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05. September 2025Christian Kühn
Spectrum

Die neue Sport Arena in Wien-Leopoldstadt: Hier beweist die Stadt Mut

Die neue Sport Arena Wien bietet Platz für Leichtathletik, Ballsport, Kunstturnen, Kraft- und Cardio-Training. Als Neubau und ohne begrünte Fassade widerspricht sie aktuellen Trends in der Architektur – belegt aber den Mut der Stadt, die Interessen der Nutzer zu berücksichtigen.

Die neue Sport Arena Wien bietet Platz für Leichtathletik, Ballsport, Kunstturnen, Kraft- und Cardio-Training. Als Neubau und ohne begrünte Fassade widerspricht sie aktuellen Trends in der Architektur – belegt aber den Mut der Stadt, die Interessen der Nutzer zu berücksichtigen.

Irgendwann war hier das Ende der Welt, eine Aulandschaft mit mäandernden Wasserläufen, in die sich die Donau aufspaltete. Erst durch die große Donauregulierung der 1870er-Jahre entstand daraus ein Fluss mit parallelen, wie mit dem Lineal gezogenen Ufern. Hunderte Hektar Bauland für die Donaumetropole Wien – Otto Wagners unbegrenzte Großstadt – wurden so geschaffen. Nach dem Ersten Weltkrieg verwandelte sich die Metropole in den „Wasserkopf“ eines scheinbar viel zu kleinen Landes mit einem Überangebot an Raum. Die Stadtregierung konnte großzügig mit den Flächen umgehen: Als 1929 nach einem Standort für ein Sportzentrum mit dem größten Stadion und dem größten Freibad des Landes gesucht wurde, fiel die Wahl auf ein Areal im Prater östlich der bestehenden Trabrennbahn. Hier fand 1931 ­die 2. Internationale Arbeiter-Olympiade mit 80.000 Teilnehmern aus 23 Ländern statt.

Die Anbindung an den Fluss war damals kein Thema. Das rechte Ufer der Donau blieb – wie der Name Handelskai andeutet – städtische Infrastruktur, die sich bis in die 1970er-Jahre nur langsam entwickelte. Erst mit dem Radstadion, das 1978 am Handelskai errichtet wurde, wagte das Sportzentrum den Sprung ans Wasser. Dieses Stadion war ein Rundbau aus Fertigteilen mit einem Durchmesser von 110 Metern, der Platz für bis zu 5500 Besucher bot. Besondere Attraktion war die Radrennbahn mit Steilkurve, aber auch Leichtathletik-Wettkämpfe fanden hier statt. Die Akzeptanz der Halle war in der engeren Radfahrszene durchaus vorhanden, ansonsten aber über die Jahre schwindend, nicht zuletzt wegen unattraktiver räumlicher Bedingungen, die sich auch nach einer ersten Sanierung 1999 nicht wesentlich verbesserten. 20 Jahre später stellte sich die Frage: Soll man neuerlich in den Bestand investieren oder einen Neubau wagen?

Städtebauliche Chance

Inzwischen hatten sich die äußeren Rahmenbedingungen deutlich verändert. Die neue U-Bahnlinie U2 erhielt die Station „Stadion“. Eine Shoppingmall mit 27.000 Quadratmeter Verkaufsflächen und einer Parkgarage für 880 Plätzen eröffnete 2007. Und schließlich wurde das unmittelbar im Osten angrenzende Grundstück zum Standort für einen Fernbus-Terminal erkoren, der unangenehm nahe an das Radstadion heranrücken musste. Die 2020 erfolgte Entscheidung, das Radstadion nicht zu sanie­ren, sondern als multifunktionale Sportarena mit neuem Programm neu zu errichten, war ei­ne städtebauliche Chance: Wo bisher ein Rund­bau mit 110 Meter Durchmesser wie eine unnahbare Festung gewirkt hatte, konnte man plötzlich in stadträumlichen Dimensionen denken.

Den Architekturwettbewerb für die Arena konnte das Büro von Christoph Karl und Andreas Bremhorst (KuB) 2021 für sich entschei­den. Ihr Projekt ist auf den ersten Blick unspektakulär, eine ruhige, horizontal gelagerte Box, die in alle vier Richtungen unterschiedlich reagiert: Nach Nordwesten öffnet sie sich mit einer fast monumentalen Loggia zu einem bestehenden Park mit alten Bäumen, der – wie alle Außenanlagen des Projekts – von Carla Lo gestaltet wurde. Nach Nordosten, also zum Handelskai, liegt ein großzügiger Ladehof, über den die Ver- und Entsorgung der Sportarena läuft.

Im Südosten bildet die Schmalseite der Box das Gegenüber zum Fernbusbahnhof, der hier so knapp an die Arena heranrückt, dass deren Freiflächen de facto Teil des Bahnhofsvorplatzes werden. Hier wurde versucht, einen nahtlosen Übergang zwischen den Freiräumen der beiden Projekte zu schaffen, unter Einbeziehung eines Beirats, der für das Busbahnhofprojekt zur Qualitätssicherung eingerichtet ist. Die vierte, 120 Meter lange südwestliche Front der Sportarena öffnet sich zu einem großen Vorplatz, der nach einem Wettkampf Raum für bis zu 3000 Besucher bieten muss. Auch dieser Vorplatz ist zoniert, wobei die erste Zone ein vor Regen geschützteer Außenraum ist, der durch eine Auskragung des ersten Obergeschoßes über die volle Länge der Sportarena entsteht.

Der Clou des Projekts ist die raffinierte Stapelung mehrerer Sporthallen übereinander: eine Ballsporthalle mit ausfahrbaren Tribünen für 3000 Personen, die das erste Untergeschoß und das Erdgeschoß verbindet; auf demselben Niveau eine Kunstturnhalle mit Besuchergalerie. Darüber liegen ein Bereich für Kraft- und Cardio-Training und eine Abfolge von flexibel nutzbaren Räumen, die bei Wettkämpfen als VIP-Zone fungieren. Die oberste, größte Halle bietet schließlich Platz für die Leichtathletik. Garderoben und Nebenräume sind nach Bedarf im Haus verteilt, ebenso die zahlreichen Möglichkeiten für das Aufwärmen, auch auf den Dachterrassen.

