Details

Adresse
Kartause Ittingen, 8532 Warth, Schweiz
Bauherrschaft
Stiftung Kartause Ittingen
Tragwerksplanung
Wälli AG
Weitere Konsulent:innen
Grafik: Urs Stuber, Frauenfeld
Elektroplanung: H. Möller Ing. HTL AG, Frauenfeld
Lichtplanung: Vogt & Partner, Winterthur
HLS-Planung: 3-Plan Haustechnik Raimann & Diener AG, Winterthur
Bauphysik: Zehnder & Kälin, Winterthur
Beratung Baurealisation: Bosshard & Partner Baurealisation AG, Zürich
Fertigstellung
2009
Nutzfläche
815 m²
Baukosten
4,0 Mio EUR

Ausführende Firmen

Holzbau: Sommerhalder Holzbau AG, Märstetten
Lüftungsanlagen: Axima AG, Winterthur
Hartbetonboden: Walo Bertschinger AG, Zürich

Publikationen

Presseschau

26. Juni 2009Christian Inderbitzin
TEC21

Ordnung im Konglomerat

Nach sechsmonatiger Bauzeit ist die Kartause Ittingen an Ostern wiedereröffnet worden. Erneuert wurden im Wesentlichen ein Seminar- und Gästehaus sowie die Restauration im Zentrum der Klosteranlage. Die baulichen Eingriff e der Zürcher Architekten Harder Spreyermann umfassen nicht nur notwendig gewordene Modernisierungen, sondern verleihen der Gesamtanlage ein neues Gepräge. Das Projekt zeigt eindrücklich, wie sich zeitgenössische Architektur in historischer Bausubstanz diskret behaupten kann.

Nach sechsmonatiger Bauzeit ist die Kartause Ittingen an Ostern wiedereröffnet worden. Erneuert wurden im Wesentlichen ein Seminar- und Gästehaus sowie die Restauration im Zentrum der Klosteranlage. Die baulichen Eingriff e der Zürcher Architekten Harder Spreyermann umfassen nicht nur notwendig gewordene Modernisierungen, sondern verleihen der Gesamtanlage ein neues Gepräge. Das Projekt zeigt eindrücklich, wie sich zeitgenössische Architektur in historischer Bausubstanz diskret behaupten kann.

Die Kartause Ittingen, auf einer Geländeterrasse am Südhang des Thurgauer Seerückens gelegen, ist seit ihrer Umnutzung durch eine private Stiftung Ende der 1970er-Jahre zu einer der wichtigsten öffentlichen Institutionen des Kantons Thurgau geworden. Das um 1150 vom Augustinerorden gegründete Kloster ist in seiner über 800 Jahre dauernden Geschichte mehrfach zerstört, wieder auf-, um- und weitergebaut worden. In der wechselhaften Baugeschichte spiegeln sich die jeweiligen Nutzungsansprüche der Zeit: so in den baulichen Ergänzungen für das Eremitenleben der Kartäusermönche nach dem Verkauf der Anlage an deren Orden oder in den Anpassungen an die säkulare Nutzung als Gutsbetrieb nach 1867. Nach dessen Aufgabe wurde 1977 eine Stiftung zur Rettung des Klosters gegründet. Aus dem neuen Betriebskonzept resultierten zwischen 1977 und 1983 weitere Neubauteile, ausgeführt durch das Zürcher Architektenpaar Esther und Rudolf Guyer. Heute beherbergt die Kartause ein Bildungs- und Seminarzentrum mit zwei Hoteltrakten und rund 70 Zimmern, das kantonale Kunstmuseum, das historische Ittinger Museum, ein Wohnheim für rund 30 psychisch oder geistig Beeinträchtigte, einen Gutsbetrieb mit Klosterladen sowie das Restaurant «Zur Mühle» im Zentrum der Anlage.

