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05. Februar 2020Gregor Schuberth
Spectrum

Wiens Althanviertel: Als stiege man in die Unterwelt

Ein Dachausbau am Julius-Tandler-Platz. Ein Geländesprung, der in Nussdorf beginnt. Der Phantomwettbewerb um die Neugestaltung des Althanviertels. Und was all das mit Heimito von Doderers „Strudlhofstiege“ verbindet. Szenen einer Wiener Gegend.

Ein Dachausbau am Julius-Tandler-Platz. Ein Geländesprung, der in Nussdorf beginnt. Der Phantomwettbewerb um die Neugestaltung des Althanviertels. Und was all das mit Heimito von Doderers „Strudlhofstiege“ verbindet. Szenen einer Wiener Gegend.

In der Tat gälte es nur, den Faden an einer beliebigen Stelle aus dem Geweb' des Lebens zu ziehen, und er liefe durchs Ganze, und in der nun breiteren offenen Bahn würden auch die anderen, sich ablösend, einzelweis sichtbar."

Heimito von Doderer, „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“


Doderers Mary K. wohnt hier nicht mehr. Das Haus Althanplatz 6 lag in unserem Rücken, während wir auf den schmalen Gerüstbrettern knapp unterhalb des Hauptgesimses herumturnten, die Bauhelme tief im Gesicht. Beladen mit Schreibunterlagen und Digitalkameras klopften wir an Putzlöchern und notierten lose Taubenstachelbänder. Bei jedem Windstoß bauschte sich die Gerüstplane wie ein Segel. Die Gesimsbalken vor unseren Nasen wirkten klobig und massiv.

Als Architekten waren wir mit dem Umbau des Eckhauses gleich rechts neben dem Franz-Josefs-Bahnhof betraut, ehemals Althanplatz 4, heute Julius-Tandler-Platz. Eine Komplettsanierung mit aufgestockten Dachgeschoßwohnungen. Heute fand die Begehung zur Abnahme der Fassade statt. Am Ende der Straßenflucht lag der Donaukanal und jener Häuserblock, hinter dem die Autotaxis, gleichmäßig den Fahrdamm überrollend, durch die Jahre fädelten. Jedenfalls von Mary K.s Fenster aus gesehen. Was sind das für Fäden, von denen Doderer spricht? Wo anfangen, ohne „Es war einmal“? Das Haus wurde 1900 baubewilligt. Also beginnen wir am chronologischen Anfang der Strudlhofstiege, wenige Jahre später. Textzitate sind kursiv gesetzt und fallweise gekürzt.

1911: Schumann fis-Moll. Am 12. Mai jenes nun schon mehrfach heraufzitierten Jahres 1911 saß der Gymnasiast René Stangeler abends gegen fünf Uhr im Sprechzimmer der k. u. k. Konsular-Akademie (der heutigen US-amerikanischen Botschaft in der Boltzmanngasse) und wartete. Er übergibt dem Akademiker Grauermann ein Billett seiner Schwester Etelka. Grauermanns Antlitz machte einen glatten und jugendlichen Eindruck über dem weinroten Kragen und dem dunkelgrünen Rock der Uniform (Stangeler im grauen Sportanzug mit braunen Wollstrümpfen). Sie gingen wenige Schritte auf dem Gang, dann öffnete Grauermann eine ebensolche weiß lackierte hohe Flügeltüre wie jene, welche in das Sprechzimmer führte. Sie bewegten sich ohne jedes Geräusch. Stangeler blickte voraus in den Raum, welchen er noch nie betreten hatte; das Grün des Parks schien durch drei hohe Fenster zugleich mit einigen Strahlenbündeln der Abendsonne, die in den weißen Fensternischen lag. Teddy Honegger spielt eine fis-Moll-Sonate von Schumann. Die Stille im Haus, das kleine Wartezimmer, die Einsamkeit des Spielenden, tropfende Sekunden vor dem langsameren Hintergrund des Zeitstroms. Renés Gesicht entknotet sich. Der Ton der Erzählung ist angeschlagen. – Der Roman ist polyzentrisch aufgebaut, es gibt keine eindeutige Hauptfigur und keine durchgehende Handlung. Vor allem in den ersten beiden Teilen dominieren Vor- und Rückblenden, in denen sich die Erzählschwerpunkte der Jahre 1911 und 1925 ständig überlagern. Manchmal ist es fast unmöglich zu bestimmen, von welcher Position aus gerade berichtet wird. Die Kontinuität der zeitlichen Handlungszentren spiegelt sich sogar in den Jahreszeiten: Ein scheinbar nie zu Ende gehender Spätsommer liegt über der Stadt.

„Doderers Mary K. wohnt hier nicht mehr, am Althanplatz 6, heute Julius-Tandler-Platz. Mary K. sähe heute eine andere Stadt.“

Die Stiege. Am Mittwoch, dem 23. August 1911, kommt es zur denkwürdigen Begegnung auf der Strudlhofstiege, wo sich Ingrid Schmeller und Stephan Semski überstürzt um zehn Minuten nach vier Uhr verabreden und vom plötzlichen Auftritt Schmeller Seniors grob unterbrochen werden. Asta und Schmelzer stehen eigentlich Schmiere und übersehen das parkende Taxi nahe der Strudlhofgasse, in dem der Vater seiner Tochter gefolgt war. Genau in jenem Moment, als der Vater das Pärchen auf der mittleren Rampe überrascht, taucht am unteren Ende der Stiege ein weiteres Grüppchen auf: Stangeler, Grauermann und Paula Schachtl sind auf anderem Wege zufällig hierher gelangt und werden Zeugen der tumultuösen Liebesszene. René Stangeler hebt die Arme, ganz beseelt: Er hat die Bühne gefunden, die er an dem Ort bereits vermutet hatte.

Als Bauwerk betrachtet, ist die Strudlhofstiege nicht besonders bedeutsam. Im Roman ist sie der Angelpunkt der Schicksale der Protagonisten. Alle Fäden laufen hier zusammen, eine magische Pforte, von grünlichem Aquariumslicht umhüllt. Wie in einem kosmischen Nebel steigt man Zeitenberge hinauf und stürzt Erinnerungshänge hinunter. In dieser Erinnerungswelt sind räumliche und zeitliche Bewegungen ident. Der Untertitel des Romans spielt darauf an: Melzer und die Tiefe der Jahre.

1925: Melzer im grünen Unterwasserlicht. Melzer fuhr aus seinen Erinnerungen und warf dabei das Kaffeegeschirr um. Jedoch blieb dieses kleine Malheur ohne Folgen (das stimmt nur eingeschränkt, eine Kette von Erinnerungen wird ausgelöst). Major Melzer, ein Mann ohne Vornamen, hat den Militärdienst quittiert und sich in der Porzellangasse zwei kleine Zimmer gemietet.

Auf dem Fell des von ihm erlegten Bären pflegt er seinen Kef, den Denkschlaf, zu halten. Asta, die Schwester René Stangelers, hat er seit 14 Jahren nicht mehr gesehen. Das Stimmungsbild seiner letzten Erinnerung an ihre Wohnung im Quartier Latin, einer Erweiterung des Elternhauses ins Nachbargebäude, zieht sich durch den Roman: der Salon nebenan, das grüne Unterwasserlicht der Jalousien, das glänzende schwarze Schweigen des Klaviers, die Gedämpftheit und Kühle, der Geruch des sommerlichen Naphthalins.

Topografie. Die Geländekante, welche die Strudlhofstiege als Bauwerk überbrückt, ist die Steilwand einer eiszeitlichen Lössterrasse, die schon dem römischen Legionslager als Schutz diente. Der Bruch beginnt in Nussdorf, verläuft parallel zum Donaukanal quer durch den 9. Bezirk bis zu Maria am Gestade (erinnert an das Donauufer einst an dieser Stelle), dem Hohen Markt und weiter bis Erdberg (Kirche Peter und Paul) und Kaiser-Ebersdorf. Zahlreiche Stiegenanlagen und Neigungen überwinden den Geländesprung: Strudlhofstiege – Himmelpfortstiege – Vereinsstiege – Berggasse.

Eine Brücke zwischen zwei Reichen. Es ist, als stiege man durch einen verborgenen Eingang in die schattige Unterwelt des Vergangenen . . . Die Gegend unterhalb der Kante ist auch ein Reich der Flüsse: früher von Als und Donau, heute von unterirdischen Wasserläufen und dem Donaukanal. Der Alserbach, die Als, wird seit dem 19. Jahrhundert in unterirdischen Gewölben geführt (Neuwaldegger Straße, Jörgerstraße, Spitalgasse, Nussdorfer Straße, Alserbachstraße). An den Straßen ist noch heute der Schwung des Bachverlaufs abzulesen. Im Bereich der Alserbachstraße, etwas unterhalb der Markthalle, quert das unterirdische Gewölbe die Geländestufe. Der Hang ist hier abgeschliffen und eben.

Frostschäden. Wir arbeiteten uns an der Fassade Stockwerk für Stockwerk nach unten. Wir stiegen sozusagen auf den Julius-Tandler-Platz ab. Der schmale Raum zwischen Fassade und Gerüstplane war mit milchig weißem Licht gefüllt wie in einer Gletscherspalte. Bloß keinen Gedanken fallen lassen hier oben, was der anrichten könnte. Farbspritzer und Frostschäden wurden notiert, jedes Putzloch fotografiert. Die archäologischen Erkenntnisse blieben gering. Der historische Stuck, die Quasten und Quader waren in den 1950er-Jahren abgeschlagen worden. Da und dort verriet ein Vor- und Rücksprung noch die Kolossalordnung der ursprünglichen Fassade, ein Stil zwischen Neobarock und Jugendstil, nicht ungewöhnlich für Häuser jener Jahre.

Draußen lag der weite Platz voll unbekannter Häuser und Wohnungen; Treppenaufgänge, glatt, oder mit sinnlosen Quasten und Spiegeln geziert, eng oder breit, mit Lift oder ohne Lift.

Hier bricht der Text am Bild der heutigen Stadt. Mary K., die aus dem Fenster blickt so wie im Roman, sieht heute eine andere Stadt. Der böhmische Bahnhof ist verschwunden, bei unserem Eckhaus und auch bei anderen Häusern ist der Putz abgeschlagen. Die Bilder synchronisieren sich nicht.

1972 bis 1975: Schwanzer/Glück/Hlaweniczka. Die Geschichte zieht durch. Althanplatz – Platz der Sudetendeutschen – schließlich, ab 1949: Julius-Tandler-Platz. Der Franz-Josefs-Bahnhof hatte durch Bombentreffer und Kriegshandlungen Schäden davongetragen, blieb allerdings der einzige Kopfbahnhof, der vereinfacht wieder instand gesetzt wurde. Die markanten Uhrtürme wurden abgetragen, die Fassade wurde „geglättet“. 1975 erfolgte schließlich der Abriss, Auftritt der Städteplaner. Architekt Kurt Hlaweniczka entwickelte das Konzept eines riesigen Quartiers über den eingehausten Bahngleisen. Der Entwurf erstreckte sich vom Julius-Tandler-Platz im Süden bis zur Spittelau im Norden – inspiriert von den Megastrukturen jener Zeit.

Von der städtebaulichen Verflechtungszone und dem Mix unterschiedlicher Nutzungen blieb auf der Platte schließlich nur ein Universitätscampus übrig. Die Kardinallösung, nämlich die Gleise zu versenken und die Fläche darüber durchlässig zu bebauen, blieb damals – wie auch knapp 50 Jahre später – stecken. Der Komplex blieb eine Barriere im städtischen Fluss. Karl Schwanzer entwarf das Kopfgebäude als schwebenden Kristall über dem Bahnhofssockel. Das sogenannte Technische Zentrum war eher ein Büro- und Einkaufszentrum mit den Resten eines Bahnhofs im Erdgeschoß. Die schematische Ausführung durch die Arbeitsgemeinschaft der Architekten Glück/Hlaweniczka/Requat & Reinthaller minderte die Prägnanz der Anlage.

„Die Neuordnung des Althanviertels, ambitioniert gestartet mit städtebaulichem Leitbild, mündete am Ende in den Status quo der 1970er.“

Der Phantomwettbewerb. Den Faden an einer beliebigen Stelle aus dem Geweb' des Lebens zu ziehen, und (. . .) in der breiteren offenen Bahn würden auch die anderen (. . .) sichtbar. Das Bild des Gewebes beruht darauf, dass Fäden, miteinander verflochten, ein stimmiges Ganzes ergeben, das doch aus vielen einzelnen und unterschiedlich beschaffenen Materialien bestehen darf. Ein Gewebe oder eine Textur – als Leben, als Stadt, als Roman. Vom lateinischen Verb texere für weben, flechten (übertragen auch zusammenfügen und verfassen) lässt sich auch der Begriff Text herleiten.

Die Gegend war uns durch den Umbau vertraut, und wir nahmen an einem Architekturwettbewerb teil, bei dem ein Abschnitt der Überplattung hinter dem Bahnhof neu organisiert werden sollte. Ein Investor hatte das Areal gekauft. Bahnhof und Technisches Zentrum selbst bekamen – außerhalb des Wettbewerbs – ein Refurbishment verordnet, ein bisschen schicker und höher.

Der Sound wechselt, elektronische Musik passt besser zu langen Wettbewerbsnächten als Schumann. Blasse Gesichter im hellen Licht der Monitore. Das leichte Zischen der Hartschaumsägen, wenn die Klötzchen vom heißen Draht geschnitten werden. Die Grundplatte ist unter den vielen Styroporwürfelchen kaum noch zu sehen. Überkritzelte Ausdrucke, Lagepläne, Grundrisse, erste Renderings, an die Türstöcke geklebt. So weit zu Theorie und Praxis des Entwerfens. Die Jury entschied sich für einen Entwurf, der das Volumen der angekündigten Hochhäuser kippt und als Megastruktur über die Gleise legt. Wettbewerbstechnisch ein Lucky Punch, kein anderes Teilnehmerbüro hatte eine ähnliche Lösung vorgeschlagen. Damit war das letzte Wort noch nicht gesprochen: Knapp zwei Jahre später präsentiert der Investor ein Einreichprojekt, bei dem vom Architekturwettbewerb nichts übrig bleibt, kein Hochpark, keine Querungen, keine Neuinterpretation der Gleisüberbauung. Die Neuordnung des Althanviertels, ambitioniert gestartet mit dialogorientiertem Planungsverfahren und städtebaulichem Leitbild, in dem sogar Hochhausfenster bis 126 Meter vorstellbar waren, mündet am Ende in den Status quo der 1970er-Jahre.

Überblendung und Collage. Die Stadt aus dem Roman und die Stadt unseres Umbaus sind einander ähnlich – und unterscheiden sich. Oder genauer gesagt: die Vorstellung der Stadt des Romans während des Lesens und die Vorstellung der Stadt aus der Gegenwart. Unermüdlich laufen die Romanfiguren, scheinbar absichtslos, in einer Romanstadt herum, die jener gegenwärtigen des Lesers zumindest nahekommt. Unweigerlich überlagern sich die Vorstellungen, Szenen überblenden sich – ist dort hinten nicht gerade Eulenfeld mit dem Automobil vorbeigefahren?

Das Spiel von Überblendungen und Assoziationen ist eröffnet, Doppelbelichtungen im Kopf: Das äolische Singen der Drähte kommt heute noch vor, der Naphthalingeruch hat sich verzogen, der rot-grüne Kragen samt der Uniform ist Requisite. Die grün gestrichenen Holzlamellen im Zwischenraum der Kastenfenster sind nicht mehr üblich. Familie Siebenschein und Mary K. sind aus der Stadt verschwunden. Stangeler schwärmt nicht mehr vor der Stiege, seinesgleichen gibt es noch. Der Zungenschlag auf Döblinger Gartenpartys lässt sich vorstellen. Ein Traumgewebe als Spiel im Kopf, bevorzugt auf einer lokalen Parkbank zu vollziehen, in der Nachmittagssonne eines Spätsommertags.