Sanierung hätte Weiterwursteln bedeutet

Die Erschließung der Halle kommt mit nur zwei innen liegenden Treppenhäusern aus und erlaubt es, auch bei Wettkämpfen in der Ballsporthalle den Trainingsbetrieb in den anderen Bereichen aufrechtzuerhalten. Trotz der Tiefe des Baukörpers gibt es auf der Eingangsebene so gut wie überall einen Blick ins Grüne, der durch die Verglasung der Erdgeschoßfassade möglich wird. Je heller, so die Architekten, desto besser. Bei Bedarf – vor allem bei Wettkämpfen, bei denen es auf gleichmäßige Belichtung ankommt – können die Räume aber verdunkelt werden. Dass hier mit großen Spannweiten und enormen statischen Kräften ge­arbeitet wird, zeigt sich nicht nur in der spektakulären Konstruktion der Leichtathletikhalle. Das Tragsystem ist insgesamt bis ins Detail von einer Klarheit und Präzision, die ihresgleichen suchen. Mit Gesamtkosten von 133 Millionen Euro spielt die Sportarena in einer Liga mit, zu der etwa das Wien Museum gehört. Würden diese beiden städtischen Bauten im architektonischen Zehnkampf gegeneinander antreten, würde die Sportarena zumindest in den Kategorien Logik der Konstruktion, Effizienz der Erschließung und Schönheit der Innenräume um Längen gewinnen.

Dabei widerspricht die Arena in mehrerer Hinsicht aktuellen Trends in der Architektur. Sie ersetzt einen gar nicht so alten Bestand durch einen Neubau ähnlicher Funktion, sie hat keine begrünte Fassade, und sie ist nicht in Holz konstruiert. Die Stadt Wien hat Mut bewiesen, die Interessen der Nutzer ins Zentrum zu rücken und mit diesem Neubau ein Zeichen des Respekts vor den Athleten zu setzen. Eine Sanierung hätte Weiterwursteln bedeutet, eine begrünte Fassade ist in einem Park mit alten Bäumen deplatziert, und eine Hallenkonstruktion aus Holz bei diesen Spannweiten unwirtschaftlich. Vielleicht kann man auch das von dieser Arena lernen: sich vom Zeitgeist nicht ­indoktrinieren zu lassen.

Spectrum, Fr., 2025.09.05

14. August 2025Christian Kühn
Spectrum

Passt die neue Architektur zu den legendären Knödeln? Das neue Resselpark-Café auf dem Wiener Karlsplatz

Zehn Jahre hat es vom ersten Konzept 2014 bis zum Baubeginn 2024 gedauert, jetzt ist das Resselpark-Café am Karlsplatz wieder in Betrieb. Passt die neue Architektur zu den legendären Knödeln?

Zehn Jahre hat es vom ersten Konzept 2014 bis zum Baubeginn 2024 gedauert, jetzt ist das Resselpark-Café am Karlsplatz wieder in Betrieb. Passt die neue Architektur zu den legendären Knödeln?

Die Erwartungen waren groß, als vergangenen Sommer der Abbruch des Café-Restaurant Resselpark auf dem Wiener Karlsplatz begann. Der kleine Holzpavillon mit dem großen Gastgarten war eine Institution, die von Studierenden und Mitarbeitern der TU Wien frequentiert wurde und von mehreren touristischen Trampelpfaden profitierte, die die Karlskirche mit dem Naschmarkt und über eine Passage mit den wichtigsten U-Bahnlinien und der Oper verbinden. Der kleine Pavillon erhielt 1958 eine Betriebsanlagen-Widmung als Meierei, ein Lokaltyp, der als „Milchtrinkhalle“ im späten 19. Jahrhundert bis in die 1920er-Jahre seine beste Zeit hatte. In mehreren Wiener Parks entstanden solche Meiereien, deren prominenteste, heute noch erhaltene im Stadtpark liegt. Der Entwurf des 1903 eröffneten Hauses stammt von Friedrich Ohmann, auf den auch die Gestaltung des Wienflussportals ein Stück flussaufwärts zurückgeht.

Heute beherbergt das Haus zwei miteinander verbundene Restaurants, die Meierei im Stadtpark und das Steirereck; Letzteres darf man als bestes Restaurant Österreichs bezeichnen. Dessen Erneuerung und Erweiterung im Jahr 2014 erfolgte nach Plänen des Büros PPAG, die dem Niveau der Küche das Wasser reichen konnten. Mit markanten Schiebefenstern und großformatigen, polierten Aluminiumplatten, die den Park reflektieren, gehört das Steirereck nicht nur kulinarisch, sondern auch architektonisch zu den Highlights der österreichischen Gastronomie.

Von Meiere zu Meierei

Als nach Baubeginn bekannt wurde, dass auch das neue Resselpark-Café nach Plänen von PPAG entstehen würde, durfte man gespannt sein. Wie viel lässt sich von Meierei zu Meierei übertragen, von der Spitzengastronomie auf ein gutbürgerliches Lokal mit vielen Stammgästen und einer soliden Küche ohne Experimente? Dass es dringend zumindest eine Generalsanierung brauchte, war evident. Die letzte größere Investition war 2006 die Erweiterung um einen Wintergarten gewesen, ein durchaus sympathischer Raum, in dem man zwar wie im Grünen sitzen konnte, der aber zugleich entsprechende Betriebskosten mit sich brachte. Der alte Gastraum war dagegen eher dunkel, mit abgeschirmten Nischen, wobei auch dieses Angebot seine Nachfrage fand. Für einen Abbruch und einen völligen Neubau sprachen schließlich die mangelnde Barrierefreiheit und der Gesamtzustand der Holzkonstruktion.

Das Konzept, das PPAG entwickelten, geht auf das Jahr 2014 zurück und sollte einerseits baukünstlerisch signifikant, andererseits nach allen pragmatischen Aspekten genehmigungsfähig sein. Wegen seiner besonderen Lage musste das Projekt trotz seiner geringen Größe dem Wiener Fachbeirat für Stadtplanung und Stadtgestaltung vorgelegt werden, der es positiv bewertete, aber auf die Wichtigkeit der detailbewussten Umsetzung hinwies. Nach einem Genehmigungsmarathon unter intensiver Einbeziehung der Stadt, nach Pandemie, Lockdown und Baukostenexplosion lag das Projekt auf Eis, bis schließlich im Frühjahr 2024 der Beschluss zur Umsetzung fiel, der dann ab dem Sommer unter großem Zeitdruck erfolgte.

Was heute auf dem Karlsplatz zu sehen ist, lässt sich als Versuch interpretieren, einen neuen Typus von Gasthaus zu entwerfen. Das Grundelement, das von dem Entwurf seinen Ausgang nimmt, ist die gesellige Tischrunde, die sich an einem Ort gruppiert, der von einem Tisch, einer L-förmigen Bank und ein paar Stühlen gebildet wird. Diese Orte werden addiert, im Raum gedreht und bilden so die gezackte Grundstruktur der Außenwände. Die kleinen haubenartigen Pultdächer, die auf der Grundstruktur aufbauen, geben diesen Orten mehr Raumhöhe und hatten ursprünglich einen zusätzlichen funktionellen Hintergrund. Es sollte auch hier – wie im Steirereck – vertikale Schiebefenster geben, nicht in der Hightech-Variante wie dort, sondern in einer einfacheren, in der die Fenster im offenen Zustand in den dreieckigen Zwickelräumen geparkt worden wären. Aufgrund höherer Kosten und des Zeitdrucks blieb es am Ende bei normalen Schiebefenstern mit einem Mittelkämpfer. Für die Lüftung ist diese Lösung ausreichend, aber von der Idee, den Raum komplett zu öffnen und das Café gleichsam in ein „Vogelhaus“ zu verwandeln, wie die Architekten erklären, ist durch diese Veränderung nicht viel übrig.