Nach einem Studienauftrag unter drei Büros lösten Harder Spreyermann das Ehepaar Guyer 2004 als neue Hausarchitekten ab. Die ehemalige Herberge wurde daraufhin zum Unteren Gästehaus umgebaut und der Gastrobereich modernisiert. Im Herbst 2008 wurden die grössten Umbau- und Erweiterungsarbeiten seit der Stiftungsgründung in Angriff genommen. Sie umfassten die Restauration, das Obere Gästehaus und Seminar, das Wohnheim sowie den Eingangsbereich der beiden Museen. Die Architekten haben in enger Zusammenarbeit mit Bauherrschaft und Denkmalpflege für jeden Eingriff eine angemessene entwerferische Strategie entwickelt. Nach nur sechsmonatiger Bauzeit konnte die Kartause am 9. April diesen Jahres wiedereröffnet werden. Für eine sorgfältige Umsetzung in der kurzen Bauzeit war entscheidend, dass das Büro die Bauleitung selbst führte.

Justierungen im oberen Gäste- und Seminargebäude

Beim Oberen Gästehaus und Seminar – dem architektonisch wohl bedeutendsten «Neubau» in der Kartause, erstellt 1978 vom Architektenpaar Guyer – haben sich die Eingriffe im Wesentlichen auf den Innenausbau der drei Bereiche Eingangshalle, Erschliessungszonen und Gästezimmer beschränkt. Absicht der Architekten war es, die zeittypische Qualität der Bauten zu respektieren und sie ungeachtet ihres geringen Alters als Denkmäler ihrer Entstehungszeit zu verstehen. Die egalitäre Auffassung der bestehenden Bausubstanz erscheint zeitgemäss und im Kontext der Kartause folgerichtig.

Dieser Auffassung folgend sind die Eingriffe beim Gäste- und Seminargebäude zunächst kaum wahrnehmbar. Im Seminargebäude wurden denn auch lediglich Textilien und Mobiliar erneuert sowie Malerarbeiten ausgeführt. Der Betrieb des Gästehauses verlangte nach zusätzlichen Arbeiten. Doch auch hier sind sie zurückhaltend und integrativ entwickelt worden. Mehr noch: Sie versuchen dem intendierten Charakter nachzuspüren und diesen in einer reineren Form herauszuschälen. Das wird bereits im Foyer ersichtlich, wo die Architekten durch den Rückbau des Postbüros der zweigeschossigen Halle ihre angemessene Grösse zurückgegeben und die darüberliegende Galerie räumlich befreit haben. Die vom Künstler Christoph Rütimann entworfene, über die gesamte Räumhöhe laufende Worttapete (Passeport- par-tout) stärkt die Vertikalität der Halle (Abb. 5). Sie steht in ihrer räumlichen Wirkung zudem in Verbindung zur Farbgestaltung im Unteren Gästehaus aus dem Jahr 2004 von Harald F. Müller.

Die von der Halle abgehenden Erschliessungskorridore genügten den heutigen Brandschutzanforderungen nicht mehr. Die Architekten haben deshalb die bestehenden Erker zur Klostermauer hin erhöht und mit zusätzlichen Fluchttreppen ergänzt (Abb. 06). Die Materialisierung mit weiss vergipsten Wänden und naturbelassenem Fichtenholz sowie einer zum Bestand analogen Befensterung lassen auch diese Bauteile erst auf den zweiten Blick als Ergänzungen erkennen. Im Dachgeschoss machte eine Verbesserung der Entrauchung eine galerieartige Verbindung mit dem 1. und 2. Obergeschoss möglich, die vorher räumlich getrennt waren. Es wurde damit nicht nur ein technisches Problem gelöst, sondern vielmehr die angelegte spezifische Schnittfigur des Korridorbereichs freigelegt.