Die Überblendung lässt sich zur Überlagerung weiterdenken, etwas Schweres und Materialhaftes tritt neben die fast körperlose Doppelbelichtung. Ein Umbau lässt sich vielleicht als solche Überlagerung beschreiben, in der Methode der Collage. Der bestehende Baukörper wird mit hinzugefügten Teilen vermischt, unterschiedliche Bauglieder werden verbunden, ausgeschnitten, verändert und neu montiert. Ein Vorgang, bei dem verschoben, verdrängt und überlagert wird. Eine grobe und schmutzige Angelegenheit mit Staub, Presslufthämmern und Baugerüsten.

Ein gelungener Umbau wäre daran zu erkennen: Bezüge stellen sich her, überraschende Verbindungen entstehen im Gewebe der Umgebung. In anderen Worten: Die Vorstellungswelt wird um lebendige Bilder bereichert, die anschaulich wirken, Altes und Neues verknüpfen und ohne „Es war einmal“ auskommen.

Spectrum, Mi., 2020.02.05

05. August 2017Gregor Schuberth
Spectrum

Der „Glaspalast“ vor dem Abriss: Ein letzter Rundgang

Mitten in der Stadt steht er, einen Steinwurf von der Ringstraße entfernt: der „Glaspalast“, das ehemalige Rechenzentrum der Stadt Wien. Acht Obergeschoße, drei Untergeschoße, fünf Aufzüge, 294 Zimmer. Abriss: demnächst. Eine letzte Begehung.

Mitten in der Stadt steht er, einen Steinwurf von der Ringstraße entfernt: der „Glaspalast“, das ehemalige Rechenzentrum der Stadt Wien. Acht Obergeschoße, drei Untergeschoße, fünf Aufzüge, 294 Zimmer. Abriss: demnächst. Eine letzte Begehung.

Dach
Hier oben sind den Büros durch die Rückstaffelung teilweise Terrassen vorgelagert; im Fugenraster der Betonsteinplatten sprießen Grasbüschel und kleine Stauden unbekümmert und doch seltsam geometrisch geordnet. Auch die Sträucher in den Waschbetontrögen gedeihen prächtig, ein wenig ungepflegt und struppig würden sie dem damaligen Büroauge erscheinen. Triebe von Efeu und Zwergmispel sind da und dort übergetreten und haben die Betonplatten geflutet. Der Vogelkadaver einer Taube, ausgeweidet von den städtischen Raubvögeln, die in den Ecktürmen der Nachbarschaft nisten . . .

Am Horizont die Zwillingstürme der Piaristenkirche, wenige Fingerbreit daneben flimmert der Doppelwürfel des Allgemeinen Krankenhauses.

Siebentes Obergeschoß
Gleich im ersten Raum liegen aufgebogene Aluminiumstreifen aus der Abhangdecke wie Papierschnitzel auf dem Boden verstreut, als hätte jemand nach einem versteckten Schatz gesucht. Einige der Textillamellen vor den Fenstern sind heruntergerissen und wie verknotete Haarbüschel am Fensterbrett hängen geblieben. Von unterschiedlichen Seiten läuten Kirchenglocken, es ist fünf Uhr nachmittags. Immer wieder sind in die Gipskartonplatten der Zwischenwände armgroße Löcher gebrochen, wie von Titanenhänden vollbracht, bei einer übermütigen Zusammenkunft. Gelbe Mineralwolle quillt dahinter hervor.

An einem Türstock ist ein unscheinbarer Magnetstreifen aufgeklebt, als Kontrollpunkt für den Rundgang des Sicherheitsdienstes: der frische Eingriff verrät Spuren tag- und nachtaktiver Besucher. Was würde bei einer plötzlichen Begegnung mit dem Wachmann passieren?

Sechstes Obergeschoß
Lichtspiele: vieleckige Lichtprismen auf fleckigen Teppichfliesen. Unmerklich wandern sie mit dem Sonnenstand. Ein freundliches Spiel, allenfalls von Bürogeistern geschätzt und beobachtet, falls es hier welche gibt. Doch fehlen dramatische Berichte von Enthauptungen und eingemauerten Widersachern, die solchen Spuk verursachen könnten. Wobei im Büroumfeld wohl eher an Mobbing, übergangene Beförderungen und unerwiderte Kollegenliebe zu denken wäre.

Fünftes Obergeschoß
Manche der Zimmer sind leer, in anderen herrscht ein Durcheinander aus umgestoßenen Papierkübeln, Arbeitstischen und Regalen, auf dem Boden verstreute Zettel, als wäre das Zimmer fluchtartig verlassen worden. Hier muss es ein Alien erwischt haben: Es konnte sich noch ein paar Meter weiterschleppen, ehe es unter Absonderung dunkler Flüssigkeiten zusammengebrochen ist.

Viertes Obergeschoß
Ab hier taucht man unter die Kontur der umliegenden Häuser. Die Atlanten mit nacktem Oberkörper gegenüber am Haus in der Doblhoffgasse sehen irgendwie obszön aus. Überall dieser Geruch nach altem Teppichboden, Reinigungsmittel und Staub. Dann und wann das Knacken einer Isolierglasscheibe. Die Ausstattung der Büros erinnert an ein historisches Raumschiff: erbsenfarbiger Teppichboden, braune Verkleidungen mit Luftschlitzen und Kabelauslässen, wuchtige Bandfenster mit vertikalen Textilstreifen, die Decke aus Aluminiumlamellen mit Einbauleuchten. Das Großraumbüro mit seinen imposanten Ausmaßen von 46 auf 13 Metern könnte das Steuerdeck gewesen sein. Mächtige Betonunterzüge schneiden alle acht Meter durch die Abhangdecken, so tief, dass man sie leicht mit der Hand berühren kann. Das ist nur einer der Gründe, warum das Gebäude abgerissen werden soll: Schon die Raumhöhe dieser Geschoße lässt sich nicht an Anforderungen heutiger Büros anpassen.

Auf dem Boden der eingerollte Bogen eines Organigramms: bedeckt mit Netzlinien, Pfeilen, Ziffern und Buchstaben – einem rätselhaften Prinzip folgend, dessen Logik niemand mehr entschlüsseln wird. Wenn Ordnungsversuchen bisweilen etwas Beruhigendes innewohnt, mischt sich hier etwas Irritierendes um die Kurzlebigkeit solcher Bemühungen.

Große Stücke des Teppichbodens sind ersetzt durch bunte, andersfarbige Flicken; zusammen mit den helleren Abdrücken ehemaliger Geräte entsteht das Bild einer lebhaft gescheckten Patchworkdecke, auf der sich ein paar alte Büromöbel zum Picknick verabredet haben. Da und dort lehnen Stapel aus orangefarbenen und grellgrünen Stoffpinwänden. Büro. Büro.

Der Aktenaufzug
Hightech 1979: In jenem Jahr wurde das Gebäude nach den Plänen Harry Glücks fertiggestellt, nach einer verhältnismäßig kurzen Planungs- und Bauzeit von fünf Jahren. Der Bauplatz hatte unterschiedliche Vorgänger erlebt. Die ehemalige Freifläche vor dem Josefstädter Glacis war im Zuge der Ringstraßenplanung zur Restfläche degradiert worden und wurde mit einer Markthalle bebaut. 1950 erfolgte der Um- und Ausbau zum Forumkino, das infolge nachlassenden Publikumsinteresses 1974 abgerissen wurde.

Drittes Obergeschoß
Vor einem Serverraum blinkt das rote Licht eines Kästchens mit der Aufschrift Zugangskontrolle: Nichts passiert beim Durchschreiten. Tageslichtlose, hohe Räume ohne Stützen, die Teppichfliesen über dem Unterboden sind an den Rändern bräunlich eingefärbt, vom Luftzug, der durch die Fugen streicht; ein alles überspannendes Fugennetz rastert den Fußboden. In Doppelreihen sind die mannshohen braunen Metallschränke aufgebaut, die meisten ausgeweidet. Da und dort quellen knallbunte Kabelbüschel aus einer Bodenöffnung. Die Gestaltlosigkeit der Informationswelt.

Zweites Obergeschoß
Auf dem Teppich seltsame Häufchen mit braunen Bimskügelchen, als wäre hier jemand auf der Stelle zu Staub zerfallen, bei Anbruch des Tageslichts. Halb umgeblätterte Wandkalender an Regalen und Pinnwänden erlauben methodisch saubere Schlüsse über das Auszugsdatum. Die Geschoßhöhe nimmt zu. Aufgerissene Deckenpaneele, umgestürzte Bürotische, zerlegte Regalstücke liegen verstreut neben losen Haufen gestapelter Möbel – als wäre beim Auszug irgendwann jener Geduldsfaden gerissen, der die Ordnung von der Unordnung scheidet.

Appell an die Herren. Das Betätigen der Wasserspülung erfordert keinen Kraftakt. Ein gefühlvolles Handeln verhindert das Hängenbleiben der Spülung.

Erstes Obergeschoß
Die abgewetzten Teppichfliesen sind mit weißgelben Blättern bedeckt, das nackte Gerippe des Zimmerbäumchens schwebt geisterhaft im Raum, die ausgedorrten Äste sind mit Seilen von der Alu-Decke gespannt und können nicht zu Boden sinken; der Herbst ist eingezogen in einem Bürozimmer, das keine Jahreszeiten kennt. Was wohl im Kopf des Wachmanns an dieser Stelle vorgeht; fällt ihm sein Garten ein, und dass er die Triebe zurückschneiden sollte?

„Flubber“, „Men in Black“, „Rambo 3“ – auf den Betonunterzügen eines mittelgroßen Raums hängen Filmplakate. Der Blick aus dem Fenster auf das Haus gegenüber: blöd grinsende Faune über jedem Fenstersturz. Am Ende der Doblhoffgasse kauert der rückwärtige Portikus des Parlaments. Aus dem Unterboden der Räume sind da und dort einzelne Platten gerissen, zufällige Pixel, wie kleine schwarze Löcher im Raum verteilt. Im benachbarten Raum fehlt der Unterboden, ein tieferes Terrain ist entstanden, als hätte sich die Flut zurückgezogen.

Erdgeschoß
Die pompöse Eingangsschleuse in der Lobby endet vor einer provisorischen Gipskartonwand. Hinter einem Sichtfenster liegen Portiersloge und Überwachungszentrale. Die Schreibtische sind halbkreisförmig um den Sichtschlitz angeordnet, darüber eine Reihe von Überwachungsmonitoren, zu beiden Seiten Computer, Tastaturen, Telefone, Steuerpulte mit Köpfen und Hebeln, die sich mühelos in die 1980er datieren lassen. Es summt und piepst. Von hier aus wurde gesteuert und geregelt: Brandrauchentlüftung der Stiegenhäuser, Türzutritt, Alarmierung, Drehkreuzkontrolle, Lichtsteuerung, Aufzüge, Garagentore. Genau in der Mitte des Pultes ragt ein armlanges Mikrofon hervor: Was hätte man dem Gebäude noch gerne gesagt?

Der zentrale Schlüsselkasten: ein zweiflügeliger Hausaltar, bestückt mit Hunderten Schlüsseln, die wie ein Kettenhemd vibrieren, enthält er doch für jeden Schreibtisch und Aktenschrank einen eigenen Schlüssel.

In der ehemaligen Kantine sind obskure Artefakte zur weiteren Verwertung gesammelt: Geräte, die alten Projektoren ähneln und nicht näher zu bestimmen sind, Knäuel von Computerkabeln, dazwischen Aschenbecher und Mistkübel mit Inventarnummern. Seltsam geformte Lederkoffer stehen aneinandergereiht, die achteckige Form erinnert an aufgestellte Hutschachteln: für den Transport eines Datenträgers, den man heute nicht einmal mehr vom Hörensagen kennt.

Erstes Untergeschoß
Auf Technikräume mit Schleusen und verwinkelten Gängen folgen Hallen und Lagerräume, unter den Betondecken rankt sich ein kunstvolles Geflecht aus Leitungen und Kanälen. Vor der Lüftungszentrale summt es wie in einem Schiffsrumpf; einzelne Organe im Bauch des Gebäudes sind noch intakt. Die mächtigen metallenen Schieberegale eines Archivraumes sind mit Postern spielender Katzen und junger Hunde verziert. Die Teeküche nahe der Anlieferungshalle hat das Flair einer Studenten-WG nach der Auszugsparty; Kaffeepulver, Essig, Öl und Marmeladegläser liegen verstreut auf der Arbeitsplatte, Teller, Pfannen und Töpfe sind halb in Kartons gepackt und halb auf dem Boden verteilt.

Zweites Untergeschoß
Der Garagentrakt ist nur notdürftig beleuchtet, ein Saal, der sich hinter den halboffenen Brandschutztoren endlos auszudehnen scheint. Schon in den nahen Nischen nistet die Dunkelheit und verdichtet sich bald zu festem Stoff. Hier unten könnten sich gefährliche Bakterienstämme gebildet haben, wie in alten ägyptischen Grabkammern, um den Fluch des Pharaos zu vollstrecken.

Drittes Untergeschoß
Vor der Ausfahrtsrampe steht die Ampel starr auf Rot; der Lichtschein schliert auf dem glatten Beton der Rampe weit hinunter ins letzte Geschoß. Die Schuhe erzeugen ein langes Quietschen auf dem Betonboden. Hier ließe sich die Theorie überprüfen, nach der alle jemals erzeugten Schallwellen immer noch vorhanden sind, schwach und unendlich verdünnt. Doch welche der Worte, die hier unten gesprochen wurden in all den Jahren, würde man belauschen wollen?

Der Entdecker muss sich hier unten fragen, ob sich Forscherehrgeiz und Scheitern nicht manchmal gleichen. Vielleicht hat man einfach nur zu viel Zeit. Aber natürlich gelten die Regeln für dilettierende Abenteurer: Immer den Heimweg kennen und hoffen, dass keine Tür klemmt. Fremde Wachmänner unbehelligt lassen.

Spectrum, Sa., 2017.08.05

15. August 2016Gregor Schuberth
newroom

Eine kleine Theorie des Architekturberufs

Was Architekten gut können 1: Ungefragt Skizzen machen, manchmal schnell denken, Rotwein mit dem Schraubenzieher aufmachen, Maßbänder verlegen, Küchenplatten...

Was Architekten gut können 1: Ungefragt Skizzen machen, manchmal schnell denken, Rotwein mit dem Schraubenzieher aufmachen, Maßbänder verlegen, Küchenplatten...

Was Architekten gut können 1: Ungefragt Skizzen machen, manchmal schnell denken, Rotwein mit dem Schraubenzieher aufmachen, Maßbänder verlegen, Küchenplatten selber zuschneiden, Bilder ungerahmt aufhängen, Röcke nähen, Trickfilme modellieren, Photoshopfilter in der richtigen Reihenfolge auf Englisch aufsagen, Mäusefallen in Arbeitsräumen aufstellen, Partys abrechnen, nach Theaterstücken über das Bühnenbild diskutieren, Steinmuster sammeln, geistreich über Dachgesimse reden.

Eine kleine Theorie der Berufe. Dass die TU in Wien eine Art Sammelbecken war, hat man immer geahnt, sobald man mit irgendjemand ins Gespräch gekommen ist. Jede/ jeder Zweite hatte eigentlich etwas ganz anderes vor und war nur vorübergehend dort gelandet (bei mir war es eine erfolglose Bewerbung auf der Filmakademie). Einige blieben dann doch, und damit hielt sich auch ein Zug, den man bei Architekturschaffenden häufiger antrifft: Sie können einiges recht gut und finden fast alles interessant.