Das Konzept der betonten Tischgruppe funktioniert auch im Außenraum, wo die Betonung durch kleine Vordächer entlang der äuße­ren Kontur übernommen wird, die sich schützend über die dort Sitzenden aufspannen. Der Schutz ist zwar eher symbolisch, sobald der Wind den Regen gegen die Fassade treibt, aber die Vordächer sind auch aus formalen Gründen wichtig. Sie zeigen, wie dünn die äußerste Schicht aus großformatigen Eternitplatten ist, und lassen in der Nacht Licht durch die Fugen. Hinter der dünnen Haut verbirgt sich ein geometrisch komplexes Innenleben, das aus einer tragenden Schicht in Holztafelbauweise, einer dicken Isolationsschicht und der grauen äußeren Schutzschicht aus Eternit besteht.

Neuerdings Platten- statt Kiesboden

Gesessen wird im Gastgarten auf den alten Stühlen, aber auf einem neuen Plattenboden statt des früheren Kieses, den die Architekten erhalten wollten. Man kann die Entscheidung der Bauherrschaft gegen den Kies verstehen: Wer sich seit Jahren über die Steinchen ärgert, die ins Haus getragen werden, wird die Gelegenheit, sie loszuwerden, nicht auslassen. Aber an heißen Tagen sitzt es sich kühler über einem Kiesboden, und man hätte sich von der neuen Konkurrenz im Wien Museum, dessen Restaurantterrasse eine kleine Hitzeinsel für sich darstellt, durch eine Naturnähe, die der Situation im Park besser entspricht, absetzen können. Fairerweise muss man erwähnen, dass bestehende Asphaltflächen um das Café herum entsiegelt werden und selbst ein Plattenbelag nicht zwangsläufig eine Versiegelung bedeutet, wenn das Wasser durch Fugen versickern kann.

Eine große Qualität des Projekts, die erst nach Fertigstellung aller Außenanlagen des Projekts erfahrbar sein wird, ist die Tatsache, dass es in Zukunft kein Hinten und kein Vorne mehr geben wird, sondern eine Allansichtigkeit, wie es sich für einen Pavillon gehört. Der bestehende Tilgner-Brunnen, 1902 zum Gedenken an den 1896 verstorbenen Ringstraßen-Bildhauer Viktor Oskar Tilgner errichtet, wird aufgewertet und um „konsumationsfreie“ Bereiche, unter anderem an die Fassade angedockte Bänke, ergänzt. Dass das Vertrauen der Bauherrschaft, der Familie Trattner, in PPAG und vielleicht in die Architektur als baukünstlerische Praxis überhaupt enden wollend war, zeigt sich an einigen Punkten, bei denen sie die Architekten nicht einbezog und ihrem Rat nicht folgte. Gravierend fällt das etwa bei der Auswahl der Sessel im Innenraum auf. Der große, übersichtliche Raum mit Wänden aus hochwertiger Weißtanne bräuchte – wenn man wirklich einen neuen Typus von Gasthaus schaffen wollte – kräftige Holzstühle und keine mit hellgrauem Stoff bespannten Allerweltsstühle. Wenn sich das neue Resselpark-Café gut entwickelt: Hier wäre für eine Verbesserung Luft nach oben.

Spectrum, Do., 2025.08.14

09. Juli 2025Christian Kühn
Spectrum

Ljubljana: 25 Jahre Entstehungszeit bis zum Schwimmsport in der Halle

Ein Vierteljahrhundert vom Wettbewerb bis zur Eröffnung: das Ilijira-Sportzentrum in Ljubljana. Hat sich das Warten gelohnt?

Ein Vierteljahrhundert vom Wettbewerb bis zur Eröffnung: das Ilijira-Sportzentrum in Ljubljana. Hat sich das Warten gelohnt?

Theoretisch sollte kein Bauprojekt län­ger dauern als fünf Jahre: ein Jahr, um die Aufgabe zu verstehen, zwei Jahre für die Planung und zwei für die Ausführung. Wohnhäuser gehen schnel­ler, Flughäfen und alpendurchquerende Tunnels brauchen ein wenig länger. Wirklich rasch gebaut wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die meisten der knapp 50 Theater und Opernhäuser, die von den Architekten Fellner und Helmer in dieser Zeit geplant wurden, entstanden in der Rekordzeit von zwei Jahren.

So lange, inklusive Wettbewerb, brauchte auch Otto Wagner für seine Länderbank, den Vorläuferbau der Postsparkasse, die 1882 bis 1883 errichtet wurde, inklusive so innovativer Elemente wie eines Glasbodens, durch den Licht ins Tiefgeschoß fällt. Dass wir jemals wieder so rasante Planungs- und Bauzeiten erleben werden, ist eher unwahrscheinlich. Im Gegenteil: Die Bürokratisierung und Verrechtlichung der Planungs- und Bauprozesse nehmen seit Jahren zu. Dass kürzlich in China ein erstes Teilstück einer Autobahn mit 157 km Länge autonom, also nur von KI-gesteuerten Maschinen, realisiert wurde, deutet allerdings eine neue Welt an, in der sich fatalerweise rasches Wachstum mit höchster Effizienz paart.

Heftige Kritik am Standort

Wenn Bauprojekte wirklich lange, nämlich über mehrere Jahrzehnte, dauern, ist in der Regel Politik im Spiel. Das gilt für den Stuttgarter Bahnhof, für dessen Planung 1998 ein Wettbewerb stattfand. Nach heftigen Protesten von Gegnern des Projekts konnte der Bau erst 2010 begonnen werden. Für heuer ist ein Testbetrieb auf einigen Gleisen geplant; 2026 könnte der Bahnhof in Betrieb gehen. Dramatisch entwickelt haben sich die Kosten, von unter drei Mrd. Euro zu Projektbeginn auf geschätzte elf bis zwölf Mrd.

