeinsam mit seinem interdisziplinären Team hat er inzwischen mehrere Varianten eines modernen vertikalen Gewächshauses konzipiert. Nächstes Jahr soll im Zukunftshof Rothneusiedl (dem ehemals für seine Selbsternte-Initiativen bekannten Haschahof) in Wien Favoriten ein großes Pilotprojekt eröffnet werden. In einem Holzturm mit vier mal sechs Metern Grundfläche und 25 Metern Höhe wird – ganz nach Ruthners Vorbild – ein Paternoster-System mit Pflanzentrögen installiert. Diese bewegen sich langsam, in Summe etwa vier bis fünf Mal am Tag, von oben nach unten und erhalten somit alle gleich viel Tageslicht. In Kombination mit modernster Energieversorgungs- und Bewässerungstechnik sollen so das ganze Jahr über Lebensmittel produziert werden.

Voller Tatendrang und durchaus optimistisch geht Podmirseg hier der Zukunft der Stadt entgegen, getreu seinem Motto „Es ist zu spät, um Pessimist zu sein“. Erfahrungen aus der Vergangenheit sind dabei mehr als hilfreich. Podmirseg, der auch das Privatarchiv von Ruthners Sohn Oswald betreut, träumt davon, auch den alten Ruthner-Turm in Oberlaa zu revitalisieren. Wien wäre damit, historisch wie aktuell, ein international einzigartiger Vorzeigeort des „Vertical Farming“.

Spectrum, Do., 2021.07.15

27. Oktober 2020Peter Payer
Spectrum

Über den Siegeszug des Kraftfahrzeugs im Städtischen

Wo sich Senta Berger und Peter Alexander trafen: In den Sechzigerjahren avancierte eine Parkgarage der Wiener City zum Multifunktionsort. Waschanlage, Restaurant und ein Büro für Theaterkarten: Was will das Automobilistenherz mehr?

Wo sich Senta Berger und Peter Alexander trafen: In den Sechzigerjahren avancierte eine Parkgarage der Wiener City zum Multifunktionsort. Waschanlage, Restaurant und ein Büro für Theaterkarten: Was will das Automobilistenherz mehr?

Die aktuelle Diskussion über die Autofreiheit der Wiener City hat es einmal mehr gezeigt: Die automobile Fortbewegung in der Großstadt ist ein Thema von höchster Emotionalität. Wir erleben – und das nicht erst seit heute – eine teils heftige Auseinandersetzung um die Vorherrschaft auf der Straße; um die Nutzung jenes öffentlichen Raumes, der allen Stadtbewohnern gehören sollte. Mitsprache bei seiner Aufteilung und – falls notwendig – Neuordnung sollte selbstverständlich sein. War und ist es bis heute keinesfalls.

Angespornt von der Sehnsucht nach individueller Mobilität startete das Auto Anfang des 20. Jahrhunderts seinen urbanen Siegeszug. Nebenwirkungen wie Lärm, Gestank und steigende Unfallzahlen wurden verdrängt beziehungsweise technisch zu lösen versucht, auch die Raumfrage begann man zu regeln.

Nicht nur beim Fahren, auch beim Abstellen benötigte das Auto Platz – und dieser musste erst geschaffen werden. Peu à peu entwickelte sich aus ehemaligen Stallungen für Pferde und Fuhrwerke die Garage. Als Ort, an dem das Fahrzeug nachts und während der kalten Jahreszeit, in der es meist nicht benützt wurde, stehen konnte; und wo es umfassend serviciert, aufgetankt und nicht zuletzt, da teures Luxusobjekt, gut bewacht wurde.

In den Städten entstand rasch eine entsprechende Garagen-Infrastruktur. Zunächst im privaten Bereich als Adaption bereits vorhandener Räumlichkeiten, in der Folge immer öfter als eigenständige Architektur und öffentlich zu nutzendes Gebäude. Aus Platzgründen begann man bald von ebenerdigen Einzel- und Sammelgaragen abzusehen und, ähnlich wie im Wohn- und Bürobau, in die Höhe zu expandieren. Die Vorbilder dazu kamen aus den damals am stärksten motorisierten Ländern USA, Großbritannien und Frankreich. London (1901), New York (1906) und Chicago (1907) waren die diesbezüglichen Pionierstädte; auf dem europäischen Kontinent war es Paris, wo 1907 die Garage Ponthieu als erstes mehrgeschoßiges Parkhaus seine Tore öffnete.

In Wien, wo die Verbreitung des Autos vergleichsweise langsam vor sich ging – Ende des Jahres 1910 zählte man bescheidene 2545 Fahrzeuge –, sollte es noch einige Zeit dauern. Erst 1918, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, tauchten konkretere Pläne dafür auf: Unter dem Eindruck der verheerenden Spanischen Grippe forcierte die Vereinigung der Ärzte den Bau einer „Aerztlichen Zentralgarage“ im achten Bezirk, Trautsongasse 4, in der ehemaligen Reitschule des Palais Auersperg. Ziel war es, eine Sammelgarage für Ärzte zu errichten. Mit den bereitgestellten Wagen sollten sie im Notfall raschest ihre Dienste antreten können. Aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten ging die Anlage allerdings erst im Sommer 1920 in Vollbetrieb.

Garagengründungsfieber

Drei Jahre später wurde sie von Cesar Karrer, einem erfahrenen Techniker und Garagenfachmann, übernommen, baulich adaptiert und in Astoria-Garage umbenannt. Karrer avancierte zum Pionier des Wiener Garagenwesens. Er hatte ein Maschinenbaustudium an der Technischen Universität absolviert und sich im Ersten Weltkrieg erfolgreich bei automobiltechnischen Versuchen engagiert. In den 1920er-Jahren festigte er seinen Ruf als umtriebiger Autoexperte. Im September 1928 gelang es ihm, aus dem „Verband der Garagenbesitzer Wiens“ eine Genossenschaft zu formieren. In der dazugehörigen Fachzeitschrift „Die Garage“ debattierte man unter seiner Chefredaktion sämtliche Belange des neuen Berufsstandes: rechtliche und technische Aspekte, behördliche Vorschriften, Mitgliederanwerbung . . .

Denn die Stadt war in den vergangenen Jahren von einem „Garagengründungsfieber“ erfasst worden. So zählte man im Jahr 1931 bereits 440 Garagen in Wien, fünf Jahre später waren es 520. Im internationalen Vergleich eine extrem hohe Dichte, auch angesichts des nach wie vor bescheidenen Motorisierungsgrades. Interessant ist die räumliche Verteilung der Garagen, die sich deutlich auf die noch weniger dicht verbauten Bezirke konzentrierten, den 3., 10., 16. und 17. Bezirk mit jeweils über 30 Betriebsstätten. In der Innenstadt hingegen gab es erst fünf Garagen. Es herrschte ein deutliches Überangebot, viele Investoren verkalkulierten sich. Früher errichtete man Kinos, klagte man in der Mitgliederzeitschrift, „jetzt baut man Garagen“. Und das nicht immer behördlich genehmigt. Mit scharfen Worten zogen Karrer und Co. über die „Schwarzgaragen“ her und über illegale „Garagenspelunken“, die schnell irgendwo eingerichtet würden.

Dass immer öfter die Straße als Garage herangezogen wurde, war den offiziellen Garagenbetreibern ebenfalls ein Dorn im Auge. Lautstark argumentierten sie gegen den „Unfug der Straßengaragierung“ und führten die damit verbundene Verunstaltung des Stadtbildes und die zunehmende Behinderung des Verkehrsgeschehens ins Treffen. Letztlich sollte es noch bis 1937 dauern, ehe eine umfassende und eindeutige gesetzliche „Verordnung über das Halten von Räumen zur Einstellung von Kraftfahrzeugen“ erlassen wurde.

Die Namensgebung der Garagen folgte einem ähnlichen Muster wie bei den Kinos: Am häufigsten bezogen sie sich auf ihre Lage im Stadtgebiet (Pratersterngarage, Elterleingarage, Servitengarage, Operngarage), bisweilen auch auf die Besitzer (Seidl-Garage, Garage Niesner, Garage Hajos). In einigen Fällen entstanden auch, dem damaligen Kundenkreis entsprechend, exklusive Bezeichnungen (Astoria-Garage, Elite-Garage). Hotels boten eigene Stellplätze an und warben damit: „Garage mit Boxes direkt im Hause“, hieß es etwa auf einer Reklamekarte des Hotel Bellevue.

Längst hatte auch die Tourismuswirtschaft die steigende Bedeutung des Garagierungsgewerbes erkannt. Immer mehr Fremde reisten mit dem Automobil an und suchten eine adäquate urbane Infrastruktur. Für Wien eine weniger quantitative als qualitative Herausforderung, wie man 1934 konstatierte. Galt es doch zu berücksichtigen, „dass der weitaus größte Teil der Autoreisenden aus Ländern kommt, deren Kraftwagenverkehr auf einer weitaus höheren Stufe steht als bei uns und die deshalb auch bedeutend höhere Ansprüche an Garage und Servicestation stellen“.

In Tageszeitungen und Fachzeitschriften intensivierten sich einschlägige Diskussionen. Immer öfter erschienen Berichte von sogenannten Hoch- und Turmgaragen, die nach amerikanischem Vorbild nun in Europa entstanden: in Berlin (für insgesamt 300 Kraftfahrzeuge) oder in Leipzig, Halle oder Chemnitz. Vor allem in den dichtverbauten Zentren der Großstädte schien der Weg in die Höhe der einzig mögliche. „Wien amerikanisiert sich, langsam zwar, aber doch“, hieß es in der österreichischen Hauptstadt. Man konnte von „Wolkenkratzer-Garagen“ lesen und von Überlegungen für eine neue Großgarage.

Es war Cesar Karrer selbst, der seine Astoria nach eigenen Plänen und jenen von Franz Mörtinger jun. umbauen ließ. Eine Turmgarage mit sechs Etagen, einer wendelförmigen Rampenauffahrt und einer mittigen großen Glaskuppel entstand. Mit rund 400 Stellplätzen die größte Garage Wiens und Österreichs und auch europaweit damals eine der größten ihrer Art. Die Ausstattung entsprach dem technischen Stand der Zeit: Reparaturwerkstätte, Tankstelle, Waschanlage, Aufzug für die Autobesitzer. Von der Straße aus bequem erreichbar, wie die „Kleine Volkszeitung“ im Juni 1939 berichtete: „Ja, es ist in der Tat so, dass das in die Garage einfahrende Auto einfach von der Straße weg in eines der Stockwerke dirigiert wird. Ueber schön angelegte Serpentinen fahren die Autos hoch und stellen sich im ersten Stock genau so in Reih und Glied auf wie im letzten Stock.“ Euphorisch sprach man von einem „Hochhaus für die Kraftfahrzeuge“ und „einer Stadt der Autos für sich“. Nach dem Zweiten Weltkrieg, mit Wiederaufbau und Wirtschaftsaufschwung, begann auch in Wien das Zeitalter der Massenmotorisierung. Allein zwischen 1950 und 1970 erhöhte sich die Anzahl der Kraftfahrzeuge von rund 60.000 auf beachtliche 415.000. Das Leitbild der autogerechten Stadt begann sich zu etablieren, die Nachfrage nach verfügbarem Parkraum verschärfte sich. 1957 wurde ein neues Wiener Garagengesetz erlassen, wenngleich das Abstellen des privaten Fahrzeugs im öffentlichen Raum längst Usus war und entscheidend dazu beitrug, dass die Straße zum monofunktionalen Verkehrsraum mutierte.

Hostessen auf Rollschuhen

Der Garagennot wurde zunächst mit bewährten Konzepten begegnet. Am Neuen Markt entstand nach Plänen von Karl Schwanzer eine spektakuläre Hochgarage mit vier Autoaufzügen, sodass die Wagenlenker sich nicht über Rampen emporzuwinden brauchten. Immer öfter ging man nun, vor allem in der Innenstadt, in die Tiefe. So wurde im September 1962 die Votivpark-Garage mit 600 Stellplätzen eröffnet, ein für Wien völlig neuartiger multifunktionaler Autoabstellplatz. Hostessen in weinroten Uniformen wiesen die Parkenden auf Rollschuhen ein. Neben obligater Tankstelle, Waschanlage und Reparaturwerkstätte gab es einen Drive-in-Schalter für Bankgeschäfte, ein Büro für Theaterkarten und ein Restaurant, in dem man bei Opernmusik dinieren konnte. Später in eine Bar umgebaut, avancierte das unterirdische Lokal zum Treffpunkt der damaligen Prominenz, von Peter Alexander und Senta Berger bis zu Peter Rapp und Fritz Muliar.

Zwei Jahr später eröffnete Am Hof eine weitere Tiefgarage mit 500 Stellplätzen, zahlreiche weitere folgten. Auch ökonomisch wurde das Garagenwesen auf neue Beine gestellt. Die kommunale Wipark, 1960 gegründet, entwickelte sich zum führenden Garagenbetreiber der Stadt. In ihrer Obhut befinden sich heute rund 25.000 Stellplätze. Nicht wenige davon im ersten Bezirk, der mit seinem hohen Anteil an Tiefgaragen einlädt, über eine Zukunftsvision nachzudenken: die Utopie nämlich, dass parkende Autos weitgehend von der Oberfläche verschwinden und – endlich – wieder Platz für Menschen machen. Städtebaulich, sozial und ökologisch eigentlich die einzig sinnvolle Lösung für das so raumdominante Verkehrsmittel Auto.

Voraussetzung dafür wäre zu erkennen, wie sich unser Verhältnis zum Automobil historisch entwickelte, es sich verfestigte und vielleicht wieder lockern ließe. Ein Besuch der heute noch bestehenden, denkmalgeschützten Astoria-Garage könnte zur Bewusstseinsbildung beitragen; oder ein Blick in die Votivpark-Garage, in der das renommierte Künstlerduo Krüger & Pardeller vor einiger Zeit eine spannende Inszenierung zur Geschichte des urbanen Parkens realisierte. Ansicht empfehlenswert, mit oder ohne Auto!

Spectrum, Di., 2020.10.27

22. September 2019Peter Payer
Spectrum

Das Ende einer Wiener Stadtikone

Vom Skandalprojekt zum Wahrzeichen einer Stadtepoche: das Rinterzelt – über Anfang und Ende einer Wiener Institution.

Vom Skandalprojekt zum Wahrzeichen einer Stadtepoche: das Rinterzelt – über Anfang und Ende einer Wiener Institution.

Es ist Geschichte, Stadtgeschichte. Das sogenannte Rinterzelt – weithin sichtbare Landmark in Wien-Donaustadt, einst viel kritisiert, aber auch bewundert – wird seit einigen Monaten abgebrochen und in Bälde durch eine Neuanlage ersetzt. Der ehemalige Prestigebau der Wiener Müllverwertung ist nicht mehr zeitgemäß. Er weicht einem Abfallkompetenzzentrum, betrieben in Kooperation von Magistratsabteilung 48 und Wien Kanal.

Die vertraute Zeltform verschwindet allerdings nicht ganz, bleibt zumindest als Silhouette im Erscheinungsbild des Neubaus erhalten. Zu sehr ist sie mit dem Standort verknüpft, als dass man sie so leichtfertig aufgeben könnte. Doch wie konnte ein derart ungewöhnliches Gebäude sich so tief im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung verankern? Die Antwort darauf geht wohl weiter zurück, als zunächst gedacht.

Wiens Städtebau stand ab den 1960er-Jahren im Zeichen der Stadterweiterung. Vor allem die Bezirke jenseits der Donau mit ihren großen Flächenreserven wurden zunehmend verkehrsmäßig erschlossen und mit Industrie- und Wohnbauten verdichtet. Unter dem Motto „Wien wird wieder Weltstadt“ versuchte man bewusst an die sozialen und infrastrukturellen Leistungen des Roten Wien der Zwischenkriegszeit anzuknüpfen, wozu nicht zuletzt eine an internationalen Maßstäben orientierte Abfallwirtschaft gehörte. Die Aufmerksamkeit der Stadtplaner richtete sich besonders auf die nordöstliche Peripherie, wo soeben der 22. Gemeindebezirk in seiner heutigen Gestalt gebildet worden war. Ein für die meisten Wiener noch relativ unbekanntes Terrain, selten aufgesucht, völlig untouristisch, stark landwirtschaftlich geprägt und mit der Mülldeponie am Rautenweg bereits mit einer wichtigen Entsorgungseinrichtung ausgestattet.

Das ideale Umfeld, wie es schien, für eine moderne Abfallverwertungsanlage. Bauherr und Betreiber Johann Prutscher hatte die Idee an die Stadt Wien herangetragen und dafür von Beginn an eine unkonventionelle Bauform gesucht, die sich von den übrigen Gebäuden des Industrieansiedlungsgebiets abheben sollte. Zur Realisierung seiner Vision gewann er den österreichischen Architekten Lukas Matthias Lang, der sich schon seit Längerem für jene überdimensionalen Zeltbauten begeisterte, die Frei Otto in Deutschland realisiert hatte. Als das Rinterzelt dann im Dezember 1981 mit seiner weltweit einzigartigen Holzdachkonstruktion (Entwurf und Statik: Julius Natterer) eröffnet wurde, war es nicht nur in Architektenkreisen eine Sensation. Ein beeindruckend großzügiger Raum war entstanden, 68 Meter hoch und mit einem Innendurchmesser von 175 Metern, bis auf einen Pfeiler in der Mitte frei von Stützen, beinahe weihevoll und bei richtigem Sonnenlicht mit der Atmosphäre einer Kathedrale. Eine ästhetische und statische Meisterleistung, die denn auch 1984 mit dem Österreichischen Holzbaupreis ausgezeichnet wurde.

Von Beginn an verstand die Rinter AG ihr Bauwerk als Signature Building. In einer frühen Werbebroschüre sprach man euphorisch von einem „neuen Wahrzeichen Wiens“ und einem „Industriebau als Gewinn für die Landschaft“. Die Zeltform avancierte zum einprägsamen Firmenlogo. Der Slogan dazu lautete: „Mit Abfall hört's auf – mit Abfall fängt's an. Rinter – ein Beitrag zur Lebensqualität.“ Der Firmenname selbst unterstrich den international ausgerichteten Ansatz: Rinter = R(ecycling) inter(national). Die Medien sollten später – wenngleich mit Ironie – vom „silbrig glänzenden Zelt am Donaustädter Stadtrand“ sprechen, welches das Stadtbild bereichert. Eine Stadtikone war entstanden, die von ihrer Form und Silhouette her an ein berühmt gewordenes Gebäude aus dem 19. Jahrhundert erinnerte: die 1873 zur Wiener Weltausstellung im Prater errichtete Rotunde. Der damals größte Kuppelbau der Welt avancierte zum international beachteten Monumentalbau. Mehr als 60 Jahre lang prägte die Rotunde das Bild der Donaumetropole, ehe sie 1937 ein Raub der Flammen wurde. Und wenngleich das Rinterzelt nur knapp 40 Jahre bestehen wird, erreichte es doch eine ähnliche identifikatorische Wirkung.

Intensive Diskurse in den zeitgenössischen Medien hatten beide Gebäude populär und über die Stadtgrenzen hinweg bekannt gemacht. Im Positiven wie im Negativen. Wobei man die emotionalen Bindungen an das jeweilige Bauwerk nicht zuletzt an den Kosenamen oder auch an den Schimpfwörtern ablesen kann, die dafür in Umlauf kamen. So sprach man einst von der Rotunde als „Blechhaufen“, „Guglhupf“ oder „Käseglocke“, während das Rinterzelt als „Vesuv von Kagran“, „Mistwigwam“ oder schlicht als „Mistkübel“ bezeichnet wurde. In gewissem Sinne war das Rinterzelt also eine Wiederbelebung der durch die Brandkatastrophe allzu rasch verschwundenen Rotunde, die ersehnte Kompensation eines Verlusts verbunden mit einer architektonischen Aufwertung des jenseits der Donau gelegenen Stadtgebiets.

Die geopolitischen Verhältnisse waren damals noch deutlich anders als heute: Wien um 1980 war geprägt von extremer Randlage, knapp am Eisernen Vorhang, der Europa politisch, wirtschaftlich und kulturell bis 1989 teilte. Es war eine schrumpfende Stadt (von 1970 bis 1980 war die Wiener Bevölkerung um 100.000 Personen auf rund 1,5 Millionen gesunken). Politisch dominierte die SPÖ, seit 1945 erneut an der Macht und mit absoluter Mehrheit regierend, die bürgerlich-liberale Opposition verspürte jedoch stetigen Aufschwung. Eine längst überfällige Modernisierung der Gesellschaft und des politischen Establishments war im Gange. Moderner Journalismus mit kritischen Medien abseits der Parteilinie begann den öffentlichen Diskurs zu bestimmen. So waren 1970 die Politmagazine „Profil“ und „Trend“ gegründet worden, 1977 die Stadtzeitung „Falter“, und auch die seit Jahrzehnten bestehende „Wochenpresse“ war 1982 zum politischen Magazin mutiert. Mehrere groß angelegte Betrugsfälle und politiknahe Missstände wurden aufgedeckt, allen voran der Aufsehen erregende Bauring-Skandal (1974) und der AKH-Skandal (1980). Bundespräsident Rudolf Kirchschläger sprach angesichts dieser Situation in seiner Rede zur Eröffnung der Welser Messe im August 1980 die später berühmt gewordenen Worte von der notwendigen „Trockenlegung der Sümpfe und sauren Wiesen“.

Die Amtszeit von Leopold Gratz, von 1973 bis 1984 Bürgermeister von Wien, stand im Zeichen dieser politischen Turbulenzen. So war die Befürchtung groß, dass sich auch das Rinterzelt, von seinen Dimensionen her angepriesen als „bedeutendstes Recycling-Projekt Europas“, in die Reihe der Skandalprojekte einreihen könnte. Denn die Aufdeckung von betrügerischen Vorgehensweisen bei der Finanzierung des Projekts sowie grundlegende technische und logistische Mängel sorgten von Beginn an für beträchtliche mediale Erregung. Wien hatte seinen „Müll-Skandal“. Letztlich musste die Anlage, deren Mülltrennung und -verwertung nie wirklich funktionierte, im Jahr 1983 Konkurs anmelden.

Unfreiwillig war das Rinterzelt zum „Star“ der damaligen Medien geworden. Es schmückte die Titelblätter von Tageszeitungen und Magazinen. Aufdeckerjournalisten wie Gerald Freihofner („Wochenpresse“), Alfred Worm („Profil“), Kurt Tozzer und Alfred Payrleitner (beide ORF) sezierten sämtliche Facetten des Prestigeprojekts, dessen vertragliche Grundlagen zwischen Stadt Wien und Rinter AG – wie man polemisch anmerkte – „zum Himmel stanken“ und demzufolge bald unzählige gerichtliche Verfahren nach sich zogen. Nach Schließung der Anlage und dem Verwerfen von – nicht immer ganz ernst gemeinten – Alternativprojekten folgte 1985 die sukzessive Übernahme des Rinterzelts durch die Stadt Wien. Technisch neu ausgestattet, sollte es als „Abfallbehandlungsanlage“ fortan von der Magistratsabteilung 48 betrieben werden. Der Volksmund sprach aber weiterhin vom Rinterzelt, zu sehr war das Gebäude bereits in den Sprachschatz der Wiener eingegangen. Umfragen hatten gezeigt: Trotz der Kalamitäten stand man dem Rinterzelt grundsätzlich positiv gegenüber. Und Experten betonten, dass die Müllverwertung durchaus Zukunft habe und der Einsatz von Steuergeld sich jedenfalls rentieren werde.

Wien hatte mittlerweile einen guten Ruf zu verteidigen. Österreichs Hauptstadt war im Begriff sich zu einer der saubersten Metropolen der Welt zu entwickeln. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit von neuen Strategien im Umgang mit dem Müll war stetig gewachsen. Bereits 1978 hatte man im Rathaus eine Expertenenquete „Wiener Müll“ abgehalten, 1984 wurde die Großkampagne „Wien stoppt die Müll-Lawine“ gestartet. In einem in den Kinos gezeigten Werbespot mahnte man apodiktisch: „Wollen wir unsere Umwelt lebenswert erhalten – müssen wir umdenken und handeln.“

Die kommunale Übernahme des Rinterzelts (endgültig 1999) und dessen Weiterentwicklung als innovatives Labor der Wiener Abfallwirtschaft bewirkte einen nachhaltigen Imagewandel. Durch strategisch kluge PR-Kampagnen gelang es, das Bauwerk – abseits seiner ökonomisch-technischen Bedeutung – als einzigartiges Objekt der Populär- und Alltagskultur zu positionieren, als High-Tech-Ort, der gleichermaßen lehrreich, spannend und unterhaltsam war. Den Startschuss dazu gaben das „Mistfest“ und der „Mistflohmarkt“, seit 1989 mit großem Erfolg und steigendem Publikumsinteresse abgehalten und bis heute (wenn auch an anderen Standorten) existent. Auch in Wiens Filmgeschichte ging das Rinterzelt ein: durch Fernsehdokumentationen, vor allem aber durch die Filmsatire „Müllomania“, entstanden 1988 als zweite Folge der gesellschaftskritischen „Arbeitersaga“ (Regie Dieter Berner, Drehbuch Peter Turrini), eine köstliche Parodie und Abrechnung mit dem damaligen Zeitgeist.