Insgeheim hänge ich ja der These an, dass die Talentiertesten eines Jahrgangs Kunst studieren. Diejenigen, die weniger gut zeichnen können, dafür ein bisschen rechnen und mit Spuren von Realitätssinn ausgestattet sind, studieren Architektur. Die Übrigen verteilen sich dann auf die restlichen Berufe.

Der russische Architekt und Künstler Alexander Brodsky schreibt in einem Ausstellungskatalog: Ich bin noch immer erstaunt, dass ich Architekt geworden bin. Da schwingt auch Respekt mit; der Beruf ist sehr alt, und in Vielem verblüffend konstant. Man geht auf Wegen, auf denen vor einem schon viele gegangen sind.

Die dunkle Seite der Architektur. Dass einen schon beim Entlangschreiten der Kupferbüsten am Resselpark eine Kühle überkommen konnte, die sich über die Hauptstiege in die hallenartigen Institutsräume zu einer gewissen Schwere steigerte, gehörte für mich zu einer Stimmung der Anfangsjahre des Studiums. Und rund um den Berufseintritt die Erfahrung, dass Büros, die eine freundliche Architektur machen, im Inneren oft gar nicht freundlich funktionieren. Später bei der Arbeit an konkreten Projekten der Anspruch, Entwürfe zuzuspitzen oder zu variieren − um bei der abendlichen Diskussion mitreden zu können − und die Unruhe und Konfusion einer morgendlichen Baubesprechung, wenn vieles in Frage gestellt wird. Ein Spagat an den man sich ein wenig gewöhnt, und laufend hofft, darin etwas Ertüchtigendes zu entdecken.

Doch gibt es auch eine populäre Seite. Was Alma Mahler-Werfel an Walter Gropius fand, hat mich immer gewundert, wo der doch stundenlang vor seinen Plänen gebrütet haben muss. Immerhin wurde er eine Zeit lang aufgenommen in den Olymp der prominenten (und begabten) Liebhaber. Neben der Fachwelt gibt es auch ein Leben in der Popkultur. Weil Architektur viele was angeht, Entwicklungen veranschaulicht oder Trends eine Gestalt verleiht. Dann werden die Sounds mancher Büros durch die Gassen der Stadt gepfiffen und von den Taxifahrern verrissen. Wo die Grenze zwischen einer Fachdiskussion und dem Stadtgespräch liegt ist oft gar nicht so leicht festzustellen. Das muss kein Nachteil sein, wird doch in anderen Spezialwissenschaften der Mangel an Austausch und Öffentlichkeit oft beklagt.

Was Architekten gut können 2: Bleistifte spitzen und Himmelsrichtungen bestimmen. Genau, ausdauernd und motiviert sein. Abmessen und einschätzen, Proportionen wittern, das Gewicht der Dinge kennen. Alt oder jung sein, anspruchslos leben bei Bedarf, unabhängig bleiben nach Laune. Noch mehr Skizzen machen.

newroom, Mo., 2016.08.15

10. November 2012Gregor Schuberth
Spectrum

Hier ist man nie allein

Die Erwartungen waren hoch, damals, Ende der Siebziger. Das Problem des städtischen Wohnens wollte man lösen. Mit der neuartigen Großwohnanlage „Am Schöpfwerk“. Was wurde aus der Mustersiedlung in Wien-Meidling? Notizen eines temporären Aufenthalts.

Die Erwartungen waren hoch, damals, Ende der Siebziger. Das Problem des städtischen Wohnens wollte man lösen. Mit der neuartigen Großwohnanlage „Am Schöpfwerk“. Was wurde aus der Mustersiedlung in Wien-Meidling? Notizen eines temporären Aufenthalts.

Gesunde Wohnungen – glückliche Menschen“, stand auf dem massiven Marmorblock „Am Schöpfwerk“, gefolgt von den Namen der Politiker und Architekten. Hohe Erwartungen wurden hier in Stein gemeißelt und griffige Glücksformeln. Die Fachwelt war von dem Vorhaben angetan; das Projekt zierte die Titelseiten wichtiger Zeitschriften. Ein Modellbau, als typologisches Experiment und soziologische Demonstration. Die Planer gaben sich selbst-bewusst: „Nach einer Ära städtebaulicher Prosa nach dem Zweiten Weltkrieg kündigt sich in unserem Lande der Beginn einer städtebaulichen Poesie an.“ „Großwohnanlage“ war die bevorzugte Bezeichnung. „Wir produzieren und befriedigen vorzugsweise immer noch Luxusbedürfnisse. Unsere Aufgabe ist die große Zahl.“

Am Beginn stand die Ausstellung „Neue städtische Wohnformen“ im Jahre 1966, in der Architekt Viktor Hufnagl gemeinsam mit Kollegen Kritik am simplen Zeilenwohnungsbau der Nachkriegsjahre übte. In der Folge wurde ein Team um Hufnagl von der Stadt Wien direkt mit der Planung für ein Demonstrativbauvorhaben beauftragt; ausgewählt wurde ein 17 Hektar großes Grundstück im Süden Wiens, am Fuße des Wienerbergs gelegen. Angestrebt war die Neuinterpretation der Wiener Höfe, vor allem nach dem Vorbild der Gemeindebauten aus der Zwischenkriegszeit, ein bunter Mix von Wohnungstypen, eine sehr hohe Bewohnerdichte, die Vermischung von Funktionen, Verkehrstrennung und die Anwendung vorgefertigter Bauteile. Nach langer Planungsphase wurde von 1975 bis 1980 gebaut.

Meine Vorgängerin hat in der Wohnung noch ein paar Gläser und Teller zurückgelassen, im Kühlschrank eine Dose Ketchup, zwei Red Bull und eine halb volle Flasche Gin. Ich kann alles gut brauchen. Irgendwie hoffe ich auf eine Nachricht zu stoßen, von wem?Auf der Terrasse finden sich ein Klappsessel und ein Campingtisch, die eine brauchbare Küchenausstattung abgeben. Die ersten Nächte probiere ich es auf der dünnen Wander-Isomatte, doch bekomme ich kein Auge zu und besorge am dritten Tag eine Angebotsmatratze, die ich direkt auf den Boden lege. Die Stauballergie vergesse ich. Im mittleren Zimmer ist eine Zimmerpalme zurückgeblieben, abends rücke ich den Tisch und den Klappsessel dazu, und ein fast wohnzimmerartiges Ensemble entsteht.

Das Gurren der Tauben ist allgegenwärtig, was sprechen sie untereinander? Die meisten Loggien sind mit Gittern und Netzen abgeschirmt. Morgens liegen in den Höfen neben dem Weg Brotfladen und Semmelbrösel bereit, die Tauben genießen über Nacht unsichtbare Fürsorge. Unter der Balkonkante ist der Taubenkot mehrschichtig auf den Waschbetonplatten aufgetragen. Ich lerne geschickt, zwischen den unbenützbaren Platten durchzutänzeln. Eine angegraute Hollywoodschaukel steht noch im Schutz der Balkonplatte, der einzige Anlass, sich ungeschützt den Blicken der Hauswände auszusetzen.

Der Name „Am Schöpfwerk“ dürfte auf Hebeanlagen zurückgehen, mit denen das Grundwasser nach oben befördert wurde zur Bewässerung der umliegenden Gärtnereien. Die Siedlung gliedert sich in vier große Abschnitte. Die Grundstruktur bilden Hofabfolgen mit mittigen Erschließungsachsen – als Ringe bezeichnet –, die halbkreisförmig um einen zentralen Park angeordnet sind. Als Auftakt im Norden, gleich bei der U-Bahn-Station, ist ein 17-geschoßiges Doppelhochhaus platziert. Eine Fußgängerpassage quert den neungeschoßigen Bauteil Nordring, am Ende dieser Achse liegen eine Volks- und Hauptschule und eine Kirche. An den Kreuzungspunkten der Gebäudetrakte sind mächtige Stiegenhallen ausgebildet, mit umlaufenden Brücken und Galerien, die ursprünglich als Gemeinschaftswintergärten gedacht waren. Die Anzahl der Geschoße nimmt von Norden nach Süden ab; die fünfgeschoßigen Blöcke des Ostrings sind an den Schmalseiten abgetreppt für Terrassenwohnungen. Den Südring bilden viergeschoßige Oktogone mit internen Innenhöfen.

Immerzu rumort etwas in diesem Betonkörper. Die Heizkörper murmeln, auch wenn sie abgedreht sind, im nächsten Zimmer gleicht das mehr einem Pfeifen oder Zischen, die Töne ändern sich, wie modulierend. Das Rauschen einer Abflussleitung, das Klappern von Schritten darüber, dort das Schlagen einer Tür. Die Anlage: ein riesiger Klangkörper aus Stahlbeton.

Nachts schleiche ich den Fußweg unter den Betonarkaden entlang wie einer, der nicht auffallen möchte. Hier ist man nie allein. Erst ist es ein seltsames Gefühl, in einer Anlage mit so vielen Menschen auf engem Raum zusammenzuwohnen. Daran gewöhnt man sich. Abends flimmern die Lichtpunkte der Hochhausfenster wie ein Leuchtpuzzle, am Horizont im Südwesten stehen die Lichtketten der Wohntürme von Alt-Erlaa, man fühlt sich dann in der riesenhaften Megacity einer fernen Zukunft, wo Städte den Planeten überzogen haben wie ein alles bedeckender Wald.

Die katholische Pfarrkirche ist aus Betonfertigteilen mit Backsteinfeldern errichtet. Auf dem erhöhten Vorplatz liegen Felsbrocken, als wären sie irrtümlich vom Himmel gefallen. Ein mächtiger Campanile ragt auf als weit sichtbares Zeichen. Der Turm wirkt verwaist, oben am Ende des quadratischen Schaftes sind vier leere kreisrunde Scheiben eingelassen wie blinde Augen; hier sollten Uhren angebracht werden, die sich die Kirchenleitung aber nicht leisten konnte. Aus dem Glockenturm wird man kein Glockenläuten hören, nicht weil sie dauerhaft ausgeflogen, sondern nie eingezogen sind. Bei einer Abstimmung unter den Anrainern wurde die Bestückung mit Glocken abgelehnt, und der Turm blieb stumm.

Die fußgängerorientierte Erschließung der Wohnungen war eine der planerischen Prämissen. Die Autos parkten in den Tiefgaragen und an den Rändern. Der Konzeption der Außenräume kam besondere Bedeutung zu; Vorbilder wie Agora, Forum, historische Marktplätze und sogar die Piazza San Marco wurden als Zeugen angerufen. Eine Stadt inder Stadt entstand: 1705 Wohnungen für 6500Menschen, 62 Treppenhäuser mit 2,6 Kilometer Laubengängen, 55 Hobbyräume, 1200 Stellplätze. Dennoch blieb die Anlage ein Torso. Eine Kleingartensiedlung schneidet bis heute tief in die Bebauung ein. Sie sollte einem Westring weichen, so aber kam der zentrale Park nur in halber Größe zur Ausführung. Bautechnische Probleme folgten der Eröffnung auf dem Fuß: mangelhafter Schallschutz, Schimmelbildung durch Kältebrücken, unregulierbare Zentralheizungen, Wasserschäden an Terrassen und Flachdächern.

Obwohl an diesem Sonntagnachmittag die Sonne freundlich scheint, sind in den Räumen des Arkaden-Cafés die Lampen eingeschaltet und die Fenster nach draußen zur Passage mit Schnürlvorhängen und Dekorstoffen verhängt. Als Hemmschwelle für den unschlüssigen Flaneur? Der Gastraum füllt sich langsam. Man ist ins Herz des Guten-Tag-Landes vorgedrungen. Die Wirtin bleibt routiniert und aufmerksam jeder Kundschaft gegenüber. Hier versammeln sich die Mitglieder der Einheimischen-Community, zumeist deutlich betagte Teilnehmer der ersten Pioniertrupps, die auf dem Gelände gesiedelt haben.

Schräg gegenüber, an der halb offenen Fußgängerpassage, liegt der Penny-Supermarkt. Mit der angrenzenden Drogeriefiliale und einem türkischen Gemischtwarenladen bildet er das Kommunikationsdreieck der Anlage. Samstagvormittags findet auf den Betonbänken der Umgebung der lokale Tranklertreff statt.

Der teuerste Rotwein im Regal: ein Cuvée „Stoaweit“ für 5,99; Red-Bull und Hochprozentiges wird auf Nachfrage von der Verkäuferin direkt an der Kasse ausgehändigt. Ein Security-Mann dreht auffällig seine Runden. Meist steht er geduldig hinter der Kassa, während die Waren auf die Laufbänder geschoben werden, danach schlängelt er durch die Verkaufsgänge, ordnet da und dort das Gemüse in den Kisten, kleine Kinder fragen ihn um Auskunft, und wenn der Ausgang von Einkaufswagen verstellt ist, behebt er die Blockade, obwohl es nicht seine Aufgabe ist. Er bewahrt Haltung, ein älterer Herr schon, dunkelhäutig und groß gewachsen, die Security-Uniform steht ihm gut und verleiht ihm etwas Stattliches. Sein Basislager ist das Stehpult gleich neben dem Eingang, wo auf einem geteilten Bildschirm die Bilder der Überwachungskameras weiterspringen, als würde das einen Überblick verschaffen. Er lehnt lässig am Pult und sieht kaum hin. Das hilfsbereite Auftreten steht im Gegensatz zur strengen Aufgabe. Seine Freundlichkeit verrät sich in nichts.

Die Ausstellung von 1966 hatte nichts weniger angestrebt, als das Problem des städtischen Wohnens zu lösen, untermauert mit neun Forderungen. Etwa: „Schöpferische Aktivierung der Bewohner als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung der Persönlichkeit.“ Oder: „Der Wohnbau als verantwortungsvollste Bauaufgabe unserer Zeit erfordert höchste künstlerische Qualität.“ Der planerische Blick war nach vorne gerichtet. „Wir brauchen in unserer pluralistischen Umwelt Menschen, die bereit sind, jenseits politischer und konfessioneller Begrenzungen urbane Gemeinschaften einzugehen, Menschen, die durch das gemeinsame Erlebnis des Bauens und des selbst gestalteten Zusammenlebens ohne fixierte Vorstellungen und ohne Vorurteile Begegnungen suchen.“ Eine Fachzeitschrift kommentierte: „Dem in die Sackgasse geratenen sozialen Wohnungsbau sollen neue Möglichkeiten gewiesen und die Flucht junger, begabter Architekten in die Utopie vermieden werden.“ Die fachpublizistische Aufnahme war umfangreich und freundlich: das „Spectrum“ der „Presse“ von 1982 vermutet sich einem „Schlüsselbauwerk“ gegenüber, dem vielleicht „wichtigsten Wohnbau im Wien der Nachkriegszeit“.

Nach einer unruhigen Nacht voll Dröhnen und Klappern beschließe ich entnervt, bei den Nachbarn über mir vorzusprechen. Dazu muss ich über das Stiegenhaus in den Stock darüber steigen, scheuche zwei Schülerinnen beim Rauchen auf, durch einen Verbindungsraum gelange ich hinaus auf den Außengang. Alles wirkt verwaist rund um die Eingangstür, die Jalousien des Küchenfensters heruntergezogen, ob hier jemand wohnt? Nach dem Klingeln bleibt es ruhig. Schätze ich die Geräusche falsch ein, übertreibe ich? Auch in den folgenden Wochen ist abends kein Lichtschimmer auszumachen.