Das Ilijira Sportzentrum in Ljubljana bewegt sich mit Baukosten von knapp 50 Mio. Euro in einer anderen finanziellen Dimension; zeitlich kann es aber durchaus mithalten. Erste Überlegungen, auf dem Areal eines bestehenden Freibads eine Schwimmhalle im olympischen Wettkampfformat von 50 mal 25 Metern zu errichten, reichen bis in die Mitte der 1990er-Jahre zurück, als sich Slowenien gerade als unabhängiger Staat etabliert hat. Im Jahr 2000 wurde ein international offener Wettbewerb für ein Schwimmsportzentrum ausgeschrieben, das optimale Bedingungen für den Spitzensport bieten, aber auch für das allgemeine Publikum offen sein sollte.

Bereits im Vorfeld des Wettbewerbs gab es heftige Kritik am Standort. Das bestehende Freibad sei zwar desolat, sollte aber als Freizeitanlage für alle saniert werden. Die Anforderungen der Spitzensportler könnten in einer Anlage am Stadtrand erfüllt werden. Der Kritik folgte ein Aufruf unter den slowenischen Architekten, den Wettbewerb zu boykottieren. Die niedrige, eingeschoßige Bestandsbebauung sei dem Ort am Rande des Tivoli-Parks, der fünf Quadratkilometer „grünen Lunge“ der Stadt, nur ein paar Gehminuten vom historischen Zentrum entfernt, genau angemessen. Sie dürfe nicht durch eine großmaßstäbliche Halle ersetzt werden.
Public-Private-Partnership-Modell

Als Sieger ging das österreichische Büro von Peter Lorenz, Lorenz Ateliers, hervor, das eine andere Lesart des Orts lieferte. Die Entscheidung der Politik, genau an diesem Standort nahe am Zentrum dem Spitzensport Raum zu geben, sei eine Geste für Wettbewerb und Exzellenz, die man ernst nehmen und in Architektur übersetzen sollte. Außerdem biete sich hier die Möglichkeit, ein großzügiges Entree zum Tivoli-Park zu schaffen und eine alte Achse zu reaktivieren, die Lattermann-Allee, die diagonal über den Bauplatz führt und ihn in zwei Teile gliedert. Lorenz reagiert auf diese Bedingungen mit einem Land-Art-Projekt, einer begrünten und teilweise begehbaren Struktur, die mit Einschnitten und Absenkungen ein Dach über dem Sportbecken schafft, zur Stadtseite hin ansteigt und dort auf eine Glasfront trifft, hinter der das Leben im Sportzentrum sichtbar ist.

Unterstützt wurde das Projekt von der Bürgermeisterin, die bereits Teil der Jury im Wettbewerb gewesen war. In der Weiterentwicklung wagte man sich sogar an die Idee eines enormen Schiebedachs als Reaktion auf Kritiker, die dem alten Freibad nachtrauerten. Nach einem politischen Wechsel im Jahr 2002 versuchte die neue, bis 2006 regierende Bürgermeisterin, das Projekt als Public-Private-Partnership-Modell, also mit einem privaten Investor, umzusetzen. Neben anderen Geschäften wäre im Sportkomplex auch ein Eurospar eingezogen.

Als die PPP-Rechnung nicht aufging und der Investor sich zurückzog, beschloss die Stadt 2007 unter dem bereits dritten Bürgermeister, das Projekt selbst zu realisieren. Nun gab es allerdings ein neues Thema: der Denkmalschutz für das 1929 von Stanko Bloudek entworfene Bestandsbad, der 2011 ausgesprochen wurde. Lorenz reagierte darauf mit einem Projekt, bei dem das geschützte Eingangsgebäude erhalten bleibt und mit Schwimm- und Turnhalle unter ein großes Dach gestellt wird. Es dauerte weitere sieben Jahre, bis sich das Projekt wieder bewegte. Ende 2018 erhielten Lorenz Ateliers den Planungsauftrag. 2022 war Baubeginn, im März 2025 wurde das Bad offiziell eröffnet.
Symbol olympischer Exzellenz

Hat sich es sich gelohnt, so lange an einem Entwurf festzuhalten, der so umstritten war und in der rührigen Architekturszene Ljubl­janas immer noch ist? Dass ein Entwurf mit Verspätung umgesetzt wurde, ist per se weder gut noch schlecht. Gute Architektur sollte 100 Jahre und mehr halten. Manches hätte bei einer rascheren Umsetzung wahrscheinlich mehr Schwung bewahrt. Im Vergleich zum ursprünglichen Land-Art-Projekt wirkt das neue Dach weniger dynamisch und trotz seiner Größe etwas geduckt. Bei langer Projektdauer kann es passieren, dass sich der Fokus der Architektur verschoben hat, etwa vom Neubau zur Erhaltung und Umnutzung.

Vielleicht hätte sich eine alte Industriehalle gefunden, in die ein 50-Meter-Becken passt. Aber die läge wahrscheinlich an der Peripherie, und dann gäbe es hier im Ilijira keine neue Rampe als Zugang in den Tivoli-Park, die entlang der ehemaligen Lattermann-Allee durch das Schwimmbad hindurchführt und unter der Bahnlinie durchtaucht. Sie ist ein Raumkunstwerk, eine helle Schlucht aus Stahl und Glas, die den Baukörper aufschneidet und einen Blick auf die Schwimmer im Inneren freigibt. Und es gäbe auch keine überdachte Plaza im Norden, mit dem alten Eingangsgebäude als Reminiszenz an frühere Zeiten. Das neue Ilijira mag umstritten bleiben – als Symbol olympischer Exzellenz, als Stadtbaustein und als Stadt in der Stadt mit vielfältiger Nutzung hat es Anerkennung verdient.

Spectrum, Mi., 2025.07.09

09. Juni 2025Christian Kühn
Spectrum

Baut Kindern Paläste! Die Geburtsklinik in Wien-Gersthof wird ein Gymnasium

Fast wäre die 100 Jahre alte Geburtsklinik in Wien-Gersthof in Luxuswohnungen umgebaut worden. Jetzt ist sie das jüngste Gymnasium der Stadt, das hoffentlich weitere 100 Jahre bestehen wird.

Fast wäre die 100 Jahre alte Geburtsklinik in Wien-Gersthof in Luxuswohnungen umgebaut worden. Jetzt ist sie das jüngste Gymnasium der Stadt, das hoffentlich weitere 100 Jahre bestehen wird.

Bauen im Bestand ist heute – zumindest in hoch entwickelten Industriestaaten – das zentrale Thema des Architekturdiskurses. Es wird weiterhin Neubau geben, aber eines ist klar: Den kleinsten ökologischen Fußabdruck hinterlässt, wer ein bestehendes Gebäude nutzt, statt ein neues zu bauen. Dass es dabei oft zu Konflikten zwischen dem vorhandenen Gebäude und der neuen Nutzung kommt, kann man als Problem sehen – oder als Chance, konventionelle Muster zu hinterfragen und aus der Spannung zwischen neuer Nutzung und vorhandenem Gerüst innovative Lösungen zu schaffen.