Klösterliche Zellen

Der dritte Schwerpunkt der Sanierung betrifft die Gästezimmer. Obschon diese umfassend erneuert werden mussten, wurde auf Eingriffe an Fassade und Rohbau verzichtet, wie sie für eine ausreichende akustische Trennung nötig gewesen wären. Für die Doppelzimmer im 1. und 2. Obergeschoss und die Einzelzimmer im Dachgeschoss sind jeweils eigene Themen entwickelt worden: In den Doppelzimmern folgt der Entwurf einer konsequenten Ausrichtung auf den Aussenraum, die durch eine vollflächige Verglasung der Zimmer angelegt ist. Dazu wurde das Bett frei gestellt und zum Fenster hin ausgerichtet (Abb. 10). Die Kombination von Bett und Tisch in einem Möbel führt zu einer dem «klösterlichen Leben» entsprechenden, fast spartanischen räumlichen Leere. Badzugang, Schränke und Fernseher sind hinter massiven, von Zapfenbändern gehaltenen Holzpaneelen mit eingefräster Griffnut versteckt. Die mit Glattputz überzogenen Wände und Decken sind weiss gestrichen, auf dem Boden wurden Lärchenholzriemen verlegt, die mit den bestehenden Naturholzfenstern korrespondieren. Die dunkelbraunen, fugenlosen Zementbeläge auf den Böden und Wänden der Bäder kontrastieren mit den hellen Zimmern. Die Sanitärapparate wurden sorgfältig ausgewählt und entsprechen dem erwarteten Standard. Ihre Anordnung ist beibehalten worden. Die Einzelzimmer im Dachgeschoss sind analog den Doppelzimmern materialisiert. Aufgrund der räumlichen Enge unter der Dachschräge musste aber ein alternatives Thema entwickelt werden. Die Architekten entwarfen eine Wand- und Deckenabwicklung, die mehrere Nischen bildet und so den Raum gliedert: Jedes Zimmer verfügt über eine seitliche Bettnische, eine Arbeitsnische unter der Schleppgaube sowie eine Schranknische. Einzig hier wurden neue, sprossenfreie Fenster eingesetzt, die bildhafte Ausblicke in den Klostergarten rahmen.

Verschränkungen zwischen Alt- und Neubauteilen

Der Umbau und die Erweiterung der Restauration waren aufgrund des Umfangs des Eingriffs und ihrer Bedeutung im Zentrum der Gesamtanlage anspruchsvoller. Die vorhandene Fläche reichte nicht mehr aus, und es war eine räumliche Differenzierung gemäss dem Gästeprofil der Kartause gewünscht: Neben Seminar- sollten auch Einzelgäste und Gesellschaften bewirtet werden können. Im Zentrum des Entwurfsprozesses stand zunächst die Frage nach dem Umgang mit dem denkmalgeschützten Mühlgebäude. Da dieser Bau insbesondere im nördlichen Teil schon mehrfach umgebaut wurde und der offene Durchgang mit seinen massiven Holzpfeilern (Abb. 14) im Bereich der Kornschütte als das spezifischste, weil Gestalt gebende Gebäudeelement betrachtet wurde (eine Verglasung der Halle stand einige Zeit zur Diskussion), entschied man sich, die Gebäudeteile um das Mühlrad und die Pfisterei vollständig abzubrechen und den Neubauteil an derselben Stelle zu erstellen, was als eigentliche Revision bisheriger denkmalpflegerischer Absichten gesehen werden muss. Die Architekten suchten für die verlangte Erweiterung des Restaurants nach einem Volumen, das sich aus dem bestehenden Mühlgebäude heraus entwickelt und ein Weiterbauen am Bestand vorsieht. Zur Ausführung kam eine Lösung, deren Volumen als winkelförmiges Bauteil sozusagen aus dem Mühlgebäude «herauswächst». Bei der beabsichtigten Verschmelzung mit dem bestehenden Gebäude kommt dem Dach eine katalytische Funktion zu, indem es sich mit der Dachfläche des Mühlgebäudes direkt verbindet: Die Architekten sprechen von einer «Entfaltung». Die durchgehende Eindeckung mit alten Biberschwanzziegeln unterstützt diese Lesart, wenn auch ein Oberlicht und teilweise sperrige Spenglerarbeiten die Kontinuität der Dachflächen in Frage stellt. Die mehrfach geknickte Dachfläche lagert auf einer wiederum gefalteten Fassade. Diese besteht aus Pfosten mit dazwischengesetzten Fenstern, deren schräg laufende, ochsenblutfarben gestrichene Rahmen in Analogie zum Riegelwerk des Mühlgebäudes treten. Trotz der strukturellen Verwandtschaft von polygonaler Dachfläche, gefalteter Fassade und schräg laufenden Fensterrahmen behält jedes Element seine berechtigte Eigenständigkeit.

