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14. April 2012Maik Novotny
Der Standard

Mit Schwung in die letzte Kurve

Das Museo Casa Enzo Ferrari verkörpert das Vermächtnis der Automobil-Ikone. Und auch das seines eigenen Architekten.

Das Museo Casa Enzo Ferrari verkörpert das Vermächtnis der Automobil-Ikone. Und auch das seines eigenen Architekten.

Museumsdirektorin Adriana Zini legt letzte Hand an. Mit prüfendem Blick steht sie vor der Staffelei mit dem Foto des älteren Mannes mit faltigem Charaktergesicht und weißem Haar, der ganz in Schwarz gekleidet barfuß auf dem Boden sitzt: Jan Kaplický, der Architekt ihres Museums. Wenn das Erste, das man beim Betreten eines Gebäudes sieht, ein Porträt seines Erbauers ist, platziert vom Bauherrn selbst, dann muss schon eine seltene Verbundenheit dahinterstecken.

Es ist die Verbundenheit der Biografien zweier markanter Männer, von der das Museo Casa Enzo Ferrari in Modena, das am 12. März eröffnet wurde, erzählt. Die des illustren Motormagnaten, um dessen schlichtes Geburtshaus sich der Neubau mit konkavem Schwung respektvoll schmiegt, und die des Architekten vom Londoner Büro Future Systems.

Als dieses den Wettbewerb für den Neubau zwischen Bahnlinie und Stadtzentrum mit dem Entwurf eines geflügelten Dachs gewann, das mit seinen zehn Lüftungsschlitzen die Karosserie eines Rennwagens evozierte, war dies ein Ergebnis, wie es logischer und zwingender nicht sein konnte. Schließlich hatten Future Systems von allen Hightech-verliebten Formfindern schon immer die elegantesten Kurven im Stall.

1937 in Prag geboren, war Kaplický 1968 nach London geflüchtet, mit nichts als 100 Dollar und zwei Paar Socken im Gepäck. Das Erlebnis der plötzlichen ungezügelten Freiheit sollte ihn ein Leben lang prägen. 1979 gründete er Future Systems und machte sich daran, sein Verdikt There is not enough flying in architecture tatkräftig zu falsifizieren.

1984 sorgte sein ungebauter, wie ein Barbapapa-Pfefferstreuer aussehender Blob-Entwurf für die National Gallery noch für Gelächter unter den Architektenkollegen. Später kopierten sie seine im retrofuturistischen Raum zwischen Luigi Colani und Oscar Niemeyer angesiedelten Kurven en masse.

Mit seiner britischen Büro- und Lebenspartnerin Amanda Levete erlebte Kaplický seine erfolgreichste Zeit: Das weiße Periskop des über der Tribüne des ehrwürdigen Lord's Cricket Ground schwebenden Media Center machte das Duo 1995 weltbekannt, die mit schimmernden Pailetten besetzte Mega-Amöbe des Kaufhauses Selfridges in Birmingham schließlich war das Meisterwerk.

Blobs, Periskope und Amöben

Danach trennten sich Levete und der als empfindlich und schwierig geltende Kaplický zuerst privat, dann auch beruflich. Kaplický kehrte nach Tschechien zurück, sorgte dort mit dem Entwurf für die Nationalbibliothek für Aufruhr, heiratete erneut. Das neue Lebenskapitel endete abrupt, als er im Jänner 2009, Stunden nach der Geburt seiner Tochter, in Prag auf der Straße zusammenbrach und starb.

Das Museum in Modena, sein letztes Werk, stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor dem Spatenstich. Die Vorzeichen jedoch hatten sich inzwischen geändert. Zu Projektbeginn waren Ferrari und Maserati unter der Führung Luca di Montezemolos noch einig verbunden.

Dessen Idee war es gewesen, die alte Ferrari-Werkstatt um ein Museum zu ergänzen - für Maseratis. Ab 2005 ging man wieder getrennte Wege, und die Stadtväter wollten lieber der Geschichte der Automobilhochburg Modena und des Erfindergeistes der Emilia-Romagna gedenken.

So wechselte die Farbe des fliegenden Flügels vom Maserati-Blau zum Ferrari-Gelb. Die kurvige Form blieb unverändert. Kaplickýs engstem Mitarbeiter, dem gebürtigen Mailänder Andrea Morgante, fiel es nun zu, das Werk zu vollenden.

„Jan und ich hatten eine gemeinsame Leidenschaft für Autos und Flugzeuge“, erklärt Morgante. „Von den 1940er- bis in die 1960er-Jahren war das Autodesign eine Kunst für sich: perfekt geformte Karosserien, die die Freiheit dieser Zeit verkörperten. Deswegen konnte das Museum nicht einfach eine Kiste sein, es musste nach Automobil aussehen!“

Da das Ausstellungskonzept erst spät feststand, oblag Morgante auch die Gestaltung des Innenraums und der Exponate. Das Resultat ist wie aus einem Guss: strahlend weiß, mit eleganten Details wie der umlaufenden Vitrine und den vom Boden abgehobenen Plattformen für die Boliden. „Flying in architecture“ eben. Dazwischen: viel Raum, viel Leere. „Wir wollten den Besucher nicht überwältigen. Jedes Auto braucht Luft zum Atmen - wie ein Gemälde in einer Galerie“, sagt Morgante.

Das Auto als Kunstobjekt

„In Norditalien gibt es viele Sammlermuseen, die auf kleinem Raum sehr viele Autos zeigen und wie Garagen aussehen“, stimmt Direktorin Adriana Zini zu. „Hier sollen sie wie Kunstobjekte für sich stehen.“ Etwas mehr als die nun gezeigten 14 Alfas, Maseratis und Ferarris würde der Raum durchaus vertragen - immerhin: Drei Reserveplätze sind vorgesehen.

Grund für die Sparsamkeit: Anders als die Blockbuster-Museen von BMW, Mercedes und Porsche ist man hier für die Exponate auf Leihgaben angewiesen. „Das sind große Marken mit genug Geld, sich ihr eigenes Museum zu bauen“, erklärt Morgante. „Hier hatten wir ein Budget von gerade mal 14 Millionen.“ Finanziers: Stadt, Provinz und EU.