Dass dies sogar unter den strengen Bedingungen des Denkmalschutzes gelingen kann, beweist das Anfang des Jahres eröffnete Gymnasiumsgebäude in Gersthof mit der Adresse Wielemansgasse 28. Sein endgültiger Name ist noch nicht fixiert, da es derzeit als Ausweichquartier für andere, gerade in Sanierung befindliche Schulen dient. Das Bestandsgebäude hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Nach Plänen der Architekten Alfred Mautner und Johann Rothmüller 1924 bis 1926 als Entbindungsklinik für Handelsangestellte errichtet, war es zeitweise Militärspital und schließlich seit den 1970er-Jahren ein Spezialkrankenhaus für Orthopädie, das 2019 ins neue Krankenhaus Nord in Floridsdorf übersiedelte.

Klassen und offene Lernzonen wechseln sich ab

Erste Überlegungen für eine Nachnutzung gingen in Richtung luxuriöser Wohnungen. Statt einer solchen Privatisierung öffentlichen Eigentums entschied sich die Stadt Wien für einen Verkauf an die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) mit der Auflage, einen Bildungsbau zu errichten. In einem europaweit offenen Verhandlungsverfahren setzte sich das Büro Franz & Sue mit dem Konzept durch, den Innengangtyp zwar beizubehalten, aber durch verglaste Nischen und Durchbrüche hell und freundlich zu gestalten.

Die Klassenräume fallen mit einer Tiefe von fünf Metern schmäler und deutlich länger aus als üblich. Diese Abweichung von der Norm ermöglicht es aber, den Klassenraum zu zonieren und im hinteren Bereich durch Stehpulte ein besonderes Lernarrangement anzubieten. Klassen und offene Lernzonen wechseln sich ab und bieten vielfältige Nutzungsoptionen. Die zahlreichen Balkone und Terrassen, auf denen sich früher die Wöchnerinnen erholten, wurden an die aktuellen Sicherheitsnormen angepasst und stehen zumindest theoretisch den Schülerinnen und Schülern zur Verfügung. Wie so oft erschweren Bedenken bezüglich der Aufsichtspflicht die tatsächliche Nutzung.

Rosarotes Märchenschloss

Das äußere Erscheinungsbild des Hauses erinnert nicht an ein Krankenhaus, sondern an ein rosarotes Märchenschloss in einem Park mit 100-jährigen Bäumen, die auf den Fotos aus der Entstehungszeit noch als Stecklinge zu sehen sind. Formal verbindet das Gebäude mit seinen dezenten Ornamenten, dem Skulpturenschmuck und den von stämmigen Säulen getragenen Pergolen späten Jugendstil, Art déco und Expressionismus. Charakteristisch für die Zeit ist die strenge Symmetrie, die in diesem Fall noch durch die Ausbildung eines den Eingang rahmenden Ehrenhofs betont wird. Formale Verwandtschaften gibt es zu mehreren Wiener Bauten der Zeit, vom Amalienbad über den Reumannhof bis zum Krematorium in Simmering, womit der Bogen von der Geburt bis zum Tod in einer architektonischen Sprache gespannt wäre. Dass die beiden Architekten Mautner und Rothmüller als erstes gemeinsames Projekt 1920 die Filmarchitektur für den Monumentalfilm „Sodom und Gomorrha“ mitgestaltet haben, könnte die leichte Kulissenhaftigkeit ihrer Architektur erklären.

Das Büro Franz & Sue hat viel Erfahrung mit der Sanierung komplexer denkmalgeschützter Bestandsbauten, wie etwa das Justizzentrum in Salzburg und die Volksschule und Mittelschule in Leoben zeigen. Der Erfolg solch komplexer Sanierungsprojekte hängt von der guten Beziehung zwischen Architektur, Denkmalamt, der Bauherrschaft und nicht zuletzt den ausführenden Firmen ab. In diesem Fall funktionierte diese Beziehung auch deshalb so gut, weil das Projekt im Laufe der Planungs- und Bauzeit ab 2020 für die BIG zu einem Leitprojekt wurde, mit dem sie Maßstäbe setzen wollte: grundsätzlich für das Bauen im Bestand, für Lowtech-Lösungen in der Haustechnik und für eine gewisse Elastizität in der Funktion im Interesse der Umsetzung neuer Modelle für das Lernen und Lehren. Gute Architektur ist kein eng anliegender Handschuh, der genau auf eine Nutzung zugeschnitten ist, sondern ein lockerer Fäustling, der mehrere, auch noch nicht absehbare Nutzungen erlaubt.

Die Turnsäle befinden sich im Park

Dazu gehört auch das Hinterfragen von scheinbar Selbstverständlichem. So war etwa zu Planungsbeginn noch unklar, wo die beiden Turnsäle für die Schule platziert werden sollten. Alle Versuche, sie direkt mit dem Altbau zu verbinden, führten zu keiner befriedigenden Lösung. So landeten die Turnsäle schließlich frei stehend im Park, vom Hauptgebäude in drei Minuten Fußweg erreichbar. Die beiden Säle haben sehr unterschiedlichen ­Charakter. Ein Saal ist eine Normturnhalle mit rund 30 mal 15 Metern, der andere ein Bewegungsraum mit einer Spiegelfront, deren Elemente sich schützend um 180 Grad drehen lassen, wenn statt Ballett Völkerball auf dem Spielplan steht. Eine Längswand des Bewegungsraums ist als Kletterwand ausgebildet und erhält zusätzliches Licht von oben, während die andere über die volle Breite verglast ist und einen Blick in die Stadt bietet. Im Außenraum wirken die beiden Säle mit ihrer Hülle aus schwarz lasierten Holzlamellen wie abstrakte Skulpturen.

Die Turnsäle sind nicht die einzigen vom Haupthaus abgesetzten Gebäude der Anlage. Auch die ehemalige Direktionsvilla erhielt eine neue Nutzung als Laborgebäude für die Naturwissenschaften ohne direkte Verbindung zum Hauptgebäude. Wirklich störend ist das nur bei sehr schlechtem Wetter. Die kurze Unterbrechung des schülerischen Innenraumdaseins durch einen kurzen Spaziergang im Park ist dagegen unbezahlbar. Mehr Natur ins Haus holen wollte man im Hauptgebäude auch durch die Schaffung eines Gartengeschoßes, also durch Abgrabung des angrenzenden Geländes auf das Niveau des Kellergeschoßes, das damit zumindest teilweise zu einem vollwertigen Raum wird, unter anderem für die Nachmittagsbetreuung, die nun einen direkten, niveaugleichen Zugang zum Park hat.