Im nördlichen Bereich verzahnt sich die Fensterfront mit einer eindrücklichen Sockelmauer, die sich mit der Topografie und im Innenraum mit dem Bestand verbindet. Die Verzahnung von Neu- und Altbauteilen funktioniert denn auch am überzeugendsten im Innenraum: Bestehende Sockelteile des Mühlgebäudes und ein neuer Körper mit den Toilettenanlagen formen zusammen mit der Sockelmauer und der Fensterfront eine vielgliedrige Grundrissfigur, die eine selbstverständliche, im Betrieb gut funktionierende räumliche Organisation ergeben. Im ausgreifenden Westflügel gegenüber der ehemaligen Pferdeschwemme befindet sich die neue Pfisterei, ein Saal zur Verpflegung von Seminargästen, der bei Bedarf auch abgetrennt werden kann. Die Wirtschaft, ein parallel zum Mühlgebäude laufender Raum, ist für Individualgäste reserviert und wird räumlich durch das alte Mühlrad dominiert, das durch ein Oberlicht zusätzlich inszeniert wird. Beide Räume orientieren sich über die verglasten Fassaden zur Gartenwirtschaft. Eine Gaststube für private Anlässe sowie ein Carnotzet verankern die Raumfigur rückwärtig im Altbau und verklammern sie mit dem zentralen Office mit Abwäscherei im Sockel des Mühlgebäudes. Die Gaststube gibt einen Blick in die aussen liegende «Säulenhalle» unter der Kornschütte frei, der durch die durchgehende Schrägstellung der Fensterrahmen allerdings etwas beeinträchtigt wird. Die bestehende Küche liegt im 1. Obergeschoss, und die neuen Infrastrukturräume für Technik, Kühlung, Lagerung und Entsorgung wurden unter den rückwärtigen Barockgarten gebaut. Ähnlich wie beim Gästehaus gelingt es hier, durch die Neuordnung eine beruhigende Klärung zu schaffen.

Polygonale Faltungen

Für den innenräumlichen Zusammenhalt der vier Bereiche sorgen eine durchgehende Gestaltung und Materialisierung der raumbildenden Oberflächen. Bestimmend ist eine zur äusseren Dachlandschaft «gegengleich» gefaltete Deckenuntersicht; der Zwischenraum nimmt die Haustechnik auf. Die Untersicht wurde mit einem Täfer verkleidet, das die traditionellen Holztäferungen wie diejenige im Refektorium des Klosters referenziert. Die Geometrie des Täfers aus einem polygonalen Netz aus Rahmen mit Füllungen, die als fein gelochte Akustikplatten fungieren, stammt von Geometrieingenieur Urs Beat Roth (vgl. TEC21, 16/2008) und beruht auf dem vorgegebenen Leuchtenraster. Das strukturelle Prinzip der Rahmen und Füllungen interferiert mit der nichtstrukturellen, weil plastisch modellierten Deckenfaltung. Diese Interferenz wird in der Diskrepanz zwischen der Hochpräzision in Planung und den bei der Ausführung in Kauf zu nehmenden Ungenauigkeiten augenfällig: Durch die Schrägschnitte bestehen an den Knicken zwischen an sich fortlaufenden Rahmenteilen teilweise mehrere Zentimeter Differenz. Auch das optische Zusammenwirken mit den diagonal laufenden Fensterrahmen und der tektonische Übergang von Dach und Fassade scheinen unklar, da sich beispielsweise die Deckenverkleidung über die tragenden Pfosten der Fassade schiebt. Analog der Decke und in der Logik einer freien Grundrissentwicklung zieht sich auch der Boden, ein fugenloser, geschliffener Hartbetonbelag, durch alle Raumbereiche. Die Sockelmauern wurden mit einem grauen, ausgesiebten Kalkgrundputz überzogen. Zusammen mit dem schlichten, dunkelrot gebeizten Mobiliar schafft die Materialität des Innenraums eine kühle, elegante Stimmung.