Enger und intimer, wenn auch nicht weniger kurvig ist die Ausstellung im Altbau des Geburtshauses. Neben Exponaten wie der originalen Enzo-Sonnenbrille werden die Stationen seines Lebens - Konstrukteur, Rennfahrer, glamouröser Firmenboss - erzählt. Die Sonnenbrille ziert auch das Logo des Museums, das auf ferrarigelbe Tüchern in ganz Modena unübersehbar verteilt wurde.

Mit Erfolg: 20.000 Besucher zählt man im ersten Monat seit der Eröffnung. „Manche wundern sich, weil sie nur Ferraris erwarten, aber die Geschichte, die wir erzählen, fasziniert alle“, freut sich die Direktorin. Die Geschichte zweier sperriger Charakterköpfe, verbunden durch die Liebe zu Kurven und Geschwindigkeit.

„Kurz nach Kaplickýs Tod bin ich nach Birmingham gefahren, um mir das Selfridges-Kaufhaus anzusehen“, erinnert sich Adriana Zini mit leuchtenden Augen. „In diesem Moment habe ich ihn verstanden.“ Sie rückt die Staffelei mit dem Porträt liebevoll ein paar Millimeter zurecht. „Er war eben ein Genie.“

09. Februar 2010Alex Haw
db

Kühle Verführung

Um die an einer engen Straße gelegenen Räume eines Bürogebäudes mit Tageslicht versorgen zu können, kippten die Architekten Oberlichter aus der Fassadenebene heraus, mit denen sie das Zenitallicht einfangen. Eine doppelt gekrümmte Gebäudehaut aus Aluminium zeichnet die komplizierte Wellengeometrie der Fassade nach. Sie ist anziehend und irritierend zugleich, sie nimmt einerseits durch Spiegelung die Farben der Umgebung in sich auf, erscheint andererseits aber glatt und abweisend – ein attraktives aber auch zweischneidiges Spiel mit Formen und Oberflächen.

Um die an einer engen Straße gelegenen Räume eines Bürogebäudes mit Tageslicht versorgen zu können, kippten die Architekten Oberlichter aus der Fassadenebene heraus, mit denen sie das Zenitallicht einfangen. Eine doppelt gekrümmte Gebäudehaut aus Aluminium zeichnet die komplizierte Wellengeometrie der Fassade nach. Sie ist anziehend und irritierend zugleich, sie nimmt einerseits durch Spiegelung die Farben der Umgebung in sich auf, erscheint andererseits aber glatt und abweisend – ein attraktives aber auch zweischneidiges Spiel mit Formen und Oberflächen.

Die Zukunft von Future Systems liegt seit dem Tode von Jan Kaplický wohl allein in der Arbeit Amanda Levetes, obwohl diese sich bereits 2008 aus dem gemeinsamen Büro herausgelöst hatte, um ihr eigenes zu eröffnen und die gemeinsam entwickelten Entwurfsmethoden aus ihrer eher geradlinigen Haltung heraus fortzuführen. Eines ihrer ersten Soloprojekte ist wenig mehr als eine schlichte, fast spröde, aber auch verführerische und höchst reizvolle Hülle: Ein kleines, unauffälliges Gebäude aus den 70er Jahren in Hills Place, einer Seitenstraße der Oxford Street, das Amanda Levete Architects zu Großraumbüros für Medienschaffende umbauten und das im Zuge der Aufstockung mehr Fläche und eine neue Fassade bekam. Im Mittelpunkt stand dabei die Belebung der neuen Aluminiumbekleidung, aus deren horizontaler Gliederung sich vier verglaste Wölbungen herausentwickeln, um die Ansicht in eine sanfte Bewegung zu versetzen. Die tränenförmigen Fenster, die sich wie Augen himmelwärts öffnen, sind angeblich von Lucio Fontanas geschlitzten Leinwänden inspiriert.

Haute Couture

In der Oxford Street dreht sich alles ums Einkleiden mit der neusten Mode, und die architektonische Runderneuerung von 10 Hills Place spielt dasselbe Spiel; alte und neue Bauteile werden in eine glänzende kosmetische Membran gehüllt, deren überraschende Zartheit und knittrige Oberfläche manch interne Falten des Projekts überdecken.

Laut der Architekten ist die Form der Fassade nach einer Analyse des Sonnenverlaufs zustande gekommen, doch die Anforderungen ihrer Geometrie, die spitzen Winkel im Schnitt und die sich gegenseitig verschattenden Auswölbungen, ebenso deren nonchalant nach Osten (statt nach Süden) gerichtete Symmetrieachse, legen nahe, dass das nicht so ganz stimmt. Die gestalterische Entwicklung des Projekts basiert wohl eher auf dem Erbgut jener Formenfamilie, die einst Future Systems entwickelt hat (und die nun die ganze Welt benutzt). Die sanfte Kurve der »Schlitzaugen« von 10 Hills Place erinnert an Vorgängerprojekte des Büros, aber genauso an die mittlerweile so vertrauten »wet grids« und eingedrückten Eiformen, die so manches aufstrebende Büro am Computer generiert.

Doch die zentrale formale Idee hat mit dem schließlich verwendeten Material nichts zu tun, war doch die Hülle als nahtlose einschalige Oberfläche aus Gummi oder Polyurethan geplant. Das Büro entschied sich für spritzlackiertes Aluminium, als klar wurde, dass billigere Materialien wie Putz unschön altern würden und dass die Hersteller anderer Oberflächen keine Garantie auf ausreichende Lebensdauer geben konnten. Und so wurde das Material, das in Birmingham in Hunderten einzelner Scheiben die runde Selfridges-Fassade bildet (s. db 11/2003), zu Streifen einer funktionalen, wasserdichten Fassade gestreckt, deren polierte Facetten schimmernde psychedelische Effekte aus verstreuten Reflexionen des Himmels und der Stadt produzieren. Die ursprünglichen Pläne für ein tiefes Schwarz oder ein kühnes Dunkelrot wurden zugunsten einer alltäglicheren Metalloberfläche eingemottet; beim Aufspritzen der Silberfarbe ergaben sich unterschiedliche, matte Grautöne, die leider nicht gut zueinander passen und dadurch die Gesamtwirkung noch mehr dämpfen. Auffälliger Schmuck, wie man ihn von vielen verspielten Future Systems-Projekten her kennt, fehlt. In öffentlichen Äußerungen weist Levete diplomatisch den örtlichen Planungsbehörden das Verdienst für diese angemessene Zurückhaltung zu; im privaten Gespräch beklagt der Projektarchitekt die bürokratischen Fußfesseln.