Samstagabend, rasch breche ich auf zu einem Dämmerungsspaziergang. Überall Kindergruppen, auf den Rasenflächen, unter den Tordurchfahrten, in den Zugängen, Ball spielend, herumwuselnd. In der Nähe meiner Wohnungstür spielt ein Vater mit einer Gruppe kleiner Mädchen Fußball, sie sprechen Deutsch mit unterschiedlichenAkzenten. Die vielfältigen Abstammungen der Bewohner färben das Bild an diesem Tag lebendig und bunt. Migrantischer Hintergrund, sagt man, Neuösterreicher. Riesige Integrationsmaschinen, die zu funktionierenscheinen. Ist es die Ankunft in einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten oder der begrenzten Unmöglichkeiten? Ist das Österreichische in seinen lichtesten Momenten ein Prinzip, das von der Anziehungskraft einer Alltagskultur und dem gelassenen Umgang miteinander getragen wird?

1980 war dann das Kaninchen aus dem Hut gezaubert, als ausgewachsenes Prachtexemplar. Zwar hatte die Architektengruppe in einer mehrjährigen Planungsphase insgesamt sieben Zwischenstufen ausgearbeitet, um Forschung, Experiment und Planungsreife zu verbinden. Die Gedanken der frühen Konzepte sollten wie von riesigen Hebeanlagen ans Licht der Oberfläche befördert werden. Als die 6500 Menschen in kurzer Zeit einzogen, wirkte das riesengroße Steuerpult, das ersonnen worden war, um alles Erdenkliche zu berücksichtigen, mit seinen vielen Knöpfen und Reglern und Lämpchen schon klobig und unvollständig.

Wenn der naturkundige Beobachter heute auf dem Gebiet der ehemaligen Froschlacken etwas studieren wollte, dann vielleicht, dass eine umgesetzte Utopie zwar nicht gleich in ihr Gegenteil kippen muss, aber von Anstrengung und Ernüchterung begleitet wird; die Anstrengung der langen Arbeit, eine Vorstellung Wirklichkeit werden zu lassen, und der ernüchternden Ahnung, wie sich die gewünschten Absichten in ihr Gegenteil verwandeln könnten. Ein Stimmungsfirnis, der über den Schöpfwerkgründen gelegentlich anzutreffen wäre.

Während ich für Stunden treppauf und treppab durch Gänge und Atrien streifte, ohne jemals den Gebäudekörper zu verlassen, fühlte ich mich wie der übermächtige Hausmeister. Mit einem riesigen Schlüsselbund gerüstet, der Einzige, der dieses Systemim Gleichgewicht halten konnte. Die Geräusche wurden mir vertraut und in Nuancen unterscheidbar. Das nächtliche Rumoren in der Wohnung störte mich kaum noch. Ich stellte mir dann vor, dass es die Größe war, die zu sprechen anfing und sich mit meinen Träumen verband, ein nicht endender Gedankenstrom aus dem Betonbauch der Anlage.

Wärmedämmplatten decken nach und nach alles zu, und die Anlage erstrahlt im feierlichen Styroporkleid. Der Uringeruch auf Stiege 14 bleibt nach dem Anstrich fast verschwunden. Die Renovierung des Nordringes wird noch heuer abgeschlossen sein, jeder freie Zentimeter mit Taubenstacheln bestückt. Ein zweites Leben beginnt für das Demonstrativbauvorhaben, ohne Titelseiten und Fachzeitschriften. Die Marmorinschriften werden weniger hochtrabend ausfallen.

Auch meine Zeit dort ging zu Ende. Ich hatte um Aufnahme gebeten, atmosphärischen Anschluss gesucht: Ein Gleicher unter Gleichen wurde ich nicht, aber wer kann das schon von sich behaupten.

Spectrum, Sa., 2012.11.10

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Bauwerke

Presseschau 12

05. Februar 2020Gregor Schuberth
Spectrum

Wiens Althanviertel: Als stiege man in die Unterwelt

Ein Dachausbau am Julius-Tandler-Platz. Ein Geländesprung, der in Nussdorf beginnt. Der Phantomwettbewerb um die Neugestaltung des Althanviertels. Und was all das mit Heimito von Doderers „Strudlhofstiege“ verbindet. Szenen einer Wiener Gegend.

Ein Dachausbau am Julius-Tandler-Platz. Ein Geländesprung, der in Nussdorf beginnt. Der Phantomwettbewerb um die Neugestaltung des Althanviertels. Und was all das mit Heimito von Doderers „Strudlhofstiege“ verbindet. Szenen einer Wiener Gegend.

In der Tat gälte es nur, den Faden an einer beliebigen Stelle aus dem Geweb' des Lebens zu ziehen, und er liefe durchs Ganze, und in der nun breiteren offenen Bahn würden auch die anderen, sich ablösend, einzelweis sichtbar."

Heimito von Doderer, „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“


Doderers Mary K. wohnt hier nicht mehr. Das Haus Althanplatz 6 lag in unserem Rücken, während wir auf den schmalen Gerüstbrettern knapp unterhalb des Hauptgesimses herumturnten, die Bauhelme tief im Gesicht. Beladen mit Schreibunterlagen und Digitalkameras klopften wir an Putzlöchern und notierten lose Taubenstachelbänder. Bei jedem Windstoß bauschte sich die Gerüstplane wie ein Segel. Die Gesimsbalken vor unseren Nasen wirkten klobig und massiv.

Als Architekten waren wir mit dem Umbau des Eckhauses gleich rechts neben dem Franz-Josefs-Bahnhof betraut, ehemals Althanplatz 4, heute Julius-Tandler-Platz. Eine Komplettsanierung mit aufgestockten Dachgeschoßwohnungen. Heute fand die Begehung zur Abnahme der Fassade statt. Am Ende der Straßenflucht lag der Donaukanal und jener Häuserblock, hinter dem die Autotaxis, gleichmäßig den Fahrdamm überrollend, durch die Jahre fädelten. Jedenfalls von Mary K.s Fenster aus gesehen. Was sind das für Fäden, von denen Doderer spricht? Wo anfangen, ohne „Es war einmal“? Das Haus wurde 1900 baubewilligt. Also beginnen wir am chronologischen Anfang der Strudlhofstiege, wenige Jahre später. Textzitate sind kursiv gesetzt und fallweise gekürzt.

1911: Schumann fis-Moll. Am 12. Mai jenes nun schon mehrfach heraufzitierten Jahres 1911 saß der Gymnasiast René Stangeler abends gegen fünf Uhr im Sprechzimmer der k. u. k. Konsular-Akademie (der heutigen US-amerikanischen Botschaft in der Boltzmanngasse) und wartete. Er übergibt dem Akademiker Grauermann ein Billett seiner Schwester Etelka. Grauermanns Antlitz machte einen glatten und jugendlichen Eindruck über dem weinroten Kragen und dem dunkelgrünen Rock der Uniform (Stangeler im grauen Sportanzug mit braunen Wollstrümpfen). Sie gingen wenige Schritte auf dem Gang, dann öffnete Grauermann eine ebensolche weiß lackierte hohe Flügeltüre wie jene, welche in das Sprechzimmer führte. Sie bewegten sich ohne jedes Geräusch. Stangeler blickte voraus in den Raum, welchen er noch nie betreten hatte; das Grün des Parks schien durch drei hohe Fenster zugleich mit einigen Strahlenbündeln der Abendsonne, die in den weißen Fensternischen lag. Teddy Honegger spielt eine fis-Moll-Sonate von Schumann. Die Stille im Haus, das kleine Wartezimmer, die Einsamkeit des Spielenden, tropfende Sekunden vor dem langsameren Hintergrund des Zeitstroms. Renés Gesicht entknotet sich. Der Ton der Erzählung ist angeschlagen. – Der Roman ist polyzentrisch aufgebaut, es gibt keine eindeutige Hauptfigur und keine durchgehende Handlung. Vor allem in den ersten beiden Teilen dominieren Vor- und Rückblenden, in denen sich die Erzählschwerpunkte der Jahre 1911 und 1925 ständig überlagern. Manchmal ist es fast unmöglich zu bestimmen, von welcher Position aus gerade berichtet wird. Die Kontinuität der zeitlichen Handlungszentren spiegelt sich sogar in den Jahreszeiten: Ein scheinbar nie zu Ende gehender Spätsommer liegt über der Stadt.

„Doderers Mary K. wohnt hier nicht mehr, am Althanplatz 6, heute Julius-Tandler-Platz. Mary K. sähe heute eine andere Stadt.“

Die Stiege. Am Mittwoch, dem 23. August 1911, kommt es zur denkwürdigen Begegnung auf der Strudlhofstiege, wo sich Ingrid Schmeller und Stephan Semski überstürzt um zehn Minuten nach vier Uhr verabreden und vom plötzlichen Auftritt Schmeller Seniors grob unterbrochen werden. Asta und Schmelzer stehen eigentlich Schmiere und übersehen das parkende Taxi nahe der Strudlhofgasse, in dem der Vater seiner Tochter gefolgt war. Genau in jenem Moment, als der Vater das Pärchen auf der mittleren Rampe überrascht, taucht am unteren Ende der Stiege ein weiteres Grüppchen auf: Stangeler, Grauermann und Paula Schachtl sind auf anderem Wege zufällig hierher gelangt und werden Zeugen der tumultuösen Liebesszene. René Stangeler hebt die Arme, ganz beseelt: Er hat die Bühne gefunden, die er an dem Ort bereits vermutet hatte.

Als Bauwerk betrachtet, ist die Strudlhofstiege nicht besonders bedeutsam. Im Roman ist sie der Angelpunkt der Schicksale der Protagonisten. Alle Fäden laufen hier zusammen, eine magische Pforte, von grünlichem Aquariumslicht umhüllt. Wie in einem kosmischen Nebel steigt man Zeitenberge hinauf und stürzt Erinnerungshänge hinunter. In dieser Erinnerungswelt sind räumliche und zeitliche Bewegungen ident. Der Untertitel des Romans spielt darauf an: Melzer und die Tiefe der Jahre.

1925: Melzer im grünen Unterwasserlicht. Melzer fuhr aus seinen Erinnerungen und warf dabei das Kaffeegeschirr um. Jedoch blieb dieses kleine Malheur ohne Folgen (das stimmt nur eingeschränkt, eine Kette von Erinnerungen wird ausgelöst). Major Melzer, ein Mann ohne Vornamen, hat den Militärdienst quittiert und sich in der Porzellangasse zwei kleine Zimmer gemietet.

Auf dem Fell des von ihm erlegten Bären pflegt er seinen Kef, den Denkschlaf, zu halten. Asta, die Schwester René Stangelers, hat er seit 14 Jahren nicht mehr gesehen. Das Stimmungsbild seiner letzten Erinnerung an ihre Wohnung im Quartier Latin, einer Erweiterung des Elternhauses ins Nachbargebäude, zieht sich durch den Roman: der Salon nebenan, das grüne Unterwasserlicht der Jalousien, das glänzende schwarze Schweigen des Klaviers, die Gedämpftheit und Kühle, der Geruch des sommerlichen Naphthalins.

Topografie. Die Geländekante, welche die Strudlhofstiege als Bauwerk überbrückt, ist die Steilwand einer eiszeitlichen Lössterrasse, die schon dem römischen Legionslager als Schutz diente. Der Bruch beginnt in Nussdorf, verläuft parallel zum Donaukanal quer durch den 9. Bezirk bis zu Maria am Gestade (erinnert an das Donauufer einst an dieser Stelle), dem Hohen Markt und weiter bis Erdberg (Kirche Peter und Paul) und Kaiser-Ebersdorf. Zahlreiche Stiegenanlagen und Neigungen überwinden den Geländesprung: Strudlhofstiege – Himmelpfortstiege – Vereinsstiege – Berggasse.

Eine Brücke zwischen zwei Reichen. Es ist, als stiege man durch einen verborgenen Eingang in die schattige Unterwelt des Vergangenen . . . Die Gegend unterhalb der Kante ist auch ein Reich der Flüsse: früher von Als und Donau, heute von unterirdischen Wasserläufen und dem Donaukanal. Der Alserbach, die Als, wird seit dem 19. Jahrhundert in unterirdischen Gewölben geführt (Neuwaldegger Straße, Jörgerstraße, Spitalgasse, Nussdorfer Straße, Alserbachstraße). An den Straßen ist noch heute der Schwung des Bachverlaufs abzulesen. Im Bereich der Alserbachstraße, etwas unterhalb der Markthalle, quert das unterirdische Gewölbe die Geländestufe. Der Hang ist hier abgeschliffen und eben.

Frostschäden. Wir arbeiteten uns an der Fassade Stockwerk für Stockwerk nach unten. Wir stiegen sozusagen auf den Julius-Tandler-Platz ab. Der schmale Raum zwischen Fassade und Gerüstplane war mit milchig weißem Licht gefüllt wie in einer Gletscherspalte. Bloß keinen Gedanken fallen lassen hier oben, was der anrichten könnte. Farbspritzer und Frostschäden wurden notiert, jedes Putzloch fotografiert. Die archäologischen Erkenntnisse blieben gering. Der historische Stuck, die Quasten und Quader waren in den 1950er-Jahren abgeschlagen worden. Da und dort verriet ein Vor- und Rücksprung noch die Kolossalordnung der ursprünglichen Fassade, ein Stil zwischen Neobarock und Jugendstil, nicht ungewöhnlich für Häuser jener Jahre.

Draußen lag der weite Platz voll unbekannter Häuser und Wohnungen; Treppenaufgänge, glatt, oder mit sinnlosen Quasten und Spiegeln geziert, eng oder breit, mit Lift oder ohne Lift.

Hier bricht der Text am Bild der heutigen Stadt. Mary K., die aus dem Fenster blickt so wie im Roman, sieht heute eine andere Stadt. Der böhmische Bahnhof ist verschwunden, bei unserem Eckhaus und auch bei anderen Häusern ist der Putz abgeschlagen. Die Bilder synchronisieren sich nicht.

1972 bis 1975: Schwanzer/Glück/Hlaweniczka. Die Geschichte zieht durch. Althanplatz – Platz der Sudetendeutschen – schließlich, ab 1949: Julius-Tandler-Platz. Der Franz-Josefs-Bahnhof hatte durch Bombentreffer und Kriegshandlungen Schäden davongetragen, blieb allerdings der einzige Kopfbahnhof, der vereinfacht wieder instand gesetzt wurde. Die markanten Uhrtürme wurden abgetragen, die Fassade wurde „geglättet“. 1975 erfolgte schließlich der Abriss, Auftritt der Städteplaner. Architekt Kurt Hlaweniczka entwickelte das Konzept eines riesigen Quartiers über den eingehausten Bahngleisen. Der Entwurf erstreckte sich vom Julius-Tandler-Platz im Süden bis zur Spittelau im Norden – inspiriert von den Megastrukturen jener Zeit.

Von der städtebaulichen Verflechtungszone und dem Mix unterschiedlicher Nutzungen blieb auf der Platte schließlich nur ein Universitätscampus übrig. Die Kardinallösung, nämlich die Gleise zu versenken und die Fläche darüber durchlässig zu bebauen, blieb damals – wie auch knapp 50 Jahre später – stecken. Der Komplex blieb eine Barriere im städtischen Fluss. Karl Schwanzer entwarf das Kopfgebäude als schwebenden Kristall über dem Bahnhofssockel. Das sogenannte Technische Zentrum war eher ein Büro- und Einkaufszentrum mit den Resten eines Bahnhofs im Erdgeschoß. Die schematische Ausführung durch die Arbeitsgemeinschaft der Architekten Glück/Hlaweniczka/Requat & Reinthaller minderte die Prägnanz der Anlage.