Es folgten zahlreiche Reportagen, die der schillernden, auch sinnlich beeindruckenden Aura des Rinterzelts nachgingen. So berichtete die Stadtzeitung „Falter“: „Kaum ist die Autotür offen, hat er mich schon. Und er wird mich noch den ganzen restlichen Tag begleiten, selbst nachdem ich längst wieder in der Stadt bin: der eigentümliche Geruch der Abfallbehandlungsanlage, im Volksmund ,Mistzelt‘, am Rautenweg. Süßlich riecht es, ein bisschen faulig, näher kann ich das Odeur nicht bestimmen, aber es ist unverkennbar für eine Nase, die es einmal verkosten durfte.“ Die eigenwillige Duftmarke als olfaktorisches Kennzeichen des Ortes tauchte als Stereotyp immer wieder auf. Und sie trug dazu bei, das Rinterzelt zu einem „Schattenort von Wien“ zu machen, wie dies der Autor und „Spectrum“-Redakteur Wolfgang Freitag formulierte. Der Nimbus des Absonderlichen, das nur allzu gerne übersehen wird, war und ist langlebig.

Mit all seinen realen und symbolischen Überhöhungen konnte sich das Rinterzelt – mehr als andere Bauten der technischen Infrastruktur – nachhaltig einschreiben in die jüngere Stadtgeschichte. Unmittelbarer Ausdruck dafür war auch seine geänderte topografische Lage: Einst an der Peripherie auf freiem Gelände entstanden, war es zuletzt zur Gänze von Bebauung umgeben und von der Stadt gleichsam inkorporiert. Es hat geleistet, was es konnte, und bleibt nunmehr als Ahnung zurück.

[ Peter Payer, geboren 1962 in Leobersdorf, Niederösterreich. Dr. phil. Mag. phil. Historiker und Stadtforscher. Kurator im Technischen Museum Wien. Bücher: zuletzt „Der Klang der Großstadt. Wien 1850– 1914“ (Böhlau Verlag, Wien). Arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt über den Wiener Feuilletonisten Ludwig Hirschfeld. ]

Spectrum, So., 2019.09.22

29. Dezember 2018Peter Payer
Spectrum

Schlagwort „Smart City“: Die Stadt von der Stange

Von Technologie getriebene Stadtvisionen sind keine Erfindung der Gegenwart. Schon vor 100 Jahren kannte man ihre Vorzüge – wie ihre Gefahren. Erinnerungen an die Zukunft.

Von Technologie getriebene Stadtvisionen sind keine Erfindung der Gegenwart. Schon vor 100 Jahren kannte man ihre Vorzüge – wie ihre Gefahren. Erinnerungen an die Zukunft.

Wohin entwickeln sich unsere Städte? Immer öfter stellen wir uns angesichts weltweit rasanter Urbanisierung diese Frage. Genauer gesagt: Wir sind gezwungen, sie uns zu stellen. Und immer öfter ist in den Antworten von „Smart City“ die Rede, als Synonym für die digitale Stadt der Zukunft, die vielfach vernetzt, intelligent gesteuert und so weit wie möglich berechen- und kontrollierbar ist. Wenngleich es mittlerweile vielfach Kritik an diesem allzu modisch gewordenen Begriff gibt, etablierte er sich doch als räumliches Leitbild für die gegenwärtigen, stark technologiebasierten Veränderungen und Innovationen im urbanen Raum.

Blicken wir zurück, stoßen wir auf ein ähnliches Label, das die Stadtvision des beginnenden 20. Jahrhunderts auf den Punkt brachte: „Die technische Stadt“ war spätestens nach dem Ersten Weltkrieg zu jenem Zukunftsbegriff geworden, der die damaligen urbanistischen Hoffnungen sinnreich zu bündeln schien. Weshalb der Begriff dann auch namensgebend für eine Großausstellung wurde, die vor 90 Jahren in Dresden ihre Pforten öffnete – und überaus einflussreich werden sollte.

Es war der Eindruck des enormen Städtewachstums, der Ende des 19. Jahrhunderts in Europa erstmals Forderungen nach einer Regulierung der bis dahin relativ ungehindert expandierenden Metropolen evozierte. Zwei Grundgedanken waren dabei bestimmend. Erstens die Vorstellung, es handle sich bei der Planung nicht um ein architektonisches, sondern um ein technisches Problem. Dementsprechend konzentrierten sich sämtliche Erweiterungs- und Regulierungspläne auf die technische Infrastruktur, insbesondere Verkehrswege und sanitäre respektive hygienische Einrichtungen. Der zweite zentrale Gedanke war die Vorstellung von Stadt als biologischem Organismus mit Systemen, die zusammenarbeiten müssen, um diesen gesund zu erhalten.

Umfassende technikbasierte Vernetzung der Stadt avancierte zu einem Kennzeichen der Moderne, mit weitreichenden sozialen und mentalen Folgen. Dass man für die Bereitstellung von Wasser und Licht, die Beseitigung von Müll und Abwasser, die Fortbewegung in immer weiter entfernte Stadtteile bis hin zur Kommunikation mit anderen Menschen in ein übergeordnetes technisches System eingebettet war, das all dies bereitstellte, wurde für immer größere Teile der Bevölkerung zur prägenden Alltagserfahrung. Jedes einzelne Gebäude fungierte als Knoten im urbanen Netzwerk, mit dem es durch Leitungen, Röhren und Drähte verbunden war. Und dass diese Infrastrukturen zumeist unsichtbar unter der Erde lagen, bestimmte – wie wir heute wissen – auf nachhaltige Weise modernes Wahrnehmungs- und Raumverhalten, soziale Praktiken und Codes, die letztlich von der Großstadt aus in weitere Teile der Gesellschaft diffundierten.

Auch die Zwischenkriegszeit war geprägt von den Debatten und Konflikten, die mit der Anlage einer derart umfassenden „Stadtmaschine“ einhergingen. Machtpolitische, ökonomische, gesundheitspolizeiliche und soziale Diskurse bestimmten weiterhin die europäische Stadtentwicklung, die mit ihren technischen Ausbauprogrammen an die Vorkriegsleistungen anzuknüpfen trachtete. Ein dabei wichtiges, auch international wahrgenommenes Zentrum stellte die deutsche Stadt Dresden dar, die sich mit einschlägigen Großveranstaltungen als Ausstellungsstadt positionierte.

„Autoanrufzelle für Kraftdroschken“

Der 1921 gegründete „Verein zur Veranstaltung der Jahresschau deutscher Arbeit“ hatte ein ambitioniertes Konzept entwickelt, das in den kommenden Jahren realisiert werden sollte. Oberstes Ziel war die Förderung von Industrie, Wissenschaft und Handwerk durch die Präsentation von Spitzenleistungen auf den unterschiedlichsten Gebieten des täglichen Lebens, wozu nicht zuletzt der städtische Alltag gehörte.

Die im Jahr 1928 abgehaltene siebente Jahresschau deutscher Arbeit folgte mit ihrem Titel, „Die technische Stadt“, dem urbanistischen Leitbild vergangener Jahrzehnte. Gezeigt wurden ingenieurtechnische Strategien zur Lösung virulenter Stadtprobleme, ergänzt um grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Mensch und Technik. Ausstellungsdirektor Carlwalter Straßhausen brachte den Sinn der groß angelegten Schau auf den Punkt: „Der Zweck dieser Ausstellung ist es, zu zeigen, wie heutigentags die Technik in das Leben der Menschen eingreift, wie sie ein Helfer dem wird, der sie richtig erfasst. In der Stadt spielt sich das Gemeinschaftsleben in den engsten Beziehungen ab, hier stellt das Arbeitstempo erhöhte Anforderungen, wollen die Stunden für Ruhe und Erholung voll ausgenutzt sein. Also kann die Bedeutung technischer Kenntnisse für den einzelnen Menschen am wirksamsten an dem Beispiel einer modernen Stadt Darstellung finden.“

Im Mittelpunkt standen die im Hauptgebäude gezeigten „Lebensquellen“ der Stadt, worunter man die Versorgung mit Gas, Wasser und der zunehmend an Bedeutung gewinnenden Elektrizität verstand. Ergänzend dazu präsentierte man Themen wie Heizung, Ernährung, Verkehr und Nachrichtenwesen, aber auch Hoch- und Tiefbau und neue technische Anwendungen bei Feuerwehr, Straßenreinigung oder Müllabfuhr. Die einzelnen Räume waren anschaulich und für die Besucher durchaus abwechslungsreich gestaltet. So konnte man zahlreiche Modelle bestaunen, dazu Pläne und technische Zeichnungen, Kanalprofile in Originalgröße, Straßenlampen, Verkehrszeichen und Signalanlagen, eine „Autoanrufzelle für Kraftdroschken“, Schnelltelegrafen oder eine Hochspannungsvorführung mit einer „Ein-Million-Volt-Anlage“. Musterbetriebe, darunter eine Bäckerei und eine moderne Zahnarztpraxis, demonstrierten live ihre elektrifizierten Arbeitsprozesse.

Neben der Hauptschau befanden sich auf dem Gelände noch zahlreiche weitere Attraktionen: das weltweit erste Kugelhaus, entworfen vom Münchner Architekten Peter Birkenholz; ein Stahlrahmenhaus, das veranschaulichte, wie ein Wohngebäude innerhalb kürzester Zeit mit genormten Fertigteilen errichtet werden konnte; sowie ein Pavillon, der einen modernen Rundfunkaufnahmeraum und ein Kino enthielt. Letzteres wurde zu einer der Geburtsstätten des Tonfilms in Deutschland. Am Eröffnungstag der Ausstellung fand hier vor begeistertem Publikum die Welturaufführung des „sprechenden Films System Breusing“ statt.

Begleitet wurde die siebente Jahresschau von einer intensiven Werbekampagne. Der Dresdner Grafiker Willy Petzold schuf das zentrale Plakatsujet zur Ausstellung. Es zeigt einen rötlichen, schräg gestellten stählernen I-Träger, in dessen großformatiger Schnittfläche die Insignien der modernen Stadt zu sehen sind: ein symbolträchtig verdichtetes Konglomerat aus geometrischen Baukörpern und daueraktiven Verkehrsräumen, ohne Menschen, im Mittelpunkt allein die rational durchorganisierte, technisch determinierte, ökonomisch dauerproduktive Großstadt.

Die Schau war ein gewaltiger Publikumserfolg. Von vielen europäischen Städten aus wurden Sonderfahrten nach Dresden organisiert. Insgesamt 1,8 Millionen Menschen besuchten „Die technische Stadt“. Umfassend war auch die Berichterstattung in den zeitgenössischen Medien. Architektur- und Bauzeitschriften zeigten sich beeindruckt von der „ausgezeichneten und tiefgründigen Ausstellung“, die „viel Sehenswertes“ zeige. Rückblickend waren auch die Organisatoren mehr als zufrieden. Dresden hatte sich erneut als führende Ausstellungsstadt positioniert.

Andere Städte intensivierten ihre Anstrengungen zur Sichtbarmachung der engen Verflechtung von Stadt und Technik. Zur (unbekannten) Hauptperson erkoren wurde dabei stets der Techniker. Das Bild des selbstlos agierenden Ingenieurs entstand, eines anonymen Helden, der unbemerkt und abseits der Öffentlichkeit seinen Beitrag für das reibungslose Funktionieren der Großstadt leistete. Ein Image, das in einschlägigen Fachpublikationen weiter vertieft wurde und letztlich bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg hinein wirksam sein sollte. Die ungebremste Fortschrittsgläubigkeit der Moderne, vereint mit dem anhaltenden Impetus zur aufklärerischen Vermittlung von Technik, verfestigte die Überzeugung, dass mit Hilfe der Technik sämtliche Probleme der Großstadt zu bewältigen seien.

Doch es gab, schon in der Zwischenkriegszeit, auch kritische Stimmen, insbesondere in bürgerlich-konservativen Kreisen. So wies der deutsche Theologe Paul Tillich, Lehrbeauftragter an der Technischen Hochschule in Dresden, auf die seiner Meinung nach grundlegende symbolische Bedeutung der technisierten Stadt hin. In einem Vortrag, den er zur Eröffnung der Ausstellung hielt, mahnte er, nicht zu vergessen, was die umfassende Technisierung für die Seelenlage der Menschen bedeute. Denn wenn es auch mit Hilfe der Technik gelungen sei, das Fremde und Drohende des Daseins zu überwinden, werde doch durch die Komplexität moderner Technik eine neue Unheimlichkeit hervorgerufen. Die ganze Erde entwickle sich, so Tillich, immer mehr zur „technischen Stadt“, zu einer zunehmend erstarrten und naturfremden Welt, die kaum beherrschbar erscheine.

Die „normalisierte“ Großstadt

Eine ähnliche, auf die voranschreitende Rationalisierung und Normierung der modernen Welt zielende Zivilisationskritik äußerte der Schriftsteller Alfred Döblin. Die rasanten Veränderungen seiner Heimatstadt Berlin vor Augen, postulierte er: „Es gibt heute nicht mehr Frankfurt oder München oder Berlin oder sogar Paris, London oder Rom. Es gibt heute nur die technische Stadt, die Großstadt. Sie hat eine örtlich verschieden gefärbte und temperierte Bevölkerung. Wie die Technik die Fassungen von Glühbirnen normalisiert, werden die Großstädte normalisiert.“

Und auch sein weit gereister Kollege Stefan Zweig, ein genauer Kenner vieler Großstädte, beklagte eine deutlich wahrnehmbare „Monotonisierung der Welt“: „Alles wird gleichförmiger in den äußeren Lebensformen, alles nivelliert sich auf ein einheitliches kulturelles Schema. Immer mehr scheinen die Länder gleichsam ineinandergeschoben, die Menschen nach einem Schema tätig und lebendig, immer mehr die Städte einander äußerlich ähnlich.“ Hintergrund dieser Analysen war die in Europa zunehmend heftiger geführte Amerikanisierungsdebatte.

Dessen ungeachtet, blieb die Frage der Technisierung der Stadt auch in den folgenden Jahrzehnten höchst aktuell. Dass gerade die technische Infrastruktur in besonderer Weise pfadabhängig ist, ist heute unter Stadtplanern und -historikern Common Sense, basiert doch der Ausbau jüngerer Leitungsnetze zu einem wesentlichen Teil auf der technischen Grundausstattung der Moderne. Und nicht selten werden dabei, so die Kritiker, sozialräumliche Ungleichheiten der Vergangenheit für die Zukunft fortgeschrieben. Der Boden als knappe und wertvollste Ressource einer Stadt wird mittlerweile zu einem entscheidenden Teil von Einrichtungen der Technik und des Verkehrs beansprucht. Als „Gedächtnis der Stadt“ kommt ihm – real wie symbolisch – auch künftig eine zentrale Bedeutung zu.

Spectrum, Sa., 2018.12.29

14. März 2018Peter Payer
Spectrum

Die Geschichte des Aufzugs: Immer wieder rauf und runter

Von der Wohltat, sich das Stiegensteigen zu ersparen, zur Erfindung des Penthouse. Der Aufzug: über die Geschichte der vertikalen Urbanisierung – und wie sie das Gefüge unserer Städte veränderte.

Von der Wohltat, sich das Stiegensteigen zu ersparen, zur Erfindung des Penthouse. Der Aufzug: über die Geschichte der vertikalen Urbanisierung – und wie sie das Gefüge unserer Städte veränderte.

Ein jeder von uns hat seine ganz speziellen. Wir begegnen ihnen regelmäßig, oft mehrmals am Tag. Sie sind vertraute Begleiter durch unseren Alltag, jahre-, oft jahrzehntelang. Der gewohnte Blick zur Aufzugstür, der Eintritt in die Kabine, das Betätigen der Tasten, das Geräusch beim Türenschließen und Fahren, all dies sind uns zutiefst verinnerlichte Handlungen und Wahrnehmungen.

Aufzüge sind zu unentbehrlichen Verkehrsmitteln der Stadt geworden, ein symbolträchtiges Abbild derselben, immer in Bewegung, ein ständiges Auf und Ab. Mehr als 13 Millionen Fahrstühle sind derzeit weltweit unterwegs. Und wie sonst kein anderes Fahrzeug ist dieses ohne große Vorkenntnisse zu benützen, ohne Bewilligungen oder gar „Führerschein“. Doch das ist keine Selbstverständlichkeit, wie ein Blick in die Geschichte der vertikalen Urbanisierung zeigt. Wobei nicht immer gleich an die bisweilen mythenverklärten Wolkenkratzer US-amerikanischer Metropolen zu denken ist. Auch in einer mitteleuropäischen Stadt wie Wien wurde die sukzessive Implementierung des Personenlifts zu einem wichtigen Entwicklungsfaktor – mit weitreichenden baulichen, sozialen und mentalen Auswirkungen.

Wiens erster moderner Personenaufzug entstand mitten in der Stadt. Im Jahr 1869 ließ Baron Johann von Liebig eine neuartige Hebemaschine in sein Palais, Wipplingerstraße 2, einbauen. Die Kabine konnte zwei Fahrgäste aufnehmen, der Antrieb erfolgte hydraulisch. Konstrukteur war der junge Ingenieur Anton Freissler, der derartige Aufzüge in Paris kennengelernt hatte.

War dies noch eine rein private und weitgehend unbemerkt gebliebene Initiative gewesen, so folgte kurz danach der erste öffentlichkeitswirksame „Auftritt“ eines Personenaufzugs. Das mondäne Grand Hotel eröffnete im Mai 1870 am Kärntner Ring seine Pforten. Beachtliche 200 Zimmer wies es auf, ausgestattet war es mit modernster Technik. Dazu gehörten neben Sprachrohr und Telegraf auch ein Personenaufzug, dessen Betrieb sogleich Furore machte. Die Zeitungen berichteten begeistert von der neuen Einrichtung, die sich besonders für alle „Feinde des Treppensteigens“ anböte. Es war ein völlig neuartiges Fahrgefühl, das die Gäste erwartete, so die „Neue Freie Presse“: „Durch Anziehen einer Schnur kommt der Apparat in Bewegung. Sanft und rasch, wie von Geisterhänden gehoben, steigt der kleine Salon, welcher sechs Personen zu fassen vermag, empor. In 55 Sekunden ist selbst der vierte Stock des Hotels erreicht, wieder ein Zug an der Leine, und der Apparat steht still.“

Nicht zufällig war es der damals auch in anderen Städten Europas expandierende Typus des Grand Hotels, der hier neue Maßstäbe bei der Haustechnik setzte und sich als Schrittmacher eines urbanen Modernisierungsschubs erwies. Innovative Hotelbetreiber versuchten ihren Gästen das Maximum an Großzügigkeit und Komfort zu bieten, Luxus durch modernste Technik, hieß ihr Motto. Und dabei war es insbesondere der Lift, der zum technischen Aushängeschild dieser Premiumklasse avancierte.

Luxushotels und Weltausstellung

Zahlreiche andere Wiener Luxusetablissements folgten in den nächsten Jahren diesem Beispiel, vom Hotel Métropole und Hotel Imperial bis hin zum Hotel Sacher und Hotel Bristol. Voll Stolz hieß es in ihren Werbeinseraten „Aufzug in alle Stockwerke“. Ein weiterer entscheidender Schritt zur Popularisierung der neuen Beförderungstechnik erfolgte im Zuge der Wiener Weltausstellung des Jahres 1873. Im Inneren der damals neu errichteten Rotunde befanden sich gleich zwei ebenfalls hydraulisch betriebene Aufzüge. Sie führten auf die rundum laufende Galerie, von wo die Besucher zu Fuß nach außen auf das Dach gelangen konnten und über Steigleitern zur Laterne direkt unter der Kuppel. Hier winkte als Höhepunkt ein beeindruckender Blick auf die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt. Insgesamt mehr als 130.000 Menschen wagten sich, gegen Entgelt, auf die beiden Hebevorrichtungen, die sich damit als besonders begehrte Attraktion erwiesen.

Und Großausstellungen sollten auch weiterhin eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Fahrstuhls spielen. Denn zehn Jahre später wurde auf der „Internationalen Elektrischen Ausstellung“, ebenfalls in der Rotunde, Wiens erster elektrisch betriebener Aufzug feierlich – vor den Augen von Kronprinz Rudolf – in Betrieb genommen. Im Jahr 1898 schließlich, anlässlich der Jubiläumsausstellung für Kaiser Franz Joseph, errichtete man eine 30 Meter hohe Aussichtswarte, auf die ebenfalls ein moderner, elektrisch betriebener Aufzug führte. Auch diesmal lockten die prächtige Aussicht von der Spitze des Turmes und die Neuartigkeit des Fahrerlebnisses unzählige Neugierige an. Bis sich der elektrische Aufzug nennenswert verbreitete, sollte es allerdings noch einige Zeit dauern. Erst eine ausreichende Stromversorgung und die Kombination mit der ebenfalls neu entwickelten Treibscheibe sorgten für den Durchbruch – und natürlich die immer höher werdenden Gebäude der Stadt.

Denn die Anzahl der Gebäude hatte sich in Wien seit Ende des 19. Jahrhunderts rasant vermehrt, zahlreiche mehrgeschoßige Neubauten wurden errichtet, Altbauten so weit wie möglich aufgestockt. Die Bauordnung und ein vom Gemeinderat verabschiedeter Bauzonenplan legten erstmals gestaffelte Gebäudehöhen für das gesamte Stadtgebiet fest. Diese reichten vom innerstädtischen Bereich mit maximal fünf Geschoßen bis zur Peripherie mit drei Geschoßen, wobei – als Wiener Besonderheit – das Parterre zusätzlich unterteilt werden konnte, was die Geschoßanzahl de facto nochmals erhöhte.

Aufschwung durch Elektrizität

Voraussetzung für diese vertikale Expansion war die leichte Erreichbarkeit der einzelnen Stockwerke und somit eine deutliche Vermehrung der Aufzugsanlagen. Hatte man 1885 festgestellt, dass der Personenaufzug in Wien „noch immer eine sehr bescheidene Rolle spielt“, so zeigte sich mit dem Aufkommen des elektrischen Antriebs ein nachhaltiger Aufschwung. Ein 1889 erlassenes Aufzugsgesetz regelte Herstellung und Betrieb der Fahrstühle. Da der elektrische Antrieb bedeutend billiger als der hydraulische war, setzten sich die Aufzüge zur Jahrhundertwende auch im Wohnhausbau endgültig durch. Ab dem Jahr 1900 finden sich erstmals statistische Erhebungen. So gab es Ende dieses Jahres insgesamt 412 Personenaufzüge in Wien, pro Jahr kamen in der Folge rund 80 Neuanlagen hinzu, später steigerte sich die jährliche Zuwachsrate auf mehr als 100, zuletzt sogar über 300 Anlagen pro Jahr. Ende des Jahres 1913 zählte man bereits 2586 Personenaufzüge in der Stadt.

Ein Zeitgenosse proklamierte euphorisch: „Lift, Ascenseur, Aufzug, Fahrstuhl – das aufwärtsstrebende Vehikel, das uns mühelos in die vierten und fünften Stockwerke bringt, hat sich bei uns in Wien bereits in allen Sprachen eingebürgert und auch in allen Systemen: Man fährt bald hydraulisch, bald elektrisch, zuweilen combinirt. Ueberall jedoch empfindet man die Wohltat der wohl nicht mehr neuesten, so doch immer neueren Einrichtung, deren ,Entdecker‘ zu den Wohltätern der Menschheit gezählt werden sollte und indirect auch zu den Wohltätern der vier- und fünffach verstockten Hausherren. Denn wenn schon seit mehreren Jahren eine Wohnung der obersten Regionen sehr oft unter dem üblichen Preise vermiethet werden mußte, gilt dieselbe in den Häusern ,mit Lift‘ als vollkommen standesgemäß und ist sogar wegen der reineren Luft gesucht.“

Die Lobpreisung bringt eine der wesentlichen sozialen Folgen des Lifteinbaus zum Ausdruck: Die oberen Geschoße, einst oft nur mühsam durch eine enge Dienstbotentreppe zu erreichen, verloren ihre benachteiligte Stellung, während die im ersten Stock angesiedelte „Beletage“ ihren von Aristokratie und Großbürgertum bevorzugten Rang einbüßte. Der Aufzug egalisierte die Geschoße und änderte damit die soziale Stratigrafie des Gebäudes. Sämtliche Stockwerke waren nun technisch gleichwertig ausgestattet und somit bequem erreichbar. Bald ergab sich ein neues Ranking, denn aufgrund ihrer besseren Licht- und Luftverhältnisse und auch des Ausblicks wegen wurden die obersten Geschoße sozial besonders aufgewertet. In sie zogen nunmehr die begüterten Schichten, das „Penthouse“ entstand. Die Benützung und der Betrieb eines Fahrstuhls erfolgten im Wesentlichen entlang zweier Kriterien: Sicherheit und Bequemlichkeit. Insbesondere der Schutz vor Unfällen oder gar Abstürzen stand bei allen beteiligten Personen und Institutionen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Behörden, Techniker, Architekten, Hauseigentümer und -bewohner waren angehalten, den richtigen Umgang mit dem neuen Fahrzeug zu finden, ein Lernprozess, der mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen sollte.
Der Aufzugswärter als zentrale Figur

Schon beim Einbau des Aufzugs waren ganz zentral Aspekte der Feuersicherheit zu beachten, ebenso die obligatorische Anbringung einer Fangvorrichtung und eine ausreichende Sicherung des umgebenden Treppenhauses. Die Ingangsetzung und Abstellung des Aufzugs besorgte eine eigens dazu befugte Person: der Aufzugswärter, der in den Wohnhäusern vom Hausmeister, in den Hotels vom Liftboy gestellt wurde – somit eine zentrale Figur, die erst mit der Verbreitung der elektrischen Druckknopfsteuerung überflüssig wurde.

Doch trotz der umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen kamen immer wieder Unfälle vor, bei den Passagieren blieb stets ein Rest an Unbehagen. Dies lag nicht zuletzt an den zunächst noch ungewissen psychischen und physischen Folgen der Liftbenützung. Immer wieder war in den Zeitungen von einer „Aufzugskrankheit“ die Rede, die der Seekrankheit ähnlich sei.