Viele der früheren Arbeiten von Future Systems bezogen sich auf fantastische Autos, Schiffe und Weltraumraketen – Science-Fiction-Seitenhiebe auf Fetische der Moderne. Ihr preisgekröntes Media Centre für Lord's Cricket Ground (s. db 10/1999) wurde von einem Schiffsbauer errichtet, und auch der Hersteller der Fassade von 10 Hills Place ist u. a. auf Bootshüllen spezialisiert. 140 mm breite Nut-und-Feder-Profile wurden so zusammengefügt, dass eine wasserdichte, geschmeidige, »hydrodynamische« Form entstand. Die am Gebäude entlang streichenden Bänder erinnern an die Luftströmung in einem Windkanal und überstrahlen dabei subtil die interessantesten Kraftlinien, nämlich die senkrechten Pfade des Regenwassers, das die »Augen« und »Wangen« des Gebäudes umspült. Um die Unterhaltskosten gering zu halten (die Reinigung von außen würde selbst Fachleute überfordern), sind die Fenster in dickem, gehärtetem selbstreinigenden Glas ausgeführt, dennoch waren sie bei meinem Besuch nicht wirklich sauber. Um jedoch zu vermeiden, dass die bei Regen überlaufenden Augen auf den Aluminium-Wangen Schlieren hinterlassen, verbirgt sich in der unteren geschlitzten Fensterleiste aus verchromtem Edelstahl ein schmaler Ablauf. Dieser Umstand verweist eindringlich auf die eigentliche Botschaft des Gebäudes: fließende Formen, schlichte Sinnlichkeit und ein unerwartetes (vor allem ästhetisch motiviertes) Bedürfnis nach Sauberkeit; denn wo die Fassade seines Nachbargebäudes aufgerissen ist, um durch euklidische Öffnungen Licht einzusaugen, öffnet sich die Außenhaut von 10 Hills Place vor allem dem Wasser; Fenster sind spärlich gesät, wohingegen die Entwässerung in voller Breite durchläuft. In der Tat ist der einzige skulpturale Akzent auf der ganzen Länge der höchst eintönigen Erdgeschossfassade ein flaches, glattes Gesims über dem opaken Mattglas-Sockel – eine feinsinnig platzierte »Unterlippe«, die als letztes Regenrohr für alles Wasser von oben dient.

Wie bei so vielen digitalen Projekten sollte jedes einzelne Paneel der Fassade sorgfältig und in höchster Präzision gefertigt werden. Doch Probleme in der Bauaufnahme (und allen folgenden Revisionen) machten sehr große Toleranzen erforderlich; wie Fontanas Leinwände ist die Fassade nun an allen Kanten gerahmt: Ein breiter Streifen Edelstahl trennt sie von ihrer Umgebung und betont die Losgelöstheit dieses skulpturalen Experiments. Um eine perfekte Passform zu erreichen, mussten die Koordinaten für das Material statt direkt aus einer Computerdatei von einem 1:1-Modell abgenommen werden.

Die Decken des Anbaus bestehen aus einem leichten Stahltragwerk, das auf den vorhandenen Fundamenten steht; die Treppenhäuser wurden schlicht und wirtschaftlich renoviert. Die Fassadenpaneele mussten zwar von unten nach oben montiert werden – jeder Streifen überdeckt die Verschraubung seines Vorgängers –, dies geschah jedoch geschossweise von der Traufe abwärts. Da sich die Ausführungsqualität während der Arbeiten verbesserte, zeigt sich beim Blick von der Dachterrasse aus auf das oberste, als erstes eingesetzte Oberlicht noch kein überzeugendes Ergebnis, während die untersten Paneele von deutlich mehr Kunstfertigkeit zeugen.

Die geneigte Verglasung (verstärkt von wunderschön im Bogen geschnittenen dreilagigen Glasschwertern) und die Fassadenverkleidung sind an einer Reihe verzinkter Stahlrippen befestigt, die schräg aus dem Haupttragwerk herausragen. An den Wölbungen liegen darauf zementgebundene Spanplatten, auf denen wiederum eine rasterförmige Unterkonstruktion aus weicher geformten, gedämmten CNC-gefertigten Holzteilen liegt. Die innere Oberfläche wurde, im extremen Kontrast zu ihrem maschinengefertigten äußeren Gegenpart, aufwendig von Hand hergestellt: Wo immer die Flächen in nur eine Richtung gewölbt sind, wurden Lagen aus biegsamem Sperrholz mit 6 mm Dicke verwendet, die sinnlichen mehrdimensionalen Kurven der engen Ecken mussten von spezialisierten Arbeitern von Hand aus Polystyrol zugeschnitten werden. Der gesamte Aufbau ist sorgfältig verputzt. Während man den Innenausbau als wohl durchdacht, aber nicht besonders überwältigend bezeichnen kann – jedes Geschoss konzentriert sich in aller Ruhe auf jeweils die eine neue Fensteröffnung –, zeugt die äußere Erscheinung von ebenso beeindruckender Entschlossenheit, fällt aber überschwänglicher und ekstatischer aus. Dennoch erweist sich die glitzernde, facettierte Oberfläche als ungewöhnliche, ja eigenartig unstimmige Wahl. Auch wenn sie wohl schwierig umzusetzen war und das Ergebnis intensiver Beschäftigung mit metallischen Spritzbeschichtungen ist, lenkt sie doch von der schlichten Geschmeidigkeit der vier schönen Fassadenformen ab und fesselt dabei das Auge weit weniger als man hoffen und erwarten könnte; man zwinkert – und hätte beinahe die schönen Augen übersehen.