„Die Neuordnung des Althanviertels, ambitioniert gestartet mit städtebaulichem Leitbild, mündete am Ende in den Status quo der 1970er.“

Der Phantomwettbewerb. Den Faden an einer beliebigen Stelle aus dem Geweb' des Lebens zu ziehen, und (. . .) in der breiteren offenen Bahn würden auch die anderen (. . .) sichtbar. Das Bild des Gewebes beruht darauf, dass Fäden, miteinander verflochten, ein stimmiges Ganzes ergeben, das doch aus vielen einzelnen und unterschiedlich beschaffenen Materialien bestehen darf. Ein Gewebe oder eine Textur – als Leben, als Stadt, als Roman. Vom lateinischen Verb texere für weben, flechten (übertragen auch zusammenfügen und verfassen) lässt sich auch der Begriff Text herleiten.

Die Gegend war uns durch den Umbau vertraut, und wir nahmen an einem Architekturwettbewerb teil, bei dem ein Abschnitt der Überplattung hinter dem Bahnhof neu organisiert werden sollte. Ein Investor hatte das Areal gekauft. Bahnhof und Technisches Zentrum selbst bekamen – außerhalb des Wettbewerbs – ein Refurbishment verordnet, ein bisschen schicker und höher.

Der Sound wechselt, elektronische Musik passt besser zu langen Wettbewerbsnächten als Schumann. Blasse Gesichter im hellen Licht der Monitore. Das leichte Zischen der Hartschaumsägen, wenn die Klötzchen vom heißen Draht geschnitten werden. Die Grundplatte ist unter den vielen Styroporwürfelchen kaum noch zu sehen. Überkritzelte Ausdrucke, Lagepläne, Grundrisse, erste Renderings, an die Türstöcke geklebt. So weit zu Theorie und Praxis des Entwerfens. Die Jury entschied sich für einen Entwurf, der das Volumen der angekündigten Hochhäuser kippt und als Megastruktur über die Gleise legt. Wettbewerbstechnisch ein Lucky Punch, kein anderes Teilnehmerbüro hatte eine ähnliche Lösung vorgeschlagen. Damit war das letzte Wort noch nicht gesprochen: Knapp zwei Jahre später präsentiert der Investor ein Einreichprojekt, bei dem vom Architekturwettbewerb nichts übrig bleibt, kein Hochpark, keine Querungen, keine Neuinterpretation der Gleisüberbauung. Die Neuordnung des Althanviertels, ambitioniert gestartet mit dialogorientiertem Planungsverfahren und städtebaulichem Leitbild, in dem sogar Hochhausfenster bis 126 Meter vorstellbar waren, mündet am Ende in den Status quo der 1970er-Jahre.

Überblendung und Collage. Die Stadt aus dem Roman und die Stadt unseres Umbaus sind einander ähnlich – und unterscheiden sich. Oder genauer gesagt: die Vorstellung der Stadt des Romans während des Lesens und die Vorstellung der Stadt aus der Gegenwart. Unermüdlich laufen die Romanfiguren, scheinbar absichtslos, in einer Romanstadt herum, die jener gegenwärtigen des Lesers zumindest nahekommt. Unweigerlich überlagern sich die Vorstellungen, Szenen überblenden sich – ist dort hinten nicht gerade Eulenfeld mit dem Automobil vorbeigefahren?

Das Spiel von Überblendungen und Assoziationen ist eröffnet, Doppelbelichtungen im Kopf: Das äolische Singen der Drähte kommt heute noch vor, der Naphthalingeruch hat sich verzogen, der rot-grüne Kragen samt der Uniform ist Requisite. Die grün gestrichenen Holzlamellen im Zwischenraum der Kastenfenster sind nicht mehr üblich. Familie Siebenschein und Mary K. sind aus der Stadt verschwunden. Stangeler schwärmt nicht mehr vor der Stiege, seinesgleichen gibt es noch. Der Zungenschlag auf Döblinger Gartenpartys lässt sich vorstellen. Ein Traumgewebe als Spiel im Kopf, bevorzugt auf einer lokalen Parkbank zu vollziehen, in der Nachmittagssonne eines Spätsommertags.

Die Überblendung lässt sich zur Überlagerung weiterdenken, etwas Schweres und Materialhaftes tritt neben die fast körperlose Doppelbelichtung. Ein Umbau lässt sich vielleicht als solche Überlagerung beschreiben, in der Methode der Collage. Der bestehende Baukörper wird mit hinzugefügten Teilen vermischt, unterschiedliche Bauglieder werden verbunden, ausgeschnitten, verändert und neu montiert. Ein Vorgang, bei dem verschoben, verdrängt und überlagert wird. Eine grobe und schmutzige Angelegenheit mit Staub, Presslufthämmern und Baugerüsten.

Ein gelungener Umbau wäre daran zu erkennen: Bezüge stellen sich her, überraschende Verbindungen entstehen im Gewebe der Umgebung. In anderen Worten: Die Vorstellungswelt wird um lebendige Bilder bereichert, die anschaulich wirken, Altes und Neues verknüpfen und ohne „Es war einmal“ auskommen.

Spectrum, Mi., 2020.02.05

05. August 2017Gregor Schuberth
Spectrum

Der „Glaspalast“ vor dem Abriss: Ein letzter Rundgang

Mitten in der Stadt steht er, einen Steinwurf von der Ringstraße entfernt: der „Glaspalast“, das ehemalige Rechenzentrum der Stadt Wien. Acht Obergeschoße, drei Untergeschoße, fünf Aufzüge, 294 Zimmer. Abriss: demnächst. Eine letzte Begehung.

Mitten in der Stadt steht er, einen Steinwurf von der Ringstraße entfernt: der „Glaspalast“, das ehemalige Rechenzentrum der Stadt Wien. Acht Obergeschoße, drei Untergeschoße, fünf Aufzüge, 294 Zimmer. Abriss: demnächst. Eine letzte Begehung.

Dach
Hier oben sind den Büros durch die Rückstaffelung teilweise Terrassen vorgelagert; im Fugenraster der Betonsteinplatten sprießen Grasbüschel und kleine Stauden unbekümmert und doch seltsam geometrisch geordnet. Auch die Sträucher in den Waschbetontrögen gedeihen prächtig, ein wenig ungepflegt und struppig würden sie dem damaligen Büroauge erscheinen. Triebe von Efeu und Zwergmispel sind da und dort übergetreten und haben die Betonplatten geflutet. Der Vogelkadaver einer Taube, ausgeweidet von den städtischen Raubvögeln, die in den Ecktürmen der Nachbarschaft nisten . . .

Am Horizont die Zwillingstürme der Piaristenkirche, wenige Fingerbreit daneben flimmert der Doppelwürfel des Allgemeinen Krankenhauses.

Siebentes Obergeschoß
Gleich im ersten Raum liegen aufgebogene Aluminiumstreifen aus der Abhangdecke wie Papierschnitzel auf dem Boden verstreut, als hätte jemand nach einem versteckten Schatz gesucht. Einige der Textillamellen vor den Fenstern sind heruntergerissen und wie verknotete Haarbüschel am Fensterbrett hängen geblieben. Von unterschiedlichen Seiten läuten Kirchenglocken, es ist fünf Uhr nachmittags. Immer wieder sind in die Gipskartonplatten der Zwischenwände armgroße Löcher gebrochen, wie von Titanenhänden vollbracht, bei einer übermütigen Zusammenkunft. Gelbe Mineralwolle quillt dahinter hervor.

An einem Türstock ist ein unscheinbarer Magnetstreifen aufgeklebt, als Kontrollpunkt für den Rundgang des Sicherheitsdienstes: der frische Eingriff verrät Spuren tag- und nachtaktiver Besucher. Was würde bei einer plötzlichen Begegnung mit dem Wachmann passieren?

Sechstes Obergeschoß
Lichtspiele: vieleckige Lichtprismen auf fleckigen Teppichfliesen. Unmerklich wandern sie mit dem Sonnenstand. Ein freundliches Spiel, allenfalls von Bürogeistern geschätzt und beobachtet, falls es hier welche gibt. Doch fehlen dramatische Berichte von Enthauptungen und eingemauerten Widersachern, die solchen Spuk verursachen könnten. Wobei im Büroumfeld wohl eher an Mobbing, übergangene Beförderungen und unerwiderte Kollegenliebe zu denken wäre.

Fünftes Obergeschoß
Manche der Zimmer sind leer, in anderen herrscht ein Durcheinander aus umgestoßenen Papierkübeln, Arbeitstischen und Regalen, auf dem Boden verstreute Zettel, als wäre das Zimmer fluchtartig verlassen worden. Hier muss es ein Alien erwischt haben: Es konnte sich noch ein paar Meter weiterschleppen, ehe es unter Absonderung dunkler Flüssigkeiten zusammengebrochen ist.

Viertes Obergeschoß
Ab hier taucht man unter die Kontur der umliegenden Häuser. Die Atlanten mit nacktem Oberkörper gegenüber am Haus in der Doblhoffgasse sehen irgendwie obszön aus. Überall dieser Geruch nach altem Teppichboden, Reinigungsmittel und Staub. Dann und wann das Knacken einer Isolierglasscheibe. Die Ausstattung der Büros erinnert an ein historisches Raumschiff: erbsenfarbiger Teppichboden, braune Verkleidungen mit Luftschlitzen und Kabelauslässen, wuchtige Bandfenster mit vertikalen Textilstreifen, die Decke aus Aluminiumlamellen mit Einbauleuchten. Das Großraumbüro mit seinen imposanten Ausmaßen von 46 auf 13 Metern könnte das Steuerdeck gewesen sein. Mächtige Betonunterzüge schneiden alle acht Meter durch die Abhangdecken, so tief, dass man sie leicht mit der Hand berühren kann. Das ist nur einer der Gründe, warum das Gebäude abgerissen werden soll: Schon die Raumhöhe dieser Geschoße lässt sich nicht an Anforderungen heutiger Büros anpassen.

Auf dem Boden der eingerollte Bogen eines Organigramms: bedeckt mit Netzlinien, Pfeilen, Ziffern und Buchstaben – einem rätselhaften Prinzip folgend, dessen Logik niemand mehr entschlüsseln wird. Wenn Ordnungsversuchen bisweilen etwas Beruhigendes innewohnt, mischt sich hier etwas Irritierendes um die Kurzlebigkeit solcher Bemühungen.

Große Stücke des Teppichbodens sind ersetzt durch bunte, andersfarbige Flicken; zusammen mit den helleren Abdrücken ehemaliger Geräte entsteht das Bild einer lebhaft gescheckten Patchworkdecke, auf der sich ein paar alte Büromöbel zum Picknick verabredet haben. Da und dort lehnen Stapel aus orangefarbenen und grellgrünen Stoffpinwänden. Büro. Büro.

Der Aktenaufzug
Hightech 1979: In jenem Jahr wurde das Gebäude nach den Plänen Harry Glücks fertiggestellt, nach einer verhältnismäßig kurzen Planungs- und Bauzeit von fünf Jahren. Der Bauplatz hatte unterschiedliche Vorgänger erlebt. Die ehemalige Freifläche vor dem Josefstädter Glacis war im Zuge der Ringstraßenplanung zur Restfläche degradiert worden und wurde mit einer Markthalle bebaut. 1950 erfolgte der Um- und Ausbau zum Forumkino, das infolge nachlassenden Publikumsinteresses 1974 abgerissen wurde.

Drittes Obergeschoß
Vor einem Serverraum blinkt das rote Licht eines Kästchens mit der Aufschrift Zugangskontrolle: Nichts passiert beim Durchschreiten. Tageslichtlose, hohe Räume ohne Stützen, die Teppichfliesen über dem Unterboden sind an den Rändern bräunlich eingefärbt, vom Luftzug, der durch die Fugen streicht; ein alles überspannendes Fugennetz rastert den Fußboden. In Doppelreihen sind die mannshohen braunen Metallschränke aufgebaut, die meisten ausgeweidet. Da und dort quellen knallbunte Kabelbüschel aus einer Bodenöffnung. Die Gestaltlosigkeit der Informationswelt.

Zweites Obergeschoß
Auf dem Teppich seltsame Häufchen mit braunen Bimskügelchen, als wäre hier jemand auf der Stelle zu Staub zerfallen, bei Anbruch des Tageslichts. Halb umgeblätterte Wandkalender an Regalen und Pinnwänden erlauben methodisch saubere Schlüsse über das Auszugsdatum. Die Geschoßhöhe nimmt zu. Aufgerissene Deckenpaneele, umgestürzte Bürotische, zerlegte Regalstücke liegen verstreut neben losen Haufen gestapelter Möbel – als wäre beim Auszug irgendwann jener Geduldsfaden gerissen, der die Ordnung von der Unordnung scheidet.

Appell an die Herren. Das Betätigen der Wasserspülung erfordert keinen Kraftakt. Ein gefühlvolles Handeln verhindert das Hängenbleiben der Spülung.

Erstes Obergeschoß
Die abgewetzten Teppichfliesen sind mit weißgelben Blättern bedeckt, das nackte Gerippe des Zimmerbäumchens schwebt geisterhaft im Raum, die ausgedorrten Äste sind mit Seilen von der Alu-Decke gespannt und können nicht zu Boden sinken; der Herbst ist eingezogen in einem Bürozimmer, das keine Jahreszeiten kennt. Was wohl im Kopf des Wachmanns an dieser Stelle vorgeht; fällt ihm sein Garten ein, und dass er die Triebe zurückschneiden sollte?

„Flubber“, „Men in Black“, „Rambo 3“ – auf den Betonunterzügen eines mittelgroßen Raums hängen Filmplakate. Der Blick aus dem Fenster auf das Haus gegenüber: blöd grinsende Faune über jedem Fenstersturz. Am Ende der Doblhoffgasse kauert der rückwärtige Portikus des Parlaments. Aus dem Unterboden der Räume sind da und dort einzelne Platten gerissen, zufällige Pixel, wie kleine schwarze Löcher im Raum verteilt. Im benachbarten Raum fehlt der Unterboden, ein tieferes Terrain ist entstanden, als hätte sich die Flut zurückgezogen.

Erdgeschoß
Die pompöse Eingangsschleuse in der Lobby endet vor einer provisorischen Gipskartonwand. Hinter einem Sichtfenster liegen Portiersloge und Überwachungszentrale. Die Schreibtische sind halbkreisförmig um den Sichtschlitz angeordnet, darüber eine Reihe von Überwachungsmonitoren, zu beiden Seiten Computer, Tastaturen, Telefone, Steuerpulte mit Köpfen und Hebeln, die sich mühelos in die 1980er datieren lassen. Es summt und piepst. Von hier aus wurde gesteuert und geregelt: Brandrauchentlüftung der Stiegenhäuser, Türzutritt, Alarmierung, Drehkreuzkontrolle, Lichtsteuerung, Aufzüge, Garagentore. Genau in der Mitte des Pultes ragt ein armlanges Mikrofon hervor: Was hätte man dem Gebäude noch gerne gesagt?

Der zentrale Schlüsselkasten: ein zweiflügeliger Hausaltar, bestückt mit Hunderten Schlüsseln, die wie ein Kettenhemd vibrieren, enthält er doch für jeden Schreibtisch und Aktenschrank einen eigenen Schlüssel.

In der ehemaligen Kantine sind obskure Artefakte zur weiteren Verwertung gesammelt: Geräte, die alten Projektoren ähneln und nicht näher zu bestimmen sind, Knäuel von Computerkabeln, dazwischen Aschenbecher und Mistkübel mit Inventarnummern. Seltsam geformte Lederkoffer stehen aneinandergereiht, die achteckige Form erinnert an aufgestellte Hutschachteln: für den Transport eines Datenträgers, den man heute nicht einmal mehr vom Hörensagen kennt.