Die Ausstattung der Kabine war orientiert am Einrichtungsgeschmack des (groß)bürgerlichen Zimmers, was in seiner Maximalvariante bedeutete: weicher Teppich, gepolstertes Sofa oder zumindest lederbezogene Sitzbank, getäfelte Wände, Griffe und Beschläge aus Messing, formschöner Beleuchtungskörper, geschliffener Spiegel, geätzte Glasscheiben. Die verwendeten Materialen sollten Ruhe und Gediegenheit ausstrahlen. Ein kleiner Salon im Treppenhaus.

Der Insasse verlor seine Souveränität

Doch egal, welche Stilrichtung man bevorzugte, ob elegant oder einfach, für den Fahrgast war der Aufenthalt im Inneren der Kabine in jedem Fall eine besondere Erfahrung. Sobald der Lift sich in Bewegung setzte, wurde über den Insassen verfügt, verlor er seine Souveränität. Der Raum war eng und unausweichlich, und es gab keine Kontrolle darüber, wer sich noch darin befand oder eventuell zustieg. Einer, der sich in diesem künstlichen Transitraum nur schwer zurechtfand, war der Schriftsteller Peter Altenberg. Die soziale Spannung in der Kabine schien ihm unerträglich: „Grässlich ist es, mit einem fremden Menschen hinaufzufahren. Man glaubt die Verpflichtung zu haben, ein Gespräch zu entrieren, und überlegt es sich krampfhaft von einem Stockwerke zum anderen. Es ist eine verlegene Spannung wie bei der Maturitätsprüfung.“

Heute gibt es rund 44.000 Personenaufzüge in Wien, pro Jahr kommen etwa 1000 neue Anlagen hinzu. Die Dienstbarmachung der Vertikalen wird zweifellos auch die künftige Stadtentwicklung in hohem Maß begleiten.

Spectrum, Mi., 2018.03.14

27. Januar 2018Peter Payer
Die Presse

Es werde . . . LED!

Neu entwickelte Außenleuchten ermöglichen es, das Licht weitaus besser gerichtet einzusetzen als herkömmliche Leuchtkörper. Die nächtliche Wahrnehmung von Straßen und Plätzen wird sich damit allerdings ändern. Und das ist erst der Anfang. Zur urbanen Lichtzukunft.

Neu entwickelte Außenleuchten ermöglichen es, das Licht weitaus besser gerichtet einzusetzen als herkömmliche Leuchtkörper. Die nächtliche Wahrnehmung von Straßen und Plätzen wird sich damit allerdings ändern. Und das ist erst der Anfang. Zur urbanen Lichtzukunft.

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01. Juli 2017Peter Payer
Spectrum

Die Stadt und das Neue

Die Stadt als Labor der Zukunft: über das Aufeinanderprallen von Geplantem und Zufälligem, Vertrautem und Fremdem, Ordnung und Chaos – und was all das mit unserer Innovationskraft verbindet.

Die Stadt als Labor der Zukunft: über das Aufeinanderprallen von Geplantem und Zufälligem, Vertrautem und Fremdem, Ordnung und Chaos – und was all das mit unserer Innovationskraft verbindet.

In der satirischen deutschen Wochenzeitschrift „Simplicissimus“ erschien im Dezember 1926 eine Karikatur, die uns aus heutiger Sicht mehr als verblüfft: Sie zeigt Menschen in Berlin, die auf der Straße dahineilen und ein mobiles Telefon bei sich tragen. Ein Mann spricht im Gehen hinein, kurz und gehetzt, und auch das Gesagte ist verblüffend nah am Heute: Standortbestimmung und Versicherung, dassman bereits unterwegs sei.

Der deutsche Stadtforscher Rolf Lindner, der diese Technikutopie in seinem vor Kurzem erschienenen Buch „Berlin. Absolute Stadt“ (Kulturverlag Kadmos, Berlin) abbildet, nimmt sie als beredtes Zeugnis dafür, wie in den modernen Metropolen bereits früh Innovationen entstehen oder auch nur imaginiert werden und aus welch dynamischem Umfeld sie entspringen. Denn Berlin ist für Lindner die Großstadt der Moderne schlechthin, im steten Wandel begriffen, geprägt von der rasanten Zirkulation von Menschen, Waren und Ideen.

Insbesondere die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zeichneten sich durch einen Hang zur „bedingungslosen Modernität“ aus – mit weitreichenden Folgewirkungen für das Verhältnis von Stadt und Mensch. Anschaulich zeigt Lindner, wie die Stadt als „Menschenwerkstatt“ (Heinrich Mann) fungiert, sie das Wahrnehmen, Denken und Handeln ihrer Bewohner bestimmt und verändert. Und wie ihrerseits die Bewohner neue soziale, kulturelle oder technische Erscheinungsformen generieren: von neuen Verkehrsorganisationen (der Potsdamer Platz, mit der ersten Ampelanlage, galt in den 1920er-Jahren als verkehrsreichster Platz Europas), der Entwicklung der Großstadtpresse (mit fast 150 Tageszeitungen war Berlin die damals weltweit größte Zeitungsmetropole) über neue Formen der Reklame und der Unterhaltungsindustrie bis hin zur grassierenden „Telefonwut“, der die oben erwähnte Karikatur entsprang (1925 gab es in Berlin bereits eine halbe Million Fernsprechanschlüsse, so viel wie in keiner anderen Stadt der Welt).

Verallgemeinernd ergibt sich daraus die Frage: Ist die Stadt generell ein guter Nährboden für die Entwicklung neuer Ideen? Zeichnet sie sich gar, unter dem Druck der permanenten Veränderung, durch ein besonders kreatives und innovatives Milieu aus? Zunächst scheint klar: Als Knoten im Netzwerk mächtiger Globalisierungsströme werden Städte in Zukunft eine immer wichtigere Funktion einnehmen, wichtiger, so prognostizieren manche, als Nationen. Ihre große Anpassungsfähigkeit und materielle Dauerhaftigkeit machen Städte in sozialer und ökonomischer Hinsicht zu zentralen Playern bei der globalen Zirkulation von Menschen, Gütern und Dienstleistungen. All dies bei wachsender Konkurrenz untereinander.

So sind Städte in verstärktem Maße gezwungen, sich mit Fragen von Identität und Kultur, Ressourceneinsatz und Ökologie, Wertschöpfung und Innovation auseinanderzusetzen. Wir wissen nur zu genau: Städte machen Probleme – weltweit verbrauchensie 70 Prozent der Energie und verursachen 75 Prozent aller Kohlendioxidemissionen. Dennoch tragen sie auch zur Lösung von Problemen bei. Ihr Innovationspotenzial wird seit Längerem in speziellen Rankings veröffentlicht. Laut „Innovation Cities Global Index“ des Jahres 2015 werden die ersten drei Plätze übrigens von London, San Francisco/San Jose und Wien eingenommen.

Verschiedenartigkeit als Impuls

Welche Zusammenhänge zwischen Stadtund Innovation genau bestehen, dem geht die historische Forschung seit den 1990er-Jahren verstärkt nach. So wies der deutsche Kulturhistoriker Clemens Zimmermann bei seiner Analyse des im 19. Jahrhundert entstandenen Typus der europäischen Metropole darauf hin, dass diese in besonderem Maße als „Experimentierfeld und Maßstab für Neues“ fungierte, wie er an den BeispielenManchester, St. Petersburg, München und Barcelona veranschaulichte. Eine entscheidende Rolle spielte dabei jeweils, so Zimmermann, die Differenz, also die Verschiedenartigkeit der Lebensmilieus, die sich als besonders produktiv für die Generierung von Urbanität und Innovation erweist. Die herausragende Bedeutung der Stadt als Zentrum von Kreativität und Innovation betont auch der britische Stadthistoriker Peter Clark, wobei auch er die europäische Entwicklung ins Zentrum seiner Urbanisierungsgeschichte stellt. Auch die prominente Stellung der Stadt Wien, als Beispiel für eine besonders kreative Metropole mit enormer Ausstrahlungskraft in der Zeit um 1900, wurde von der Geschichtswissenschaft bereits vielfach unter den verschiedensten Gesichtspunkten thematisiert.

Wie und warum entwickeln sich neue Ideen in Gesellschaft, Kultur, Technik und Ökonomie ausgerechnet an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit? Lassen sich aus einem (weltweiten) Städtevergleich vielleicht allgemeingültige Innovationskriterien ableiten?

Eine Antwort versucht die deutsche Technikhistorikerin Martina Heßler, die als entscheidenden Impulsfaktor das Vorhandensein eines effizienten gemeinsamen Kommunikationsraumes hervorhebt. Ob dieszwangsläufig der real existierende Stadtraum sein muss oder ob dies angesichts der rasanten Entwicklung moderner Informationstechnologien auch virtuell-digitale Räume sein können, lässt sie offen.

Ähnlich argumentiert der renommierte Stadtsoziologe Walter Siebel, der zusammenfassend folgende Gründe für die Innovationskraft der Stadt benennt: Es sind vor allem dichte Kommunikationsbeziehungen und ein anregendes Umfeld (Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Unternehmen, Kulturinstitutionen sowie ein für Neues aufnahmebereites Publikum), die jenen Nährboden schaffen, auf dem Innovationen besonders gut gedeihen. Das Aufeinanderprallen von Geplantem und Nichtgeplantem, Vertrautem und Fremdem erweist sich als ideal für die Produktion neuer Ideen und – ganz wesentlich – auch für deren Umsetzung. Dass die Fülle des vorhandenen Wissens kreativ wird, verdankt sich einer labilen Balance zwischen homogenen und heterogenen Faktoren, zwischen lokalen und überregionalen Netzwerken. Anders ausgedrückt:Städte können in besonderer Weise von einem latenten Klima der Infragestellung und „Verunsicherung“ profitieren und dieses als Schlüssel zu Innovation nutzen, eingedenk der Worte Goethes: „Das Gleiche lässt uns in Ruhe, aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht.“

Dass die urbanen Rahmenbedingungen für Kreativität und Innovation – nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt ihrer Ökonomisierung – derzeit auf den verschiedensten Ebenen intensiv diskutiert werden, zeigt auch ein Begriff, der Konjunktur hat: das Labor.Ursprünglich in den Naturwissenschaften alsOrt des Experimentierens (aber auch des Scheiterns!) eingeführt, wurde der Begriff vondem Chicagoer Soziologen Robert E. Park in das Feld des Städtischen transferiert. In einem 1915 publizierten Aufsatz nennt er die Stadt ein „Labor, in dem die menschliche Natur und die gesellschaftlichen Prozesse am bequemsten und gewinnbringendsten studiert werden können“.

Die Sozial- und Kulturwissenschaften verwiesen in der Folge auf das produktive Milieu der Metropolen um 1900, die man in Anlehnung an Georg Simmels Großstadttheorie als „Labor der Moderne“ begriff. Davon ausgehend scheint die Labormetapher aber auch treffend ein generelles Charakteristikum der Stadt zu beschreiben, ihre vielschichtige Ambivalenz zwischen Ordnung und Unordnung, Disziplin und Chaos, Geplantem und Zufälligem – und in jedem Fall verbindet sich damit ein wichtiger Zukunftsaspekt. Nicht zufällig werden in zahlreichen Städten mittlerweile transdisziplinär besetzte „Urban Labs“ gegründet als Zentren mit hohem Analyse- und Kreativitätspotenzial.

Die Stadt als Labor der Zukunft zu begreifen heißt, sie auch als „work in progress“ zu verstehen, als etwas nie Abgeschlossenes, stets im (immer rascheren) Wandel Befindliches, mit einem – sich als durchaus innovativ erweisenden – Anteil an Unvorhersehbarem und Unplanbarem.

Diesem Ansatz diametral entgegen steht ein anderer populär gewordener Zukunftsbegriff, der genau in die Gegenrichtung weist: Smart City als Synonym für die vielfach vernetzte, intelligent gesteuerte und so weit wie möglich berechen- und kontrollierbare Stadt. Wenngleich es mittlerweile umfangreiche Kritik an dieser für manche allzu technologisch orientierten, zentralistisch ausgerichteten Idee gibt, hat sich der Begriff doch in vielen Fällen als räumliches Leitbild etabliert. Auch in Wien ist er beispielsweise in den aktuellen Stadtentwicklungsszenarien als Zukunftsvision verankert, wenngleich – wie betont wird – mit forciert sozialer Komponente.

Wien oder: Was ist eine Smart City?

Das Beratungsunternehmen Roland Berger hält in einer kürzlich veröffentlichten Studie fest, dass weltweit immer mehr Städte einen systematischen Ansatz in Richtung Smart City verfolgen. Insbesondere seit 2014 hat die Zahl diesbezüglicher Strategiepapiere deutlich zugenommen. Ein auf Basis dieser Publikationen unter 87 Großstädten errechneter Smart-City-Index sieht laut Berger Wien an erster Stelle, gefolgt von Chicago und Singapur. Längst ist mit diesen wie zahlreichen anderen Rankings der globale Wettbewerb um die smarteste Stadt eröffnet.

Doch welchen urbanen Zielbildern man im Einzelnen auch folgen mag, die zentrale Zukunftsfrage bleibt vor dem Hintergrund der in alle Lebensbereiche vordringenden Digitalisierung stets dieselbe: Wie können wir unsere Städte zu ökologischen, konfliktfreien, sozial gerechten Orten entwickeln – und sie dabei offen und beweglich halten?

Das 21. Jahrhundert konstituiert den Menschen endgültig als urbanes Wesen. Als solches steht es in enger Wechselbeziehung zur Umwelt, prägt diese und wird von ihr geprägt. Der immer rascher voranschreitenden „äußeren Urbanisierung“ entspricht auch eine „innere Urbanisierung“. Die allmähliche Herausbildung des „Urbanmenschen“ mit spezifischen Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Denkweisen wäre in diesem Sinne die wohl nachhaltigste städtische Innovation. Was dies im Einzelnen bedeuten mag, hat Rolf Lindner in seiner anthropologischen Analyse der Stadt gezeigt. Vielleicht werden ja – wie einst in Berlin – schnelles Reaktionsvermögen, rasche Auffassungsgabe und hohe Flexibilität bei größtmöglicher Gelassenheit die herausragenden Attribute des Menschen der Zukunft.

Spectrum, Sa., 2017.07.01

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Presseschau 12

13. September 2021Peter Payer
Spectrum

Die Tricks von Ikea und KaDeWe

Seit jeher trachten Kaufhäuser danach, ihre Kunden ins Innere zu locken und in Kauflaune zu versetzen, um sie danach zufrieden zu entlassen. Und wie sieht die Glücksmaschine „Warenhaus“ heute aus? Aktuelle grüne Beispiele aus Wien: der Stadt-Ikea und das KaDeWe.

Seit jeher trachten Kaufhäuser danach, ihre Kunden ins Innere zu locken und in Kauflaune zu versetzen, um sie danach zufrieden zu entlassen. Und wie sieht die Glücksmaschine „Warenhaus“ heute aus? Aktuelle grüne Beispiele aus Wien: der Stadt-Ikea und das KaDeWe.

Dass die Wiener Mariahilfer Straße als wichtigste Einkaufsmeile der Stadt eine ganz spezielle Geschichte und urbane Wirkungsmacht hat, ist allgemein bekannt. Dass sie sich derzeit aber mit gleich zwei großen Neubauprojekten wie ein Zeitfenster öffnet, durch das wir Einblicke in die gebaute Konsumkultur unserer Tage erhalten, kann als schöne Koinzidenz bezeichnet werden. Die Rede ist natürlich vom kürzlich eröffneten Ikea beim Westbahnhof und vom KaDeWe Wien, das gerade anstelle des alten Leiner-Hauses in Bau ist (der Name ist noch nicht fix; geplante Eröffnung: 2024).

Beide Projekte versuchen sich an einer Neuinterpretation des großstädtischen Warenhauses, transformieren die alte, stilprägende Idee der „Kathedralen der Moderne“ ins 21. Jahrhundert. Architektonische Statements mit Zukunftspotenzial. Doch was ist daran anders? Gibt es Kontinuitäten? Einige Anmerkungen aus stadthistorischer Sicht.

Warenhausarchitektur ist – und dies sei gleich als wichtigste Konstante hervorgehoben – zutiefst visuell determiniert. Es ist ein Zelebrieren der Schaulust. „Vollgefressene Pupillen“, wie Joseph Roth so treffend formulierte, stehen im Mittelpunkt, sinnliche Erlebnisse in all ihren Ausprägungen.

Das zeigten schon die ersten Großkaufhäuser, die sich in der Mariahilfer Straße etablierten: Stefan Esders' Zur großen Fabrik (1895; der spätere Leiner), Herzmansky (1897), Gerngroß (1904), Mariahilfer Zentralpalast (1911) – um nur die bekanntesten zu nennen. Sie alle setzten auf riesige Schaufenster und raffinierte Effektbeleuchtung innen wie außen. Ein visueller Sog und Zauber, vor allem nachts schier unwiderstehlich, wie der Journalist Paul Zifferer 1910 bemerkte: „Jedem einzelnen, den jetzt sein Weg des Abends durch die Mariahilferstraße hinauf führt, widerfährt etwas ganz Erstaunliches und Wunderbares. Alles ringsum scheint verzaubert, altvertraute Plätze tragen ein neues, fremdes Gewand, und man schreitet wie durch lauter Prunkgemächer, deren Türen weit geöffnet stehen und deren Kronleuchter ihr Licht als strahlende Dusche über die festlich geputzte Menge ergießen.“

Dieses Ziel haben auch die beiden Neubauten. Auch sie trachten danach, ihre Kunden ins Innere zu locken, ihre Herzen zu öffnen, sie in Kauflaune zu versetzen, um sie am Ende mit zufriedener Miene zu entlassen. Das Warenhaus als verführerische, wohl kalkulierte Glücksmaschine, mit Versprechen, die zwar oft nur allzu kurzlebig sind, aber dennoch unser Innerstes stets aufs Neue erreichen.

Die Fassadengestaltung der beiden Neubauten versucht dies auf durchaus unterschiedliche Weise. Der vom Wiener Architekturbüro Querkraft entworfene Ikea-Bau setzt auf ein in dieser Form völlig neuartiges Stahlregalsystem, offen und luftig-leicht wirkend, begrünt mit windsicher verankerten Topfbäumen. Das schwedische Einrichtungshaus in nuce, in rechtwinkelig klar strukturierter Form, handsome und beinahe zurückhaltend und dennoch ein spannender Kontrast zur Umgebung. Leider wirkt der Baublock – er umfasst nur rund 22.000 Quadratmeter – durch seine Lage in der zweiten Reihe, hinter beziehungsweise neben dem dominanten Westbahnhof, allzu eingezwängt. Mehr Fernwirkung und Ausstrahlung auf den Europaplatz wären durchaus verdient und auch aus städtebaulicher Sicht interessant gewesen.

Ein ganz anderes Bild zeigen die Renderings des künftigen KaDeWe. In dem von Rem Koolhaas' Büro OMA (Office for Metropolitan Architecture) entworfenen Bau werden nach außen hin weiche, abgerundete Formen dominieren. Ein zwar reich gegliederter, aber relativ geschlossen wirkender Baukörper ist geplant, der nur im Erdgeschoß von Rundbogenportalen und Arkaden mit großflächigen Schaufenstern – ganz in der Tradition der Moderne – durchbrochen wird. Der acht Stockwerke hohe, dominante Bau ist von seinen Dimensionen her natürlich ein ganz anderes Kaliber. Als Eckgrundstück ist hier Fernwirkung garantiert. Kurzum: kein bescheidenes, vielmehr ein bewusst auf Monumentalität abzielendes architektonisches Statement.

Beiden Bauten gemeinsam ist ihre Multifunktionalität, neben Einkaufen wird auch ausgiebig Gastronomie angeboten und – anders als bei den historischen Vorgängern – ein Hotel integriert. Neu sind außerdem großzügige begrünte Dachterrassen inklusive Fotovoltaikanlagen. Mehr öffentliche Räume gehören angesichts von Corona-Krise und Klimawandel zum Gebot der Stunde. Nachhaltig, leicht zugänglich und möglichst konsumfrei sollen sie sein.

Im Falle von Ikea wurde im städtebaulichen Vertrag eine tägliche Öffnung von acht bis 24 Uhr vereinbart, und dies ist – so viel kann jetzt schon gesagt werden – ein absoluter Gewinn. Denn der Fernblick von oben begeistert (und entschädigt für die oft allzu große Enge in den Verkaufsräumen darunter): Hier lässt sich gut durchatmen, an Heurigenbänken und -tischen (!) rasten und eine durchwegs lässige Atmosphäre genießen. Etwas störend ist lediglich die aufdringliche, vom Wind in alle Ecken getragene Hintergrundmusik. Die ausgedehnte und stellenweise parkähnliche Dachlandschaft des KaDeWe wird sich im Unterschied dazu wohl deutlich nobler präsentieren, der freie Rundumblick wird aber sicher auch dort seine Anhänger finden.

Spannend ist auch das unterschiedliche Mobilitätskonzept der beiden Häuser. Während man im innerstädtischen Einkaufstempel nach wie vor auf das Auto setzt und ausreichend Garagenplätze für die Kunden vorsieht, versucht man beim schwedischen Möbelhaus eine zwar nicht völlige, so doch weitgehend autofreie Lösung. Kundengarage gibt es keine mehr, gute Erreichbarkeit mit Öffis, Fahrrad oder zu Fuß muss genügen. Da vor allem Kleinwaren angeboten werden, können diese problemlos selbst mitgenommen werden. Die wenigen größeren Produkte respektive Möbel werden von Ikea mit Elektrofahrzeugen nach Hause geliefert. Wenngleich das Ausmaß des künftigen An- und Auslieferverkehrs bei Anrainern wie Politikern für Diskussionen sorgt und hier längst nicht alles final geregelt scheint, kann man mit Interesse auf das Funktionieren dieses weltweit einzigartigen Experiments blicken.

Welche konkreten Auswirkungen all dies auf die Umgebung haben wird, nicht nur verkehrstechnisch, auch ökonomisch und soziokulturell, wird sich zeigen. Zweifellos werden beide Neubauten vielfältige Impulse auslösen, die vor allem bei der äußeren Mariahilfer Straße durchaus notwendig und wünschenswert wären. Allzu lange schon steht sie im Schatten ihrer innerstädtischen Schwester. Vielleicht ist gerade das radikale Konzept von Ikea der Startschuss für ein geändertes Einkaufs- und Freizeitverhalten, das letztlich allen in der Stadt zugute kommt.

Spectrum, Mo., 2021.09.13

15. Juli 2021Peter Payer
Spectrum

Wenn Pflanzen Paternoster fahren

Der Österreicher Othmar Ruthner versuchte in den 1960er-Jahren, mit vertikalen Gärten den Pflanzenanbau zu revolutionieren. Er scheiterte. Doch die Idee erlebt eine Renaissance: In New York wird auf Wolkenkratzern Gemüse angebaut, das dann unten im Supermarkt verkauft wird.

Der Österreicher Othmar Ruthner versuchte in den 1960er-Jahren, mit vertikalen Gärten den Pflanzenanbau zu revolutionieren. Er scheiterte. Doch die Idee erlebt eine Renaissance: In New York wird auf Wolkenkratzern Gemüse angebaut, das dann unten im Supermarkt verkauft wird.

Es wirkt wie ein übrig gebliebenes Skelett. Verwachsen und mittlerweile fast eins geworden mit den umgebenden Büschen und Bäumen. Und doch verbirgt sich hinter dieser unscheinbaren Installation eine technische Innovation, die einst von Wien aus um die Welt ging. Die Rede ist von jenem Eisengerüst, das sich im Kurpark Oberlaa, auf dem Gelände der ehemaligen WIG (Wiener Internationale Gartenschau) 74, befindet. Es sind letzte Erinnerungsstücke an ein bemerkenswertes Experiment. Grüne Wegweiser mit der Aufschrift „Turmglashaus“ führen noch heute hierher; eine Tafel verrät die ursprüngliche Bestimmung des Ganzen: „Kontinuierliche Produktionsanlage für Pflanzen und Pflanzeninhaltsstoffe – System Ruthner.“ Was bedeutet: Hier stand einmal ein Turmgewächshaus zum Zwecke der Pflanzenzucht.

Begonnen hatte es zehn Jahre zuvor, auf der WIG 64. Es war die Zeit, als Wien sich erneut als Weltstadt zu positionieren begann und dazu im Donaupark eine ausgedehnte Gartenschau, die europaweit größte, ins Leben rief. Stolz präsentierte man von Frühjahr bis Herbst nicht nur Tausende Sträucher und Blumen, auch neue technische Attraktionen sorgten bei Besuchern wie in den Medien für Furore: der Donauturm mit seinem Expressaufzug etwa, ein Sessellift, eine Kleinbahn oder eben ein „Turmglashaus“, in dem vorgeführt wurde, wie die voll automatisierte Pflanzenaufzucht der Zukunft aussehen könnte.

Rekordernte vom grünen Fließband

Das vertikale Glashaus befand sich nicht weit vom Donauturm entfernt, war längst nicht so elegant wie dieser, aber mit seinen 41 Metern Höhe, seiner runden, 50 Quadratmeter großen Grundfläche und seinem transparenten Aussehen doch ein beachtlicher Eye-Catcher. In seinem Inneren herrschte reger Betrieb: Insgesamt 35.000 Pflanzentöpfe, in eigenen Hängevorrichtungen montiert, fuhren unentwegt im Paternoster-Prinzip auf und ab, wurden dabei automatisch besprüht, gedüngt und gewässert. Oberstes Ziel war es, möglichst gleiche klimatische Bedingungen für alle Pflanzen zu bieten. Der Ertrag war beachtlich. Gezogen wurden vor allem Blumen wie Primeln und Veilchen, und frisches Gemüse wie Tomaten, Paprika und Salat. All das wurde sodann gleich direkt in den acht Restaurants auf dem Ausstellungsgelände weiterverwendet.