Der Aussenraum ist klarer artikuliert als zuvor und erhält seine neue Prägung fast ausschliesslich durch die Architektur. Der vordere Kiesplatz der Gartenwirtschaft wird durch die winkelförmige Volumetrie gefasst und durch die Neuplatzierung des Laurentiusbrunnens zentriert. Sämtliche Fenster des Restaurants können nach aussen hin geöffnet werden und schaffen in der warmen Jahreszeit eine adäquate Durchlässigkeit zwischen Aussen- und Innenraum. Der rückwärtige Barockgarten erhielt mit dem Unterbau der Infrastrukturräume eine Klärung, indem er durch den Bau eine Sockelmauer mit Treppenaufgang als Parterre stärker gefasst wurde.

Gleichgewichtszustände

Bei allen besprochenen Projektteilen ist es den Architekten gelungen, eine jeweils spezifische, dem Vorhaben angemessene Lösung zu entwickeln. Während die Eingriffe im oberen Gästehaus ihr Gleichgewicht in einer Stärkung des ursprünglich intendierten Charakters respektive der räumlich angelegten Disposition finden, geht das Projekt der Restauration – seiner Bedeutung in der Gesamtanlage entsprechend – einen Schritt weiter und schafft es, der Kartause als Ganzer ein neues Gepräge zu geben. Die besondere Leistung besteht dabei in der Selbstbehauptung der Architektur im Spannungsfeld von Betrieb und Denkmalpflege, wobei die Neuordnungen und Klärungen niemals die gewachsene, konglomerate Ordnung der Kartause in Frage stellen.



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tec21 2009|26 Innere Werte

02. März 2007Judit Solt
db

Innere Einkehr

Das ehemaligen Kloster dient heute als Ort der Begegnung und als Seminarhotel. Die sehr reduzierte Gestaltung der Hotelzimmer atmet den Geist von Mönchszellen. Ein besinnlicher Ort, um der Hektik des Alltags zu entfliehen.

Das ehemaligen Kloster dient heute als Ort der Begegnung und als Seminarhotel. Die sehr reduzierte Gestaltung der Hotelzimmer atmet den Geist von Mönchszellen. Ein besinnlicher Ort, um der Hektik des Alltags zu entfliehen.

Die Kartause Ittingen zählt zu den wichtigsten Kulturdenkmälern im Thurgau: Die Gründung durch die Augustiner geht auf das Jahr 1150 zurück. 1461 wurde die Anlage an den Kartäuserorden verkauft, dem sie fast vier Jahrhunderte lang als Kloster diente. Die ehrwürdige Bausubstanz – Mönchsklausen, Refektorium, Kapitelsaal, Sakristei und Klosterkirche – ist bis heute weitgehend erhalten geblieben, obwohl die Kartause 1848 säkularisiert und später als privater Landwirtschafts-, Weinbau- und Weinhandelsbetrieb genutzt wurde. In den letzten zwei Jahrzehnten hat das ehemalige Kloster als Seminarzentrum neue Bekanntheit erlangt; zurzeit umfasst der Betrieb zwei Hotels mit insgesamt 67 Betten, ein Restaurant und 21 Räume für Workshops und Kongresse. Weiterhin gibt es ein landwirtschaftliches Gut mit Käserei und Weinbau, einen Laden, ein Heim und einen Werkbetrieb für psychisch und geistig Behinderte, ein evangelisches Begegnungs- und Bildungszentrum sowie zwei Museen im inneren Klosterbezirk.