verknüpfte Zeitschriften
db 2010|02 Material wirkt

09. Januar 2004Neue Zürcher Zeitung

Visionäre Baukünstler

Architektur in der Zeitschrift „Du“

Architektur in der Zeitschrift „Du“

In den vergangenen Jahren zu Leitmedien des kulturellen Diskurses avanciert, geniessen Architektur und Städtebau heute beim breiten Publikum Aufmerksamkeit wie nie zuvor. Dies spiegelt sich auch in den mehr oder weniger geglückten Architektur-Sonderheften der Zeitschrift «Du» wider. Es erstaunt daher nicht, dass sich deren letzte Nummer im alten Kleid erneut mit Baukunst befasst. Als Gastredaktor stellte Dietmar Steiner, Direktor des Architekturzentrums Wien, eine Ausgabe zusammen, die von baukünstlerischen Utopien handelt. Diesen spürt Bart Lootsma in einem Interview mit Winy Maas vom Rotterdamer Büro MVRDV im Kontext der helvetischen Raumplanung nach, deren Mythen anschliessend Fanni Fetzer analysiert. Während Dietmar Steiner das zukunftsweisende Potenzial von Jon Jerdes Shopping Malls auslotet, porträtieren Katharina und Gerhard Matzig die Visionen von Future Systems. Diese Londoner Kultarchitekten konnten jüngst für Selfridges in Birmingham einen blobartig-organischen Neubau vollenden (NZZ 1. 12. 03), der aussieht wie aus einem Zukunftsfilm, auch wenn Urs Steiner wenig später nicht ganz zu Unrecht feststellt, dass die Bauten von Hollywoods Science-Fiction-Baumeister, verglichen mit realer Avantgardearchitektur, meist eher alt aussehen. Abschliessend verleiht Jan Tabor diesen anregenden Texten mit einer Reise durch 2500 Jahre utopischer Architektur den nötigen kunstgeschichtlichen Rahmen.


[«Du» Nr. 742. Utopisches Bauen. Verlag Du, Zürich, Dezember 2003 / Januar 2004. 98 S., Fr. 20.-.]

07. September 2002Roman Hollenstein
Neue Zürcher Zeitung

Ein Blick in die Zukunft

Heute öffnet in Venedig die achte Architekturbiennale ihre Tore. Die weltgrösste Architekturausstellung zeigt unter dem Titel «Next» in den Corderie und im italienischen Pavillon wegweisende Bauten, die in nächster Zukunft vollendet werden sollen. Ausserdem warten in den Giardini die Länderpavillons mit weiteren Präsentationen auf.

Heute öffnet in Venedig die achte Architekturbiennale ihre Tore. Die weltgrösste Architekturausstellung zeigt unter dem Titel «Next» in den Corderie und im italienischen Pavillon wegweisende Bauten, die in nächster Zukunft vollendet werden sollen. Ausserdem warten in den Giardini die Länderpavillons mit weiteren Präsentationen auf.

Sie nennt sich klangvoll «Mostra Internazionale di Architettura», die Architekturbiennale von Venedig, die heute Nachmittag etwas im Schatten des Filmfestivals zur Vernissage lädt. Seit ihrem Start vor 22 Jahren ist diese in den Giardini und im Arsenal zum weltweit grössten Schaufenster für zeitgenössische Baukunst angewachsen. Doch während sie in ihrer ersten Ausgabe 1980 unter Paolo Portoghesi mit der aufsehenerregenden, als riesige Kulisse in den Corderie inszenierten und auf Genuas legendäre Palastmeile anspielenden Strada Novissima den Zeitgeist der architektonischen Postmoderne einfing und so der Architektur ein breites Publikum sichern konnte, ist ihr programmatischer und intellektueller Anspruch mit wachsender Grösse eher geschrumpft. Vor zwei Jahren klafften der hochgemute Titel und die inkohärente Präsentation besonders stark auseinander, forderte doch der damalige Direktor Massimiliano Fuksas «Less Aesthetics - More Ethics» und bot doch nicht mehr als ein mediales Spektakel. Als Antwort darauf versuchte nun der diesjährige Direktor, der fünfzigjährige Londoner Architekturvermittler Deyan Sudjic, das Steuer herumzureissen und statt flüchtiger Visionen künftige architektonische Realitäten zu zeigen, und zwar mit den herkömmlichen Darstellungsmitteln von Plan, Foto und stattlichen Modellen, die anders als die verwirrlichen Bilderorgien der Computersimulationen und Videoinstallationen auch einem Laienpublikum zugänglich sind.

Wenn nun Sudjic in den Corderie des Arsenals und im italienischen Pavillon mit der inszenatorischen Hilfe seines Landsmanns, des Architekten und Designers John Pawson, der jüngst in Valencia sein räumliches Können bewiesen hat (NZZ 16. 7. 02), in zehn prächtig eingerichteten Abteilungen eine nicht durchwegs überzeugende architektonische Bestandesaufnahme zeigt, so erweist er sich dennoch als geschickter Vereinfacher. Dadurch hilft er zwar dem globalen Architekturdiskurs nicht auf die Sprünge, macht aber sein Anliegen leicht verständlich. Denn der einst als avantgardistischer Mitbegründer der Zeitschrift «Blueprint» bekannt gewordene Sudjic setzt heute auf sichere Werte: Diese lassen sich mit der etwas abgedroschenen Formel «Stararchitekt» umschreiben. Auch wenn Sudjic behauptet, er habe die von ihm präsentierten Projekte nach ihrem Inhalt und nicht nach den Namen ihrer Schöpfer ausgesucht, so liest sich die Liste der im offiziellen Teil der Architekturbiennale vertretenen Baukünstler wie ein Who is who der zeitgenössischen Architektur von Ando bis Zumthor. Neuentdeckungen sind dabei kaum zu machen. Der Ausstellungsspaziergang durch die schier endlos langen Corderie führt vorbei an weit über hundert bedeutenden Entwürfen für Museen, Wohnhäuser und Freizeit- oder Bildungsbauten. Erwähnenswert ist aber vor allem die den Hochhäusern gewidmete Abteilung mit Pianos «New York Times»-Projekt und Fosters Londoner Swiss-Re-Entwurf. Ergänzt wird diese Sektion durch eine von Alessi finanzierte «City of Towers» mit acht stupenden Phantasien von Zaha Hadid über Toyo Ito bis Future Systems und mit den von der «New York Times» in Auftrag gegebenen World-Trade-Center-Studien von SOM.