Die Öffentlichkeit war begeistert. In- und ausländische Medien berichteten darüber, sprachen von einer „Weltsensation“ und einer „Revolution im Pflanzenbau“. Sogar die „New York Times“ lobte die ingenieurwissenschaftliche Meisterleistung, die – so die große Hoffnung – eine von Klima und Standort weitgehend unabhängige Landwirtschaft vorstellbar machte und mit dazu beitragen könnte, die Ernährungsprobleme der Welt zu lösen.

Erfinder dieser Weltneuheit war ein heute weitgehend vergessener Österreicher, der Wiener Ingenieur Othmar Ruthner (1912–1992). Er war bereits in den 1930er-Jahren als Unternehmer in Niederösterreich tätig, galt als Experte im Bereich des Maschinenbaus und der elektrochemischen Industrie – und als überaus innovativ. Schon 1945 war er Inhaber von 30 Patenten und Patentanmeldungen. Kurz nach Kriegsende gründete er in Waidhofen an der Ybbs eine Fabrik zur Stahlerzeugung und -veredelung, die rasch expandierte und bald mehr als tausend Arbeiter beschäftigte. Daneben machte Ruthner als einer der ersten in Österreich erfolgreich Experimente mit der industriellen Verarbeitung von Kunststoffen.

„Die Pflanze kommt zum Gärtner“

Anfang der 1960er-Jahre wurde er für seine Verdienste dann auch mehrfach geehrt: Die Technische Hochschule in Wien verlieh ihm den akademischen Titel Ehrensenator, der Bürgermeister von Waidhofen an der Ybbs ernannte ihn zum Ehrenbürger der Stadt, und vom Bundespräsidenten erhielt er das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. Othmar Ruthner war – wie es schien – im Zenit seiner Karriere; er hatte bis dahin 80 verschiedene Verfahren entwickelt und verfügte über mehr als 200 eigene Patente. Doch nun ging der rastlose Innovator auch noch daran, den Pflanzenbau zu revolutionieren. Im Jahr 1964 gründete er die Ruthner Industrieanlagen für Pflanzenbau GmbH und promotete unermüdlich seine Idee des Turmgewächshauses.

Zwar wurde die Anlage im Donaupark nach Beendigung der Gartenschau abgebrochen, doch in den kommenden Jahren konnten zahlreiche weitere Türme in verschiedenen, meist kleineren Varianten errichtet werden, neben Österreich etwa in Deutschland, der Schweiz, Norwegen, Polen, Russland, Kanada bis hin zu Libyen und Saudiarabien. Insgesamt weltweit etwa 25 Stück. Fasziniert berichtete der „Spiegel“ von der fast greifbaren Utopie einer Rekordernte im Fließbandtempo, und das mit minimalem Arbeitsaufwand: „Ein einziger Arbeitsmann genügt, das grüne Uhrwerk in Gang zu halten. Nach dem Ruthner-Motto ,Die Pflanze kommt zum Gärtner‘ lässt er die Gondeln zu sich heranschweben, stoppt sie für die Zeit der nötigen Handgriffe und setzt dann den Paternoster wieder in Bewegung. An einem Kontrollpult bestimmt er mittels Knopfdrucks die richtige Zusammensetzung der Nährlösung und die erwünschte CO2-Begasung; Messinstrumente geben ihm Aufschluß über Wurzelfeuchtigkeit, Temperatur und Lüftungsstrom.“

Dank der Forschungen der beiden Historiker Werner Sulzgruber und Christian Hlavac wissen wir mittlerweile Genaueres über die Turm-Standorte in Österreich und die unterschiedlichen Konstruktionen, die man hier im Lauf der Jahre, insbesondere zur Verbesserung der Durchlüftung, erprobte. So wurden die ersten beiden Prototypen des Ruthner-Turms eigentlich bereits 1963/64 im niederösterreichischen Langenlois errichtet (elf bzw. 22 Meter hoch), und nach der WIG 64 folgten weitere Türme in Wiener Neustadt und Imst in Tirol und schließlich jener in Oberlaa.

Das Technische Museum Wien besitzt in seinem Archiv einige Prospekte von Ruthners Pflanzenproduktionsfirma. Bilder und Texte verdeutlichen die Fortschrittlichkeit und radikale Modernität seiner Idee der „kontinuierlichen Gewächshäuser“. Und seine anhaltend große Vision, die da lautete: „Bald werden wir zwischen Wäldern aus durchsichtigen Pfeilern wandeln.“

Die Zuversicht des Erfinders sollte sich jedoch als verfrüht erweisen. Zwar verstärkte Ruthner nochmals seine fachlichen Kompetenzen (1972 beendete er sein Studium an der TU, zwei Jahre später hängte er einen Diplomingenieur am Institut für Biochemie und Lebensmitteltechnologie daran), dennoch: Der Betrieb seiner Türme blieb durch hohe Baukosten, vor allem aber durch zu hohe Energiekosten für den Antrieb des Aufzugs und die notwendige Luftumwälzung letztlich unrentabel. Ende der 1980er-Jahre beendete die Firma daher ihre Tätigkeit in diesem Bereich.

Sämtliche Türme verschwanden von ihren Standorten, wurden sukzessive demontiert – außer jenem in Wiener Neustadt. Das frühe, sechseckige Exemplar stammte aus den Jahren 1964/65, wies eine Höhe von knapp zehn Metern auf und war bis zum Jahr 2006 auf dem Gelände der städtischen Gärtnerei in Betrieb, ehe es 2017 abgebaut und zwischengelagert wurde. Werner Sulzgruber, Stadthistoriker von Wiener Neustadt, hat die Geschichte und Konstruktion des Objekts penibel dokumentiert. Alle wichtigen Einzelteile, von Stützen und Transportketten über Ventilator bis hin zu Kuppel und Motor, sind erhalten und harren der Wiederaufstellung bzw. musealen Verwendung.

Ein technikhistorisches Denkmal also, dem gerade heute steigende Bedeutung zukommt. Denn die Idee des „Vertical Farming“ erlebt seit geraumer Zeit eine Renaissance. Insbesondere in dicht verbauten Großstädten, wo es nicht so viel Platz für flächenintensive Landwirtschaft gibt, die Nachfrage nach Nahrungsmitteln jedoch anhaltend hoch ist. Beispiele in Südkoreas Metropolen oder in New York zeigen beachtliche Erfolge. So gibt es in der US-amerikanischen Megastadt bereits zahlreiche Wolkenkratzer, auf deren Dächern großflächig Gurken, Tomaten oder Mangold angebaut und sodann unten im Supermarkt verkauft werden. Und auch der Gemüseanbau in mehreren Etagen ist mit modernen Hightech-Methoden längst technisch machbar. Bis zu 400-mal höhere Erträge als auf dem flachen Land machen die neuen City-Farmen rentabel und für die Konsumenten zunehmend erschwinglich. Ganz abgesehen von der ökologischen Sinnhaftigkeit. Denn angesichts des anhaltenden Trends zur Urbanisierung scheint es ein Gebot der Stunde, nach nachhaltigen Möglichkeiten zur Ernährung der rapide wachsenden Stadtbevölkerung zu suchen. Ganzjährige Kultivierung, geringe Fläche und kurze Lieferwege sprechen mehr als eindeutig für die vertikale Landwirtschaft.

Dickson Despommier, amerikanischer Vertical-Farming-Guru der ersten Stunde, spricht voller Überzeugung von der „nächsten landwirtschaftlichen Revolution“. Und auch in Österreich wird die Diskussion über „urban food“ intensiv geführt. Letztes Jahr etwa bei den Alpbacher Technologiegesprächen, bei denen auch der Wiener Architekt Daniel Podmirseg referierte. Er griff Ruthners Idee schon früh auf, gründete das Vertical Farm Institute und gehört heute zu den gefragtesten Experten auf diesem Gebiet.

Gemeinsam mit seinem interdisziplinären Team hat er inzwischen mehrere Varianten eines modernen vertikalen Gewächshauses konzipiert. Nächstes Jahr soll im Zukunftshof Rothneusiedl (dem ehemals für seine Selbsternte-Initiativen bekannten Haschahof) in Wien Favoriten ein großes Pilotprojekt eröffnet werden. In einem Holzturm mit vier mal sechs Metern Grundfläche und 25 Metern Höhe wird – ganz nach Ruthners Vorbild – ein Paternoster-System mit Pflanzentrögen installiert. Diese bewegen sich langsam, in Summe etwa vier bis fünf Mal am Tag, von oben nach unten und erhalten somit alle gleich viel Tageslicht. In Kombination mit modernster Energieversorgungs- und Bewässerungstechnik sollen so das ganze Jahr über Lebensmittel produziert werden.

Voller Tatendrang und durchaus optimistisch geht Podmirseg hier der Zukunft der Stadt entgegen, getreu seinem Motto „Es ist zu spät, um Pessimist zu sein“. Erfahrungen aus der Vergangenheit sind dabei mehr als hilfreich. Podmirseg, der auch das Privatarchiv von Ruthners Sohn Oswald betreut, träumt davon, auch den alten Ruthner-Turm in Oberlaa zu revitalisieren. Wien wäre damit, historisch wie aktuell, ein international einzigartiger Vorzeigeort des „Vertical Farming“.

Spectrum, Do., 2021.07.15

27. Oktober 2020Peter Payer
Spectrum

Über den Siegeszug des Kraftfahrzeugs im Städtischen

Wo sich Senta Berger und Peter Alexander trafen: In den Sechzigerjahren avancierte eine Parkgarage der Wiener City zum Multifunktionsort. Waschanlage, Restaurant und ein Büro für Theaterkarten: Was will das Automobilistenherz mehr?

Wo sich Senta Berger und Peter Alexander trafen: In den Sechzigerjahren avancierte eine Parkgarage der Wiener City zum Multifunktionsort. Waschanlage, Restaurant und ein Büro für Theaterkarten: Was will das Automobilistenherz mehr?

Die aktuelle Diskussion über die Autofreiheit der Wiener City hat es einmal mehr gezeigt: Die automobile Fortbewegung in der Großstadt ist ein Thema von höchster Emotionalität. Wir erleben – und das nicht erst seit heute – eine teils heftige Auseinandersetzung um die Vorherrschaft auf der Straße; um die Nutzung jenes öffentlichen Raumes, der allen Stadtbewohnern gehören sollte. Mitsprache bei seiner Aufteilung und – falls notwendig – Neuordnung sollte selbstverständlich sein. War und ist es bis heute keinesfalls.

Angespornt von der Sehnsucht nach individueller Mobilität startete das Auto Anfang des 20. Jahrhunderts seinen urbanen Siegeszug. Nebenwirkungen wie Lärm, Gestank und steigende Unfallzahlen wurden verdrängt beziehungsweise technisch zu lösen versucht, auch die Raumfrage begann man zu regeln.

Nicht nur beim Fahren, auch beim Abstellen benötigte das Auto Platz – und dieser musste erst geschaffen werden. Peu à peu entwickelte sich aus ehemaligen Stallungen für Pferde und Fuhrwerke die Garage. Als Ort, an dem das Fahrzeug nachts und während der kalten Jahreszeit, in der es meist nicht benützt wurde, stehen konnte; und wo es umfassend serviciert, aufgetankt und nicht zuletzt, da teures Luxusobjekt, gut bewacht wurde.

In den Städten entstand rasch eine entsprechende Garagen-Infrastruktur. Zunächst im privaten Bereich als Adaption bereits vorhandener Räumlichkeiten, in der Folge immer öfter als eigenständige Architektur und öffentlich zu nutzendes Gebäude. Aus Platzgründen begann man bald von ebenerdigen Einzel- und Sammelgaragen abzusehen und, ähnlich wie im Wohn- und Bürobau, in die Höhe zu expandieren. Die Vorbilder dazu kamen aus den damals am stärksten motorisierten Ländern USA, Großbritannien und Frankreich. London (1901), New York (1906) und Chicago (1907) waren die diesbezüglichen Pionierstädte; auf dem europäischen Kontinent war es Paris, wo 1907 die Garage Ponthieu als erstes mehrgeschoßiges Parkhaus seine Tore öffnete.

In Wien, wo die Verbreitung des Autos vergleichsweise langsam vor sich ging – Ende des Jahres 1910 zählte man bescheidene 2545 Fahrzeuge –, sollte es noch einige Zeit dauern. Erst 1918, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, tauchten konkretere Pläne dafür auf: Unter dem Eindruck der verheerenden Spanischen Grippe forcierte die Vereinigung der Ärzte den Bau einer „Aerztlichen Zentralgarage“ im achten Bezirk, Trautsongasse 4, in der ehemaligen Reitschule des Palais Auersperg. Ziel war es, eine Sammelgarage für Ärzte zu errichten. Mit den bereitgestellten Wagen sollten sie im Notfall raschest ihre Dienste antreten können. Aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten ging die Anlage allerdings erst im Sommer 1920 in Vollbetrieb.

Garagengründungsfieber

Drei Jahre später wurde sie von Cesar Karrer, einem erfahrenen Techniker und Garagenfachmann, übernommen, baulich adaptiert und in Astoria-Garage umbenannt. Karrer avancierte zum Pionier des Wiener Garagenwesens. Er hatte ein Maschinenbaustudium an der Technischen Universität absolviert und sich im Ersten Weltkrieg erfolgreich bei automobiltechnischen Versuchen engagiert. In den 1920er-Jahren festigte er seinen Ruf als umtriebiger Autoexperte. Im September 1928 gelang es ihm, aus dem „Verband der Garagenbesitzer Wiens“ eine Genossenschaft zu formieren. In der dazugehörigen Fachzeitschrift „Die Garage“ debattierte man unter seiner Chefredaktion sämtliche Belange des neuen Berufsstandes: rechtliche und technische Aspekte, behördliche Vorschriften, Mitgliederanwerbung . . .

Denn die Stadt war in den vergangenen Jahren von einem „Garagengründungsfieber“ erfasst worden. So zählte man im Jahr 1931 bereits 440 Garagen in Wien, fünf Jahre später waren es 520. Im internationalen Vergleich eine extrem hohe Dichte, auch angesichts des nach wie vor bescheidenen Motorisierungsgrades. Interessant ist die räumliche Verteilung der Garagen, die sich deutlich auf die noch weniger dicht verbauten Bezirke konzentrierten, den 3., 10., 16. und 17. Bezirk mit jeweils über 30 Betriebsstätten. In der Innenstadt hingegen gab es erst fünf Garagen. Es herrschte ein deutliches Überangebot, viele Investoren verkalkulierten sich. Früher errichtete man Kinos, klagte man in der Mitgliederzeitschrift, „jetzt baut man Garagen“. Und das nicht immer behördlich genehmigt. Mit scharfen Worten zogen Karrer und Co. über die „Schwarzgaragen“ her und über illegale „Garagenspelunken“, die schnell irgendwo eingerichtet würden.

Dass immer öfter die Straße als Garage herangezogen wurde, war den offiziellen Garagenbetreibern ebenfalls ein Dorn im Auge. Lautstark argumentierten sie gegen den „Unfug der Straßengaragierung“ und führten die damit verbundene Verunstaltung des Stadtbildes und die zunehmende Behinderung des Verkehrsgeschehens ins Treffen. Letztlich sollte es noch bis 1937 dauern, ehe eine umfassende und eindeutige gesetzliche „Verordnung über das Halten von Räumen zur Einstellung von Kraftfahrzeugen“ erlassen wurde.

Die Namensgebung der Garagen folgte einem ähnlichen Muster wie bei den Kinos: Am häufigsten bezogen sie sich auf ihre Lage im Stadtgebiet (Pratersterngarage, Elterleingarage, Servitengarage, Operngarage), bisweilen auch auf die Besitzer (Seidl-Garage, Garage Niesner, Garage Hajos). In einigen Fällen entstanden auch, dem damaligen Kundenkreis entsprechend, exklusive Bezeichnungen (Astoria-Garage, Elite-Garage). Hotels boten eigene Stellplätze an und warben damit: „Garage mit Boxes direkt im Hause“, hieß es etwa auf einer Reklamekarte des Hotel Bellevue.

Längst hatte auch die Tourismuswirtschaft die steigende Bedeutung des Garagierungsgewerbes erkannt. Immer mehr Fremde reisten mit dem Automobil an und suchten eine adäquate urbane Infrastruktur. Für Wien eine weniger quantitative als qualitative Herausforderung, wie man 1934 konstatierte. Galt es doch zu berücksichtigen, „dass der weitaus größte Teil der Autoreisenden aus Ländern kommt, deren Kraftwagenverkehr auf einer weitaus höheren Stufe steht als bei uns und die deshalb auch bedeutend höhere Ansprüche an Garage und Servicestation stellen“.

In Tageszeitungen und Fachzeitschriften intensivierten sich einschlägige Diskussionen. Immer öfter erschienen Berichte von sogenannten Hoch- und Turmgaragen, die nach amerikanischem Vorbild nun in Europa entstanden: in Berlin (für insgesamt 300 Kraftfahrzeuge) oder in Leipzig, Halle oder Chemnitz. Vor allem in den dichtverbauten Zentren der Großstädte schien der Weg in die Höhe der einzig mögliche. „Wien amerikanisiert sich, langsam zwar, aber doch“, hieß es in der österreichischen Hauptstadt. Man konnte von „Wolkenkratzer-Garagen“ lesen und von Überlegungen für eine neue Großgarage.

Es war Cesar Karrer selbst, der seine Astoria nach eigenen Plänen und jenen von Franz Mörtinger jun. umbauen ließ. Eine Turmgarage mit sechs Etagen, einer wendelförmigen Rampenauffahrt und einer mittigen großen Glaskuppel entstand. Mit rund 400 Stellplätzen die größte Garage Wiens und Österreichs und auch europaweit damals eine der größten ihrer Art. Die Ausstattung entsprach dem technischen Stand der Zeit: Reparaturwerkstätte, Tankstelle, Waschanlage, Aufzug für die Autobesitzer. Von der Straße aus bequem erreichbar, wie die „Kleine Volkszeitung“ im Juni 1939 berichtete: „Ja, es ist in der Tat so, dass das in die Garage einfahrende Auto einfach von der Straße weg in eines der Stockwerke dirigiert wird. Ueber schön angelegte Serpentinen fahren die Autos hoch und stellen sich im ersten Stock genau so in Reih und Glied auf wie im letzten Stock.“ Euphorisch sprach man von einem „Hochhaus für die Kraftfahrzeuge“ und „einer Stadt der Autos für sich“. Nach dem Zweiten Weltkrieg, mit Wiederaufbau und Wirtschaftsaufschwung, begann auch in Wien das Zeitalter der Massenmotorisierung. Allein zwischen 1950 und 1970 erhöhte sich die Anzahl der Kraftfahrzeuge von rund 60.000 auf beachtliche 415.000. Das Leitbild der autogerechten Stadt begann sich zu etablieren, die Nachfrage nach verfügbarem Parkraum verschärfte sich. 1957 wurde ein neues Wiener Garagengesetz erlassen, wenngleich das Abstellen des privaten Fahrzeugs im öffentlichen Raum längst Usus war und entscheidend dazu beitrug, dass die Straße zum monofunktionalen Verkehrsraum mutierte.

Hostessen auf Rollschuhen

Der Garagennot wurde zunächst mit bewährten Konzepten begegnet. Am Neuen Markt entstand nach Plänen von Karl Schwanzer eine spektakuläre Hochgarage mit vier Autoaufzügen, sodass die Wagenlenker sich nicht über Rampen emporzuwinden brauchten. Immer öfter ging man nun, vor allem in der Innenstadt, in die Tiefe. So wurde im September 1962 die Votivpark-Garage mit 600 Stellplätzen eröffnet, ein für Wien völlig neuartiger multifunktionaler Autoabstellplatz. Hostessen in weinroten Uniformen wiesen die Parkenden auf Rollschuhen ein. Neben obligater Tankstelle, Waschanlage und Reparaturwerkstätte gab es einen Drive-in-Schalter für Bankgeschäfte, ein Büro für Theaterkarten und ein Restaurant, in dem man bei Opernmusik dinieren konnte. Später in eine Bar umgebaut, avancierte das unterirdische Lokal zum Treffpunkt der damaligen Prominenz, von Peter Alexander und Senta Berger bis zu Peter Rapp und Fritz Muliar.

Zwei Jahr später eröffnete Am Hof eine weitere Tiefgarage mit 500 Stellplätzen, zahlreiche weitere folgten. Auch ökonomisch wurde das Garagenwesen auf neue Beine gestellt. Die kommunale Wipark, 1960 gegründet, entwickelte sich zum führenden Garagenbetreiber der Stadt. In ihrer Obhut befinden sich heute rund 25.000 Stellplätze. Nicht wenige davon im ersten Bezirk, der mit seinem hohen Anteil an Tiefgaragen einlädt, über eine Zukunftsvision nachzudenken: die Utopie nämlich, dass parkende Autos weitgehend von der Oberfläche verschwinden und – endlich – wieder Platz für Menschen machen. Städtebaulich, sozial und ökologisch eigentlich die einzig sinnvolle Lösung für das so raumdominante Verkehrsmittel Auto.

Voraussetzung dafür wäre zu erkennen, wie sich unser Verhältnis zum Automobil historisch entwickelte, es sich verfestigte und vielleicht wieder lockern ließe. Ein Besuch der heute noch bestehenden, denkmalgeschützten Astoria-Garage könnte zur Bewusstseinsbildung beitragen; oder ein Blick in die Votivpark-Garage, in der das renommierte Künstlerduo Krüger & Pardeller vor einiger Zeit eine spannende Inszenierung zur Geschichte des urbanen Parkens realisierte. Ansicht empfehlenswert, mit oder ohne Auto!

Spectrum, Di., 2020.10.27

22. September 2019Peter Payer
Spectrum

Das Ende einer Wiener Stadtikone

Vom Skandalprojekt zum Wahrzeichen einer Stadtepoche: das Rinterzelt – über Anfang und Ende einer Wiener Institution.

Vom Skandalprojekt zum Wahrzeichen einer Stadtepoche: das Rinterzelt – über Anfang und Ende einer Wiener Institution.

Es ist Geschichte, Stadtgeschichte. Das sogenannte Rinterzelt – weithin sichtbare Landmark in Wien-Donaustadt, einst viel kritisiert, aber auch bewundert – wird seit einigen Monaten abgebrochen und in Bälde durch eine Neuanlage ersetzt. Der ehemalige Prestigebau der Wiener Müllverwertung ist nicht mehr zeitgemäß. Er weicht einem Abfallkompetenzzentrum, betrieben in Kooperation von Magistratsabteilung 48 und Wien Kanal.

Die vertraute Zeltform verschwindet allerdings nicht ganz, bleibt zumindest als Silhouette im Erscheinungsbild des Neubaus erhalten. Zu sehr ist sie mit dem Standort verknüpft, als dass man sie so leichtfertig aufgeben könnte. Doch wie konnte ein derart ungewöhnliches Gebäude sich so tief im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung verankern? Die Antwort darauf geht wohl weiter zurück, als zunächst gedacht.

Wiens Städtebau stand ab den 1960er-Jahren im Zeichen der Stadterweiterung. Vor allem die Bezirke jenseits der Donau mit ihren großen Flächenreserven wurden zunehmend verkehrsmäßig erschlossen und mit Industrie- und Wohnbauten verdichtet. Unter dem Motto „Wien wird wieder Weltstadt“ versuchte man bewusst an die sozialen und infrastrukturellen Leistungen des Roten Wien der Zwischenkriegszeit anzuknüpfen, wozu nicht zuletzt eine an internationalen Maßstäben orientierte Abfallwirtschaft gehörte. Die Aufmerksamkeit der Stadtplaner richtete sich besonders auf die nordöstliche Peripherie, wo soeben der 22. Gemeindebezirk in seiner heutigen Gestalt gebildet worden war. Ein für die meisten Wiener noch relativ unbekanntes Terrain, selten aufgesucht, völlig untouristisch, stark landwirtschaftlich geprägt und mit der Mülldeponie am Rautenweg bereits mit einer wichtigen Entsorgungseinrichtung ausgestattet.

Das ideale Umfeld, wie es schien, für eine moderne Abfallverwertungsanlage. Bauherr und Betreiber Johann Prutscher hatte die Idee an die Stadt Wien herangetragen und dafür von Beginn an eine unkonventionelle Bauform gesucht, die sich von den übrigen Gebäuden des Industrieansiedlungsgebiets abheben sollte. Zur Realisierung seiner Vision gewann er den österreichischen Architekten Lukas Matthias Lang, der sich schon seit Längerem für jene überdimensionalen Zeltbauten begeisterte, die Frei Otto in Deutschland realisiert hatte. Als das Rinterzelt dann im Dezember 1981 mit seiner weltweit einzigartigen Holzdachkonstruktion (Entwurf und Statik: Julius Natterer) eröffnet wurde, war es nicht nur in Architektenkreisen eine Sensation. Ein beeindruckend großzügiger Raum war entstanden, 68 Meter hoch und mit einem Innendurchmesser von 175 Metern, bis auf einen Pfeiler in der Mitte frei von Stützen, beinahe weihevoll und bei richtigem Sonnenlicht mit der Atmosphäre einer Kathedrale. Eine ästhetische und statische Meisterleistung, die denn auch 1984 mit dem Österreichischen Holzbaupreis ausgezeichnet wurde.