Erstes Untergeschoß
Auf Technikräume mit Schleusen und verwinkelten Gängen folgen Hallen und Lagerräume, unter den Betondecken rankt sich ein kunstvolles Geflecht aus Leitungen und Kanälen. Vor der Lüftungszentrale summt es wie in einem Schiffsrumpf; einzelne Organe im Bauch des Gebäudes sind noch intakt. Die mächtigen metallenen Schieberegale eines Archivraumes sind mit Postern spielender Katzen und junger Hunde verziert. Die Teeküche nahe der Anlieferungshalle hat das Flair einer Studenten-WG nach der Auszugsparty; Kaffeepulver, Essig, Öl und Marmeladegläser liegen verstreut auf der Arbeitsplatte, Teller, Pfannen und Töpfe sind halb in Kartons gepackt und halb auf dem Boden verteilt.

Zweites Untergeschoß
Der Garagentrakt ist nur notdürftig beleuchtet, ein Saal, der sich hinter den halboffenen Brandschutztoren endlos auszudehnen scheint. Schon in den nahen Nischen nistet die Dunkelheit und verdichtet sich bald zu festem Stoff. Hier unten könnten sich gefährliche Bakterienstämme gebildet haben, wie in alten ägyptischen Grabkammern, um den Fluch des Pharaos zu vollstrecken.

Drittes Untergeschoß
Vor der Ausfahrtsrampe steht die Ampel starr auf Rot; der Lichtschein schliert auf dem glatten Beton der Rampe weit hinunter ins letzte Geschoß. Die Schuhe erzeugen ein langes Quietschen auf dem Betonboden. Hier ließe sich die Theorie überprüfen, nach der alle jemals erzeugten Schallwellen immer noch vorhanden sind, schwach und unendlich verdünnt. Doch welche der Worte, die hier unten gesprochen wurden in all den Jahren, würde man belauschen wollen?

Der Entdecker muss sich hier unten fragen, ob sich Forscherehrgeiz und Scheitern nicht manchmal gleichen. Vielleicht hat man einfach nur zu viel Zeit. Aber natürlich gelten die Regeln für dilettierende Abenteurer: Immer den Heimweg kennen und hoffen, dass keine Tür klemmt. Fremde Wachmänner unbehelligt lassen.

Spectrum, Sa., 2017.08.05

15. August 2016Gregor Schuberth
newroom

Eine kleine Theorie des Architekturberufs

Was Architekten gut können 1: Ungefragt Skizzen machen, manchmal schnell denken, Rotwein mit dem Schraubenzieher aufmachen, Maßbänder verlegen, Küchenplatten...

Was Architekten gut können 1: Ungefragt Skizzen machen, manchmal schnell denken, Rotwein mit dem Schraubenzieher aufmachen, Maßbänder verlegen, Küchenplatten...

Was Architekten gut können 1: Ungefragt Skizzen machen, manchmal schnell denken, Rotwein mit dem Schraubenzieher aufmachen, Maßbänder verlegen, Küchenplatten selber zuschneiden, Bilder ungerahmt aufhängen, Röcke nähen, Trickfilme modellieren, Photoshopfilter in der richtigen Reihenfolge auf Englisch aufsagen, Mäusefallen in Arbeitsräumen aufstellen, Partys abrechnen, nach Theaterstücken über das Bühnenbild diskutieren, Steinmuster sammeln, geistreich über Dachgesimse reden.

Eine kleine Theorie der Berufe. Dass die TU in Wien eine Art Sammelbecken war, hat man immer geahnt, sobald man mit irgendjemand ins Gespräch gekommen ist. Jede/ jeder Zweite hatte eigentlich etwas ganz anderes vor und war nur vorübergehend dort gelandet (bei mir war es eine erfolglose Bewerbung auf der Filmakademie). Einige blieben dann doch, und damit hielt sich auch ein Zug, den man bei Architekturschaffenden häufiger antrifft: Sie können einiges recht gut und finden fast alles interessant.

Insgeheim hänge ich ja der These an, dass die Talentiertesten eines Jahrgangs Kunst studieren. Diejenigen, die weniger gut zeichnen können, dafür ein bisschen rechnen und mit Spuren von Realitätssinn ausgestattet sind, studieren Architektur. Die Übrigen verteilen sich dann auf die restlichen Berufe.

Der russische Architekt und Künstler Alexander Brodsky schreibt in einem Ausstellungskatalog: Ich bin noch immer erstaunt, dass ich Architekt geworden bin. Da schwingt auch Respekt mit; der Beruf ist sehr alt, und in Vielem verblüffend konstant. Man geht auf Wegen, auf denen vor einem schon viele gegangen sind.

Die dunkle Seite der Architektur. Dass einen schon beim Entlangschreiten der Kupferbüsten am Resselpark eine Kühle überkommen konnte, die sich über die Hauptstiege in die hallenartigen Institutsräume zu einer gewissen Schwere steigerte, gehörte für mich zu einer Stimmung der Anfangsjahre des Studiums. Und rund um den Berufseintritt die Erfahrung, dass Büros, die eine freundliche Architektur machen, im Inneren oft gar nicht freundlich funktionieren. Später bei der Arbeit an konkreten Projekten der Anspruch, Entwürfe zuzuspitzen oder zu variieren − um bei der abendlichen Diskussion mitreden zu können − und die Unruhe und Konfusion einer morgendlichen Baubesprechung, wenn vieles in Frage gestellt wird. Ein Spagat an den man sich ein wenig gewöhnt, und laufend hofft, darin etwas Ertüchtigendes zu entdecken.

Doch gibt es auch eine populäre Seite. Was Alma Mahler-Werfel an Walter Gropius fand, hat mich immer gewundert, wo der doch stundenlang vor seinen Plänen gebrütet haben muss. Immerhin wurde er eine Zeit lang aufgenommen in den Olymp der prominenten (und begabten) Liebhaber. Neben der Fachwelt gibt es auch ein Leben in der Popkultur. Weil Architektur viele was angeht, Entwicklungen veranschaulicht oder Trends eine Gestalt verleiht. Dann werden die Sounds mancher Büros durch die Gassen der Stadt gepfiffen und von den Taxifahrern verrissen. Wo die Grenze zwischen einer Fachdiskussion und dem Stadtgespräch liegt ist oft gar nicht so leicht festzustellen. Das muss kein Nachteil sein, wird doch in anderen Spezialwissenschaften der Mangel an Austausch und Öffentlichkeit oft beklagt.

Was Architekten gut können 2: Bleistifte spitzen und Himmelsrichtungen bestimmen. Genau, ausdauernd und motiviert sein. Abmessen und einschätzen, Proportionen wittern, das Gewicht der Dinge kennen. Alt oder jung sein, anspruchslos leben bei Bedarf, unabhängig bleiben nach Laune. Noch mehr Skizzen machen.

newroom, Mo., 2016.08.15

10. November 2012Gregor Schuberth
Spectrum

Hier ist man nie allein

Die Erwartungen waren hoch, damals, Ende der Siebziger. Das Problem des städtischen Wohnens wollte man lösen. Mit der neuartigen Großwohnanlage „Am Schöpfwerk“. Was wurde aus der Mustersiedlung in Wien-Meidling? Notizen eines temporären Aufenthalts.

Die Erwartungen waren hoch, damals, Ende der Siebziger. Das Problem des städtischen Wohnens wollte man lösen. Mit der neuartigen Großwohnanlage „Am Schöpfwerk“. Was wurde aus der Mustersiedlung in Wien-Meidling? Notizen eines temporären Aufenthalts.

Gesunde Wohnungen – glückliche Menschen“, stand auf dem massiven Marmorblock „Am Schöpfwerk“, gefolgt von den Namen der Politiker und Architekten. Hohe Erwartungen wurden hier in Stein gemeißelt und griffige Glücksformeln. Die Fachwelt war von dem Vorhaben angetan; das Projekt zierte die Titelseiten wichtiger Zeitschriften. Ein Modellbau, als typologisches Experiment und soziologische Demonstration. Die Planer gaben sich selbst-bewusst: „Nach einer Ära städtebaulicher Prosa nach dem Zweiten Weltkrieg kündigt sich in unserem Lande der Beginn einer städtebaulichen Poesie an.“ „Großwohnanlage“ war die bevorzugte Bezeichnung. „Wir produzieren und befriedigen vorzugsweise immer noch Luxusbedürfnisse. Unsere Aufgabe ist die große Zahl.“

Am Beginn stand die Ausstellung „Neue städtische Wohnformen“ im Jahre 1966, in der Architekt Viktor Hufnagl gemeinsam mit Kollegen Kritik am simplen Zeilenwohnungsbau der Nachkriegsjahre übte. In der Folge wurde ein Team um Hufnagl von der Stadt Wien direkt mit der Planung für ein Demonstrativbauvorhaben beauftragt; ausgewählt wurde ein 17 Hektar großes Grundstück im Süden Wiens, am Fuße des Wienerbergs gelegen. Angestrebt war die Neuinterpretation der Wiener Höfe, vor allem nach dem Vorbild der Gemeindebauten aus der Zwischenkriegszeit, ein bunter Mix von Wohnungstypen, eine sehr hohe Bewohnerdichte, die Vermischung von Funktionen, Verkehrstrennung und die Anwendung vorgefertigter Bauteile. Nach langer Planungsphase wurde von 1975 bis 1980 gebaut.

Meine Vorgängerin hat in der Wohnung noch ein paar Gläser und Teller zurückgelassen, im Kühlschrank eine Dose Ketchup, zwei Red Bull und eine halb volle Flasche Gin. Ich kann alles gut brauchen. Irgendwie hoffe ich auf eine Nachricht zu stoßen, von wem?Auf der Terrasse finden sich ein Klappsessel und ein Campingtisch, die eine brauchbare Küchenausstattung abgeben. Die ersten Nächte probiere ich es auf der dünnen Wander-Isomatte, doch bekomme ich kein Auge zu und besorge am dritten Tag eine Angebotsmatratze, die ich direkt auf den Boden lege. Die Stauballergie vergesse ich. Im mittleren Zimmer ist eine Zimmerpalme zurückgeblieben, abends rücke ich den Tisch und den Klappsessel dazu, und ein fast wohnzimmerartiges Ensemble entsteht.

Das Gurren der Tauben ist allgegenwärtig, was sprechen sie untereinander? Die meisten Loggien sind mit Gittern und Netzen abgeschirmt. Morgens liegen in den Höfen neben dem Weg Brotfladen und Semmelbrösel bereit, die Tauben genießen über Nacht unsichtbare Fürsorge. Unter der Balkonkante ist der Taubenkot mehrschichtig auf den Waschbetonplatten aufgetragen. Ich lerne geschickt, zwischen den unbenützbaren Platten durchzutänzeln. Eine angegraute Hollywoodschaukel steht noch im Schutz der Balkonplatte, der einzige Anlass, sich ungeschützt den Blicken der Hauswände auszusetzen.

Der Name „Am Schöpfwerk“ dürfte auf Hebeanlagen zurückgehen, mit denen das Grundwasser nach oben befördert wurde zur Bewässerung der umliegenden Gärtnereien. Die Siedlung gliedert sich in vier große Abschnitte. Die Grundstruktur bilden Hofabfolgen mit mittigen Erschließungsachsen – als Ringe bezeichnet –, die halbkreisförmig um einen zentralen Park angeordnet sind. Als Auftakt im Norden, gleich bei der U-Bahn-Station, ist ein 17-geschoßiges Doppelhochhaus platziert. Eine Fußgängerpassage quert den neungeschoßigen Bauteil Nordring, am Ende dieser Achse liegen eine Volks- und Hauptschule und eine Kirche. An den Kreuzungspunkten der Gebäudetrakte sind mächtige Stiegenhallen ausgebildet, mit umlaufenden Brücken und Galerien, die ursprünglich als Gemeinschaftswintergärten gedacht waren. Die Anzahl der Geschoße nimmt von Norden nach Süden ab; die fünfgeschoßigen Blöcke des Ostrings sind an den Schmalseiten abgetreppt für Terrassenwohnungen. Den Südring bilden viergeschoßige Oktogone mit internen Innenhöfen.

Immerzu rumort etwas in diesem Betonkörper. Die Heizkörper murmeln, auch wenn sie abgedreht sind, im nächsten Zimmer gleicht das mehr einem Pfeifen oder Zischen, die Töne ändern sich, wie modulierend. Das Rauschen einer Abflussleitung, das Klappern von Schritten darüber, dort das Schlagen einer Tür. Die Anlage: ein riesiger Klangkörper aus Stahlbeton.

Nachts schleiche ich den Fußweg unter den Betonarkaden entlang wie einer, der nicht auffallen möchte. Hier ist man nie allein. Erst ist es ein seltsames Gefühl, in einer Anlage mit so vielen Menschen auf engem Raum zusammenzuwohnen. Daran gewöhnt man sich. Abends flimmern die Lichtpunkte der Hochhausfenster wie ein Leuchtpuzzle, am Horizont im Südwesten stehen die Lichtketten der Wohntürme von Alt-Erlaa, man fühlt sich dann in der riesenhaften Megacity einer fernen Zukunft, wo Städte den Planeten überzogen haben wie ein alles bedeckender Wald.

Die katholische Pfarrkirche ist aus Betonfertigteilen mit Backsteinfeldern errichtet. Auf dem erhöhten Vorplatz liegen Felsbrocken, als wären sie irrtümlich vom Himmel gefallen. Ein mächtiger Campanile ragt auf als weit sichtbares Zeichen. Der Turm wirkt verwaist, oben am Ende des quadratischen Schaftes sind vier leere kreisrunde Scheiben eingelassen wie blinde Augen; hier sollten Uhren angebracht werden, die sich die Kirchenleitung aber nicht leisten konnte. Aus dem Glockenturm wird man kein Glockenläuten hören, nicht weil sie dauerhaft ausgeflogen, sondern nie eingezogen sind. Bei einer Abstimmung unter den Anrainern wurde die Bestückung mit Glocken abgelehnt, und der Turm blieb stumm.

Die fußgängerorientierte Erschließung der Wohnungen war eine der planerischen Prämissen. Die Autos parkten in den Tiefgaragen und an den Rändern. Der Konzeption der Außenräume kam besondere Bedeutung zu; Vorbilder wie Agora, Forum, historische Marktplätze und sogar die Piazza San Marco wurden als Zeugen angerufen. Eine Stadt inder Stadt entstand: 1705 Wohnungen für 6500Menschen, 62 Treppenhäuser mit 2,6 Kilometer Laubengängen, 55 Hobbyräume, 1200 Stellplätze. Dennoch blieb die Anlage ein Torso. Eine Kleingartensiedlung schneidet bis heute tief in die Bebauung ein. Sie sollte einem Westring weichen, so aber kam der zentrale Park nur in halber Größe zur Ausführung. Bautechnische Probleme folgten der Eröffnung auf dem Fuß: mangelhafter Schallschutz, Schimmelbildung durch Kältebrücken, unregulierbare Zentralheizungen, Wasserschäden an Terrassen und Flachdächern.

Obwohl an diesem Sonntagnachmittag die Sonne freundlich scheint, sind in den Räumen des Arkaden-Cafés die Lampen eingeschaltet und die Fenster nach draußen zur Passage mit Schnürlvorhängen und Dekorstoffen verhängt. Als Hemmschwelle für den unschlüssigen Flaneur? Der Gastraum füllt sich langsam. Man ist ins Herz des Guten-Tag-Landes vorgedrungen. Die Wirtin bleibt routiniert und aufmerksam jeder Kundschaft gegenüber. Hier versammeln sich die Mitglieder der Einheimischen-Community, zumeist deutlich betagte Teilnehmer der ersten Pioniertrupps, die auf dem Gelände gesiedelt haben.