Mit diesem Umbau hat die BIG Maßstäbe für intelligentes Bauen im Bestand gesetzt. Es bleibt zu hoffen, dass sich hier eine Schulgemeinschaft etabliert, die das Potenzial dieses einzigartigen Schulgebäudes zu nutzen weiß. Vielleicht kann sie sich von Julius Tandler, dem Stadtrat für das Wohlfahrtswesen im Roten Wien, inspirieren lassen. Von ihm stammt, im Jahr 1927 anlässlich der Eröffnung des zum Kinderheim umgebauten Schlosses auf dem Wilhelminenberg formuliert, das berühmte Zitat: „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder.“ Oder in unsere Zeit übersetzt: „Für exzellenten Bildungsbau verschuldet man sich nicht; man investiert in die Zukunft.“

Spectrum, Mo., 2025.06.09

07. April 2025Christian Kühn
Spectrum

Trumps Liebe zum Klassizismus: Ohne Säulen geht es in den USA nicht mehr

In den USA sollen Bundes­gebäude in Zukunft nur noch im klassizistischen Stil errichtet werden. Eine Vorgabe mit Nebeneffekten.

In den USA sollen Bundes­gebäude in Zukunft nur noch im klassizistischen Stil errichtet werden. Eine Vorgabe mit Nebeneffekten.

Diesmal waren Donald Trump und seine Truppe besser vorbereitet. Schon am ersten Tag seiner zweiten Amtszeit unterzeichnete der Präsident Dutzende Erlässe, unter anderem zum Austritt aus dem Pariser Klima­abkommen, zur Einwanderungspolitik und zur Begnadigung aller wegen ihrer Beteiligung am Sturm auf das Kapitol Beteiligten. Neben diesen Erlässen, die geradezu eine Zeitenwende signalisierten, fiel ein Erlass dadurch auf, dass er sich auf eine ästhetische Frage bezog: „Erlass zur Förderung schöner Architektur für Bundesbauten“.

Konkret wird darin die Verwaltung der Bundesimmobilien aufgefordert, innerhalb von 60 Tagen Vorschläge für eine Politik zu liefern, öffentliche Bauten des Bundes visuell als solche erkennbar zu machen und dabei das regionale, traditionelle und klassische Architekturerbe zu respektieren, um „öffentliche Räume aufzuwerten und zu verschönern und die USA und ihr System der Selbstverwaltung zu nobilitieren“. Zugleich sei zu überlegen, die bestehenden, erstmals 1962 definierten Leitlinien für den Bundeshochbau zu reformieren und Strategien für mehr Partizipation bei der Auswahl von Entwürfen zu entwickeln.

Respekt vor dem Bestand problematisch?

Das klingt fürs Erste nicht weiter dramatisch. Was soll an Respekt vor dem historischen Erbe, an der Verbesserung des öffentlichen Raums und mehr Partizipation problematisch sein? Hat die Architektur nicht gerade in jüngster Zeit Respekt vor dem Bestand gelernt, nicht zuletzt aus ökologischen Gründen? Um die Sprengkraft dieses Erlasses zu verstehen, muss man fünf Jahre in die Vergangenheit zurückgehen. Der aktuelle Erlass ist nämlich nicht der erste, den Donald Trump zu diesem Thema unterschrieben hat. Bereits im Dezember 2020 veröffentlichte das Weiße Haus einen Erlass, der sich wie die Langfassung des aktuellen liest und die Ziele offen ausspricht: Öffentliche Bauten des Bundes sollen sich an klassizistischen Vorbildern orientieren, nicht nur im Neubau, sondern auch bei Sanierungen, bei denen zumindest untersucht werden soll, ob sich eine klassizistische Anmutung herstellen lässt.

Initiator des Erlasses war die Civic Arts Society, eine private Organisation, deren Mission Statement die Förderung klassizistischer Tendenzen in der Architektur ist. Ihr Vorsitzender, Justin Shabow, war im Jänner 2021 von Donald Trump zum Vorsitzenden eines seit 1910 bestehenden Gestaltungsbeirats für das Zentrum Washingtons bestellt, allerdings schon nach vier Monaten von Joe Biden abgesetzt worden, der auch den Erlass Trumps kassierte. Zu den Aktivitäten der Civic Arts Society gehörte eine Online-Befragung von 2000 Personen, die anhand von Fotos von Gerichtsgebäuden deklarieren konnten, ob sie eher klassizistische oder moderne Gebäudeformen präferieren würden. Das Ergebnis war eindeutig: 70 Prozent stimmten für den Klassizismus, 30 Prozent für das, was die Autoren der Studie als Brutalismus oder Dekonstruktivismus bezeichneten. Die Verteilung war bei Republikanern nicht anders als bei demokratischen Teilnehmern an der Umfrage.

So fragwürdig die Methodik dieser Studie sein mag – überraschend war das Ergebnis nicht. Die drei zentralen Institutionen der amerikanischen Demokratie sind im klassizistischen Stil errichtet: das Weiße Haus als Exekutive, das Kapitol als Legislative und der Oberste Gerichtshof als Judikatur. Das Weiße Haus und das Kapitol datieren aus einer Zeit, als der Klassizismus tatsächlich die modernste Formensprache war, nämlich aus den 1790er-Jahren, und sie behielten diesen Stil auch bei ihren zahlreichen Umbauten und Erweiterungen bei. Der Oberste Gerichtshof ist ein Nachzügler, von Cass Gilbert 1932 entworfen und 1935 eröffnet, Ausdruck des amerikanischen Selbstverständnisses, der legitime Erbe der griechischen Demokratie, des römischen Rechts und der humanistischen Kultur der Renaissance zu sein. In diesem geistigen Umfeld galt der Klassizismus als die Sprache der Vernunft, die jeder versteht, eine Rolle, die er nach dem Zweiten Weltkrieg an den Funktionalismus abtreten musste.

Verzicht auf Überraschungen

Auf die einfachste Formel gebracht, lebt der Klassizismus von der Idee, dass alle Dinge einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben. Dieses Prinzip sorgt für Symmetrie und eine Stabilität, die freilich ihren Preis hat: die Beschränkung auf wenige Muster und den Verzicht auf jede Überraschung. Die Architektur des 20. Jahrhunderts hat Schatztruhen an formalen Inspirationen geöffnet, aus der Natur, aus der Technik, aus der bildenden Kunst, die dem Klassizismus unzugänglich bleiben müssen, und sie hat dafür bereitwillig den „Verlust der Mitte“ in Kauf genommen, den ihr der konservative Kunsthistoriker Hans Sedlmayr in seinem berühmten gleichnamigen Buch aus dem Jahr 1948 vorwarf.

Damals war die Frage, ob eher der Verlust oder die kritiklose Verehrung der Mitte zur ­Katastrophe des Zweiten Weltkriegs beigetragen hätte, noch virulent und die Erinnerung an den Wettbewerb für den Völkerbundpalast in Genf noch in Erinnerung, bei dem Le Corbusiers dynamischer Entwurf sich nicht gegen den klassizistischen einer Gruppe um Henri-Paul Nénot durchsetzen konnte. Als der Völkerbund 1933 in den düsteren Palast einzog, hatten die totalitären Kräfte schon halb Europa ver­einnahmt.

