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Presseschau

18. März 2005Ulf Meyer
Neue Zürcher Zeitung

Steingewordene Geschichte

(SUBTITLE) Moshe Safdies neues Holocaust-Museum in Jerusalem

Je weniger Menschen sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch persönlich vom grössten Völkermord des 20. Jahrhunderts berichten können, desto wichtiger wird es, die Erinnerung an ihn den nachwachsenden Generationen weiterzugeben. Deshalb wurde in Yad Vashem ein neues Holocaust-Museum von Moshe Safdie errichtet.

Je weniger Menschen sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch persönlich vom grössten Völkermord des 20. Jahrhunderts berichten können, desto wichtiger wird es, die Erinnerung an ihn den nachwachsenden Generationen weiterzugeben. Deshalb wurde in Yad Vashem ein neues Holocaust-Museum von Moshe Safdie errichtet.

Wie ein Pfeil durchbohrt das neue Jerusalemer Holocaust-Museum den Har Hasikaron, den Berg des Gedenkens, und duckt sich unter Tag, um das tröstlich wirkende Grün von Yad Vashem bestmöglich zu erhalten. Nur Anfang und Ende des überwiegend unterirdischen Gebäudeprismas ragen wie schwebend aus dem Hügel heraus und bilden Ein- und Ausgang des neuen Museums. Das im Schnitt dreieckige Gebäude wird durch ein 175 Meter langes, den Hügel durchschneidendes Oberlichtband natürlich belichtet. Mit ihm ist die 1953 eröffnete Gedenkstätte Yad Vashem nach zehn langen Jahren des Planens und Bauens um einen Ort des Erinnerns erweitert worden. Entworfen wurde der ungewöhnliche, 56 Millionen Dollar teure Neubau von dem 1938 in Haifa geborenen Moshe Safdie, der Architekturbüros in Boston, Toronto und Jerusalem unterhält und bereits das Kindermahnmal und das Transport Memorial in Yad Vashem gebaut hat.

Von der Finsternis zum Licht

Der vor drei Tagen in Anwesenheit von Politikern aus aller Welt feierlich eingeweihte Neubau (NZZ 16. 3. 05) ersetzt das bestehende Holocaust- Museum von Yad Vashem, das in den letzten Jahren zunehmend als etwas «altbacken» kritisiert wurde: Zu streng chronologisch und zu abstrakt war vielen Besuchern die Präsentation geworden - besonders nachdem das in Washington eröffnete Holocaust-Museum neue Standards für das Holocaust-Gedenken in der Museumsdidaktik gesetzt hatte: Modernste Technik und authentische Exponate anstelle von zweidimensionalen Fotos und Dokumenten machen dort das Erlebnis der Museumsbesucher persönlicher und plastischer. Mit dem neuen Konzept des Jerusalemer Museums ist deshalb auch die Hoffnung verbunden, in der Öffentlichkeit wieder mehr Anteilnahme am unermesslichen Leid zu wecken, das von den Todeslagern ausging. Hatten 1999 noch über zwei Millionen Menschen Yad Vashem besucht, war diese Zahl drei Jahre später auf unter 570 000 gefallen und ist seitdem nur geringfügig angestiegen, obwohl Yad Vashem nach wie vor ein Muss für jeden israelischen Schüler und Soldaten sowie für jeden Staatsgast und Touristen ist. Es ist bis heute das beeindruckendste Areal weltweit, das dem Gedenken an den Holocaust gewidmet ist.