Der Parcours wird im italienischen Pavillon weitergeführt, wo Sudjic zum Thema «Next Italy» Projekte von der Erweiterung der Galleria d'Arte Moderna durch Diener & Diener bis hin zu Fuksas' Umbau des EUR-Kongresspalastes vorstellt. Auch einige der rund dreissig Länderpavillons, die wie immer von eigenen Ausstellungsmachern eingerichtet wurden, stehen im Zeichen von «Next»: Kanada philosophiert über «Next Memory City», Finnland zeigt Architekten «Before Next», und Ägypten erzählt «The Next Story». Besinnt sich Deutschland mit der Präsentation von 12 Architekturschulen auf das «Next-liegende», so befragen die USA angesichts eines skulptural anmutenden Twin-Towers-Fragments die Zukunft des World Trade Center. Im Zeichen einer unsicher gewordenen Welt zieht sich Spanien auf «Paisajes internos» zurück, während Jugoslawien die Zeit von «Destruction & Construction» erforscht, Israel sein «Borderline Disorder» befragt, und Österreich überall «Madness with a method» sieht. Nur Venezuela glaubt: «Otro mundo es posible.» Und die Schweiz? Ihren Pavillon haben die Lausanner Jungarchitekten Décosterd & Rahm in ein «Hormonorium» verwandelt, einen überhellen Raum mit reduziertem Sauerstoffanteil, der eine Art Hochgebirgserlebnis vermitteln will. Damit schert die Schweiz auf sympathische Weise aus dem Mainstream der Länderpavillons aus und verzichtet einmal mehr auf die sonst so beliebten Leistungsschauen. Ob sie dafür den Goldenen Löwen für die beste Länderdarbietung erhält, ist gleichwohl fraglich. Denn den Engländern ist mit der virtuellen Vergegenwärtigung des bereits real existierenden Yokohama-Ferry-Port-Terminal von Foreign Office Architects eine ebenso irritierende wie überwältigende Schau gelungen. Als sicher gilt hingegen, dass der Leone d'oro für das Lebenswerk dem 61-jährigen Japaner Toyo Ito verliehen werden soll. Ein weiterer Goldlöwe ist für das beste Projekt der Ausstellung «Next» reserviert.


[ Die Architekturbiennale im Arsenal und in den Giardini dauert bis zum 3. November. Katalog Euro 60.-. ]

05. Januar 2001Neue Zürcher Zeitung

Die Zukunft schon heute

Das Londoner Architekturbüro Future Systems verunsichert mit seinen unkonventionellen Vorschlägen die englische Architekturszene schon seit Jahren. Doch erst mit dem Bau des Media Centre auf dem Lord's Cricket Ground in London erreichte es Kultstatus. Johann Reidemeister unterhielt sich mit dem Gründer von Future Systems, Jan Kaplicky, über Farben, runde Formen und die Macht der Medien in der Baukunst.

Das Londoner Architekturbüro Future Systems verunsichert mit seinen unkonventionellen Vorschlägen die englische Architekturszene schon seit Jahren. Doch erst mit dem Bau des Media Centre auf dem Lord's Cricket Ground in London erreichte es Kultstatus. Johann Reidemeister unterhielt sich mit dem Gründer von Future Systems, Jan Kaplicky, über Farben, runde Formen und die Macht der Medien in der Baukunst.

London im Spätherbst: Die tief stehende Sonne scheint einem tristen Hinterhof ins graue Gesicht. Der Blick geht vorbei an verwitterten Backsteinschuppen und fällt dann auf eine pinkfarbene Stahltür mit gerundetem Handgriff. Hinter dieser Tür ohne Klingelknopf, Namensschild und Klinke arbeitet der Architekt Jan Kaplicky, der Gründer des Kultbüros Future Systems. International bekannt wurde es durch das im vergangenen Jahr fertig gestellte ufoartige Media Centre auf dem Lord's Cricket Ground in London. Der Glanz der lackierten Oberfläche und die schwellende Form liessen die Kritiker jubeln und trugen dem Büro den Stirling-Preis ein, Englands bedeutendste Architekturauszeichnung. Kaplicky, tschechischer Emigrant, Retrostar und leicht ergrauter Prediger der Architektur von morgen, führt mit 63 Jahren zusammen mit Amanda Levete ein architektonisches Laboratorium, eine Produktionsstätte für visionäre Ideen. Die lichtdurchflutete Halle hinter der pinkfarbenen Tür ist voll strahlender Jungarchitekten - allesamt ohne Schuhe. Dann schwebt Kaplicky von ganz hinten lautlos heran über den ebenfalls pink leuchtenden Teppich - in Socken.

Herr Kaplicky, sind Sie gegen Schuhe?

Nein. Aber wir haben hier einen schönen Teppich . . . es ist ein bisschen wie in Japan.

Japan steht für Strenge. Aber Sie machen bunt schimmernde, an die Pop-Art erinnernde Häuser.

Architektur gibt sich meist sehr ernst. Architekten denken nicht in Farbe. Sie denken schwarzweiss. Nachträglich malen sie ein wenig Farbe darüber. Dabei ist die Geschichte der Architektur voller Farben. Le Corbusier etwa benutzte Farben ganz selbstverständlich. Andere mühen sich ziemlich ab. Sie tragen schwarz. Doch die Menschen lieben farbige Orte. Farbe ist überall. Nur die Architekten, die sind irgendwie schwarzweiss.


Farbige Architektur

Ihre Häuser sind bunt, aber auch rund.

Befreiung ist das, die Befreiung aus der Kiste. Besonders innen. Es gibt eine Reihe von Kulturen, bei denen das Runde kein Problem ist. Selbst die alten Griechen hatten runde Theater. Irgendwann hat das alles aufgehört. Doch die Menschen sind keine Kisten. Die sind organisch geformt.

Was hätte Eero Saarinen gemacht, wenn er Ihre Aluminium-Monocoque-Technik, mit der sich Bauten frei modellieren lassen, gekannt hätte?

Saarinen hat mit dem TWA-Building in New York eines meiner Lieblingsgebäude gemacht. Er hat den Bau verkörperlicht. Zelte, Iglus und ähnliche Bauformen spielen in vielen Kulturen eine zentrale Rolle. Die Box ist beinahe eine europäische Erfindung. Die freie Form hat nicht in erster Linie mit Materialien zu tun, sondern mit dem Willen, frei zu denken. Wenn man die Box einmal aufgebrochen hat, dann ist es, als redete man eine andere Sprache. Plötzlich ist alles anders.