Schräg gegenüber, an der halb offenen Fußgängerpassage, liegt der Penny-Supermarkt. Mit der angrenzenden Drogeriefiliale und einem türkischen Gemischtwarenladen bildet er das Kommunikationsdreieck der Anlage. Samstagvormittags findet auf den Betonbänken der Umgebung der lokale Tranklertreff statt.

Der teuerste Rotwein im Regal: ein Cuvée „Stoaweit“ für 5,99; Red-Bull und Hochprozentiges wird auf Nachfrage von der Verkäuferin direkt an der Kasse ausgehändigt. Ein Security-Mann dreht auffällig seine Runden. Meist steht er geduldig hinter der Kassa, während die Waren auf die Laufbänder geschoben werden, danach schlängelt er durch die Verkaufsgänge, ordnet da und dort das Gemüse in den Kisten, kleine Kinder fragen ihn um Auskunft, und wenn der Ausgang von Einkaufswagen verstellt ist, behebt er die Blockade, obwohl es nicht seine Aufgabe ist. Er bewahrt Haltung, ein älterer Herr schon, dunkelhäutig und groß gewachsen, die Security-Uniform steht ihm gut und verleiht ihm etwas Stattliches. Sein Basislager ist das Stehpult gleich neben dem Eingang, wo auf einem geteilten Bildschirm die Bilder der Überwachungskameras weiterspringen, als würde das einen Überblick verschaffen. Er lehnt lässig am Pult und sieht kaum hin. Das hilfsbereite Auftreten steht im Gegensatz zur strengen Aufgabe. Seine Freundlichkeit verrät sich in nichts.

Die Ausstellung von 1966 hatte nichts weniger angestrebt, als das Problem des städtischen Wohnens zu lösen, untermauert mit neun Forderungen. Etwa: „Schöpferische Aktivierung der Bewohner als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung der Persönlichkeit.“ Oder: „Der Wohnbau als verantwortungsvollste Bauaufgabe unserer Zeit erfordert höchste künstlerische Qualität.“ Der planerische Blick war nach vorne gerichtet. „Wir brauchen in unserer pluralistischen Umwelt Menschen, die bereit sind, jenseits politischer und konfessioneller Begrenzungen urbane Gemeinschaften einzugehen, Menschen, die durch das gemeinsame Erlebnis des Bauens und des selbst gestalteten Zusammenlebens ohne fixierte Vorstellungen und ohne Vorurteile Begegnungen suchen.“ Eine Fachzeitschrift kommentierte: „Dem in die Sackgasse geratenen sozialen Wohnungsbau sollen neue Möglichkeiten gewiesen und die Flucht junger, begabter Architekten in die Utopie vermieden werden.“ Die fachpublizistische Aufnahme war umfangreich und freundlich: das „Spectrum“ der „Presse“ von 1982 vermutet sich einem „Schlüsselbauwerk“ gegenüber, dem vielleicht „wichtigsten Wohnbau im Wien der Nachkriegszeit“.

Nach einer unruhigen Nacht voll Dröhnen und Klappern beschließe ich entnervt, bei den Nachbarn über mir vorzusprechen. Dazu muss ich über das Stiegenhaus in den Stock darüber steigen, scheuche zwei Schülerinnen beim Rauchen auf, durch einen Verbindungsraum gelange ich hinaus auf den Außengang. Alles wirkt verwaist rund um die Eingangstür, die Jalousien des Küchenfensters heruntergezogen, ob hier jemand wohnt? Nach dem Klingeln bleibt es ruhig. Schätze ich die Geräusche falsch ein, übertreibe ich? Auch in den folgenden Wochen ist abends kein Lichtschimmer auszumachen.

Samstagabend, rasch breche ich auf zu einem Dämmerungsspaziergang. Überall Kindergruppen, auf den Rasenflächen, unter den Tordurchfahrten, in den Zugängen, Ball spielend, herumwuselnd. In der Nähe meiner Wohnungstür spielt ein Vater mit einer Gruppe kleiner Mädchen Fußball, sie sprechen Deutsch mit unterschiedlichenAkzenten. Die vielfältigen Abstammungen der Bewohner färben das Bild an diesem Tag lebendig und bunt. Migrantischer Hintergrund, sagt man, Neuösterreicher. Riesige Integrationsmaschinen, die zu funktionierenscheinen. Ist es die Ankunft in einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten oder der begrenzten Unmöglichkeiten? Ist das Österreichische in seinen lichtesten Momenten ein Prinzip, das von der Anziehungskraft einer Alltagskultur und dem gelassenen Umgang miteinander getragen wird?

1980 war dann das Kaninchen aus dem Hut gezaubert, als ausgewachsenes Prachtexemplar. Zwar hatte die Architektengruppe in einer mehrjährigen Planungsphase insgesamt sieben Zwischenstufen ausgearbeitet, um Forschung, Experiment und Planungsreife zu verbinden. Die Gedanken der frühen Konzepte sollten wie von riesigen Hebeanlagen ans Licht der Oberfläche befördert werden. Als die 6500 Menschen in kurzer Zeit einzogen, wirkte das riesengroße Steuerpult, das ersonnen worden war, um alles Erdenkliche zu berücksichtigen, mit seinen vielen Knöpfen und Reglern und Lämpchen schon klobig und unvollständig.

Wenn der naturkundige Beobachter heute auf dem Gebiet der ehemaligen Froschlacken etwas studieren wollte, dann vielleicht, dass eine umgesetzte Utopie zwar nicht gleich in ihr Gegenteil kippen muss, aber von Anstrengung und Ernüchterung begleitet wird; die Anstrengung der langen Arbeit, eine Vorstellung Wirklichkeit werden zu lassen, und der ernüchternden Ahnung, wie sich die gewünschten Absichten in ihr Gegenteil verwandeln könnten. Ein Stimmungsfirnis, der über den Schöpfwerkgründen gelegentlich anzutreffen wäre.

Während ich für Stunden treppauf und treppab durch Gänge und Atrien streifte, ohne jemals den Gebäudekörper zu verlassen, fühlte ich mich wie der übermächtige Hausmeister. Mit einem riesigen Schlüsselbund gerüstet, der Einzige, der dieses Systemim Gleichgewicht halten konnte. Die Geräusche wurden mir vertraut und in Nuancen unterscheidbar. Das nächtliche Rumoren in der Wohnung störte mich kaum noch. Ich stellte mir dann vor, dass es die Größe war, die zu sprechen anfing und sich mit meinen Träumen verband, ein nicht endender Gedankenstrom aus dem Betonbauch der Anlage.

Wärmedämmplatten decken nach und nach alles zu, und die Anlage erstrahlt im feierlichen Styroporkleid. Der Uringeruch auf Stiege 14 bleibt nach dem Anstrich fast verschwunden. Die Renovierung des Nordringes wird noch heuer abgeschlossen sein, jeder freie Zentimeter mit Taubenstacheln bestückt. Ein zweites Leben beginnt für das Demonstrativbauvorhaben, ohne Titelseiten und Fachzeitschriften. Die Marmorinschriften werden weniger hochtrabend ausfallen.

Auch meine Zeit dort ging zu Ende. Ich hatte um Aufnahme gebeten, atmosphärischen Anschluss gesucht: Ein Gleicher unter Gleichen wurde ich nicht, aber wer kann das schon von sich behaupten.

Spectrum, Sa., 2012.11.10

30. Juni 2012Gregor Schuberth
Spectrum

Zum Stand der Wurst

Der Wiener Würstelstand ist eine Marke wie das Kaffeehaus oder der Heurige. Aber wie sieht er eigentlich aus, der typische Würstelstand – und wie könnte er typischerweise künftig aussehen?

Der Wiener Würstelstand ist eine Marke wie das Kaffeehaus oder der Heurige. Aber wie sieht er eigentlich aus, der typische Würstelstand – und wie könnte er typischerweise künftig aussehen?

Als der Würstelstand vor der Albertina neu errichtet werden sollte, machten wir uns mit den Betreibern auf eine nächtliche Erkundungstour quer durch die Stadt, auf der Suche nach Vorbildern. Wir bereisten Ringstraße und Gürtel, Schwedenplatz und Floridsdorfer Bahnhof zur Feldforschung und tranken unser Bier vor billigen Aluminiumhütten oder umgebauten Stahlcontainern, doch narrte uns der wechselhafte Charakter der Wurstarchitektur, die Beispiele gerannen zu keinem Grundtypus, und kein Urbild zeigte sich auf dem Boden unseres Sechzehnerblechs. Den traditionellen Stand fanden wir nicht, auch war der Mythos bisher völlig ohne Gestaltung ausgekommen. Ohne planerische Gestaltung jedenfalls.

Die Poesie um den Würstelstand muss man schon suchen, sie ist von den vielen Abziehbildern und Werbeschildchen ganz zugeklebt, der Geruch von altem Fett und von verbratener Wurst verträgt sich auch wenig damit, und manchmal strahlt der Mythos nur sehr matt, wenn er von Geschichten gespeist wird, wo Falco auf der Mariahilfer Straße hingekotzt haben soll und dann von der resoluten Verkäuferin zum Aufwischen verdonnert wurde.

Doch genießt der Würstelstand weithin große Sympathie, wie man von einem guten Bekannten spricht, der über jeden Tadel erhaben ist. Hier gilt auch der Einheimische noch etwas: Wer akzentfrei am Würstelstand bestellen kann und die Nachrede des Taxifahrers versteht, ist in der Stadt angekommen. Dabei ist der Kult ein relativ junger, der Einzug in die Populärkultur fand ab den 1980er-Jahren statt, Berichte in Filmen und Magazinen illustrierten die soziale Elastizität und Durchlässigkeit, eine Gesellschaftstankstelle für den Großstadtflaneur. Der Würstelstand wurde zur Wiener Marke wie der Heurige oder das Kaffeehaus.

Seine Entwicklung folgt verschiedenen Wegen. Der Geruch der Märkte haftet manchem Stand heute noch an, wenn er in Nischen und Durchreichen zwischen Marktständen platziert liegt, am vorderen Naschmarkt findet sich das noch beim Stand der Fleischerei Horvath. Die Nähe zum Fleischhauer liegt auf der Hand, wenn die frischen eigenen Würste gekocht und direkt verkauft werden. Ein anderer Ursprung sind die fliegenden Händler und Straßenverkäufer, im ausgehenden 18. Jahrhunderts wurden sie in Wien Bratelbrater genannt; sie verkauften heiße Würste und Geselchtes an kleinen Verkaufsständen oder aus Gassenfenstern heraus. Andere übten das Gewerbe mit Bauchläden und tragbaren Wurstkesseln aus, auf Jahrmärkten und Volksfesten.

Im 19. Jahrhundert kamen in den rasant anwachsenden Städten die Verkehrsknoten und belebten Plätze dazu, wo die eilige Bevölkerung ihre Zwischenmahlzeiten einnahm. In einfachen Handwagen wurde der Wassertopf mit Kohle beheizt; überdacht und besser ausgestattet, waren sie nach und nach als fertige Anhänger konzipiert. Erst in den 1960er-Jahren wurden in Wien fix aufgestellte Stände zugelassen. In der Mariahilfer Straße gibt es heute den letzten noch fahrbaren Stand. Auch das Angebot verändert sich. In der Tante Jolesch pflegte Torberg nachts beim Würstelstand am Schottentor einen Apfel zu essen, während sein schräger Begleiter Dr. Sperber einige Burenwürste verzehrte. Der eingebaute Wurstkocher beherrschte bis vor 30 Jahren das Speiseangebot uneingeschränkt, im Wasserbad schwammen die Meterburenwurst, Debreziner, Frankfurter und Waldviertler nach dem Proporz, unsichtbar und den hungrigen Blicken entzogen. Dann trat die gegrillte Käsekrainer ihren Siegeszug an, und heute macht sie in Innenstadtlagen schon 70 Prozent des Wurstkonsums aus. Form follows function: Grillplatten und Fritteuse beanspruchen deutlich mehr Platz als früher und ziehen aufwendige Abluftanlagen nach sich. Die Stände verwandeln sich zu kleinen Restaurants, wo alles auf engstem Raum unterzubringen ist.

Aber wie kann ein neuer Würstelstand aussehen? Der Versuch, von den bestehenden Hütten etwas zu lernen, als unbescholtene Äußerung einer anonymen Architektur, führt wohl eher in den Wahnsinn. Gestalterisch sollen die Stände offen und transparent erscheinen, Speisen und Produkte einsehbar und in Vitrinen und Schaufenstern inszeniert. Der Stand als Objekt kann zeichenhaft wirken, aber nicht plump. Die typologische Nähe zum Strandkiosk und mobilen Eiswagen ist größer als die zum Imbissrestaurant. Material, Beleuchtung und Beschriftung spielen eine große Rolle, hier lassen sich Referenzen und verspielte Bezüge ausdrücken.

Das alles ist weniger eine Frage des Stils; planerisch einzugreifen heißt hier vor allem auch, das Innenleben zu organisieren und technische Anforderungen zu ordnen, sonst wird das hübscheste äußere Kleid am Ende nicht gut passen, weil hier etwas durchdrückt und dort etwas drübersteht.

Es soll sich vor gar nicht so langer Zeit bei einem Stand am Floridsdorfer Spitz zugetragen haben: Eifrige Steuerbeamte beobachteten das Objekt eine Weile im Verborgenen, ehe sie anschließend den Inhalt sämtlicher Mistkübel akkurat auf dem Boden ausbreiten ließen, um die Konsumation innerhalb eines bestimmten Zeitraumes nachzuweisen. Solch wilde Steuerprüfungen wird man heute nicht mehr antreffen, seit Registrierkassen in den Ständen verbreitet sind, auch weil damit die Mitarbeiter kontrolliert werden. So können Geschichten zu Anekdoten werden. Ein Betreiber erzählte folgende Episode aus den 1980er-Jahren: Als an der Ecke Krugerstraße/Kärntner Straße ein Anschlag auf die ungarische Bank verübt wurde und von der Explosion Splitter und Bruchstücke nach allen Seiten geschleudert wurden, da bückte sich in diesem Moment der Wurstverkäufer im angrenzenden Würstelstand nach einem Senfkübel und behielt so sein Leben in unruhigen Zeiten. Die Umstände sind längst vergessen, die Zeitgenossenschaft ist in ein Anekdotenkleid geschlüpft.

Die sympathische Vorstellung vomWürstelstand als Ort der Kommunikation verdeckt seine eigentliche Funktion als Nahversorger: Hier ernähren sich die Eiligen und Arbeitenden, im Stehen zwischen zwei Wegen, billig und schnell muss es hergehen, als Mitspieler im Fastfood-Segment darf ein Paar Frankfurter selbst in guten Lagen kaum mehr kosten als 2,90 Euro. Hier tritt die Familienähnlichkeit mit Pizza-Bude, Kebab-Stand und Asia-Snack besonders zutage.

Wie wird man Würstelstandbesitzer? Je nach Situation und Größe ist für die Zulassung die Baubehörde, das Marktamt oder das Magistratische Bezirksamt zuständig. Das lässt etwas Raum für strategisches Vorgehen, ein bevorzugter Weg bestand darin, eine gewerberechtliche Genehmigung der Betriebsanlage zu erwirken, ohne dass dabei die Abteilung für Stadtgestaltung, die MA19, ein Mitspracherecht hatte. So wurde mancher Stand formaljuristisch abgesegnet, ohne dass sich jemand für die Gesamtbetrachtung zuständig fühlte. Seit einigen Jahren sind die Behörden aufmerksamer, neue Standplätze werden kaum mehr bewilligt. Die Wirtschaftskammer zählt derzeit 603 Würstel- und Kebabstände für Wien.