Verantwortlich für den ungewöhnlichen Nutzungsmix ist die Stiftung Kartause Ittingen, welche das Kloster 1977 gekauft und in den folgenden Jahren restauriert hat. Das Betriebskonzept beruft sich auf die »an diesem Ort gelebten klösterlichen Werte wie Fürsorge, Bildung und Begegnung, Besinnung, Spiritualität und Naturverbundenheit«. Damit hat die Stiftung insbesondere in Bezug auf den Seminarbetrieb ökonomische Weitsicht bewiesen. Schließlich ist die Kartause Ittingen keineswegs das einzige Seminarzentrum der Ostschweiz, die Region ist reich an ebenso idyllisch gelegenen Konkurrenten: Auf diesem gesättigten Markt stellt Geschichte ein nicht zu vernachlässigendes Verkaufsargument dar. Mit viel Sorgfalt widmet sich die Stiftung deshalb der Erhaltung und Aufwertung der historischen Bausubstanz; dass diese nicht – wie es nur allzu oft geschieht – zur kommerziellen Kulisse verkommt, sondern mit viel Sensibilität gepflegt wird, kann den Verantwortlichen nicht hoch genug angerechnet werden.

Ein Ganzes aus alt und neu

Jüngstes Beispiel dieses baukulturellen Engagements ist der Umbau des Unteren Gästehauses. Das Ökonomiegebäude aus dem 18. Jahrhundert ist seit seiner Entstehungszeit laufend den neuesten Bedürfnissen der Landwirtschaft angepasst worden. Zwischen 1977 und 82 erfolgte die Umnutzung zu einer einfachen Herberge mit Mehrbett-Zimmern, Etagenbädern und Seminarräumen; Projektarchitekten waren damals Esther und Rudolf Guyer, die im Auftrag der Stiftung während 25 Jahren für die baulichen Interventionen in der Kartause verantwortlich zeichneten. Mit der Zeit ging die Nachfrage nach bescheidenen Unterkünften indes kontinuierlich zurück. Es erfolgte der Beschluss, die Herberge in ein Seminarhotel neuesten Standards zu transformieren. Ausschlaggebend waren neben gestiegenen Komfortansprüchen auch betriebliche Überlegungen: Durch den Umbau sollte ein gleichwertiges Pendant zum Oberen Gästehaus entstehen, das bereits als Seminarhotel diente. Es galt, die beiden Hotels zu einem einzigen Betrieb zusammenzufassen und dank einheitlicher Übernachtungspreise mehr Flexibilität bei der Auslastung zu erzielen. Den 2001 unter drei Architekturbüros ausgeschriebenen Studienauftrag – Esther und Rudolf Guyer gingen damals in Pension – konnten Harder und Spreyermann für sich entscheiden.

Heute präsentiert sich das Untere Gästehaus, das eine markante Ecke der Klosteranlage bildet, als kraftvolles Volumen mit schwerem Dach. Den Architekten ist es gelungen, die nach vielen Umbauten etwas chaotische Erscheinung des Gebäudes zu vereinheitlichen. Die Erker aus den achtziger Jahren, die das Dach durchstießen und die Fassade dominierten, wurden entfernt und neue Öffnungen hinzugefügt. Dabei vermieden Harder und Spreyermann jede kontrastierende Gegenüberstellung von Alt und Neu. So ist etwa das kleine Fenster unter dem Quergiebel kaum als neu zu identifizieren; und obschon das Schiebefenster im Foyer oder das Panoramafenster im Dachgeschoss unverkennbar aus unserer Zeit stammen, zeigen sie die gleichen massiven Laibungen wie auch die im Original erhaltenen Tore und Fenster. Trotz teilweise sehr unterschiedlicher Formate bilden alte und neue Öffnungen eine harmonische Komposition, die den muralen Charakter des Gebäudes unterstreicht.