Von Beginn an verstand die Rinter AG ihr Bauwerk als Signature Building. In einer frühen Werbebroschüre sprach man euphorisch von einem „neuen Wahrzeichen Wiens“ und einem „Industriebau als Gewinn für die Landschaft“. Die Zeltform avancierte zum einprägsamen Firmenlogo. Der Slogan dazu lautete: „Mit Abfall hört's auf – mit Abfall fängt's an. Rinter – ein Beitrag zur Lebensqualität.“ Der Firmenname selbst unterstrich den international ausgerichteten Ansatz: Rinter = R(ecycling) inter(national). Die Medien sollten später – wenngleich mit Ironie – vom „silbrig glänzenden Zelt am Donaustädter Stadtrand“ sprechen, welches das Stadtbild bereichert. Eine Stadtikone war entstanden, die von ihrer Form und Silhouette her an ein berühmt gewordenes Gebäude aus dem 19. Jahrhundert erinnerte: die 1873 zur Wiener Weltausstellung im Prater errichtete Rotunde. Der damals größte Kuppelbau der Welt avancierte zum international beachteten Monumentalbau. Mehr als 60 Jahre lang prägte die Rotunde das Bild der Donaumetropole, ehe sie 1937 ein Raub der Flammen wurde. Und wenngleich das Rinterzelt nur knapp 40 Jahre bestehen wird, erreichte es doch eine ähnliche identifikatorische Wirkung.

Intensive Diskurse in den zeitgenössischen Medien hatten beide Gebäude populär und über die Stadtgrenzen hinweg bekannt gemacht. Im Positiven wie im Negativen. Wobei man die emotionalen Bindungen an das jeweilige Bauwerk nicht zuletzt an den Kosenamen oder auch an den Schimpfwörtern ablesen kann, die dafür in Umlauf kamen. So sprach man einst von der Rotunde als „Blechhaufen“, „Guglhupf“ oder „Käseglocke“, während das Rinterzelt als „Vesuv von Kagran“, „Mistwigwam“ oder schlicht als „Mistkübel“ bezeichnet wurde. In gewissem Sinne war das Rinterzelt also eine Wiederbelebung der durch die Brandkatastrophe allzu rasch verschwundenen Rotunde, die ersehnte Kompensation eines Verlusts verbunden mit einer architektonischen Aufwertung des jenseits der Donau gelegenen Stadtgebiets.

Die geopolitischen Verhältnisse waren damals noch deutlich anders als heute: Wien um 1980 war geprägt von extremer Randlage, knapp am Eisernen Vorhang, der Europa politisch, wirtschaftlich und kulturell bis 1989 teilte. Es war eine schrumpfende Stadt (von 1970 bis 1980 war die Wiener Bevölkerung um 100.000 Personen auf rund 1,5 Millionen gesunken). Politisch dominierte die SPÖ, seit 1945 erneut an der Macht und mit absoluter Mehrheit regierend, die bürgerlich-liberale Opposition verspürte jedoch stetigen Aufschwung. Eine längst überfällige Modernisierung der Gesellschaft und des politischen Establishments war im Gange. Moderner Journalismus mit kritischen Medien abseits der Parteilinie begann den öffentlichen Diskurs zu bestimmen. So waren 1970 die Politmagazine „Profil“ und „Trend“ gegründet worden, 1977 die Stadtzeitung „Falter“, und auch die seit Jahrzehnten bestehende „Wochenpresse“ war 1982 zum politischen Magazin mutiert. Mehrere groß angelegte Betrugsfälle und politiknahe Missstände wurden aufgedeckt, allen voran der Aufsehen erregende Bauring-Skandal (1974) und der AKH-Skandal (1980). Bundespräsident Rudolf Kirchschläger sprach angesichts dieser Situation in seiner Rede zur Eröffnung der Welser Messe im August 1980 die später berühmt gewordenen Worte von der notwendigen „Trockenlegung der Sümpfe und sauren Wiesen“.

Die Amtszeit von Leopold Gratz, von 1973 bis 1984 Bürgermeister von Wien, stand im Zeichen dieser politischen Turbulenzen. So war die Befürchtung groß, dass sich auch das Rinterzelt, von seinen Dimensionen her angepriesen als „bedeutendstes Recycling-Projekt Europas“, in die Reihe der Skandalprojekte einreihen könnte. Denn die Aufdeckung von betrügerischen Vorgehensweisen bei der Finanzierung des Projekts sowie grundlegende technische und logistische Mängel sorgten von Beginn an für beträchtliche mediale Erregung. Wien hatte seinen „Müll-Skandal“. Letztlich musste die Anlage, deren Mülltrennung und -verwertung nie wirklich funktionierte, im Jahr 1983 Konkurs anmelden.

Unfreiwillig war das Rinterzelt zum „Star“ der damaligen Medien geworden. Es schmückte die Titelblätter von Tageszeitungen und Magazinen. Aufdeckerjournalisten wie Gerald Freihofner („Wochenpresse“), Alfred Worm („Profil“), Kurt Tozzer und Alfred Payrleitner (beide ORF) sezierten sämtliche Facetten des Prestigeprojekts, dessen vertragliche Grundlagen zwischen Stadt Wien und Rinter AG – wie man polemisch anmerkte – „zum Himmel stanken“ und demzufolge bald unzählige gerichtliche Verfahren nach sich zogen. Nach Schließung der Anlage und dem Verwerfen von – nicht immer ganz ernst gemeinten – Alternativprojekten folgte 1985 die sukzessive Übernahme des Rinterzelts durch die Stadt Wien. Technisch neu ausgestattet, sollte es als „Abfallbehandlungsanlage“ fortan von der Magistratsabteilung 48 betrieben werden. Der Volksmund sprach aber weiterhin vom Rinterzelt, zu sehr war das Gebäude bereits in den Sprachschatz der Wiener eingegangen. Umfragen hatten gezeigt: Trotz der Kalamitäten stand man dem Rinterzelt grundsätzlich positiv gegenüber. Und Experten betonten, dass die Müllverwertung durchaus Zukunft habe und der Einsatz von Steuergeld sich jedenfalls rentieren werde.

Wien hatte mittlerweile einen guten Ruf zu verteidigen. Österreichs Hauptstadt war im Begriff sich zu einer der saubersten Metropolen der Welt zu entwickeln. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit von neuen Strategien im Umgang mit dem Müll war stetig gewachsen. Bereits 1978 hatte man im Rathaus eine Expertenenquete „Wiener Müll“ abgehalten, 1984 wurde die Großkampagne „Wien stoppt die Müll-Lawine“ gestartet. In einem in den Kinos gezeigten Werbespot mahnte man apodiktisch: „Wollen wir unsere Umwelt lebenswert erhalten – müssen wir umdenken und handeln.“

Die kommunale Übernahme des Rinterzelts (endgültig 1999) und dessen Weiterentwicklung als innovatives Labor der Wiener Abfallwirtschaft bewirkte einen nachhaltigen Imagewandel. Durch strategisch kluge PR-Kampagnen gelang es, das Bauwerk – abseits seiner ökonomisch-technischen Bedeutung – als einzigartiges Objekt der Populär- und Alltagskultur zu positionieren, als High-Tech-Ort, der gleichermaßen lehrreich, spannend und unterhaltsam war. Den Startschuss dazu gaben das „Mistfest“ und der „Mistflohmarkt“, seit 1989 mit großem Erfolg und steigendem Publikumsinteresse abgehalten und bis heute (wenn auch an anderen Standorten) existent. Auch in Wiens Filmgeschichte ging das Rinterzelt ein: durch Fernsehdokumentationen, vor allem aber durch die Filmsatire „Müllomania“, entstanden 1988 als zweite Folge der gesellschaftskritischen „Arbeitersaga“ (Regie Dieter Berner, Drehbuch Peter Turrini), eine köstliche Parodie und Abrechnung mit dem damaligen Zeitgeist.

Es folgten zahlreiche Reportagen, die der schillernden, auch sinnlich beeindruckenden Aura des Rinterzelts nachgingen. So berichtete die Stadtzeitung „Falter“: „Kaum ist die Autotür offen, hat er mich schon. Und er wird mich noch den ganzen restlichen Tag begleiten, selbst nachdem ich längst wieder in der Stadt bin: der eigentümliche Geruch der Abfallbehandlungsanlage, im Volksmund ,Mistzelt‘, am Rautenweg. Süßlich riecht es, ein bisschen faulig, näher kann ich das Odeur nicht bestimmen, aber es ist unverkennbar für eine Nase, die es einmal verkosten durfte.“ Die eigenwillige Duftmarke als olfaktorisches Kennzeichen des Ortes tauchte als Stereotyp immer wieder auf. Und sie trug dazu bei, das Rinterzelt zu einem „Schattenort von Wien“ zu machen, wie dies der Autor und „Spectrum“-Redakteur Wolfgang Freitag formulierte. Der Nimbus des Absonderlichen, das nur allzu gerne übersehen wird, war und ist langlebig.

Mit all seinen realen und symbolischen Überhöhungen konnte sich das Rinterzelt – mehr als andere Bauten der technischen Infrastruktur – nachhaltig einschreiben in die jüngere Stadtgeschichte. Unmittelbarer Ausdruck dafür war auch seine geänderte topografische Lage: Einst an der Peripherie auf freiem Gelände entstanden, war es zuletzt zur Gänze von Bebauung umgeben und von der Stadt gleichsam inkorporiert. Es hat geleistet, was es konnte, und bleibt nunmehr als Ahnung zurück.

[ Peter Payer, geboren 1962 in Leobersdorf, Niederösterreich. Dr. phil. Mag. phil. Historiker und Stadtforscher. Kurator im Technischen Museum Wien. Bücher: zuletzt „Der Klang der Großstadt. Wien 1850– 1914“ (Böhlau Verlag, Wien). Arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt über den Wiener Feuilletonisten Ludwig Hirschfeld. ]

Spectrum, So., 2019.09.22

29. Dezember 2018Peter Payer
Spectrum

Schlagwort „Smart City“: Die Stadt von der Stange

Von Technologie getriebene Stadtvisionen sind keine Erfindung der Gegenwart. Schon vor 100 Jahren kannte man ihre Vorzüge – wie ihre Gefahren. Erinnerungen an die Zukunft.

Von Technologie getriebene Stadtvisionen sind keine Erfindung der Gegenwart. Schon vor 100 Jahren kannte man ihre Vorzüge – wie ihre Gefahren. Erinnerungen an die Zukunft.

Wohin entwickeln sich unsere Städte? Immer öfter stellen wir uns angesichts weltweit rasanter Urbanisierung diese Frage. Genauer gesagt: Wir sind gezwungen, sie uns zu stellen. Und immer öfter ist in den Antworten von „Smart City“ die Rede, als Synonym für die digitale Stadt der Zukunft, die vielfach vernetzt, intelligent gesteuert und so weit wie möglich berechen- und kontrollierbar ist. Wenngleich es mittlerweile vielfach Kritik an diesem allzu modisch gewordenen Begriff gibt, etablierte er sich doch als räumliches Leitbild für die gegenwärtigen, stark technologiebasierten Veränderungen und Innovationen im urbanen Raum.

Blicken wir zurück, stoßen wir auf ein ähnliches Label, das die Stadtvision des beginnenden 20. Jahrhunderts auf den Punkt brachte: „Die technische Stadt“ war spätestens nach dem Ersten Weltkrieg zu jenem Zukunftsbegriff geworden, der die damaligen urbanistischen Hoffnungen sinnreich zu bündeln schien. Weshalb der Begriff dann auch namensgebend für eine Großausstellung wurde, die vor 90 Jahren in Dresden ihre Pforten öffnete – und überaus einflussreich werden sollte.

Es war der Eindruck des enormen Städtewachstums, der Ende des 19. Jahrhunderts in Europa erstmals Forderungen nach einer Regulierung der bis dahin relativ ungehindert expandierenden Metropolen evozierte. Zwei Grundgedanken waren dabei bestimmend. Erstens die Vorstellung, es handle sich bei der Planung nicht um ein architektonisches, sondern um ein technisches Problem. Dementsprechend konzentrierten sich sämtliche Erweiterungs- und Regulierungspläne auf die technische Infrastruktur, insbesondere Verkehrswege und sanitäre respektive hygienische Einrichtungen. Der zweite zentrale Gedanke war die Vorstellung von Stadt als biologischem Organismus mit Systemen, die zusammenarbeiten müssen, um diesen gesund zu erhalten.

Umfassende technikbasierte Vernetzung der Stadt avancierte zu einem Kennzeichen der Moderne, mit weitreichenden sozialen und mentalen Folgen. Dass man für die Bereitstellung von Wasser und Licht, die Beseitigung von Müll und Abwasser, die Fortbewegung in immer weiter entfernte Stadtteile bis hin zur Kommunikation mit anderen Menschen in ein übergeordnetes technisches System eingebettet war, das all dies bereitstellte, wurde für immer größere Teile der Bevölkerung zur prägenden Alltagserfahrung. Jedes einzelne Gebäude fungierte als Knoten im urbanen Netzwerk, mit dem es durch Leitungen, Röhren und Drähte verbunden war. Und dass diese Infrastrukturen zumeist unsichtbar unter der Erde lagen, bestimmte – wie wir heute wissen – auf nachhaltige Weise modernes Wahrnehmungs- und Raumverhalten, soziale Praktiken und Codes, die letztlich von der Großstadt aus in weitere Teile der Gesellschaft diffundierten.

Auch die Zwischenkriegszeit war geprägt von den Debatten und Konflikten, die mit der Anlage einer derart umfassenden „Stadtmaschine“ einhergingen. Machtpolitische, ökonomische, gesundheitspolizeiliche und soziale Diskurse bestimmten weiterhin die europäische Stadtentwicklung, die mit ihren technischen Ausbauprogrammen an die Vorkriegsleistungen anzuknüpfen trachtete. Ein dabei wichtiges, auch international wahrgenommenes Zentrum stellte die deutsche Stadt Dresden dar, die sich mit einschlägigen Großveranstaltungen als Ausstellungsstadt positionierte.

„Autoanrufzelle für Kraftdroschken“

Der 1921 gegründete „Verein zur Veranstaltung der Jahresschau deutscher Arbeit“ hatte ein ambitioniertes Konzept entwickelt, das in den kommenden Jahren realisiert werden sollte. Oberstes Ziel war die Förderung von Industrie, Wissenschaft und Handwerk durch die Präsentation von Spitzenleistungen auf den unterschiedlichsten Gebieten des täglichen Lebens, wozu nicht zuletzt der städtische Alltag gehörte.

Die im Jahr 1928 abgehaltene siebente Jahresschau deutscher Arbeit folgte mit ihrem Titel, „Die technische Stadt“, dem urbanistischen Leitbild vergangener Jahrzehnte. Gezeigt wurden ingenieurtechnische Strategien zur Lösung virulenter Stadtprobleme, ergänzt um grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Mensch und Technik. Ausstellungsdirektor Carlwalter Straßhausen brachte den Sinn der groß angelegten Schau auf den Punkt: „Der Zweck dieser Ausstellung ist es, zu zeigen, wie heutigentags die Technik in das Leben der Menschen eingreift, wie sie ein Helfer dem wird, der sie richtig erfasst. In der Stadt spielt sich das Gemeinschaftsleben in den engsten Beziehungen ab, hier stellt das Arbeitstempo erhöhte Anforderungen, wollen die Stunden für Ruhe und Erholung voll ausgenutzt sein. Also kann die Bedeutung technischer Kenntnisse für den einzelnen Menschen am wirksamsten an dem Beispiel einer modernen Stadt Darstellung finden.“

Im Mittelpunkt standen die im Hauptgebäude gezeigten „Lebensquellen“ der Stadt, worunter man die Versorgung mit Gas, Wasser und der zunehmend an Bedeutung gewinnenden Elektrizität verstand. Ergänzend dazu präsentierte man Themen wie Heizung, Ernährung, Verkehr und Nachrichtenwesen, aber auch Hoch- und Tiefbau und neue technische Anwendungen bei Feuerwehr, Straßenreinigung oder Müllabfuhr. Die einzelnen Räume waren anschaulich und für die Besucher durchaus abwechslungsreich gestaltet. So konnte man zahlreiche Modelle bestaunen, dazu Pläne und technische Zeichnungen, Kanalprofile in Originalgröße, Straßenlampen, Verkehrszeichen und Signalanlagen, eine „Autoanrufzelle für Kraftdroschken“, Schnelltelegrafen oder eine Hochspannungsvorführung mit einer „Ein-Million-Volt-Anlage“. Musterbetriebe, darunter eine Bäckerei und eine moderne Zahnarztpraxis, demonstrierten live ihre elektrifizierten Arbeitsprozesse.

Neben der Hauptschau befanden sich auf dem Gelände noch zahlreiche weitere Attraktionen: das weltweit erste Kugelhaus, entworfen vom Münchner Architekten Peter Birkenholz; ein Stahlrahmenhaus, das veranschaulichte, wie ein Wohngebäude innerhalb kürzester Zeit mit genormten Fertigteilen errichtet werden konnte; sowie ein Pavillon, der einen modernen Rundfunkaufnahmeraum und ein Kino enthielt. Letzteres wurde zu einer der Geburtsstätten des Tonfilms in Deutschland. Am Eröffnungstag der Ausstellung fand hier vor begeistertem Publikum die Welturaufführung des „sprechenden Films System Breusing“ statt.

Begleitet wurde die siebente Jahresschau von einer intensiven Werbekampagne. Der Dresdner Grafiker Willy Petzold schuf das zentrale Plakatsujet zur Ausstellung. Es zeigt einen rötlichen, schräg gestellten stählernen I-Träger, in dessen großformatiger Schnittfläche die Insignien der modernen Stadt zu sehen sind: ein symbolträchtig verdichtetes Konglomerat aus geometrischen Baukörpern und daueraktiven Verkehrsräumen, ohne Menschen, im Mittelpunkt allein die rational durchorganisierte, technisch determinierte, ökonomisch dauerproduktive Großstadt.

Die Schau war ein gewaltiger Publikumserfolg. Von vielen europäischen Städten aus wurden Sonderfahrten nach Dresden organisiert. Insgesamt 1,8 Millionen Menschen besuchten „Die technische Stadt“. Umfassend war auch die Berichterstattung in den zeitgenössischen Medien. Architektur- und Bauzeitschriften zeigten sich beeindruckt von der „ausgezeichneten und tiefgründigen Ausstellung“, die „viel Sehenswertes“ zeige. Rückblickend waren auch die Organisatoren mehr als zufrieden. Dresden hatte sich erneut als führende Ausstellungsstadt positioniert.

Andere Städte intensivierten ihre Anstrengungen zur Sichtbarmachung der engen Verflechtung von Stadt und Technik. Zur (unbekannten) Hauptperson erkoren wurde dabei stets der Techniker. Das Bild des selbstlos agierenden Ingenieurs entstand, eines anonymen Helden, der unbemerkt und abseits der Öffentlichkeit seinen Beitrag für das reibungslose Funktionieren der Großstadt leistete. Ein Image, das in einschlägigen Fachpublikationen weiter vertieft wurde und letztlich bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg hinein wirksam sein sollte. Die ungebremste Fortschrittsgläubigkeit der Moderne, vereint mit dem anhaltenden Impetus zur aufklärerischen Vermittlung von Technik, verfestigte die Überzeugung, dass mit Hilfe der Technik sämtliche Probleme der Großstadt zu bewältigen seien.

Doch es gab, schon in der Zwischenkriegszeit, auch kritische Stimmen, insbesondere in bürgerlich-konservativen Kreisen. So wies der deutsche Theologe Paul Tillich, Lehrbeauftragter an der Technischen Hochschule in Dresden, auf die seiner Meinung nach grundlegende symbolische Bedeutung der technisierten Stadt hin. In einem Vortrag, den er zur Eröffnung der Ausstellung hielt, mahnte er, nicht zu vergessen, was die umfassende Technisierung für die Seelenlage der Menschen bedeute. Denn wenn es auch mit Hilfe der Technik gelungen sei, das Fremde und Drohende des Daseins zu überwinden, werde doch durch die Komplexität moderner Technik eine neue Unheimlichkeit hervorgerufen. Die ganze Erde entwickle sich, so Tillich, immer mehr zur „technischen Stadt“, zu einer zunehmend erstarrten und naturfremden Welt, die kaum beherrschbar erscheine.

Die „normalisierte“ Großstadt

Eine ähnliche, auf die voranschreitende Rationalisierung und Normierung der modernen Welt zielende Zivilisationskritik äußerte der Schriftsteller Alfred Döblin. Die rasanten Veränderungen seiner Heimatstadt Berlin vor Augen, postulierte er: „Es gibt heute nicht mehr Frankfurt oder München oder Berlin oder sogar Paris, London oder Rom. Es gibt heute nur die technische Stadt, die Großstadt. Sie hat eine örtlich verschieden gefärbte und temperierte Bevölkerung. Wie die Technik die Fassungen von Glühbirnen normalisiert, werden die Großstädte normalisiert.“

Und auch sein weit gereister Kollege Stefan Zweig, ein genauer Kenner vieler Großstädte, beklagte eine deutlich wahrnehmbare „Monotonisierung der Welt“: „Alles wird gleichförmiger in den äußeren Lebensformen, alles nivelliert sich auf ein einheitliches kulturelles Schema. Immer mehr scheinen die Länder gleichsam ineinandergeschoben, die Menschen nach einem Schema tätig und lebendig, immer mehr die Städte einander äußerlich ähnlich.“ Hintergrund dieser Analysen war die in Europa zunehmend heftiger geführte Amerikanisierungsdebatte.

Dessen ungeachtet, blieb die Frage der Technisierung der Stadt auch in den folgenden Jahrzehnten höchst aktuell. Dass gerade die technische Infrastruktur in besonderer Weise pfadabhängig ist, ist heute unter Stadtplanern und -historikern Common Sense, basiert doch der Ausbau jüngerer Leitungsnetze zu einem wesentlichen Teil auf der technischen Grundausstattung der Moderne. Und nicht selten werden dabei, so die Kritiker, sozialräumliche Ungleichheiten der Vergangenheit für die Zukunft fortgeschrieben. Der Boden als knappe und wertvollste Ressource einer Stadt wird mittlerweile zu einem entscheidenden Teil von Einrichtungen der Technik und des Verkehrs beansprucht. Als „Gedächtnis der Stadt“ kommt ihm – real wie symbolisch – auch künftig eine zentrale Bedeutung zu.

Spectrum, Sa., 2018.12.29

14. März 2018Peter Payer
Spectrum

Die Geschichte des Aufzugs: Immer wieder rauf und runter

Von der Wohltat, sich das Stiegensteigen zu ersparen, zur Erfindung des Penthouse. Der Aufzug: über die Geschichte der vertikalen Urbanisierung – und wie sie das Gefüge unserer Städte veränderte.

Von der Wohltat, sich das Stiegensteigen zu ersparen, zur Erfindung des Penthouse. Der Aufzug: über die Geschichte der vertikalen Urbanisierung – und wie sie das Gefüge unserer Städte veränderte.

Ein jeder von uns hat seine ganz speziellen. Wir begegnen ihnen regelmäßig, oft mehrmals am Tag. Sie sind vertraute Begleiter durch unseren Alltag, jahre-, oft jahrzehntelang. Der gewohnte Blick zur Aufzugstür, der Eintritt in die Kabine, das Betätigen der Tasten, das Geräusch beim Türenschließen und Fahren, all dies sind uns zutiefst verinnerlichte Handlungen und Wahrnehmungen.

Aufzüge sind zu unentbehrlichen Verkehrsmitteln der Stadt geworden, ein symbolträchtiges Abbild derselben, immer in Bewegung, ein ständiges Auf und Ab. Mehr als 13 Millionen Fahrstühle sind derzeit weltweit unterwegs. Und wie sonst kein anderes Fahrzeug ist dieses ohne große Vorkenntnisse zu benützen, ohne Bewilligungen oder gar „Führerschein“. Doch das ist keine Selbstverständlichkeit, wie ein Blick in die Geschichte der vertikalen Urbanisierung zeigt. Wobei nicht immer gleich an die bisweilen mythenverklärten Wolkenkratzer US-amerikanischer Metropolen zu denken ist. Auch in einer mitteleuropäischen Stadt wie Wien wurde die sukzessive Implementierung des Personenlifts zu einem wichtigen Entwicklungsfaktor – mit weitreichenden baulichen, sozialen und mentalen Auswirkungen.

Wiens erster moderner Personenaufzug entstand mitten in der Stadt. Im Jahr 1869 ließ Baron Johann von Liebig eine neuartige Hebemaschine in sein Palais, Wipplingerstraße 2, einbauen. Die Kabine konnte zwei Fahrgäste aufnehmen, der Antrieb erfolgte hydraulisch. Konstrukteur war der junge Ingenieur Anton Freissler, der derartige Aufzüge in Paris kennengelernt hatte.

War dies noch eine rein private und weitgehend unbemerkt gebliebene Initiative gewesen, so folgte kurz danach der erste öffentlichkeitswirksame „Auftritt“ eines Personenaufzugs. Das mondäne Grand Hotel eröffnete im Mai 1870 am Kärntner Ring seine Pforten. Beachtliche 200 Zimmer wies es auf, ausgestattet war es mit modernster Technik. Dazu gehörten neben Sprachrohr und Telegraf auch ein Personenaufzug, dessen Betrieb sogleich Furore machte. Die Zeitungen berichteten begeistert von der neuen Einrichtung, die sich besonders für alle „Feinde des Treppensteigens“ anböte. Es war ein völlig neuartiges Fahrgefühl, das die Gäste erwartete, so die „Neue Freie Presse“: „Durch Anziehen einer Schnur kommt der Apparat in Bewegung. Sanft und rasch, wie von Geisterhänden gehoben, steigt der kleine Salon, welcher sechs Personen zu fassen vermag, empor. In 55 Sekunden ist selbst der vierte Stock des Hotels erreicht, wieder ein Zug an der Leine, und der Apparat steht still.“

Nicht zufällig war es der damals auch in anderen Städten Europas expandierende Typus des Grand Hotels, der hier neue Maßstäbe bei der Haustechnik setzte und sich als Schrittmacher eines urbanen Modernisierungsschubs erwies. Innovative Hotelbetreiber versuchten ihren Gästen das Maximum an Großzügigkeit und Komfort zu bieten, Luxus durch modernste Technik, hieß ihr Motto. Und dabei war es insbesondere der Lift, der zum technischen Aushängeschild dieser Premiumklasse avancierte.