Vom unbekannten Erbonkel könnte man sich statt des Grundstücks im Döblinger Cottage ebenso gut den Pachtvertrag für einen guten Standort erhoffen, in Ringnähe oder beim Schwedenplatz. Das Betreiben ist ein Gastgewerbe ohne Befähigungsnachweis, ein sogenanntes freies Gewerbe. Das klingt verwegen und stolz, und in einem Land, in dem so vieles geregelt wird, liegt im freien Gewerbe noch das Versprechen auf eine Zukunft für die Neuanfänger und Zugezogenen. Nicht wenige Betreiber sind in dieser Generation zugewandert und mischen sich mit altem österreichischem Wurstadel und Wirtshausbetreibern der dritten Generation. Die Tageschronologie eines Standes wie dem vor der Albertina beginnt um sieben Uhr in der Früh, wenn der Stand gereinigt wird. Straßenkehrer und Handwerker tauchen als Erste auf, etwas später nehmen die Fiakerfahrer ihr Kutschermenü ein, ein weißer Spritzer mit einem Jägermeister. Der träge Vormittag wird mittags von Handwerkern und eiligen Passanten jäh beendet, auch aus den umliegenden Büros kommen die, die hier im Stehen lunchen, ein Faden aus Shopping-Gästen und Touristen wird den Nachmittag über nicht abreißen, ehe zu Büro- und Geschäftsschluss mancher ein kleines Nachtmahl am Nachhauseweg einnimmt. Die Belegschaft wechselt für die Nacht zum Männerteam, flotte Opernbesucher riskieren die Vorstellungspause für ein Glas Sekt im Freien, dann lassen sich erste Nachtvögel nieder, tauchen von irgendwo auf, verweilen kurz und verschwinden wieder, Taxifahrer schwirren zu jeder Nachtzeit um den Stand, bis zur behördlichen Sperrstunde um vier Uhr früh.

Diese Chronik ist eine innerstädtische, am Floridsdorfer Spitz oder beim Prater werden andere Funktionen hervortreten, auch wenn die Würste dieselben sind. Als Zufluchtsort für Trinker und Herumstreuner zum Beispiel, die niemand als Flaneure bezeichnen würde.

Nach unserer ergebnislosen Rundtour blieb vielleicht auch die Erkenntnis, dass das Bild des Würstelstandes eine Frage der Gestaltung und eine Frage der Erzählung ist, form and fiction. Darin muss kein Widerspruch liegen. Beide sollten gut sein. Man muss ruhig darauf vertrauen, dass sich an neuen Edelstahlblechen und hinter stützenlosen Glasecken Geschichten ansetzen werden wie Moos oder Grünspan. Der Ruf ist immer nur so gut und lebendig, wie brauchbare Geschichten in Umlauf sind, nicht nur alte Anekdoten.

Als in einer lauen Freitagnacht des vergangenen Sommers bei dem Stand nahe dem Pratervorplatz zwei DJs auflegten, während sich vor ihnen ein endloser Strom von Jugendlichen dahinwälzte zwischen der Großdisco Prater-Dome und dem Nachtclub in der Fluc-Wanne, und als nach Stunden zögernden Herumstehens schließlich ganze Trauben dieser Nachtvögel auf dem Asphaltvorplatz zu tanzen anfingen bis in die Morgenstunden und irgendwann einer der DJs reaktionsschnell den Fahrern des heranbrummenden MA-48-Mistwagens Cola und Würstel bringen ließ, damit diese, statt zu kehren weiter ihr gelbes Blinklicht über die Tanzfläche fegen ließen, da war das der Zipfel von einer Geschichte, die sogar irgendwie bis zu Falco auf die Mariahilfer Straße zurückzeigte, mit weniger Belehrung und besserer Laune, für meinen Geschmack.

Spectrum, Sa., 2012.06.30

21. Oktober 2011Gregor Schuberth
Spectrum

Helden ohne Aussicht

Das Äußere Burgtor ist nicht einfach nur ein Tor – und steckt voller mysteriöser Kammern. Über „Krypta“, „Weiheraum“ und „Ehrenhalle“ – eine Begehung am Wiener Heldenplatz.

Das Äußere Burgtor ist nicht einfach nur ein Tor – und steckt voller mysteriöser Kammern. Über „Krypta“, „Weiheraum“ und „Ehrenhalle“ – eine Begehung am Wiener Heldenplatz.

Man wird sich einer bubenhaften Neugier kaum entziehen können, wenn man die vergilbten Abbildungen in der alten Vitrine des Gedenkraumes betrachtet, was in dem versperrten Raum direkt über der Tordurchfahrt wohl stattfinden mag. Bei einem länger zurückliegenden Spaziergang über den Ring war mir erstmals zufällig das schwarze Eisengitter in der Schmalseite des Burgtores aufgefallen, und wie dahinter eine monumentale Stufenanlage zu einem begehbaren Plateau oberhalb der Durchfahrt führt, dem Blick von unten entzogen. Kein Täfelchen irgendwo, keine Öffnungszeiten, kein Hinweis darauf, was es mit der verborgenen Anlage auf sich haben könnte.

Den romantischen Plan, nachts über das Gitter zu klettern, geben wir rasch auf. Vor Jahren einmal wollten wir spätabends, vom Burggarten kommend, noch hinaus auf den Ring, doch die Tore waren schon versperrt. Also wählten wir eine stadtbekannte Stelle, wo das Gitter recht niedrig ist, und kletterten darüber. Wir waren betrunken genug, um die Höhe zu unterschätzen. Uns folgten ein paar torkelnde Anzugträger, die derart umständlich und lamentierend über die Stäbe krochen, dass wir uns fast schon Sorgen machten. Doch ihr Geschrei war vorauseilend gewesen, und alle blieben unverletzt. Die schwarzen Gittertore hier vor der Treppenanlage sind höher und schließen nach oben mit scharfen Spitzen ab. Eindeutig unüberwindlich. In solchen Fällen liest man erst einmal im Dehio nach, Seite 465.

„Äußeres Burgtor. Bedeutendstes Werk des Revolutionsklassizismus in Österreich, erb. 1821–24 von Luigi Cagnola und nach Planänderungen v. a. von Pietro Nobile zur Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig 1813. 1916 Umwidmung in Kriegerdenkmal, 1933/34 Umgestaltung durch Rudolf Wondracek als Heldendenkmal zu Ehren der Opfer des Ersten Weltkrieges, seit 1965 auch Gedenkstätte für Opfer des österreichischen Freiheitskampfes.“

Der Neubau erfolgte an der Stelle, wo die alte Burgbastei von napoleonischen Truppen gesprengt worden war. Nach außen hin, zur späteren Ringstraße, bilden die Pfeiler und Bögen des Mittelteils zusammen mit den Seitenflanken aus Ziegelmauerwerk eine geschlossene und fast schroffe Fassade. Das Holz und die Beschläge der fünf mächtigen Tore sind noch Originalbestand. Es braucht mehrere Männer um einen Flügel zu bewegen. Betritt man die Durchfahrt, quert man drei Reihen aus mächtigen dorischen Säulen: Man ist in den Säulenwald geraten. Als dreidimensionales Erlebnis war mir so etwas zum ersten Mal beim Brandenburger Tor in Berlin aufgefallen. Der fast verwirrende Raum, in den man beim Durchschreiten gelangt, ein geometrischer Wald, den zu durchmessen es mehr als ein paar Schritte braucht. Der Berliner Bau von Carl Gotthard Langhans war etwa 30 Jahre vor dem Äußeren Burgtor errichtet worden. Der Klassizismus war in Mitteleuropa angesagt.

Im Gestern und im Heute, zugleich

An der Innenseite, zum heutigen Heldenplatz hin, ist dem Grundkörper zu beiden Seiten ein Vorbau als Pfeiler- und Säulenreihe angefügt. Die Bezeichnung als Tor ist ja irreführend. Das Burgtor ist kein Tor, sondern ein Gebäude. Durch diese Erweiterung wird es noch mehr zum räumlichen Körper. Der Blick entlang der Säulenreihe zum entfernt gelegenen Rathaus ist sehr eindrucksvoll. Abenddämmerung in Schinkelfarben und Rollerblade-Versammlung davor samt Ghettoblaster auf alten Steinstufen erinnern daran, was Gebäude oft so herrlich zu leisten im Stande sind: im Gestern und im Heute sein, gleichzeitig.

Wir entschieden uns, die Erkundung unter dem senkrechten Licht der Mittagssonne statt bei Mondschein und Nebel vorzunehmen. Der Ort ist auch so schräg genug. Ein Termin mit der Burghauptmannschaft war bald vereinbart. Zum ausgemachten Zeitpunkt stehen wir beim Papstkreuz vor der sogenannten Ehrenstiege, träge schwingt das schwarze Eisengitter auf mit seinen scharfen Spitzen, und wir steigen die Stufen hinauf zum Dachatrium, der sogenannten Ehrenhalle. Vorbei an Steinköpfen, die aus der seitlichen Kalksteinverkleidung hervorragen und deren Physiognomie die Völker der alten Monarchie repräsentieren soll. Ganz Kind ihrer Zeit, nämlich der 1930er-Jahre, wir lesen nach, Deutschösterreicher, Ungar, Kroate, Tscheche, Pole, Ruthene, Rumäne, Italiener.

1933/34 wurde das Burgtor nach einem Wettbewerb von Rudolf Wondracek, einem Schüler Otto Wagners, zu einem Heldendenkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs umgebaut. Der autoritäre Ständestaat versuchte, wohl auch eine österreichische Identität zurückzudatieren und damit den Rückhalt bei einer völlig gespaltenen Bevölkerung zu festigen. Die äußere Gestalt sollte nicht verändert werden, die übrigen Eingriffe in das bestehende Monument waren massiv. In die Seitenflanken wurden zwei nach oben offene Stiegenanlagen gebrochen, die von beiden Seiten auf eine mittig über der Tordurchfahrt gelegene, abgesenkte Dachplattform führen. Das Gebäude lässt sich dadurch quer zu seiner Durchfahrtsachse begehen, eine gegenläufige Bewegung, die man von außen nicht erwarten würde, eine begehbare Skulptur.

Wir stehen etwas unschlüssig in der sogenannten Ehrenhalle herum, mitten über den Säulenjochen der Tordurchfahrt, im ausgehöhlten Dachkranz. Eine Art offener Atriumhof ohne Ausblick. Die erhöhte Attika des Mitteltraktes ist nach innen geführt und bildet einen länglichen Hof aus. Ein umlaufendes Vordach dient als Witterungsschutz der Wandreliefs. Bodenplatten und Wandverkleidungen sind aus Muschelkalk. Der Wind ist jetzt zu hören, wie er über den Dachkranz streicht. Herbstblätter rascheln in der Ecke, ein kleiner Strudel kreiselt, aus Ahornsamen und Federn. Löwenzahnhalme sprießen da und dort aus den Fugen. Sonst ist die Anlage gepflegt und nach einer aufwendigen Sanierung vor etwa 15 Jahren gut in Stand. Den Wind wird es freuen.

„Die Helden des Weltkrieges sind unter freiem Himmel gefallen, sie sollen unter freiem Himmel geehrt werden“, soll Architekt Wondracek über den Bau gesagt haben. Ein wenig ratlos-verlegen betrachten wir die Wände mit den Darstellungen österreichischen Soldatentums aus drei Jahrhunderten, 1618 bis 1918, wir schlagen nach: Musketier, Dragoner, Husar, ein Grenadier und ein Kampfflieger sind etwas einfältig als Steinreliefs ausgeführt. Hier ist mehr gestern als heute. Der Ghettoblaster wird abends kaum zu hören sein. Ein Gestern, das uns doch recht verstellt erscheint. Obwohl die milde Spätsommersonne klar von oben scheint und keine Schatten wirft.

Auch das Innere des Burgtores wurde 1934 umgestaltet. Nördlich der Durchfahrt wurde die sogenannte Krypta eingerichtet, ein düsterer Sakralraum, den Gefallenen des Ersten Weltkrieges geweiht. Nur im Vormittagslicht verbreiten die mundgeblasenen Bleiglasfenster etwas Atmosphäre. Vor dem Altar liegt die überlebensgroße Statue eines gefallenen Kriegers aus rotem Adneter Marmor, gestaltet von Wilhelm Frass, der als Bildhauer auch die Köpfe an der Außenstiege gefertigt hatte. Gleich nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland hatte er sich seiner frühen illegalen Nazi-Mitgliedschaft gebrüstet. Nach dem Krieg wurde er als „minderbelastet“ eingestuft. – Im dunklen Nebenraum liegen in heruntergekommenen Vitrinen mächtige Folianten aufgeschlagen. Akribisch sind die Gefallenen der beiden Weltkriege aufgelistet. Handschriftlich nach Bundesland und Ort geordnet, Name, Geburtstag, Rang und Einheit, Todestag und Kampfgebiet. Die Bücher über den Zweiten Weltkrieg wurden später ergänzt, diesmal in Maschinenschrift. „Vermisst in Stalingrad“ lese ich auf der aufgeschlagenen Wiener Seite gleich mehrmals. Das Verzeichnis ist ein Original und nicht digitalisiert. Jeden Tag wird eine Seite umgeblättert. Im Laufe eines Jahres soll der Name jedes Gefallenen aufgeschlagen liegen. Der Wirkung der einfachen Installation wird man sich kaum entziehen können. Dieser Raum ist regelmäßig zugänglich.

„Weiheraum“ für einen Tag im Jahr

An der südlichen Seite der Tordurchfahrt wurde 1965 von der österreichischen Bundesregierung ein „Weiheraum“ eingerichtet, im Gedenken an die Opfer im Kampfe für Österreichs Freiheit. Die Mittel der Gestaltung wirken nüchtern und zeitgemäßer. Aber was soll in einer Demokratie ein Weiheraum, der genau an einem Tag des Jahres zur Kranzniederlegung genutzt wird? Von außen ist hinter den trüben Strukturglasscheiben nicht einmal dessen Existenz zu vermuten, wieder kein Schild, kein Hinweis, nichts. Hoffentlich können die Geister der Verstorbenen damit etwas anfangen, an den restlichen 364 Tagen und Nächten.

Eine Nutzung der abgesperrten Areale über dem Tor gibt es ja tatsächlich. Beim Vienna City Marathon werden Ehrenstiegen und Ehrenhalle als Brücke verwendet, um Teilnehmer und Besucher quer über den Zieleinlauf zu lotsen. Das Bild, wie die verschwitzten Teilnehmer des Marathons etwas verdutzt vorbei an drei Jahrhunderten österreichischen Soldatentums geleitet werden und gar nicht ahnen, wie exklusiv ihr einmaliges Wegerecht an diesem Tag wiegt, vermag ich mir fast nicht auszumalen. Ein triftiger Grund, sich den Stadtmarathon vorzumerken.

Der Umgang mit solchen Orten lässt sich erarbeiten. Baurechtliche Bedenken kann man lösen. Und neben sicheren Handläufen und rutschfesten Beschichtungen gilt: aufsperren, zugänglich machen, kommentieren – falls notwendig. Mir scheinen einige der historischen Eingriffe auch ohne Kommentar beredtes Zeugnis abzulegen über sich und die Zeit. Wenn man sie lässt. Beispiele für den klugen und behutsamen Umgang mit komplexer und schwieriger Geschichte gibt es schon einige. Das Burgtor selbst ist älter als manche der wechselhaften Geschichtslaunen. Das Eisengitter geschlossen zu halten wird diese Witterungsspuren nicht zum Verschwinden bringen. Und es soll sich ja keiner verletzen beim Drüberklettern, selbst wenn er ganz nüchtern wäre. Bleibt noch der Stadtmarathon.

Spectrum, Fr., 2011.10.21

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