Globales Freiheitsversprechen

Was bedeutet es, wenn der Erlass Donald Trumps tatsächlich umgesetzt wird? Es geht nicht nur um ein paar Gerichtsgebäude, die in den nächsten Jahren in den USA errichtet werden, sondern um ein populistisches Manöver, mit dem einer diversen und inklusiven Gesellschaft die Luft abgeschnürt werden soll. In den USA ist der Klassizismus die Sprache der weißen Eliten und der symbolische Garant für „White Supremacy“. Was 1790 ein globales Freiheitsversprechen und Ausdruck eines Systems von „Checks and Balances“ war, ist in Donald Trumps Welt nur noch Ausdruck des Rechts des Stärkeren.

Auf der Homepage der Civic Art Society wird der Winston Churchill zugeschriebene Gedanke zitiert, dass wir zuerst unsere Bauten formen und dann von ihnen geformt werden. Den Klassizismus zur Staatsarchitektur zu erklären passt gut zu totalitären Systemen, für die Stabilität das erste Staatsziel ist. Diese Architektur verspricht Machterhalt über viele Jahrzehnte.

Die Entwicklung in den USA sollte uns im Übrigen eine gewisse Dankbarkeit gegenüber den Institutionen nahelegen, die in Österreich die Kultur des öffentlichen Bauens verantworten. Die Bundesimmobiliengesellschaft BIG, die für jedes ­größere Projekt einen Architekturwettbewerb ­veranstaltet, ist ein Erfolgsmodell, das in Österreich seit Jahrzehnten geholfen hat, eine innovative und diverse Architekturszene aufzu­bauen. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Angesichts der drohenden Budgetkrise wird es Überzeugungsarbeit brauchen, damit nicht kurzfristig am falschen Platz gespart wird. Was wir heute bauen, sollte in 100 Jahren und darüber hinaus zum wertgeschätzten architektonischen Erbe gehören.

Spectrum, Mo., 2025.04.07

02. März 2025Christian Kühn
Spectrum

Neu bauen? Lieber noch einmal darüber schlafen

Können wir uns eine Welt vor­stellen, in der nur noch renoviert, aber nichts Neues mehr gebaut wird? Eine Europäische Bürgerinitiative fordert genau das.

Können wir uns eine Welt vor­stellen, in der nur noch renoviert, aber nichts Neues mehr gebaut wird? Eine Europäische Bürgerinitiative fordert genau das.

Der Begriff Ökologie leitet sich von Oikos ab, dem griechischen Wort für Haus. In seiner ursprünglichen, von Ernst Haeckel eingeführten Bedeutung stand er für eine bestimmte Art, die Natur zu sehen, als wohlgeordnete Hauswirtschaft mit klaren Regeln für die Nutzung von Ressourcen, die Entsorgung von Abfällen und die Aufrechterhaltung von Energiekreisläufen. Ökologie gab dem viel älteren Begriff des Kosmos ein neues, wissenschaftliches Fundament.

Heute stehen wir vor der Ruine dieses Hauses und wundern uns, wie es so weit kommen konnte. Es gibt noch ein paar luxuriöse Ecken, aber die meisten Räume sind kaum mehr zu brauchen. Der Müll wird unter den Teppich gekehrt; in manchen Trakten sind die Fenster im Krieg zerbrochen. Und tief im Keller lagert ein atomares Arsenal, mit dem man das Haus im Handumdrehen auslöschen könnte.

Enormer Leerstand

Die Haltung der Moderne, das Haus abzureißen und durch ein neues, besser geplantes zu ersetzen, ist keine Option mehr. Uns fehlen die Ressourcen für einen Neustart, nicht nur die materiellen, sondern auch die geistigen und sozialen. Ein Neustart würde klare Orientierung und globales, gegenseitiges Vertrauen voraussetzen, und zumindest die geteilte Illusion einer objektiven Realität. Stattdessen erleben wir die Erosion des Gemeinwohlgedankens und die schulterzuckend hingenommene Auflösung der Wirklichkeit in ein Gewirr alternativer Fakten.

Wenn wir dieses metaphorische Haus kurz verlassen und uns den konkreten Häusern zuwenden, wie sie in fortgeschrittenen Industriegesellschaften unsere Lebenswelt prägen, zeigen sich – wenig überraschend – Parallelen. Gebaut wird zu oft nicht für Menschen, sondern für den Profit. Und auch wenn die Produkte der Bauindustrie ästhetisch und technisch ambitioniert wirken, stammen sie aus einem Wirtschaftsbereich, der in der EU für 40 Prozent des gesamten Energieverbrauchs, 36 Prozent der CO2-Emissionen und 35 Prozent des Abfalls verantwortlich ist.

Angesichts der enormen Leerstandsraten bedeutet jeder Neubau, die Bodenversiegelung unnötig zu verstärken und die Biodiversität einzuschränken. Die im Rahmen des European Green Deal beschlossene Dekarbonisierung des Baubestands bis 2050 wird bei der aktuellen Erneuerungsrate von einem Prozent Illusion bleiben.

Berücksichtigung von grauer Energie

Viele Architektinnen und Architekten haben in den jüngsten Jahren erkannt, dass ihre Produkte derzeit eher Teil des Problems als Teil der Lösung sind. Die Strategien, das zu ändern, können auf vielen Ebenen ansetzen, von der Verwendung „gesunder“ Materialien bis zu emissionsfreien Heizungs- und Kühlsystemen. Zumindest in Europa konzentrieren sich die Vorschläge derzeit auf eine einfache Empfehlung: möglichst nichts mehr abzureißen und stattdessen die vorhandene Bausubstanz zu sanieren und, wenn nötig, umzunutzen. Warum wäre gerade dieser Zugang so effektiv? In erster Linie, weil er zusätzlich zur Heiz- und Betriebsenergie die sogenannte graue Energie berücksichtigt, die in jedem Bauwerk steckt. Beton, Stahl und Glas müssen hergestellt und antransportiert werden, wobei große Energiemengen und damit CO2-Emissionen anfallen. Wenn nicht neu gebaut, sondern nur saniert wird, muss keine zusätzliche graue Energie eingesetzt werden.

Neben diesen ökologischen Aspekten bietet ein Abrissmoratorium, also die Forderung, bis auf Weiteres auf Abriss zu verzichten, auch ökonomische und soziale Vorteile. Einerseits ist Sanieren personalintensiv und erleichtert in der Regel kleinen Unternehmen, zu Aufträgen zu kommen. Andererseits können die Bewohner während einer entsprechend konzipierten Sanierung in ihren Wohnungen bleiben, womit die sozialen Strukturen im Viertel erhalten bleiben.