Luxushotels und Weltausstellung

Zahlreiche andere Wiener Luxusetablissements folgten in den nächsten Jahren diesem Beispiel, vom Hotel Métropole und Hotel Imperial bis hin zum Hotel Sacher und Hotel Bristol. Voll Stolz hieß es in ihren Werbeinseraten „Aufzug in alle Stockwerke“. Ein weiterer entscheidender Schritt zur Popularisierung der neuen Beförderungstechnik erfolgte im Zuge der Wiener Weltausstellung des Jahres 1873. Im Inneren der damals neu errichteten Rotunde befanden sich gleich zwei ebenfalls hydraulisch betriebene Aufzüge. Sie führten auf die rundum laufende Galerie, von wo die Besucher zu Fuß nach außen auf das Dach gelangen konnten und über Steigleitern zur Laterne direkt unter der Kuppel. Hier winkte als Höhepunkt ein beeindruckender Blick auf die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt. Insgesamt mehr als 130.000 Menschen wagten sich, gegen Entgelt, auf die beiden Hebevorrichtungen, die sich damit als besonders begehrte Attraktion erwiesen.

Und Großausstellungen sollten auch weiterhin eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Fahrstuhls spielen. Denn zehn Jahre später wurde auf der „Internationalen Elektrischen Ausstellung“, ebenfalls in der Rotunde, Wiens erster elektrisch betriebener Aufzug feierlich – vor den Augen von Kronprinz Rudolf – in Betrieb genommen. Im Jahr 1898 schließlich, anlässlich der Jubiläumsausstellung für Kaiser Franz Joseph, errichtete man eine 30 Meter hohe Aussichtswarte, auf die ebenfalls ein moderner, elektrisch betriebener Aufzug führte. Auch diesmal lockten die prächtige Aussicht von der Spitze des Turmes und die Neuartigkeit des Fahrerlebnisses unzählige Neugierige an. Bis sich der elektrische Aufzug nennenswert verbreitete, sollte es allerdings noch einige Zeit dauern. Erst eine ausreichende Stromversorgung und die Kombination mit der ebenfalls neu entwickelten Treibscheibe sorgten für den Durchbruch – und natürlich die immer höher werdenden Gebäude der Stadt.

Denn die Anzahl der Gebäude hatte sich in Wien seit Ende des 19. Jahrhunderts rasant vermehrt, zahlreiche mehrgeschoßige Neubauten wurden errichtet, Altbauten so weit wie möglich aufgestockt. Die Bauordnung und ein vom Gemeinderat verabschiedeter Bauzonenplan legten erstmals gestaffelte Gebäudehöhen für das gesamte Stadtgebiet fest. Diese reichten vom innerstädtischen Bereich mit maximal fünf Geschoßen bis zur Peripherie mit drei Geschoßen, wobei – als Wiener Besonderheit – das Parterre zusätzlich unterteilt werden konnte, was die Geschoßanzahl de facto nochmals erhöhte.

Aufschwung durch Elektrizität

Voraussetzung für diese vertikale Expansion war die leichte Erreichbarkeit der einzelnen Stockwerke und somit eine deutliche Vermehrung der Aufzugsanlagen. Hatte man 1885 festgestellt, dass der Personenaufzug in Wien „noch immer eine sehr bescheidene Rolle spielt“, so zeigte sich mit dem Aufkommen des elektrischen Antriebs ein nachhaltiger Aufschwung. Ein 1889 erlassenes Aufzugsgesetz regelte Herstellung und Betrieb der Fahrstühle. Da der elektrische Antrieb bedeutend billiger als der hydraulische war, setzten sich die Aufzüge zur Jahrhundertwende auch im Wohnhausbau endgültig durch. Ab dem Jahr 1900 finden sich erstmals statistische Erhebungen. So gab es Ende dieses Jahres insgesamt 412 Personenaufzüge in Wien, pro Jahr kamen in der Folge rund 80 Neuanlagen hinzu, später steigerte sich die jährliche Zuwachsrate auf mehr als 100, zuletzt sogar über 300 Anlagen pro Jahr. Ende des Jahres 1913 zählte man bereits 2586 Personenaufzüge in der Stadt.

Ein Zeitgenosse proklamierte euphorisch: „Lift, Ascenseur, Aufzug, Fahrstuhl – das aufwärtsstrebende Vehikel, das uns mühelos in die vierten und fünften Stockwerke bringt, hat sich bei uns in Wien bereits in allen Sprachen eingebürgert und auch in allen Systemen: Man fährt bald hydraulisch, bald elektrisch, zuweilen combinirt. Ueberall jedoch empfindet man die Wohltat der wohl nicht mehr neuesten, so doch immer neueren Einrichtung, deren ,Entdecker‘ zu den Wohltätern der Menschheit gezählt werden sollte und indirect auch zu den Wohltätern der vier- und fünffach verstockten Hausherren. Denn wenn schon seit mehreren Jahren eine Wohnung der obersten Regionen sehr oft unter dem üblichen Preise vermiethet werden mußte, gilt dieselbe in den Häusern ,mit Lift‘ als vollkommen standesgemäß und ist sogar wegen der reineren Luft gesucht.“

Die Lobpreisung bringt eine der wesentlichen sozialen Folgen des Lifteinbaus zum Ausdruck: Die oberen Geschoße, einst oft nur mühsam durch eine enge Dienstbotentreppe zu erreichen, verloren ihre benachteiligte Stellung, während die im ersten Stock angesiedelte „Beletage“ ihren von Aristokratie und Großbürgertum bevorzugten Rang einbüßte. Der Aufzug egalisierte die Geschoße und änderte damit die soziale Stratigrafie des Gebäudes. Sämtliche Stockwerke waren nun technisch gleichwertig ausgestattet und somit bequem erreichbar. Bald ergab sich ein neues Ranking, denn aufgrund ihrer besseren Licht- und Luftverhältnisse und auch des Ausblicks wegen wurden die obersten Geschoße sozial besonders aufgewertet. In sie zogen nunmehr die begüterten Schichten, das „Penthouse“ entstand. Die Benützung und der Betrieb eines Fahrstuhls erfolgten im Wesentlichen entlang zweier Kriterien: Sicherheit und Bequemlichkeit. Insbesondere der Schutz vor Unfällen oder gar Abstürzen stand bei allen beteiligten Personen und Institutionen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Behörden, Techniker, Architekten, Hauseigentümer und -bewohner waren angehalten, den richtigen Umgang mit dem neuen Fahrzeug zu finden, ein Lernprozess, der mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen sollte.
Der Aufzugswärter als zentrale Figur

Schon beim Einbau des Aufzugs waren ganz zentral Aspekte der Feuersicherheit zu beachten, ebenso die obligatorische Anbringung einer Fangvorrichtung und eine ausreichende Sicherung des umgebenden Treppenhauses. Die Ingangsetzung und Abstellung des Aufzugs besorgte eine eigens dazu befugte Person: der Aufzugswärter, der in den Wohnhäusern vom Hausmeister, in den Hotels vom Liftboy gestellt wurde – somit eine zentrale Figur, die erst mit der Verbreitung der elektrischen Druckknopfsteuerung überflüssig wurde.

Doch trotz der umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen kamen immer wieder Unfälle vor, bei den Passagieren blieb stets ein Rest an Unbehagen. Dies lag nicht zuletzt an den zunächst noch ungewissen psychischen und physischen Folgen der Liftbenützung. Immer wieder war in den Zeitungen von einer „Aufzugskrankheit“ die Rede, die der Seekrankheit ähnlich sei.

Die Ausstattung der Kabine war orientiert am Einrichtungsgeschmack des (groß)bürgerlichen Zimmers, was in seiner Maximalvariante bedeutete: weicher Teppich, gepolstertes Sofa oder zumindest lederbezogene Sitzbank, getäfelte Wände, Griffe und Beschläge aus Messing, formschöner Beleuchtungskörper, geschliffener Spiegel, geätzte Glasscheiben. Die verwendeten Materialen sollten Ruhe und Gediegenheit ausstrahlen. Ein kleiner Salon im Treppenhaus.

Der Insasse verlor seine Souveränität

Doch egal, welche Stilrichtung man bevorzugte, ob elegant oder einfach, für den Fahrgast war der Aufenthalt im Inneren der Kabine in jedem Fall eine besondere Erfahrung. Sobald der Lift sich in Bewegung setzte, wurde über den Insassen verfügt, verlor er seine Souveränität. Der Raum war eng und unausweichlich, und es gab keine Kontrolle darüber, wer sich noch darin befand oder eventuell zustieg. Einer, der sich in diesem künstlichen Transitraum nur schwer zurechtfand, war der Schriftsteller Peter Altenberg. Die soziale Spannung in der Kabine schien ihm unerträglich: „Grässlich ist es, mit einem fremden Menschen hinaufzufahren. Man glaubt die Verpflichtung zu haben, ein Gespräch zu entrieren, und überlegt es sich krampfhaft von einem Stockwerke zum anderen. Es ist eine verlegene Spannung wie bei der Maturitätsprüfung.“

Heute gibt es rund 44.000 Personenaufzüge in Wien, pro Jahr kommen etwa 1000 neue Anlagen hinzu. Die Dienstbarmachung der Vertikalen wird zweifellos auch die künftige Stadtentwicklung in hohem Maß begleiten.

Spectrum, Mi., 2018.03.14

27. Januar 2018Peter Payer
Die Presse

Es werde . . . LED!

Neu entwickelte Außenleuchten ermöglichen es, das Licht weitaus besser gerichtet einzusetzen als herkömmliche Leuchtkörper. Die nächtliche Wahrnehmung von Straßen und Plätzen wird sich damit allerdings ändern. Und das ist erst der Anfang. Zur urbanen Lichtzukunft.

Neu entwickelte Außenleuchten ermöglichen es, das Licht weitaus besser gerichtet einzusetzen als herkömmliche Leuchtkörper. Die nächtliche Wahrnehmung von Straßen und Plätzen wird sich damit allerdings ändern. Und das ist erst der Anfang. Zur urbanen Lichtzukunft.

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01. Juli 2017Peter Payer
Spectrum

Die Stadt und das Neue

Die Stadt als Labor der Zukunft: über das Aufeinanderprallen von Geplantem und Zufälligem, Vertrautem und Fremdem, Ordnung und Chaos – und was all das mit unserer Innovationskraft verbindet.

Die Stadt als Labor der Zukunft: über das Aufeinanderprallen von Geplantem und Zufälligem, Vertrautem und Fremdem, Ordnung und Chaos – und was all das mit unserer Innovationskraft verbindet.

In der satirischen deutschen Wochenzeitschrift „Simplicissimus“ erschien im Dezember 1926 eine Karikatur, die uns aus heutiger Sicht mehr als verblüfft: Sie zeigt Menschen in Berlin, die auf der Straße dahineilen und ein mobiles Telefon bei sich tragen. Ein Mann spricht im Gehen hinein, kurz und gehetzt, und auch das Gesagte ist verblüffend nah am Heute: Standortbestimmung und Versicherung, dassman bereits unterwegs sei.

Der deutsche Stadtforscher Rolf Lindner, der diese Technikutopie in seinem vor Kurzem erschienenen Buch „Berlin. Absolute Stadt“ (Kulturverlag Kadmos, Berlin) abbildet, nimmt sie als beredtes Zeugnis dafür, wie in den modernen Metropolen bereits früh Innovationen entstehen oder auch nur imaginiert werden und aus welch dynamischem Umfeld sie entspringen. Denn Berlin ist für Lindner die Großstadt der Moderne schlechthin, im steten Wandel begriffen, geprägt von der rasanten Zirkulation von Menschen, Waren und Ideen.

Insbesondere die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zeichneten sich durch einen Hang zur „bedingungslosen Modernität“ aus – mit weitreichenden Folgewirkungen für das Verhältnis von Stadt und Mensch. Anschaulich zeigt Lindner, wie die Stadt als „Menschenwerkstatt“ (Heinrich Mann) fungiert, sie das Wahrnehmen, Denken und Handeln ihrer Bewohner bestimmt und verändert. Und wie ihrerseits die Bewohner neue soziale, kulturelle oder technische Erscheinungsformen generieren: von neuen Verkehrsorganisationen (der Potsdamer Platz, mit der ersten Ampelanlage, galt in den 1920er-Jahren als verkehrsreichster Platz Europas), der Entwicklung der Großstadtpresse (mit fast 150 Tageszeitungen war Berlin die damals weltweit größte Zeitungsmetropole) über neue Formen der Reklame und der Unterhaltungsindustrie bis hin zur grassierenden „Telefonwut“, der die oben erwähnte Karikatur entsprang (1925 gab es in Berlin bereits eine halbe Million Fernsprechanschlüsse, so viel wie in keiner anderen Stadt der Welt).

Verallgemeinernd ergibt sich daraus die Frage: Ist die Stadt generell ein guter Nährboden für die Entwicklung neuer Ideen? Zeichnet sie sich gar, unter dem Druck der permanenten Veränderung, durch ein besonders kreatives und innovatives Milieu aus? Zunächst scheint klar: Als Knoten im Netzwerk mächtiger Globalisierungsströme werden Städte in Zukunft eine immer wichtigere Funktion einnehmen, wichtiger, so prognostizieren manche, als Nationen. Ihre große Anpassungsfähigkeit und materielle Dauerhaftigkeit machen Städte in sozialer und ökonomischer Hinsicht zu zentralen Playern bei der globalen Zirkulation von Menschen, Gütern und Dienstleistungen. All dies bei wachsender Konkurrenz untereinander.

So sind Städte in verstärktem Maße gezwungen, sich mit Fragen von Identität und Kultur, Ressourceneinsatz und Ökologie, Wertschöpfung und Innovation auseinanderzusetzen. Wir wissen nur zu genau: Städte machen Probleme – weltweit verbrauchensie 70 Prozent der Energie und verursachen 75 Prozent aller Kohlendioxidemissionen. Dennoch tragen sie auch zur Lösung von Problemen bei. Ihr Innovationspotenzial wird seit Längerem in speziellen Rankings veröffentlicht. Laut „Innovation Cities Global Index“ des Jahres 2015 werden die ersten drei Plätze übrigens von London, San Francisco/San Jose und Wien eingenommen.

Verschiedenartigkeit als Impuls

Welche Zusammenhänge zwischen Stadtund Innovation genau bestehen, dem geht die historische Forschung seit den 1990er-Jahren verstärkt nach. So wies der deutsche Kulturhistoriker Clemens Zimmermann bei seiner Analyse des im 19. Jahrhundert entstandenen Typus der europäischen Metropole darauf hin, dass diese in besonderem Maße als „Experimentierfeld und Maßstab für Neues“ fungierte, wie er an den BeispielenManchester, St. Petersburg, München und Barcelona veranschaulichte. Eine entscheidende Rolle spielte dabei jeweils, so Zimmermann, die Differenz, also die Verschiedenartigkeit der Lebensmilieus, die sich als besonders produktiv für die Generierung von Urbanität und Innovation erweist. Die herausragende Bedeutung der Stadt als Zentrum von Kreativität und Innovation betont auch der britische Stadthistoriker Peter Clark, wobei auch er die europäische Entwicklung ins Zentrum seiner Urbanisierungsgeschichte stellt. Auch die prominente Stellung der Stadt Wien, als Beispiel für eine besonders kreative Metropole mit enormer Ausstrahlungskraft in der Zeit um 1900, wurde von der Geschichtswissenschaft bereits vielfach unter den verschiedensten Gesichtspunkten thematisiert.

Wie und warum entwickeln sich neue Ideen in Gesellschaft, Kultur, Technik und Ökonomie ausgerechnet an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit? Lassen sich aus einem (weltweiten) Städtevergleich vielleicht allgemeingültige Innovationskriterien ableiten?

Eine Antwort versucht die deutsche Technikhistorikerin Martina Heßler, die als entscheidenden Impulsfaktor das Vorhandensein eines effizienten gemeinsamen Kommunikationsraumes hervorhebt. Ob dieszwangsläufig der real existierende Stadtraum sein muss oder ob dies angesichts der rasanten Entwicklung moderner Informationstechnologien auch virtuell-digitale Räume sein können, lässt sie offen.

Ähnlich argumentiert der renommierte Stadtsoziologe Walter Siebel, der zusammenfassend folgende Gründe für die Innovationskraft der Stadt benennt: Es sind vor allem dichte Kommunikationsbeziehungen und ein anregendes Umfeld (Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Unternehmen, Kulturinstitutionen sowie ein für Neues aufnahmebereites Publikum), die jenen Nährboden schaffen, auf dem Innovationen besonders gut gedeihen. Das Aufeinanderprallen von Geplantem und Nichtgeplantem, Vertrautem und Fremdem erweist sich als ideal für die Produktion neuer Ideen und – ganz wesentlich – auch für deren Umsetzung. Dass die Fülle des vorhandenen Wissens kreativ wird, verdankt sich einer labilen Balance zwischen homogenen und heterogenen Faktoren, zwischen lokalen und überregionalen Netzwerken. Anders ausgedrückt:Städte können in besonderer Weise von einem latenten Klima der Infragestellung und „Verunsicherung“ profitieren und dieses als Schlüssel zu Innovation nutzen, eingedenk der Worte Goethes: „Das Gleiche lässt uns in Ruhe, aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht.“

Dass die urbanen Rahmenbedingungen für Kreativität und Innovation – nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt ihrer Ökonomisierung – derzeit auf den verschiedensten Ebenen intensiv diskutiert werden, zeigt auch ein Begriff, der Konjunktur hat: das Labor.Ursprünglich in den Naturwissenschaften alsOrt des Experimentierens (aber auch des Scheiterns!) eingeführt, wurde der Begriff vondem Chicagoer Soziologen Robert E. Park in das Feld des Städtischen transferiert. In einem 1915 publizierten Aufsatz nennt er die Stadt ein „Labor, in dem die menschliche Natur und die gesellschaftlichen Prozesse am bequemsten und gewinnbringendsten studiert werden können“.

Die Sozial- und Kulturwissenschaften verwiesen in der Folge auf das produktive Milieu der Metropolen um 1900, die man in Anlehnung an Georg Simmels Großstadttheorie als „Labor der Moderne“ begriff. Davon ausgehend scheint die Labormetapher aber auch treffend ein generelles Charakteristikum der Stadt zu beschreiben, ihre vielschichtige Ambivalenz zwischen Ordnung und Unordnung, Disziplin und Chaos, Geplantem und Zufälligem – und in jedem Fall verbindet sich damit ein wichtiger Zukunftsaspekt. Nicht zufällig werden in zahlreichen Städten mittlerweile transdisziplinär besetzte „Urban Labs“ gegründet als Zentren mit hohem Analyse- und Kreativitätspotenzial.

Die Stadt als Labor der Zukunft zu begreifen heißt, sie auch als „work in progress“ zu verstehen, als etwas nie Abgeschlossenes, stets im (immer rascheren) Wandel Befindliches, mit einem – sich als durchaus innovativ erweisenden – Anteil an Unvorhersehbarem und Unplanbarem.

Diesem Ansatz diametral entgegen steht ein anderer populär gewordener Zukunftsbegriff, der genau in die Gegenrichtung weist: Smart City als Synonym für die vielfach vernetzte, intelligent gesteuerte und so weit wie möglich berechen- und kontrollierbare Stadt. Wenngleich es mittlerweile umfangreiche Kritik an dieser für manche allzu technologisch orientierten, zentralistisch ausgerichteten Idee gibt, hat sich der Begriff doch in vielen Fällen als räumliches Leitbild etabliert. Auch in Wien ist er beispielsweise in den aktuellen Stadtentwicklungsszenarien als Zukunftsvision verankert, wenngleich – wie betont wird – mit forciert sozialer Komponente.

Wien oder: Was ist eine Smart City?

Das Beratungsunternehmen Roland Berger hält in einer kürzlich veröffentlichten Studie fest, dass weltweit immer mehr Städte einen systematischen Ansatz in Richtung Smart City verfolgen. Insbesondere seit 2014 hat die Zahl diesbezüglicher Strategiepapiere deutlich zugenommen. Ein auf Basis dieser Publikationen unter 87 Großstädten errechneter Smart-City-Index sieht laut Berger Wien an erster Stelle, gefolgt von Chicago und Singapur. Längst ist mit diesen wie zahlreichen anderen Rankings der globale Wettbewerb um die smarteste Stadt eröffnet.

Doch welchen urbanen Zielbildern man im Einzelnen auch folgen mag, die zentrale Zukunftsfrage bleibt vor dem Hintergrund der in alle Lebensbereiche vordringenden Digitalisierung stets dieselbe: Wie können wir unsere Städte zu ökologischen, konfliktfreien, sozial gerechten Orten entwickeln – und sie dabei offen und beweglich halten?

Das 21. Jahrhundert konstituiert den Menschen endgültig als urbanes Wesen. Als solches steht es in enger Wechselbeziehung zur Umwelt, prägt diese und wird von ihr geprägt. Der immer rascher voranschreitenden „äußeren Urbanisierung“ entspricht auch eine „innere Urbanisierung“. Die allmähliche Herausbildung des „Urbanmenschen“ mit spezifischen Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Denkweisen wäre in diesem Sinne die wohl nachhaltigste städtische Innovation. Was dies im Einzelnen bedeuten mag, hat Rolf Lindner in seiner anthropologischen Analyse der Stadt gezeigt. Vielleicht werden ja – wie einst in Berlin – schnelles Reaktionsvermögen, rasche Auffassungsgabe und hohe Flexibilität bei größtmöglicher Gelassenheit die herausragenden Attribute des Menschen der Zukunft.

Spectrum, Sa., 2017.07.01

08. April 2017Peter Payer
Spectrum

Wie klingt die Stadt von morgen?

Quietschende Bremsen, dröhnende Motoren, Hupen – und dazwischen Musikberieselung: Das ist der akustische Status quo unserer Städte. Doch der wird nicht so bleiben, wie er ist. Über urbane Klangplanung, Vogelgesang auf Knopfdruck und eine Stadt, die wie Snoop Dogg tönt.

Quietschende Bremsen, dröhnende Motoren, Hupen – und dazwischen Musikberieselung: Das ist der akustische Status quo unserer Städte. Doch der wird nicht so bleiben, wie er ist. Über urbane Klangplanung, Vogelgesang auf Knopfdruck und eine Stadt, die wie Snoop Dogg tönt.

Wir alle wissen aus oft leidvoller Erfahrung: Die Stadt ist laut, ja ein bisweilen unzumutbar-chaotisches Hörerlebnis. Ihre spezifische Akustik beruht im Wesentlichen auf zweiFaktoren: der extremen baulichen Verdichtung des Stadtraumes und der enormen Vielzahl an Lautereignissen, die darin stattfinden. Zusammen mit den individuell und kollektiv geprägten Hörerfahrungen, die jede/r von uns mitbringt, bestimmt dies die akustische Wahrnehmung der Stadt. Klingt also jede Stadt anders? Oder gleichen sich, wie Kritiker mahnen, insbesondere Verkehrs-, Konsum- und Shoppingareale immer mehr an? Wie werden die Städte angesichts der sich auch im Akustischen bemerkbar machenden Globalisierung in Zukunft klingen? Ist die Hoffnung berechtigt, dass siein absehbarer Zeit leiser werden?

Schon seit einiger Zeit lässt sich ein intensivierter Diskurs über Fragen der akustischen Stadtentwicklung feststellen: Die EU verordnet die systematische Erfassung und Kartierung von Lärm; in zahlreichen wissenschaftlichen, künstlerischen und medialen Projekten wird dem Hören (in) der Stadt nachgeforscht; Urbanistik, Architektur und Stadtplanung widmen sich vermehrt Klängen und Geräuschen inklusive der Frage, wie diese in künftige urbane Gestaltungsprozesse zu integrieren sind; Universitäten lehren Grundprinzipien auditiver Architektur; einschlägige Tagungen und Symposien werden veranstaltet; der US-amerikanische Künstler Sven Anderson entwickelte 2014 gar ein eigenes „Handbuch für akustische Stadtgestaltung“. Ein merkbarer „Acoustic Turn“ hat das Feld des Urbanen erfasst. Wird nun das Hören dem in der westlichen Kultur seit Langem dominanten Sehen endlich – wie manche meinen – gleichberechtigt zur Seite gestellt? Zweifelsohne ist bei der sensorischen Bewusstseinsbildung einiges in Bewegung geraten.

Vorreiter hierzulande war Linz. Schon im Jahr 2009 entstand hier im Zuge der Ernennung zur Europäischen Kulturhauptstadt das Projekt „Hörstadt“ als Labor für Akustik, Raum und Gesellschaft. Vordringlichstes Ziel war es, eine erhöhte Sensibilität zu schaffen für die menschengerechte Gestaltung unserer akustischen Umwelt. Unter der Leitung des Musikers und Komponisten Peter Androsch wurden „Das akustische Manifest“ und ein Reiseführer durch die Welt des Hörens veröffentlicht, das Museum „Akustikon“ gegründet sowie breitenwirksame Maßnahmen gegen Zwangsbeschallung gesetzt. Der örtliche Gemeinderat verabschiedete die „Linzer Charta zur Stadtentwicklung und Stadtgestaltung in akustischem Sinne“. Darin wird der akustische Raum erstmals explizit als elementarer Bestandteil unseres Lebensraumes anerkannt und nicht zuletzt als politischer Raum definiert; Bau-, Verkehrs- und Raumentwicklungsprozesse werden ganz wesentlich auch als akustische Prozesse verstanden. Als zentrale Forderung wurde postuliert: „Jeder Mensch hat das Recht, bei dem, was in seine Ohren eindringt, demokratisch mitzubestimmen.“ Die „Hörstadt“ ist bis heute als Forschungs- und Beratungsstelle tätig und aufgrund ihrer umfassenden Herangehensweise mittlerweile bewährte Anlaufstelle für Architekten, Stadtplaner und alle an akustischen Gestaltungsfragen Interessierte.