Wie kamen Sie auf die Monocoque-Technik?

Mit der Monocoque-Technik werden Boote gebaut. Sie wird auch in der Flugzeugindustrie eingesetzt. Das ist nicht neu. Mir dient sie nur dazu, das zu erreichen, was sonst sehr schwierig herstellbar wäre. Das Media Centre sollte nicht eine weitere Box werden. Nichts ist quadratisch beim Cricket; sogar der Platz ist rund. Die Auftraggeber waren überrascht, als ich ihnen das erzählte.

Wie sehen Sie die junge britische Architektur, den minimalistischen Trend bei Caruso St John?

Man kann minimalistisch sein. Aber wie wächst man? Wie wird man mehr und mehr minimalistisch? Das wäre meine Frage. Caruso St John sind nicht minimalistisch. Da gibt es andere, die sind weit minimalistischer. Aber es gibt ein Problem: Viele glauben, was im kleinen Massstab funktioniert, das funktioniere auch im grossen Massstab. Das schaffen vielleicht Leute wie Frank Gehry. Die wissen, wie man das macht. Von meiner Erfahrung mit dem Media Centre kann ich sagen, dass ich vom ersten Moment an eine Vision hatte. Die hat sich von der ersten Zeichnung an auch nicht mehr geändert. Sie war auf einem kleinen Stück Papier. Andere wissen nicht, was sie zeichnen sollen. Dazu kommen noch die Reibereien mit den Auftraggebern. Eine Zeichnung auf Papier ist noch lange kein Haus!

Ist der Minimalismus also am Ende?

Ach wissen Sie, das ist deren Problem. Ich möchte nichts mit dem Schicksal der Minimalisten zu tun haben. Es gibt interessantere, sehr viel talentiertere Leute als die, die immer nur minimal bauen. Das sind nur Leute, die nicht richtig hinschauen. Man muss Respekt haben vor dem, was Leute tun. Doch das kann der Minimalismus nicht. Hier in London haben Herzog & de Meuron mit der Tate Modern ein enormes Gebäude gemacht. Aber es zeigt, dass der Minimalismus nicht mit den grossen Problemen fertig werden kann. Man sieht bei der Umnutzung alter Bauten aber auch, wie schwierig es ist, heute noch Phantasie einzubringen. Man kann ein Kunstmuseum in einem alten Gebäude einrichten, und es funktioniert. Aber warum nicht gleich ein neues Haus bauen? Warum verschwendet man so viel Geld, ohne etwas Ernsthaftes zur Präsentation von Kunst aufzubauen? Wenn man einen historischen Bau als Museum herrichtet, ist das eine Sache; das Kraftwerk hat jedoch nie funktioniert. Es stand nicht einmal unter Denkmalschutz. Aber das ist Politik. Deren Entscheidungen zur Architektur sind meistens falsch.

Wie wichtig ist ökologisches Bauen heute?

Es passiert heute so wenig auf dem Gebiet des ökologischen Bauens! Vor zehn Jahren hat sich weit mehr getan. Wir haben damals Prototypen wie das «grüne Haus» entwickelt. Jetzt gibt es keine Initiativen mehr, nicht von der Regierung, nicht von den Städten. Natürlich würde das «grüne Haus» etwas mehr kosten. Aber der Unterhalt ist dafür billiger. Allerdings kümmert sich kaum jemand um die Verschwendung von Energie, ausser wenn eine Krise kommt. Hier wäre die Politik gefordert. In Ländern wie Deutschland oder der Schweiz ist man weiter als bei uns. Schauen Sie sich an, wie wenig hier die Leute an Elektromobilen interessiert sind. Sie sind ihnen zu kompliziert.

Sie haben 1979 in London zusammen mit dem britischen Architekten David Nixon die Architekturgemeinschaft Future Systems gegründet.

Das ist sehr lange her!

Was soll ein junger Architekt machen, wenn er noch ganz am Anfang seiner Karriere steht?

Ich denke, er muss an der Karriere arbeiten. Viele tun das nicht. Im Grunde muss jede Zeichnung eine Bedeutung haben. Das kostet viel Zeit. Manchmal dauert es viel zu lang. Nicht der kommerzielle Erfolg zählt. Man kann einfach anfangen, Beton in den Boden zu gießen. Toll! Man kann das machen. Doch ich bin daran nicht interessiert. Ich habe den Eindruck, dass manche Architekten davon besessen sind, möglichst gross und viel zu bauen. Aber Charles Eames hat ein Haus gebaut und damit die Welt verändert! In seinem ganzen Leben hat er nur sehr wenig gebaut. Ich will mich nicht mit ihm vergleichen. Aber heute sind wir besessen von Quantität. Wir sprechen nie von Qualität - jedenfalls sehr selten. Grösser, grösser steht im Zentrum.

Woher kommt das?

Ich weiss es nicht. Die Presse, die Medien sind mächtig. Sehr viel mächtiger als noch vor ein paar Jahren. Ich denke vor allem an die architektonische Fachpresse. Ich weiss nicht, wie es in der Schweiz ist, aber hier kann sie sehr starken Einfluss ausüben. Sie ist sehr populistisch.


Umgang mit dem Erfolg

Die Presse hat aber auch in höchsten Tönen über Sie geschrieben. Future Systems wird als Kultbüro gefeiert, Sie bekommen Preise. Wie gehen Sie mit Ihren jüngsten Erfolgen um?

Wir sind nicht so erfolgreich, wie die Leute immer denken. Wir sind überhaupt nicht erfolgreich - auf eine bestimmte Weise. Wir haben viele Feinde, wir stossen auf viel Widerstand.

Welche architektonischen Aufgaben haben Sie als die drängendsten der Zukunft identifiziert?

Die Menschen mit einem besseren, einem schönen Umfeld auszustatten. Schönheit ist ein vergessenes Ideal. Reich muss sie sein, nicht minimal. Eine minimale Schönheit ist eben nur minimal. Ein bestimmter Reichtum ist notwendig, aber die Schönheit ist das Schlüsselwort bei der ganzen Sache.