Weil immer weniger Zeitgenossen eigene Erinnerung an die Vernichtungslager der Nazis haben, weil immer mehr Überlebende sterben, sollen den jüngeren und nachwachsenden Generationen die Lebensgeschichten der Opfer des Holocausts in Safdies Neubau möglichst lebendig erzählt werden. Das millionenfache Schicksal wird beispielhaft anhand von Tagebüchern und Videoaufzeichnungen erzählt. Diese sehr persönlichen Berichte, aus denen auch geschichtlich Bewanderte neue Informationen ziehen können, berühren emotional aufs Stärkste. Dazu kommt, dass der Weg durch das neue Museum einer eindrücklichen architektonischen Dramaturgie folgt: von der dunklen Vergangenheit in Europa zur lichten Zukunft in Israel. Schon vom Eingang aus blicken Besucher entlang des Gebäudes mit seinen Oberflächen aus rohem Sichtbeton zum Licht am Ende des Pfades, steigen hinab in die düstere Geschichte bis 1945 und anschliessend wieder empor. Unpassierbare Furchen im Betonboden des Mittelgangs, die für Wendepunkte in der Geschichte der Shoah stehen, zwingen die Besucher in dem mit 4500 Quadratmetern auf mehr als die dreifache Ausstellungsfläche angewachsenen neuen Haus dazu, einen Zickzackweg durch die unterirdischen Kabinette zu beschreiten: Die Wendepunkte der Geschichte müssen begangen werden, weil der Weg geradeaus versperrt ist. Denn so linear, wie der prismatische Zentralraum des Museums auf den ersten Blick glauben machen könnte, verlief die Geschichte nicht.

Räumlich und inhaltlich am beeindruckendsten ist die kreisrunde «Halle der Namen» am Ende des narrativen Pfades durch das neue Museum: In einem abgehängten Kegelstumpf aus Glas hängen hinterleuchtete Fotos von fast 600 ermordeten Juden und blicken auf die Besucher hinab. Darunter befindet sich eine spiegelbildliche, trichterförmige Aushöhlung, die elf Meter tief bis hinunter auf den Fels reicht und mit Wasser gefüllt ist. In dessen Oberfläche spiegeln sich die Halle und mit ihr die Gesichter aus dem Kegel darüber, während sich vor den eigenen Füssen ein Abgrund auftut. Die fotografierten Gesichter repräsentieren die bekannten, die unheimliche Grube aber die unbekannten Opfer des Massenmords. Rundherum stehen grosse schwarze Regale, in denen Millionen von Dokumenten der namentlich bekannten Opfer des Judenmords stehen, die in Yad Vashem gesammelt wurden.

Krönung von Safdies Werk in Israel

Der Weg der Museumsbesucher führt schliesslich zu einem grossen Balkon im Freien mit herrlichem Ausblick auf die Hügellandschaft Jerusalems. Zwei grosse seitliche Betonflügel - für deren Ausführung eine Ausnahmegenehmigung eingeholt werden musste, weil die Gebäude Jerusalems sonst mit dem örtlichen Kalkstein verkleidet sein müssen - rahmen trichterförmig den Blick auf das Gelobte Land. Hier also tritt man aus dem Dunkel der Geschichte hinaus ans Licht. Dieses Licht am Ende des Tunnels steht für die jüdische Heimkehr nach Israel. Anschliessend gelangt man vom Aussichtsbalkon aus zum neuen Museum für Holocaust-Kunst, zur Synagoge und zu einer grossen Galerie für Sonderausstellungen.

In seiner Wirkung als Abbild der jüdischen Existenz zwischen Shoah und hoffnungsvoller Zukunft kommt dem neuen Holocaust-Museum in Israel nationale Bedeutung zu. Nicht zuletzt deshalb stellt es die Krönung dar von Safdies Werk in Israel, wo der Architekt schon seit über 35 Jahren baut. Nach einem glänzenden Karrierestart mit der modularen Wohnanlage Habitat auf der Weltausstellung von 1967 in Montreal kehrte Safdie nach dem Sechstagekrieg zeitweise wieder zurück in seine Heimat. Denn nachdem Israel sich 1967 die Kontrolle über die Altstadt von Jerusalem erkämpft hatte, konnte Safdie umfangreiche Pläne für die Neugestaltung des jüdischen Viertels und für den Vorplatz der Klagemauer entwerfen, die zwar nur teilweise realisiert wurden, für ihn aber zum Auftakt einer Karriere in Israel wurden. Seitdem hat Safdie Jerusalem wie kein zweiter zeitgenössischer Architekt geprägt. Der Campus des Hebrew Union College wurde zum Höhepunkt der monumentalen, neoorientalistischen israelischen Postmoderne, und Safdies Architektursprache emanzipierte sich zusehends vom Strukturalismus und von den Geometrien seines einstigen Lehrmeisters Louis Kahn.