Über die Entmonotonisierung

Den öffentlichen Raum nach modernen Erkenntnissen der Psychoakustik zu gestalten, anstatt ihn akustisch sich selbst zu überlassen, kennzeichnet eine vorausschauende urbane Klangplanung. Diese postuliert, dass städtische Geräuschkulissen nicht nur – wie oft angenommen – mit zu großer Lautstärke zu tun haben, sondern auf Differenzierung und Entmonotonisierung ausgerichtet sein sollten. Akustische Abwechslung, wechselnde Geräuschpegel und räumliche Zonierung können die Atmosphäre in der Stadt spürbar verbessern. Die Erfahrungen der Akustiker mit der Optimierung von Innenräumen werden auf den Außenbereich angewandt, von der Materialbeschaffenheit und der Ausbreitung des Schalls in unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Konfigurationen bis zur Berücksichtigung kultur- und sozialspezifischer Hörerwartungen.

Zwei österreichische Wegbereiter seien an dieser Stelle genannt: Klangkünstler Bernhard Leitner, der sowohl im Innen- wie auch im Außenbereich Räume mit Tönen gestaltete und auch als Lehrender im In- und Ausland tätig war; und Klangdesigner Sam Auinger, der erstmals Ende der 1980er akustische Interventionen im Stadtraum von Linz und Wien realisierte und seither auch in Deutschland und Amerika – teilweise ebenfalls als Lehrender – tätig ist. Die Klangbilder, die diese und mittlerweile zahlreiche weitere Soundexperten im öffentlichen Raum (mit)erzeugen, sind in den meisten Fällen temporär, also an Ausstellungen oder andere kulturelle Anlässe gebunden. Als solche werden sie dann auch intensiv – bisweilen kombiniert mit interaktiven Elementen – rezipiert. Im Fokus steht die Wahrnehmung einer neuen Lautsphäre als Kunstprojekt. Die permanente akustische Transformation eines urbanen Ortes und die bleibende Integration neuer Klänge, Geräusche und Töne in das Alltagsleben einer Stadt, stellt sich dagegen als weit schwieriger heraus. Langfristig gesicherte technische Wartung und Erneuerung oder – ganz allgemein – kontinuierliche Betreuung wären hier wichtige, allerdings nicht immer gegebene Rahmenbedingungen.

Ein Beispiel: 2012 wurde der Nauener Platz in Berlin-Mitte mit dem „European Soundscape Award“ ausgezeichnet. Der 5000 Quadratmeter große, an einer stark befahrenen Kreuzung gelegene Platz war von der TU Berlin unter der Leitung der Akustikexpertin Brigitte Schulte-Fortkamp gemeinsam mit Anrainern und einer Landschaftsarchitektin neu gestaltet worden. Beim Kinderspielplatz wurde eine Gabionenwand aufgestellt als Soundbarriere zur vorbeiführenden Straße, Hörinseln wurden geschaffen mit speziellen Bänken und Sitzringen, die auf Knopfdruck Vogel- oder Wassergeräusche abspielten. Heute, nach Jahren des Betriebs, zeigt sich, dass die akustische Neukodierung des Ortes nicht nachhaltig war. Mangelnde Betreuung ließ den Platz bald wieder akustisch „verwahrlosen“; die einst bahnbrechende Innovation ist mittlerweile völlig in den Hintergrund getreten.

Und in Wien? Während beispielsweise der akustischen Profilierung des Hernalser Dornerplatzes im Jahr 2001 keine lange Dauer beschieden war (die damals größte Soundskulptur Europas bestand aus 14 überdimensionalen Klangstelen, aus denen jeweils unterschiedliche internationale Radiosender ertönten), avanciert die seit 2003 bespielte Tonspurpassage im Museumsquartier, stringent kuratiert von Georg Weckwerth und Peter Szely, zum erfolgreichen, international rezipierten Klangkunstprojekt.

Als hörbar wirkungsvoll erweisen sich auch jüngere Ansätze in der Architektur, konkret bei der Fassadengestaltung von Gebäuden. Etwa beim 2007 eröffneten Kolumbamuseum in Köln, wo Peter Zumthor eine gelochte, schallabsorbierende Ziegelfassade realisierte; oder beim 2009 eröffneten Museum Brandhorst in München, das von Sauerbruch Hutton mit einer perforierten Metallfassade mit vorgesetzten Keramikstäben ausgestattet wurde. Derartige innovative, Schall lenkende und dämpfende Akustikfassaden werden bislang allerdings ausschließlich unter künstlerischen Aspekten gesehen. Als Teil renommierter Kulturbauten tragen sie zu einem progressiven Image bei. Eine größere Verbreitung dieser Gestaltungselemente ist, auch aus finanziellen Gründen, derzeit nicht absehbar, eine „akustische Wende“ in der Architektur, wie von manchen postuliert, wohl noch in weiterer Ferne.

Dennoch gibt es bereits Visionen, die in diese Richtung gehen und das Straßenbild der Städte mit schiefen und verschachtelten Fassaden imaginieren, anstelle von großflächigen und glatten Außenwänden. Die „Schiefstadt“, 2012 von Peter Androsch als Bild entwickelt, schlägt Kurven und schräge Flächen vor, die den Schall nicht permanent reflektieren, sondern entkommen lassen und so die Gesamtlärmbelastung senken. Ein Wissen, das bereits in der Renaissance umgesetzt wurde, sind doch in vielen norditalienischen Städten die Hauptdurchzugsstraßen in leichten Kurven angelegt.

Lärmschutzwände, die seit Langem mit vergleichbaren Mikrostrukturen arbeiten, werden im urbanen Kontext ebenfalls neu gedacht. So entwickelte die Firma Ceno Membrane Technology gemeinsam mit dem Fraunhofer Institut ein aufblasbares Membrankissen, das sich besonders für den temporären Lärmschutz, etwa an Baustellen, eignet. Es vereint mehrere Vorteile: schnellen Aufbau, geringes Gewicht, flexiblenEinsatz, mehrfache Verwendbarkeit. Mithilfe der im Inneren angebrachten Kunststofffasern wird eine Lärmreduktion bis zu 20 Dezibel (!) erreicht. In Wien kam die „Ceno-Wall“ erstmals bei der Errichtung des neuen Hauptbahnhofs zum Einsatz.

Veränderung durch Elektroautos

Die von Trendforschern am häufigsten genannte Veränderung in der Stadt von morgen ist die Zunahme an Elektroautos und die damit erhoffte Reduktion der Lärmkulisse. Denn nach wie vor sind es Verkehrsgeräusche, die zu den dominantesten Höreindrücken der Stadt gehören. Kraftfahrzeuge, deren ausgeklügelte Soundproduktion in den vergangenen Jahrzehnten sowohl von Produzenten- wie von Konsumentenseite größte Aufmerksamkeit erfuhr, traten im Gefolge der Digitalisierung in eine neue Klangära ein: Als Elektrofahrzeuge können sie erstmals mit jedem beliebigen Sound ausgestattet werden. Wie dieser konkret beschaffen sein soll, darüber gibt es derzeit intensive Debatten. Denn während die einen – nicht zuletzt aus Sicherheitsgründen – die gewohnten Geräusche eines Verbrennungsmotors bevorzugen, sehen andere die Chance für ein völlig neues akustisches Branding des Stadtverkehrs.

Derartige Fragen stellen sich vor allem bei einer Fahrgeschwindigkeit unter 30 Stundenkilometern (darüber ist das Rollgeräusch der Reifen dominant). Sind Elektroautos in diesem Bereich tendenziell unhörbar, treten Sicherheitsprobleme auf. In der EU müssen Elektroautos ab 2019 ein künstliches Motorengeräusch aufweisen. Das sogenannte AVAS (Acoustic Vehicle Alerting System) wird verpflichtend als Warnsignal eingeführt.

Wie all dies sich im Zusammenklang in den Straßen der Stadt auswirken wird, bleibt abzuwarten. Rein statistisch gesehen, werden wir nicht allzu schnell in diese neue Ära eintreten. In Österreich waren im vergangenen Jahr nur rund 2,5 Prozent aller Neuzulassungen Elektro- und Hybridfahrzeuge, Tendenz allerdings steigend. Den Ohren der Städter werden – in welche Richtung immer – jedenfalls weiterhin Anpassungs- und Gewöhnungsleistungen abverlangt werden. Sofern sie sich nicht für eine radikal individualistische Form der akustischen Stadtgestaltung entscheiden: der Generierung eines persönlichen Klangraums mit Hilfe von iPod oder Smartphone. So könnte die Stadt der Zukunft vielleicht auch nach Ludwig van Beethoven, Miles Davis oder Snoop Dogg klingen.

Spectrum, Sa., 2017.04.08

03. Dezember 2016Peter Payer
Spectrum

Wenn der Handlauf mitreist

Zunächst Kaufhausattraktion, heute „Nahfördermittel zur Bewältigung dauernd flutender Menschenströme“: eine kleine Kulturgeschichte der Rolltreppe.

Zunächst Kaufhausattraktion, heute „Nahfördermittel zur Bewältigung dauernd flutender Menschenströme“: eine kleine Kulturgeschichte der Rolltreppe.

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Stadt und Mobilität sind untrennbar miteinander verbunden, zahlreiche Verkehrsinnovationen nahmen von hier ihren Ausgang, permanente Bewegung gilt bis heute als Kennzeichen für Urbanität. Doch viel zu oft denken wir dabei nur an die Horizontale. Dass die Eroberung der Vertikalen mindestens genauso wichtig war und ist, wird gerne vergessen. Aufzug und Rolltreppe sind hier als wesentliche Erfindungen zu nennen, wobei Letzterer das Verdienst zukommt, die Menschenzirkulation nochmals deutlich gesteigert zu haben. Der Wegfall der Wartezeit erhöhte die Transportkapazitäten beträchtlich. Rolltreppenfahren – uns heute zutiefst vertraut – entwickelte sich vom anfangs städtischen Vergnügen zur städtischen Notwendigkeit, in Wien genauso wie in anderen Metropolen der Welt.

Als Vorläufer können jene stufenlosen Rollbänder gelten, die auf den Weltausstellungen von Chicago (1893) und Paris (1900) für Aufsehen sorgten. In Paris avancierte das 3,8 Kilometer lange „Trottoir Roulant“ zur viel beachteten Sensation. Der elektrisch betriebene „rollende Gehsteig“ erreichte eine Geschwindigkeit bis zu acht Kilometern pro Stunde. Allerdings noch ohne nennenswerte Steigungen zu überwinden. Dies geschah erst mit dem vom amerikanischen Konstrukteur Jesse W. Reno entwickelten stufenlosen Steigband („Inclined Elevator“), das erstmals 1903 auf Coney Island eingesetzt wurde. Die Bewältigung des Transports erfolgte hier analog zum Fließband der industriellen Massenproduktion. Andere Techniker, George A. Wheeler und Charles D. Seeberger, experimentierten mit beweglichen Treppenstufen. Ihre Patente erwarb die Firma Otis, entwickelte sie weiter und ging damit in Produktion. Erneut war es die Pariser Weltausstellung des Jahres 1900, bei der die erste moderne Rolltreppe unter der Bezeichnung „Escalator“ derÖffentlichkeit vorgestellt wurde.

Europa blieb zunächst relativ skeptisch gegenüber der mobilen Treppe, sei es mit oder ohne Stufen. Es überwogen die Sicherheitsbedenken, Konkurrenz zum direkt und geradlinig funktionierenden Aufzug sah man grundsätzlich keine. Rolltreppen wären bestenfalls eine Ergänzung zum Aufzug, aber keinesfalls ein Ersatz. Auch die allzugroße Nähe zum Förderband, Symbol eines ausschließlich ökonomisch fundierten Effizienzstrebens, war aus europäischer Sicht ein Makel der neuen Erfindung.

Die Maximierung der Transportleistung bestimmte den Einsatzort der ersten Rolltreppen: in Fabriken, Bahnhöfen und Warenhäusern. Gerade das moderne Warenhaus mit seinen großflächigen, übereinanderliegenden Verkaufsetagen war prädestiniert für die Anwendung der Rolltreppe, konnte man doch damit das gesamte Gebäude effizient mit Kunden durchfluten. Kaufhäuser in New York zeigten dies vor, in Europa standen die Pioniere in Paris (Grand Magasin du Louvre 1898, Bon Marché 1906), London (Harrods 1903), Leipzig (Confectionsgeschäft August Polich 1899) und Berlin (Wertheim 1901).

Wien reihte sich in den Reigen der frühen Anwender ein. Es war das im Oktober 1904 eröffnete „Modenhaus A. Gerngroß“, in dem man erstmals einen „rollenden Teppich“ bestaunen konnte. Das nach Plänen des Architektenduos Fellner und Helmer in der Mariahilfer Straße errichtete, mondänste und größte Kaufhaus der Monarchie setzte bei seiner Verkehrserschließung auf zwei pompöse Freitreppen, fünf luxuriöse Glasaufzüge und eben jene Rolltreppe, mit der man vom Parterre ins Mezzanin gelangen konnte. Die ausführlichen Medienberichte über die Eröffnung des „Prachtbaus“ erwähnten sie denn auch stets als besondere Novität.

Erbaut wurde der „rollende Teppich“ von derLeipziger Maschinenfabrik Unruh & Liebig, die bereits mehrere Geschäftshäuser, etwa das erwähnte Leipziger Kaufhaus Polich, ausgestattet hatte. Und wie reagierte die Wiener Bevölkerung auf die neue Einrichtung, die bis zu 3000 Personen pro Stunde befördern konnte? Noch Jahrzehnte später erinnerte man sich schmunzelnd an die zahlreichen Hoppalas, die der „Laufteppich“ provozierte: „Ganz Wien sprach von ihm, aber weniger des praktischen Wertes wegen, sondern wegen der ,Hetz‘, die für alle besonders dann eintrat, wenn sich ihm ein unbeholfener Mensch tollkühn anvertraute, durch den Schwung aber einen ,Stern riss‘ und schließlich auf dem ,Rückenende‘ oben anlangte.“ Die Firma Gerngroß selbst war stolz auf ihre diesbezügliche Vorreiterrolle und promotete die technische Errungenschaft von Beginn an intensiv in ihren Werbeeinschaltungen.

Das Warenhaus blieb auch lange Zeit der einzige Anwendungsort in Wien – und weiterhin Pionier. Denn im November 1940, mitten im Weihnachtsgeschäft und mitten im Krieg, wurde im „Kaufhaus der Wiener“ (das Unternehmen war „arisiert“, umgebaut und der Name Gerngroß eliminiert worden) die erste wirkliche, das heißt gestufte Rolltreppe der Stadt eröffnet. Es war eine feierliche Zeremonie, bei der der Generaldirektor und alle Angestellten anwesend waren. Ein rotes Band wurde durchschnitten und der Elektromotor sodann in Gang gesetzt. Gleich vier Rolltreppen führten nun mit einer Geschwindigkeit von 0,45 Metern pro Sekunde durch alle Geschoße. Die Benützung der Anlage war, so bemühte man sich zu versichern, völlig unbedenklich. In den Zeitungen las man vom „gemütlichen Hochklettern über vier Stockwerke“ und vom „Schweben durchs Warenhaus“.

Es war ein beeindruckend neues Fahrgefühl: „Die Stufen sind ein hölzerner Teppich. Man betritt ihn im Tiefparterre und geht auf Reisen, obwohl man ganz ruhig steht. Unermüdlich rollt das hölzerne Lattenband von unten nach oben, verwandelt sich dort, wo man es betritt, im Handumdrehen in richtige Stufen und trägt Hunderte, ja Tausende Menschen von der Spielwarenabteilung zur Herrenkonfektion und von den Parfümeriesalons zu den Musikalientischen. Die Hände können sich dabei links und rechts an ein Geländer halten, das die Reise mitmacht, und am oberen Ende springt man nicht etwa auf festen Boden, sondern wird automatisch und gefahrlos abgesetzt.“

Uniformierte Helferinnen informierten höflich über den richtigen Gebrauch des neuen Beförderungsmittels, das sogleich von Tausenden ausprobiert wurde. Das Fahrerlebnis prägte sich tief ein ins kollektive Gedächtnis der Stadt. Auch diesmal erinnerteman sich noch Jahrzehnte später an die quietschenden Geräusche, die die bewegten Holzstufen mitder Zeit verursachten, und an den Lernprozess, dermit deren Benützung verbunden war. Sich am mobilen Handlauf festzuhalten und auf die Stufen und nicht auf die Zwischenräume zu treten fiel so manchen anfangs schwer.

In den Wiederaufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitete sich die Rolltreppe über das Warenhaus hinaus und hielt Einzug an anderen hochfrequenten Orten der Stadt. Zunächst in der Wiener Börse. Hier wurde im April 1954 der „Ring-Basar“ eröffnet, eine Verkaufsmesse, bei der insgesamt 70 Firmen ihre neuesten Produkte ausstellten. In ganz Wien affichierte Plakate zeigten eine extralange Rolltreppe, die zukunftsfroh hinauf in den heiteren (Konsum-)Himmel führte. In den darauffolgenden Jahren waren es die unterirdischen Passagen, die unter der Ringstraße eröffnet und jeweils mit gleich mehreren Rolltreppen bestückt wurden. Den Anfang machte im November 1955 die Opernpassage. Erneut war die Inbetriebnahme der Rolltreppe, begleitet vom Klicken zahlreicher Pressefotografen, eine viel beachtete Sensation. Neugierige strömten in Massen heran und probierten sie aus. Rolltreppenfahren als neues und billiges Sonntagsvergnügen, wie die „Arbeiter-Zeitung“ formulierte: „Niemand wollte zu Fuß in die Opernpassage hinuntersteigen. Kinder aller Altersklassen kamen auf ihre Rechnung: Man konnte, wenn man die Menschen beobachtete, feststellen, dass Einzelne Dutzende Male auf und ab fuhren, um das neueste Gratisvergnügen auszukosten. Die Opernpassage als billigstes Ringelspiel von Wien!“

Mit Augenzwinkern kommentierten Karikaturisten den überschwänglichen Gebrauch des neuen Verkehrsmittels, Georg Kreisler verfasste ein ironisches Loblied auf den „dernier cri“ in einer ihm ansonst eher altväterisch anmutenden Stadt. Wie bereits 50 Jahre zuvor wurde die Rolltreppe erneut zum Inbegriff von Fortschritt und Modernität. Auch die Albertina-, Bellaria- und Schottentorpassage sowie die unterirdische Station Südtiroler Platz wurden in der Folge mit Rolltreppen ausgestattet und von der Bevölkerung ebenso begeistert aufgenommen.

Absoluter Star der Nachkriegszeit aber war die längste Rolltreppe Wiens im Ausstellungs- und Einkaufszentrum (AEZ) an der Landstraße. Das im November 1957 eröffnete Gebäude war eines der ersten modernen Einkaufszentren der Stadt, bestückt mit neuester Technik. Hier konnte man sich dem Rolltreppenfahren so richtig hingeben. Davon abgesehen enthielt es auch einen Autolift, der die Fahrzeuge der Kunden vollautomatisch nach oben zum Parkplatz auf dem Dach beförderte.

Architekten und Stadtplanern wär längst klar, dass die Rolltreppe ein ideales „Nahfördermittel zur Bewältigung dauernd flutender Menschenströme“ darstellt. Bahnhöfe und Flughäfen wurden damit ausgestattet, die einstige Kaufhausattraktion verbreitete sich im ganzen Stadtgebiet. Hochfrequente Verkehrsknotenpunkte waren letztlich nur mehr mit Rolltreppen effizient lenkbar; sie stellten, wie man beim Ausbau der U-Bahn Anfang der 1980er-Jahre erkannte, einen „bedeutenden Ordnungsfaktor der Verkehrsströme“ dar und boten zudem „jenen Komfort, den ein Massenverkehrsmittel benötigt, um genügend attraktiv zu sein“. Mit den Jahren verpuffte so ihr Neuigkeitswert, Rolltreppenfahren wurde zur Gewohnheit, zu einer im urbanen Alltag zutiefst vertrauten Fortbewegungspraxis.

Heute sind in Wien etwa 1000 Fahrtreppen in Betrieb. Als stadtspezifische Besonderheit laufen sie allerdings mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Während jene in der Zuständigkeit der Österreichischen Bundesbahn mit den üblichen 1,8 Stundenkilometern unterwegs sind, fahren die Wiener Verkehrsbetriebe mit ihren Anlagen deutlich schneller, nämlich mit 2,3 Stundekilometern. Was international gesehen noch immer relativ langsam ist, gibt es in anderen Städten wie Hongkong oder Prag doch Rolltreppen, die mit 2,7 oder sogar 3,2 Stundenkilometern dahinrasen. Zumindest für Europa bemüht sich die EU daher um einheitliche Standards und Normgeschwindigkeiten.

Wie sehr der Wiener Bevölkerung die Rolltreppe inzwischen ans Herz gewachsen ist, zeigte sich im November 2015, als man über Facebook zu einer besonderen „Rolltreppenparty“ einlud. Die – nach einjährigemStillstand – Wiederinbetriebnahme einer Anlage am Schottentor wurde gefeiert und kurzerhand zum Unterhaltungsevent stilisiert. Tausende Interessierte kamen und zelebrierten vergnügt die nun wieder mögliche Fahrt auf den mobilen Stufen. Und dabei war es fast so, wie in den 1940er- und 1950er-Jahren, als das Emporheben auf den Stufen einer feierlichen Elevation glich, gewürzt mit einer großen Portion Humor.

Spectrum, Sa., 2016.12.03

03. Oktober 2015Peter Payer
Spectrum

Visionen für die Stadt

Dem Phänomen der rasanten Urbanisierung nahm sich erstmals 1903 die „Deutsche Städte-Ausstellung“ in Dresden an – heute so aktuell wie ehedem. Über die Zukunft des modernen Stadtmenschen.

Dem Phänomen der rasanten Urbanisierung nahm sich erstmals 1903 die „Deutsche Städte-Ausstellung“ in Dresden an – heute so aktuell wie ehedem. Über die Zukunft des modernen Stadtmenschen.

Es ist nun eine bekannte Tatsache, dass wir derzeit mit einem enormen Urbanisierungstempo konfrontiert sind. Seit Kurzem leben weltweit mehr als 50 Prozent der Bevölkerung in Städten, Tendenz weiter steigend. Die Stadtumgebung ist erstmals für die Mehrzahl der Menschen zur bestimmenden Umwelt geworden, was in Europa schon länger Realität ist: So leben in Österreich rund 66 Prozent der Bevölkerung in Ballungsräumen, in Deutschland sind es 75 Prozent. Welche Folgen und Probleme sich daraus ergeben, wie die einzelnen Städte damit umgehen, das gehört wohl zu den wichtigsten Zukunftsfragen für uns alle. Nicht zuletzt im Sozialen: Was bedeutet es, wenn wir immer mehr zu Stadtmenschen werden?

Es war die „Deutsche Städte-Ausstellung“ 1903 in Dresden, die sich ausgehend von einer ähnlichen Rasanz der Entwicklung erstmalig im großen Stil mit dem Thema beschäftigte. Im Zentrum standen die moderne Stadt und der Versuch, sie in ihrer ganzen Vielfalt zu begreifen respektive darzustellen. Zum ersten Mal schlossen sich mehr als 120 deutsche Städte zusammen, um dazu eine Ausstellung zu bestreiten. Wesentliche Impulse gingen von ihr aus, der Großstadtdiskurs erhielt durch sie einen enormen Impetus, so Johannes Moser, Professor für Europäische Ethnologie in München, der in einer ausführlichen Studie auf die Bedeutung dieses Mega-Events hinwies.

Der Kontext war damals ähnlich wie heute. Wie andere europäischen Städte war auch Dresden von einer gewaltigen Urbanisierungswelle erfasst worden. Im Jahr 1900 zählte man 400.000 Einwohner, bereits fünf Jahre später wurde die 500.000er-Grenze überschritten. Das politisch konservativ orientierte Dresden etablierte sich zunehmend als Zentrum kultureller Innovationen. Eine davon war der Vorschlag von Oberbürgermeister Gustav Otto Beutler, die seiner Ansicht nach „glänzende“ Entwicklung des deutschen Städtewesens in einer Ausstellung zu präsentieren, und zwar in Deutschland. Eine umfassende nationale Leistungsschau kommunalen Fortschritts, abgehalten in der sächsischen Mittelstadt Dresden.

Er wandte sich an alle großen Städte Deutschlands, mit überwältigend positivem Feedback. Nur Berlin reagierte zunächst ablehnend, konnte aber schließlich von dem Vorhaben überzeugt werden. Ein Organisationskomittee wurde gegründet, welches das Jahr 1903 als Zeitraum fixierte. Am Ende beteiligten sich insgesamt 129 Städte, davon 82 direkt als Aussteller, 47 engagierten sich ausschließlich finanziell. Mit dabei waren neben Dresden etwa Berlin, Bremen, Breslau, Chemnitz, Danzig, Frankfurt/Main, Hamburg, Köln, Leipzig, München, Nürnberg, Stuttgart und Straßburg.

Ergänzend zu den Kommunen nahmen 420 Unternehmen an der Ausstellung teil, wobei „nur Hervorragendes“ gezeigt und „alles Jahrmarktmäßige“ vermieden werden sollte. Als Ausstellungsort standen von Beginn an der sogenannte „Ausstellungspalast“ und das um ihn gelegene Areal zwischen Stübelallee und Lennéstraße fest. Das im Mai 1896 eröffnete Gebäude hatte Dresden zu einer der wichtigsten deutschen Ausstellungsstädte gemacht. Als konventioneller Hallenbau mit Kuppel glich es einer riesigen neubarocken Kathedrale. Die gesamte Ausstellungsfläche betrug rund 20.000 Quadratmeter. Neben dem Hauptgebäude gab es zahlreiche Nebensäle, kleinere Hallen, Pavillons und einen Konzertsaal sowie einen großzügig angelegten Park mit Teich. Im ersten, den Städten vorbehaltenen Teil der Ausstellung wurden Themen abgehandelt wie Stadterweiterung, technische Infrastruktur, Kunst, Gesundheit, Bildung, Armen- und Krankenwesen oder verwaltungstechnische Belange. Der zweite, den Unternehmen gewidmete Teil beschäftigte sich mit dem Maschinen- und Bauwesen und weiteren im Kommunalbereich angewandten gewerblichen Erzeugnissen. Räumlich war dieser Teil in Einzelobjekten rund um das Hauptgebäude untergebracht.