08. Februar 1999Stephan Templ
Neue Zürcher Zeitung

Ökologische Architektur ohne grüne Dogmen

Jan Kaplicky von «Future Systems» ist wohl der bekannteste tschechische Architekt. Als leidenschaftlicher Forscher in Sachen Baumethoden fühlt er sich der organischen Form verpflichtet. Der Aussenseiter konnte im letzten Jahrzehnt mehrere Bauten realisieren. Seine Heimat Böhmen blieb ihm bisher allerdings verschlossen. Nun widmet ihm Prag eine grosse Ausstellung.

Jan Kaplicky von «Future Systems» ist wohl der bekannteste tschechische Architekt. Als leidenschaftlicher Forscher in Sachen Baumethoden fühlt er sich der organischen Form verpflichtet. Der Aussenseiter konnte im letzten Jahrzehnt mehrere Bauten realisieren. Seine Heimat Böhmen blieb ihm bisher allerdings verschlossen. Nun widmet ihm Prag eine grosse Ausstellung.

Der in London tätige tschechische Architekt Jan Kaplicky zeigt in Prag sein Œuvre im Museum Moderner Kunst, dem einstigen Messepalast, der zur Zeit seiner Entstehung als einer der ersten Grossbauten des Funktionalismus gleichermassen irritierte und provozierte - selbst Le Corbusier. Das Grosse blieb Kaplicky zwar lange verwehrt, und trotzdem passt der Ort: hier waren in den zwanziger und dreissiger Jahren die neuesten Erfindungen der hochindustrialisierten Tschechoslowakei zu bewundern, von schweren Maschinen bis zu feinsten optischen Geräten. Als es klar war, dass diese Welt 1968 für immer verschwand, da verliess auch der technikbegeisterte Kaplicky Prag. Während seine daheimgebliebenen Kollegen statt zu planen Fenster der Plattenbauten putzten, arbeitete Kaplicky bei Foster und Rogers in London. Im Jahre 1979 gründete er dann zusammen mit David Nixon das Büro «Future Systems». Die nächsten zehn Jahre widmet es sich der Erforschung neuer Bau- und Denkmethoden, Flugzeug- und Autobau werden genau studiert. Die Wende kommt im Jahre 1989. Da stösst die Architektin Amanda Levete zur Gruppe. Man erhält den zweiten Preis für den Wettbewerbsentwurf der Pariser Bibliothèque nationale; und im Londoner Vorort Islington entsteht zwischen Patrizierbauten ein Glashaus als Villa, welche die wesentlichen Axiome von Future Systems klar formuliert: fern der kontinentalen Holzeuphorie wird hier ökologisch durchdachte Architektur in Stahl, Aluminium und Glas ausgeführt, möglichst nach dem Prinzip der Präfabrikation. Die Methode erwies sich auch bei weiteren Projekten als erfolgreich. So bei der muschelförmigen VIP-Lounge des Marylebone Cricket Club - gefertigt in einer Bootswerft - und bei einer Fussgängerbrücke in den Londoner Docklands.

Kaplicky schreckt nicht zurück, sich ganz wörtlich auf die Fauna zu beziehen. Wie ein Insekt setzt sich die Brücke auf die Wasseroberfläche. Im «ökologischen Erlebnispark» Earth Center im englischen Dearne-Tal ruht ein Schmetterling in einer postindustriellen Mondlandschaft aus stillgelegten Stahlkochereien, Schutthalden und Kohlegruben. Die Flügel des Tieres sind mit bunten Schuppen übersät, Solarpanele, welche die sich darunter ausdehnende 10 000 m² grosse Ausstellungsfläche mit Energie versorgen. Nicht nur hier sprengt Kaplicky mit Material- und Massstabwahl grüne Dogmen: Im Auftrag der Europäischen Union entwickelt er für Berlin und London Niedrigenergiebauten. Das englische Modell zeigt einen dreiundzwanziggeschossigen eiförmigen Körper, dessen Mitte von einer riesigen Windturbine durchbrochen ist. Die Grammatik dieser zwischen High-Tech und Lyrik oszillierenden Sprache glaubt der Emigrant immer in seinem Gepäck gehabt zu haben. Im Katalogheft zeigt er, was ihn einst beeinflusste: der stromlinienförmige Tatra 603 von 1937, Jaromír Krejcars Pariser Messepavillon aus demselben Jahr, Giovanni Santinis Wallfahrtskapelle in Zd'ár nad Sázavou, der Wenzelssaal auf der Prager Burg und immer wieder Ladislav Zák, der Prager Architekt, der bereits in den dreissiger Jahren Ökologie und Bauen zum Thema erhob.

Wundert es da noch, dass Kaplicky gerade hier in Böhmen bauen möchte? Bis dato liess sich nichts realisieren. Ein Wettbewerbsentwurf zur Neugestaltung der Prager Burgfasanerie wurde von der Jury als undurchführbar abgelehnt. Kaplicky legte durch den einmalig gelegenen Landstrich einen gläsernen vergoldeten Pfad, in Gedanken an Plecník und in der Hoffnung auf die Wiedergeburt einer innovativen Glasindustrie in Böhmen. Nicht viel anders erging es dem politisch brisanten Entwurf eines Memorials für die Opfer des Kommunismus: eine Stahltreppe mit 42 Stufen (die Anzahl Jahre kommunistischer Herrschaft symbolisierend) verbindet die Moldau mit jenem Ort, wo in den Jahren 1955-1963 das weltweit grösste Stalinmonument stand. Die Treppe mag hier in Prag viel mehr als lediglich eine Verbindung zwischen dem Fluss und dem geschichtsträchtigen Hügel sein: denn viele Tschechen liessen ihr Leben an der Todesstiege im Mauthausner Steinbruch. So wäre es ein Memorial der beiden Diktaturen, auch wenn in den gläsernen schwarzen Treppenwangen nur die Opfer der roten geschrieben wären. - Der 61jährige Kaplicky lebt seit nunmehr drei Jahrzehnten in England. Hier hat er ungeachtet aller Moden an seinem Weg festgehalten, hat beinahe ein böhmisches Dissidentendasein geführt. Prag, so meint er, wird er auch weiterhin von der Ferne betrachten. Er kann dort nichts mehr finden, wovon er geträumt hat.