Das Kindermuseum von Yad Vashem, das nach Safdies Plänen 1987 fertiggestellt wurde, nahm bereits zwei wichtige Elemente des Entwurfs für das neue Holocaust-Museum vorweg. Ein unterirdischer Gedenkraum öffnet sich auch dort mit einem grossen Trichter zur Aussenwelt. Was der New Yorker Architekturkritiker Paul Goldberger über diesen kleinen Vorläufer des Museums sagte, nämlich es sei «bewegend, ohne melodramatisch» zu sein, gilt auch für dessen grossen Bruder in Yad Vashem.

15. März 2005Ben Segenreich
Der Standard

Die Menschen hinter den Millionenzahlen

Eine derartige Ansammlung politischer Prominenz hat Israel seit dem Begräbnis des ermordeten Premiers Yitzhak Rabin vor bald zehn Jahren nicht mehr gesehen....

Eine derartige Ansammlung politischer Prominenz hat Israel seit dem Begräbnis des ermordeten Premiers Yitzhak Rabin vor bald zehn Jahren nicht mehr gesehen....

Eine derartige Ansammlung politischer Prominenz hat Israel seit dem Begräbnis des ermordeten Premiers Yitzhak Rabin vor bald zehn Jahren nicht mehr gesehen. Die gleichzeitige Anwesenheit von UN-Generalsekretär Kofi Annan, sieben Staatspräsidenten, sieben Regierungschefs, drei Außenministern und vielen weiteren hochrangigen Vertretern vor allem europäischer Staaten, unter ihnen Österreichs Kulturstaatssekretär Franz Morak, wird Polizei und Autofahrern in Jerusalem zwei Tage lang einigen Stress bescheren. Doch die Israelis sind dankbar für diese internationale Verbeugung vor der Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem, die am Dienstagabend ihr neues „Museum der Geschichte des Holocaust“ eröffnet.

„Ein Anblick, den ich nicht vergessen werde, solange ich lebe“, schreibt der Lehrer Abraham Lewin, der im Warschauer Getto ein Tagebuch führte. „Fünf winzige Kinder, zwei und drei Jahre alt, sitzen in der Nacht von Montag auf Dienstag auf einem Bettchen im offenen Feld und rufen: Mammi, Mammi, ich will essen.“ Lewin wurde mit seiner Tochter bei der großen Deportation 1943 getötet, seine Frau verschwand in Treblinka.

Systematisch lässt das neue Museum Einzelschicksale wie jenes der Familie Lewin hinter den unfassbaren Millionenzahlen aufblitzen. „Wir zeigen die allgemeine Geschichte des Holocaust“, erläutert Yad-Vashem-Sprecherin Estee Yaari, „und wir zeigen die Menschen, die durch den Holocaust gegangen sind, das menschliche Gesicht im Holocaust. Es gibt das Gesamtbild, und dann gibt es ein Tagebuch oder ein Kunstwerk oder ein Gerät oder ein Zeugnis, das von Angesicht zu Angesicht erklärt, worüber wir reden.“

Das mehr als 50 Jahre alte Institut stand vor der Herausforderung, die Erinnerung an den Holocaust ins 21. Jahrhundert zu retten, in eine Ära also, in der die Überlebenden und Zeugen nicht mehr da sein werden und in der man mit modernen Mitteln auf die nachfolgenden Generationen zugehen muss.

Das aufwändigste Projekt dabei war das neue Museum, schon wegen der kühnen Konstruktion des kanadisch-israelischen Architekten Moshe Safdie. Ein düsterer Betontunnel, fast 200 Meter lang, durchschneidet den „Berg des Gedenkens“ und endet in einer Art Schanze, die zurück ins Licht und ins Leben von Jerusalem weist.

Ein weißes Modell, dessen Anblick schwer zu ertragen ist, macht klar, wie groß die Gaskammern von Auschwitz waren und wie viele Menschen hineingepfercht wurden. In einer Ecke daneben liegen Blechbehälter mit einem türkisfarbenen Kristallpulver. „Zyklon B - Giftgas“, steht auf den gelb-roten Etiketten. „Kühl und trocken lagern. Nur durch geübtes Personal zu öffnen und zu verwenden.“

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