Hier gab es auch einige Sonderausstellungen, etwa über städtische Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke, die Sicherheitspolizei oder Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung. Weitere Attraktionen: Eine nachts in verschiedenen Farben beleuchtete Fontäne im großen Teich oder ein Fesselballon, mit dem man 500 Meter hoch aufsteigen konnte. Die Auffahrt mit dieser „Luftstation“ war umsonst, so der findige Betreiber, die Rückfahrt kostete fünf Mark.

Bei der Gestaltung der Ausstellung gab es offenkundig eine zentrale Leitidee: Repräsentation. Anfangs traf man in der Kuppelhalle auf das bronzene Reiterstandbild des 1902 verstorbenen Königs Albert von Sachsen, daneben prangten eine Kaiserbüste, Standbilder von Bismarck und Moltke, zwei große Modelle der Rathäuser von Leipzig und Hannover sowie ein Gipsabguss des barocken Neptunbrunnens aus dem Garten des Dresdner Marcolini-Palais. Die daran anschließenden Säle waren bestückt mit Modellen, Plänen, Grafiken, Fotografien und Statistiken, mit denen die Städte stolz auf ihre Leistungen verwiesen.

Besonders offensiv waren die Organisatoren an die Bewerbung der Veranstaltung herangegangen. Zentrales Medium war das Ausstellungsplakat, das eine Rolandfigur – Symbol der städtischen Rechte und Freiheiten – vor der Kulisse Dresdens zeigte. Dieses Sujet fand sich dann auch wieder auf Werbekarten und Werbemarken, die in großer Zahl aufgelegt wurden. Auch der mehr als 300 Seiten starke Ausstellungskatalog erfüllte seine Reklamezwecke bestens. Nach kurzer Zeit erfuhr er eine zweite Auflage.

Rein an den Zahlen gemessen, war die Städteausstellung ein großartiger Erfolg. Von ihrer Eröffnung am 20. Mai bis zum letzten Öffnungstag Ende September wurde sie von rund 425.000 Personen besucht. Auch die Berichterstattung in den Medien, über ganz Europa bis in die USA, war durchwegs wohlwollend. Wenn es Kritik gab, so betraf sie zwei Punkte: die allzu große Monotonie und Dichte des Dargebotenen sowie die mangelnde Berücksichtigung der sozialen Frage. Insgesamt überwog jedoch eindeutig die positive Einschätzung. Es war das Zentrieren der öffentlichen Aufmerksamkeit auf die Belange der (deutschen) Städte, die als nachhaltig wichtigstes Resultat dieser Ausstellung gelten kann. Besonders breitenwirksam war zudem die Fülle der wissenschaftlichen Begleitpublikationen. Noch während der Ausstellung erschien eine knapp hundertseitige Broschüre mit dem Titel „Was lehrt die I. Deutsche Städteausstellung?“. Ein Jahr danach veröffentlichte Robert Wuttke, Professor an der Technischen Hochschule in Dresden, das wissenschaftliche Hauptwerk. Im Werk „Die deutschen Städte“, 1904 in zwei Bänden publiziert, rekapitulierten anerkannte Experten die Themen der Ausstellung. Dazu kamen ein aufwändig gemachter Bildband heraus, eine statistische Zusammenfassung sowie der von der Gehe-Stiftung geförderte Sammelband „Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung“.

Letzterer sollte besondere Bedeutung erlangen. Er bestand aus mehreren Vorträgen, die renommierte Wissenschaftler bereits vor Eröffnung der Ausstellung gehalten hatten. Organisator war die Gehe-Stiftung, die 1883 auf testamentarischen Wunsch des Dresdner Industriellen Franz Ludwig Gehe eingerichtet worden war, als Bildungsinstitution mit regelmäßigen Veranstaltungen und einer öffentlich zugänglichen Bibliothek. Während das Gros der Beiträge die jeweilige Fragestellung erwartungsgemäß ausführte, wich ein Beitrag derart offenkundig ab, dass er sogar im Vorwort als Ausreißer erwähnt wurde: „Die Großstädte und das Geistesleben“, verfasst vom Berliner Philosophen und Soziologen Georg Simmel. Auch formal stach sein Beitrag hervor, kam er doch fast ganz ohne wissenschaftlichen Anmerkungsapparat aus. Simmel hatte die Wechselwirkung zwischen Individuum und Großstadt und deren geistig-psychisch-soziale Folgen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt.

Die Großstadt war für ihn das Labor der Moderne, in dem der neue Mensch geformt wurde, sich neue emotionale Dispositionen und Wahrnehmungsweisen herausbildeten, die letztlich konstitutiv werden sollten für immer weitere Teile der Gesellschaft. Es war der „Großstadtmensch“, den Simmel erstmals mit genauem soziologischem Blick sezierte und mit Begriffen wie „Verstandesmäßigkeit“, „Blasiertheit“ oder „Reserviertheit“ zu charakterisieren versuchte, Eigenschaften, die als Reaktion auf die „Steigerung des Nervenlebens“ und die Fülle der Reize, die in der Stadt vorherrschten, fungierten.

Mit seinem modernen Denkansatz sollte Simmel zum Pionier und Begründer der modernen Stadtsoziologie, ja der modernen kulturwissenschaftlichen Stadtforschung überhaupt werden. Zwar wurde sein Text im deutschsprachigen Raum zunächst nicht besonders wahrgenommen, über den Umweg über die USA, wo ihn die berühmte Chicagoer Schule der Stadtsoziologie rezipierte, beinahe hymnisch feierte, gelangte er schließlich in Europa erneut in das Blickfeld der Scientific Community.

Nachhaltig erfolgreich und bis heute wirksam war schließlich eine der begleitenden Veranstaltungen der Städteausstellung: Oberbürgermeister Beutler lud Städtevertreter aus allen Teilen des Reiches ein, die Ausstellung zu besuchen und gemeinsam „die großen Aufgaben der städtischen Selbstverwaltungskörper“ zu diskutieren. Am 2. September wurde sodann der I. Deutsche Städtetag im „Ausstellungspalast“ eröffnet, mit hochrangigen Ehrengästen, Musik und einem Festspiel, das die Entwicklung des Städtewesens in drei „tableaux vivants“ vorführte. Beutler begrüßte Vertreter von insgesamt 159 Städten. Zwei Vorträge zur sozialen Aufgabe der Städte wurden abgehalten, danach folgten ein Besuch des Opernhauses sowie ein abendliches Festessen.

Am Folgetag referierte Wuttke über die Städteausstellung, für die er auch kritische Worte fand. Nach der teils heftig geführten Diskussion wurde als offizieller Abschluss eine Resolution verabschiedet, mit dem Ziel, den nächsten Deutschen Städtetag spätestens innerhalb von drei Jahren einzuberufen; dieser war ein voller Erfolg gewesen, und selbst Wuttke bezeichnete ihn später als besonderen „Glanzpunkt“. Der angestrebte Impuls blieb wirksam: 1905 fand in Berlin abermals ein Städtetag statt, der fortan zu einer regelmäßigen Veranstaltung werden sollte. Auch grenzüberschreitend blieb die Vorbildwirkung nicht aus, wie die Gründung des Österreichischen Städtebundes im Herbst 1915 zeigte.

Was können wir von der damaligen Städteausstellung für uns heute lernen? Ich würde zwei Punkte hervorheben: erstens, wie produktiv solche Veranstaltungen sein können, sofern sie breit aufgestellt und gut vorbereitet sind; als Impulsgeber und Kommunikationsdrehscheiben, generell als Bewusstseinsgeneratoren für städtische Anliegen. Und zweitens, dass es nicht einfach ist, die Komplexität der Stadt adäquat zu vermitteln. Nur allzu oft geschieht dies mit relativ abstrakter Planungsgeste, die Menschen wenig unmittelbar ansprechend.

Dementgegen: das Bild von der Stadt als menschenorientiertes, selbstreflexives und lernfähiges System. Das wäre eine Vision, die von der Dresdner Städteausstellung bis in unser Jahrtausend strahlen könnte.

Spectrum, Sa., 2015.10.03

21. August 2012Peter Payer
Neue Zürcher Zeitung

Narrenschloss und Disziplinierungsanstalt

Der gegenwärtige Umbau der in die Jahre gekommenen Wiener Opernpassage zeigt es deutlich, egal, ob unter- oder oberirdisch: Die Opernkreuzung ist ein neuralgischer Ort, mitten im Herzen der Donaustadt, hochfrequent und aufgeladen mit einer besonderen Geschichte.

Der gegenwärtige Umbau der in die Jahre gekommenen Wiener Opernpassage zeigt es deutlich, egal, ob unter- oder oberirdisch: Die Opernkreuzung ist ein neuralgischer Ort, mitten im Herzen der Donaustadt, hochfrequent und aufgeladen mit einer besonderen Geschichte.

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07. Mai 2011Judith Eiblmayr
Peter Payer
Spectrum

Stadt im Fluss

Vom Lebensnerv der Stadt über die „Riviera der Arbeitslosen“ zur Lokalszene unserer Tage: Wiens Donaukanal – eine kleine Kulturgeschichte.

Vom Lebensnerv der Stadt über die „Riviera der Arbeitslosen“ zur Lokalszene unserer Tage: Wiens Donaukanal – eine kleine Kulturgeschichte.

Ueber Jahrhunderte wurden Waren zur Versorgung von Wien über die Donau bis an die befestigte Stadt herangeschafft; der „Wiener Arm“, der viel später als „Donaukanal“ be- und im urbanen Gefüge verfestigt wurde, war der Lebensnerv der Stadt. Nachdem Mitte des 14. Jahrhunderts die erste Brücke – die Schlagbrücke an der Stelle der heutigen Schwedenbrücke – zur damals sogenannten Donauinsel mit ihren Auen und kaiserlichen Jagdgebieten geschlagen worden war, begann sich die Bebauung am anderen Ufer zu verselbstständigen. Die Händler trachteten danach, sich vis-à-vis des Rotenturmtores niederzulassen, um dem Geschehen möglichst nahe zu sein. Der „Untere Werd“ entwickelte sich zur bevölkerungsreichsten, später zur jüdischen Vorstadt von Wien.

Ab 1858, als die Wiener Stadtmauer fiel, begannen die Stadtplaner, sich den „Donaukanal“ anzueignen. Während das Ufer der Leopoldstädter Seite bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine geschlossene klassizistische Bebauung aufwies, konnte das andere Ufer erst jetzt baulich entwickelt werden. Nach der Regulierung des Donaustromes 1870 bis 1875 wurde ein Wettbewerb für ein infrastrukturelles Folgeprojekt ausgeschrieben: Der Generalregulierungsplan für Wien sollte nicht nur die gezielte Nutzung des Donaukanals als Schutz- und Winterhafen mit begleitender Anlage von Abwasser-Hauptsammelkanälen, sondern auch die Errichtung eines Stadtbahnnetzes festlegen. Bereits 1898 war die großzügige Infrastrukturplanung in vorbildlicher Weise realisiert, unter künstlerischer Federführung von Otto Wagner, dem expliziten Verfechter der Implementierung von Architektur im Sinne einer praktischen Kultur für ein „modernes Großstadtleben“.

Der ab Ende des 19. Jahrhunderts durch das Nussdorfer Wehr konstant haltbare Wasserspiegel ermöglichte die weitere bauliche Einengung des Donaukanals. Die Böschungen wurden im innerstädtischen Bereich begradigt und als zwei bis zu 15 Meter breite, die Wasserstraße begrenzende Vorkais und je einen Oberkai auf Straßenniveau ausgeführt. Die oberen Kaimauern wurden mit Kalksteinquadern verkleidet und mit einem von Otto Wagner gestalteten Metallgeländer dekorativ abgeschlossen, der Wasserlauf selbst wurde entlang der rund fünf Meter tiefer gelegenen Vorkais von Mauern aus Granitquadern begrenzt.

Um die notwendige Wassertiefe für die Schifffahrt zu gewährleisten, sollten nach dem Nussdorfer Wehr drei weitere Wehranlagen mit Kammerschleusen eingebaut werden, errichtet wurde allerdings nur das Kaiserbad-Wehr, mit dem weiß-blauen Schützenhaus, ebenfalls von Otto Wagner geplant. Abgesehen von den einzelnen architektonischen Schmuckstücken ist bei der baulichen Ausgestaltung des Donauarmes im innerstädtischen Bereich immer auch Wagners Bemühen um stadtstrukturelle Qualität erkennbar. Sein Konzept für die Kais als Zonen urbanen Lebens funktionierte, solange Waren in großem Umfang in die Stadt geliefert wurden und Personenschiffe der DDSG direkt am Morzinplatz oder beim Schiffamt anlegen konnten.

Als weitere Attraktion wurden ab 1904 die „Städtischen Strombäder“ in das – zu dieser Zeit nicht mehr durch Hausabwässer und noch nicht durch Industrieabwässer kontaminierte – Donaukanalwasser gesetzt. Diese 50 Meter langen und zehn Meter breiten, aus Holz konstruierten Badeschiffe wiesen, wie ein Katamaran, über die Seitenlängen je einen Schwimmkörper auf. Dazwischen wurde ein circa 13 mal sechs Meter großer Korb ins Wasser gehängt, in den die Menschen über Stufen steigen und – so gut es ging – gegen den Strom schwimmen konnten. Die Badeschiffe waren bis in die 1940er-Jahre in Betrieb, verschwanden dann aber aus dem Flusslauf. Nach dem Ersten Weltkrieg schrumpfte das Handelsverkehrsaufkommen auf der Donau ebenso wie die Personenschifffahrt. Dafür wurde der Freizeitnutzung verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt: Gerade das Baden war sowohl in den Badeschiffanlagen wie auch „wild“ an den Uferböschungen zu dieser Zeit äußerst beliebt. Etwa im Bereich nördlich der Friedensbrücke, der häufig von Obdach- und Arbeitslosen frequentiert wurde, insbesondere Anfang der 1930er-Jahre, als sich deren Zahl infolge der Wirtschaftskrise eklatant erhöhte. Die Zeitung „Der Abend“ bezeichnete diesen Abschnitt des Donaukanals ironisch als „Riviera der Arbeitslosen“ und widmete ihm im Juli 1933 eine umfangreiche Reportage: „Das Strandleben an der Wiener Riviera ist einfach und anspruchslos. Man kommt, man sucht sich ein Platzerl, lässt die Hosen herunter oder streift das bescheidene Kleid ab – fertig. Man braucht keine Kabinen, keine Strandkörbe, keine hochmodernen Badeanzüge.“

Auch als Austragungsort von Sportveranstaltungen konnte sich der Donaukanal etablieren. Vor allem das Schwimmfest „Quer durch Wien“, bei dem der Donaukanal von der Nussdorfer Schleuse bis zur Sophienbrücke (der heutigen Rotundenbrücke) durchschwommen werden musste, entwickelte sich zum Publikumsmagneten. Erstmals 1913 ausgetragen, wurde der Wettbewerb im Jahr 1919 wieder aufgenommen und avancierte sogleich zu einer der populärsten Veranstaltungen im Wiener Sportleben. Unter den teilnehmenden Vereinen befand sich auch der jüdische Sportklub „Hakoah“, der eine avancierte Schwimmsektion aufgebaut hatte und „Quer durch Wien“ mehrmals für sich entscheiden konnte.

Noch 1927 schätzte man die Zahl der Zuschauer an den Ufern des Kanals auf beachtliche 25.000. Das „Arbeiterschwimmen“ war zur politischen Manifestation des „Roten Wien“ geworden. In den folgenden Jahren ging der Publikumszuspruch allerdings kontinuierlich zurück. Dies und der Umstand, dass antisemitische Anfeindungen gegenüber jüdischen Sportlern deutlich zunahmen, veranlassten die Veranstalter, den Schwimmbewerb nach Krems zu verlegen, ehe man ihn 1938 völlig einstellte. Der Donaukanal war zum Politikum geworden.

Als sich die Nationalsozialisten im Jahr 1938 der Wiener Stadtplanung zu bemächtigen begannen, war mit „Wien an der Donau“ nicht mehr die innere Donau, der Donaukanal gemeint, sondern der Donaustrom selbst. Die zwischen den Gewässern liegende Leopoldstadt, die vor dem „Anschluss“ zu 40 Prozent von Juden bewohnt war, wurde in gigantomanischen Entwürfen mit „Prachtstraßen“, „Aufmarschachsen“, „Festplätzen“ und „Parteizentren“ verplant, in einem Maßstab, der von gewachsener Struktur und Kultur nicht viel übrig ließ. Diese Entwürfe blieben ebenso unrealisiert wie jene nach Kriegsende aus dem Architektenwettbewerb zum Wiederaufbau, nachdem gerade die Donaukanalgegend im innerstädtischen Bereich zerstört worden war. Lediglich die Implementierung von vereinzelten Hochhäusern wie dem Ringturm von Erich Boltenstern oder dem Bundesländer-Gebäude von Georg Lippert entlang der Kais, wie in einem Wettbewerbsbeitrag vorgeschlagen, fand ihren Niederschlag in der späteren Bebauung am Donaukanal, allerdings ohne die konzeptionelle Basis eines Masterplans. Franz-Josefs-Kai und Obere Donaustraße wurden als Hauptdurchzugsstraßen hergestellt, wodurch schleichend eine stadträumliche Veränderung einsetzte, die sukzessive Ober- und Unterkai voneinander trennte.

In den 1960er-Jahren erhielt die Durchflussgeschwindigkeit des Individualverkehrs Priorität gegenüber dem Wasserlauf, der zunehmend verschmutzt und damit unattraktiv geworden war; und es wurde erwogen, auf den Vorkais des Donaukanals eine Stadtautobahn zu trassieren. Allerdings wurde diesem Ansinnen der Stadtpolitik durch eine städtebauliche Studie von Viktor Hufnagl, Traude und Wolfgang Windbrechtinger im Jahr 1971 eine klare Absage erteilt; man verwies auf die Wichtigkeit des Donaukanalbereichs in seiner Erholungs- und Klimafunktion.

Ab Mitte der 1970er-Jahre wurde die Stadtbahntrasse auf U-Bahn-Betrieb umgerüstet, was als negative Begleiterscheinung das Eigenleben am Donaukanal völlig zum Erliegen brachte. Entdeckt wurde der Donaukanal in jenen Jahren lediglich als Filmkulisse: als Drehort für den US-amerikanischen Agentenfilm „Firefox“ (1982, Regie: Clint Eastwood) und in der österreichischen Kultkrimiserie „Kottan ermittelt“, in der Regisseur Peter Patzak den morbiden Charme des vorstädtischen Kanalufers mitsamt den historischen Stadtbahnbögen in Szene setzte, eine Gegend, die dem in Wien-Brigittenau aufgewachsenen Patzak seit seiner Kindheit bestens vertraut war.

Erst langsam setzte jene Entwicklung ein, die – nach Abschluss der U-Bahn-Bauarbeiten – eine Wende auch bei der Wahrnehmung des Donaukanals bedeutete: die Politisierung des öffentlichen Raumes und die damit einhergehende „Eventisierung“ des Urbanen. Die Wiener ÖVP veranstaltete Ende September 1983 erstmals das „Lichterlfest“, bei dem der Donaukanal abends mit Lampions, Kerzen und Feuerwerk ins Bewusstsein der Bevölkerung geholt wurde. Und auch in der von der SPÖ dominierten Stadtregierung forcierte man die Entwicklung von Konzepten zur Attraktivierung des Kanals. Ein eigener „Donaukanalkoordinator“ wurde bestellt, der sich seither um die Abstimmung sämtlicher Projekte und deren Einbeziehung in den übergeordneten „Masterplan Donaukanal“ kümmert.

Plötzlich hatte der Donaukanalbereich seine spezifische Qualität als Erholungsraum mitten in der Stadt wieder, wurde als solcher auch angenommen und sukzessive entwickelt: Sei es die entstandene Lokalszene, die Neuetablierung der Badeschiff-Idee oder die Wiedereinführung der Personenschifffahrt mit dem Twin-City-Liner nach Bratislava – das städtische Leben ist an die Unterkais des Donaukanals zurückgekehrt. Für Wien ist wichtig, dass nun umgesetzt wird, was Otto Wagner, der Verfechter eines modernen Großstadtlebens, gemeint hat: Urbanität heißt, die Stadt im Fluss zu halten. Dieses Prinzip könnte nun, ein Jahrhundert später, am Donaukanal funktionieren.

Spectrum, Sa., 2011.05.07

13. April 2007Peter Payer
dérive

Schwerpunkt „Stadt Hören“

Dieser Satz Robert Musils könnte paradigmatisch für den aktuell zu bemerkenden Trend zur Beschäftigung mit den Klängen und Geräuschen der Stadt stehen. In zahlreichen wissenschaftlichen, künstlerischen und medialen Projekten wird dem Hören (in) der Stadt nachgeforscht, und auch Urbanistik, Architektur und Stadtplanung widmen sich in zunehmendem Maße unserer akustischen Umwelt. Grund genug also, um im vorliegenden Schwerpunktheft von dérive einige Aspekte dieses Diskurses aus transdisziplinärer Sicht zu beleuchten.

Dieser Satz Robert Musils könnte paradigmatisch für den aktuell zu bemerkenden Trend zur Beschäftigung mit den Klängen und Geräuschen der Stadt stehen. In zahlreichen wissenschaftlichen, künstlerischen und medialen Projekten wird dem Hören (in) der Stadt nachgeforscht, und auch Urbanistik, Architektur und Stadtplanung widmen sich in zunehmendem Maße unserer akustischen Umwelt. Grund genug also, um im vorliegenden Schwerpunktheft von dérive einige Aspekte dieses Diskurses aus transdisziplinärer Sicht zu beleuchten.

Zu Beginn werden jene fundamentalen akustischen Veränderungen dargelegt, denen die europäische Stadt des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts unterworfen war. Urbanisierung, Industrialisierung und Technisierung ließen eine allerorts wahrnehmbare neue Geräuschkulisse entstehen, deren Zusammensetzung und Qualität sich völlig anders als bisher darstellte. „Lärm“ und „Großstadtwirbel“ wurden zu Inbegriffen der neuen Zeit, deren akustische Emanationen man – bis heute – in unterschiedlichsten Strategien zu bewältigen sucht.

Dass Städte auch an der Wende zum 21. Jahrhundert einem merkbaren akustischen Wandel unterliegen, verdeutlicht der Schweizer Soziologe Hans-Peter Meier-Dallach. Er beschäftigt sich am Beispiel von Zürich mit den akustischen Auswirkungen der Globalisierung, die sich u. a. in einer Nivellierung der „Welttonhalle“ und einem zunehmend lautloseren Fließen der Geldströme manifestiert.

Ein ebenfalls globales Phänomen ist die allerorts anzutreffende Hintergrundmusik („Muzak“), deren Entwicklung, Rezeption und (fragwürdiger) Wirksamkeit der Wiener Musiksoziologe Michael Parzer nachgeht.

Qualitativ hochwertige Architektur aus Tönen zu errichten, ist vornehmstes Ziel des renommierten französischen Komponisten und Klangdesigners Louis Dandrel. Er stellt seine ersten, in den Jahren 1988 bis 1990 in Hongkong und Osaka realisierten Projekte vor, in denen er auf pointierte Art auf die jeweils herrschenden Soundscapes reagierte.

Dass Klangdesign im öffentlichen Raum gegenwärtig auch in Deutschland zum Thema wird, zeigt ein interdisziplinäres Forschungsprojekt der Universität der Künste in Berlin: Auditive Architektur. Alex Arteaga, Thomas Kusitzky und Christoph Gehr berichten über die neue künstlerisch-wissenschaftlichen Disziplin, die sich mit der Gestaltung des Klangs und der Klangumgebung von Bauwerken beschäftigt.

Wohl keine andere Stadt der Welt wird so oft mit Tönen assoziiert wie Wien. Wie sich das Label „Musikstadt Wien“ entwickelte und welche politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren dabei bis heute eine wesentliche Rolle spielen, analysiert die Wiener Kulturwissenschaftlerin Martina Nußbaumer.

Seine langjährige Erfahrungen mit urbanen Soundscapes schildert schließlich der Wiener Radiojournalist Peter Waldenberger, der für die Ö1-Sendung Diagonal bislang mehr als zwanzig Städteportraits gestaltet hat – für viele der akustische Erstkontakt mit bisher unbekannten Hör-Räumen.

Dass Blinde und Sehbehinderte die Stadt akustisch intensiver erleben, ist evident. Der Wiener Musiker und Klangkünstler Ulrich Troyer spürte dem in einem Forschungsprojekt nach, dessen spannende Ergebnisse – künstlerisch verarbeitet – auf der CD Sehen mit Ohren erschienen sind. Sie ist für AbonnentInnen von dérive als kostenloser „Bonustrack“ beigelegt.

Ich bedanke mich sehr herzlich bei allen AutorInnen und InterviewpartnerInnen, die für dieses Schwerpunktheft Beiträge, Informationen und Abbildungen zur Verfügung gestellt haben.

Christoph Laimer sei gedankt für seine spontane Bereitschaft, das Thema Stadt & Hören in dérive aufzunehmen.

dérive, Fr., 2007.04.13



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