Luxuriöse Kargheit

Auch im Inneren werden längst vergessene Qualitäten des Altbaus wieder spürbar. Die Dimension des ursprünglich zusammenhängenden Raumvolumens, das durch spätere Einbauten in funktional unabhängige Teile getrennt worden ist, wird durch einen haushohen Treppenturm wirkungsvoll inszeniert. Wie eine riesige Skulptur nimmt der Turm die Mitte des Hauses ein: Im Erdgeschoss öffnet er sich zum Foyer, in den beiden Obergeschossen erweitert er sich zu verschiedenen Aufenthaltsbereichen, im Dachgeschoss kulminiert er in einer großen Halle unter dem Quergiebel, die wiederum zur bestehenden Kaskadentreppe der Aula führt. Der Treppenturm leistet indes mehr als die Herstellung räumlicher Zusammenhänge: Dank den künstlerischen Interventionen von Harald F. Müller und Ernst Thoma fungiert er zugleich auch als Zentrum eines Farb- und Klangraumes, in dem sich die Geschichte der Kartause in abstrahierter Form niederschlägt. Harald F. Müller hat zwei Wände des Gästehauses auf der Basis einer Farbanalyse der historischen Gebäude gestaltet. Die Stirnwand des Foyers ist türkisblau, während die über drei Geschosse aufragende Wandscheibe des Treppenturms in einem kräftigen Rot leuchtet, dessen Reflexionen die weiß gekalkten Betonoberflächen in wechselnde Farbschattierungen tauchen. Die Klanginstallation von Ernst Thoma wiederum zeichnet mit kurzen, unvermittelt durch die Räume hallenden Klangstücken den Tagesrhythmus der Mönche nach. Selbst die zurückhaltenden Beschriftungen des Grafikers Urs Stuber sind von strenger Schlichtheit.

Die moderne Interpretation klösterlicher Motive prägt auch die Gästezimmer. Die Räume sind von der Einsamkeit, Konzentration und Kargheit der Kartäuserzellen inspiriert: Weiße Wände, Böden aus beige-grauem Hartbeton, als Möbel gibt es lediglich ein Bett und einen Stuhl aus massivem Holz. Dennoch wirken die Zimmer nicht unterkühlt: Die ungewohnte Leere lässt die Sinnlichkeit der Materialien umso deutlicher hervortreten. In aller Ruhe gleitet der Blick, einmal nicht durch unzählige Alltagsgegenstände abgelenkt, über die ausgewogenen Linien des Raums und der Möbel. Manchen Gast mag die Ordnung des Zimmers zu einer Ordnung der eigenen Gedanken inspirieren. Auf jeden Fall steht die heitere, fast meditative Ruhe der »Zellen« in erholsamem Kontrast zu dem, was die meisten wohl vom Reisen oder womöglich auch von zu Hause kennen: Reizübersättigung und Chaos. Dennoch verfügen die Zimmer über alle Annehmlichkeiten eines Seminarhotels. Ein frei im Raum stehender Holzkubus verbirgt Garderobe, Dusche, WC, Waschbecken, Ablagen und Minibar; ein Flatscreen-Fernseher und eine Tischplatte können herausgeklappt werden. So einfach der minimalistische Block auf den ersten Blick wirkt, so kunstvoll ist die Infrastruktur darin integriert. Dies mag als Widerspruch zur scheinbar mönchischen Einfachheit der Zimmer gelesen werden – viel eher aber als Brückenschlag in vergangene Jahrhunderte: Mit ebenso pragmatischer Virtuosität waren die hölzernen Bettnischen in den Klausen der Kartäuser verborgen.

Die Architektursprache von Harder und Spreyermann ist präzise und vielschichtig, selbstbewusst und rücksichtsvoll. Über 800 Jahre Kulturgeschichte sind ein wertvolles USP für ein Seminarhotel – und eine hohe Messlatte für bauliche Interventionen. Diesbezüglich ist das Untere Gästehaus der Kartause Ittingen ein Glücksfall: Alt und Neu ergänzen sich harmonisch, der Bezug auf klösterliche Motive wirkt raffiniert und selbstverständlich.



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