[Die Ausstellung «Future Systems» ist bis zum 28. Februar im Veletrzní palác (Museum Moderner Kunst) zu sehen. Der Katalog, als Sondernummer des Architekturmagazins «zlatý rez» erschienen, kostet Fr. 12.-.]

Profil

1956 – 1962 Architekturstudium an der Akademie für Kunst, Architektur und Design (VSUP) in Prag, Diplom
1964 – 1968 selbständige tätig
1968 Flucht nach London
1969 – 1971 Büro Denys Lasdun and Partners
1971 – 1973 Mitarbeit bei Renzo Piano und Richard Rogers am Centre Georges Pompidou
1974 – 1975 Spencer & Webster, Associate
1979 – 1983 Tätigkeit für Foster Associates (heute Foster and Partners)
1979 Gründung von Future Systems gemeinsam mit David Nixon

Jan Kaplický war der einzige Sohn einer sehr kunstsinnigen Familie: sein Vater Josef war Maler, Bildhauer und Grafiker, seine Mutter Jiřina war Illustratorin. Mit der Machtübernahme der Kommunisten fiel sein Vater in Ungnade und durfte nicht mehr ausstellen. Jan Kaplický studierte über Umwege Architektur und wirkte eine kurze Zeit selbstständig. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahre 1968 verließ er die Tschechoslowakei und zog nach London. Es gelang Ihm Anschluss an die aufblühende Londoner Szene zu finden und er arbeitetet für Richard Rogers und Norman Foster. Er war an ganz bedeutenden Projekten beteiligt – unter anderem am Centre Pompidou in Paris und der Hong Kong Bank in Schanghai.
1979 gründet er gemeinsam mit David Nixon das Büro Future Systems. Sie arbeiten an vielen freien und Forschungsprojekten, deren zentrales Element der Transfer von Technologien aus dem Fahrzeugbau ist. Das Büro kooperiert auch mit der NASA. Die Zahl der Realisierungen dieser Phase blieben überschaubar.
1989 wurde Amanda Levete Partnerin bei Future Systems als auch Privat. Aus dieser Beziehung stammt Jans Sohn Josef.
Es gelang seit den 1990er Jahren einige aufsehenerregende Bauten zu Realisieren: das Hauer King House, das Mediacenter am Lords Cricket Ground, das Selfridges Gebäude in Birmingham sowie auch einige Geschäftsgestaltungen, unter anderem für Comme de Garcons. Future Systems hat auch immer Produktdesign gemacht – vom Besteck bis zur Mode.
Nachdem die private Beziehung zu Amanda Levete zu Ende ging, wurde auch das Büro nach und nach geteilt geführt. Eine tatsächliche Aufteilung war zwar vorgesehen, konnte aber zu Lebzeiten nicht mehr umgesetzt werden.
Bei den Dreharbeiten zum Dokumentarfilm „Profil“ lernte Jan Kaplický die Produzentin Eliška Fuchsová kennen und heiratete Sie im Jahr 2007. Im gleichen Jahr gewann Future Systems den internationalen Wettbewerb für die Tschechische Nationalbibliothek in Prag. Diese Projekt hat in der Öffentlichkeit hohe Wellen geschlagen und wurde letztendlich politisch unter der Gürtellinie abgedreht. Jan wandte sich in dieser Phase stärker Projekten in der tschechischen Republik zu und projektierte auch das „Antonín Dvořák Concert and Congress Centre“ in Budweis.
Jan Kaplický starb am 14.Januar 2009 nur wenige Stunden nach der Geburt seiner Tochter Johanka in Prag.
Posthum wird das Enzo Ferrari Museum in Modena von Jan´s langjährigem Mitarbeiter Andrea Morgante finalisiert. Die Eröffnung ist für Februar 2012 geplant. Bemühungen weitere Projekte umzusetzen sind zwar angedacht, die Finanzierung und die mögliche Abwicklung ist aber offen (Text: David Pašek)

Publikationen

Jan Kaplický: For Inspiration Only. Chichester: Academy Editions 1996, ISBN 1854904787
Jan Kaplický: More for Inspiration Only. Chichester: Academy Editions 1999, ISBN 0471987700
Jan Kaplický: Confessions. Chichester: Wiley-Academy 2002, ISBN 0471495417
Jana Tichá, Jan Kaplický, Ivan Margolius (eds.): Future Systems. Prague: Zlatý řez 2002, ISBN 8090156266
Jan Kaplický, Ivan Margolius: Česká Inspirace - Czech Inspiration. Prague: Fraktály Publishers 2005, ISBN 8086627098

Über Jan Kaplický und sein Werk:
Martin Pawley: Future Systems: The Story of Tomorrow. London: Phaidon 1993, ISBN 0714827673
Martin Pawley: Hauer-King House: Future Systems. London: Phaidon 1997, ISBN 0714836303
Marcus Field: Future Systems. London: Phaidon 1999, ISBN 0714838314
Future Systems: Unique Building (Lord’s Media Centre). Chichester: Wiley Academy 2001, ISBN 0471985120
Sudjic, Deyan (2006), Future Systems, London: Phaidon, ISBN 0714844691
Sudjic, Deyan; Eva Jiřičná, Pavla Nasadilová (2010), Jan Kaplický – His Own Way, Praha: DOX Centre for Contemporary Art, ISBN 978-80-904213-9-4

Dokumentarfilme:
- Profil. directed by Jakub Wagner. CR. 2004. 52min. color .
- Oko nad Prahou - Eye Over Prague. directed by Olga Špátová. CR.2010.78 min.color

Auszeichnungen

2004 Contract World Award - finalista, Ferrari Maserati
2004 RIBA za architektúru 2004, Selfridges
2003 FX Medzinárodná cena za dizajn - dizajnér roku
2001 World Architecture Awards, NatWest Media Centre
1999 Stirlingova cena RIBA , NatWest Media Centre
1999 Aluminium Imagination Award, NatWest Media Centre
1999 BIAT Award for Technical Excellence, NatWest Media Centre
1999 RIBA Award, West India Quay Bridge
1998 British Construction Industry Award, West India Quay Bridge
1995 Aluminium Imagination Award, Hauer-King House
1993 AJ/ Bovis Royal Academy Award, Besucherzentrum Stonehenge
1989 NASA Certificate of Recognition, Tischentwurf für Weltraumstationen

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