Die Idee eines Abrissmoratoriums entstand um 2020 im universitären Umfeld, ursprünglich in der radikaleren, von Charlotte Malterre-Barthes an der ETH Zürich propagierten Version eines „Moratorium on New Construction“. Der Gedanke einer neuen Umbaukultur lag offenbar in der Luft und fand rasch Unterstützung, auch außerhalb der Universitäten. In Österreich publizierte die Bundeskammer der Ziviltechniker:innen Anfang 2024 ein „Positionspapier Klima, Boden und Gesellschaft“, das Österreich als „fertig bebaut“ bezeichnet und vor jedem Bauvorhaben eine verbindliche Prüfung einfordert, ob die Aufgabe nicht auch im Bestand zu lösen wäre. Im Herbst verabschiedete der Österreichische Baukulturbeirat eine „Empfehlung für Regularien zum Bauen im Bestand“, die fiskalische und rechtliche Erleichterungen vorschlägt.

Kultur der Sanierung

Auf EU-Ebene läuft gerade unter dem Titel „House Europe! Yes to Renovation“ eineEuropäische Bürgerinitiative von Arno Brandlhuber und Olaf Grawert, die bis Februar 2026 eine Million Stim­men sammeln möchte, um ihre Anliegen ins Europäische Parlament zu bringen. Bisher ist das nur bei Themen wie einem Glypho­satver­bot gelungen, bei denen es ein Ja oder ein Nein als Antwort gibt. „House Europe!“ vertritt ein komplexeres Anliegen, das zu einer neuen Kul­tur der Sanierung führt, die zur Innovation im Bestand spezielle Rahmenbedingungen erhält. Ein Erfolg der Initiative würde auch die Position des ersten EU-Kommissars für Energie und Wohnungswesen, Dan Jørgensen, innerhalb der Kommission stärken.

Wie schwierig es in der Praxis sein kann, ein radikales Neubauverbot durchzuhalten, zeigt ein aktuelles Projekt in Wien: der Jugendcampus der Arbeiterkammer in der Plößlgasse, der YOCA heißen wird. Er entsteht an der Stelle eines Schulbaus aus den 1950er-Jahren, eines für seine Zeit tadellosen Gebäudes, das jedoch strukturell gar nicht zum geforderten Raumprogramm des YOCA mit Restaurant, Ausstellungs-, Vortrags- und Bewegungsräumen, Makerspaces und einem Kindergarten passen wollte.

Beteiligungsprozesse

Im Wettbewerb, den das Stuttgarter Büro Haas Cook Zemmrich Studio 2050 für sich entschied, war es den Teilnehmern freigestellt, die Substanz zu erhalten. Die Preisträger entschieden sich für den Abbruch: Eine teilweise Erhaltung wäre zwar möglich gewesen, hätte aber nur den Eindruck eines aufwendig konservierten Zitats gemacht. Der Abbruch erlaubt die Errichtung eines großen, flexibel nutzbaren Regals in Holzkonstruktion, das sich über ein Atrium Licht in die Tiefe des Baukörpers holt. Eine zentral gelegene offene Treppe macht Lust, das Haus im Aufstieg zu entdecken. Die sehr diversen Zielgruppen, die ihre Ideen in einem Beteiligungsprozess einbringen durften, werden hier ihre Nischen finden.

Und auch das alte Haus wird nicht komplett verschwinden, sondern in Teilen eine neue Funktion bekommen, wenn etwa alte Deckenelemente als Trennwände weiterleben. Das große Gerüst verträgt solche Implantate gut. Wenngleich das CO2-Dilemma ungelöst bleibt: Hinter der großzügig verglasten Fassade des YOCA leuchtet eine Vorstellung von Moderne hervor, der man einen Neubau gerne gönnt.

Spectrum, So., 2025.03.02

03. Februar 2025Christian Kühn
Spectrum

Denkmalschutz Wien: Das Arche-Noah-Syndrom

Ein Bauwerk unter Denkmalschutz zu stellen braucht nicht mehr als einen einfachen Verwaltungsakt. Die Denkmalpflege kann dann Millionen kosten. Reflexionen über den Wert des Hässlichen.

Ein Bauwerk unter Denkmalschutz zu stellen braucht nicht mehr als einen einfachen Verwaltungsakt. Die Denkmalpflege kann dann Millionen kosten. Reflexionen über den Wert des Hässlichen.

Als Ende 2024 bekannt wurde, dass das Bundesamtsgebäude in der Radetzkystraße, ein Werk des Architekten Peter Czernin aus dem Jahr 1986, unter Denkmalschutz gestellt wurde, war die Überraschung unter Fachleuten groß. Dass es sich bei diesem Gebäude um eine Kuriosität ersten Ranges handelt, wird niemand bestreiten, der je in sein Inneres vorgedrungen ist. In der zentralen Verteilerhalle werden die Besucher von einer Skulptur von Anton Hanak begrüßt, einem schweren Bronzeguss, der auf einer Halbschale aus zarten Stahlrohren aufruht. Die Figur ist ein unfreiwilliger Torso, dem durch einen Kriegsschaden Kopf und Genitalien fehlen. Zum Trost leuchtet auf der Decke über der Figur ein elektrischer Sternenhimmel. Was die Planer auf die Idee brachte, genau diese Figur ins Zentrum ihres Werks zu setzen, bleibt ein Rätsel.

Dass die Hanak-Abgüsse überhaupt zum Einsatz kamen, ist eher ein Krimi: Anfangs war die Galerie Würthle beauftragt, das mit einem Prozent der Bausumme angesetzte „Kunst am Bau“-Programm mit zeitgenössischen Künstlern zu kuratieren. Am Ende blieb es bei acht weiteren, im Freien an der Radetzkystraße aufgestellten Hanak-Abgüssen und einer „Flammende Fahnen“ genannten Edelstahlskulptur von Gero Schwanberg, der bei vielen Projekten von Hans Hollein als Bildhauer mitgewirkt hatte. Die Skulptur schwebte ein paar Jahre bedrohlich über der Dachkante des Amtsgebäudes, bis sich in einem strengen Winter gefährliche Eiszapfen bildeten. Heute parkt sie zu ebener Erde auf einem Grünstreifen davor.

Assoziationen mit Wiener Militärbauten

Kurios ist auch die Fassadengestaltung. Die Ecktürme, in denen sich Fluchttreppen und Schächte befinden, sind mit blattförmigen Edelstahlkapitellen abgeschlossen und mit Sichtziegeln verkleidet, die Assoziationen mit Wiener Militärbauten wie der Rossauer Kaserne oder dem Arsenal herstellen sollen. Dazwischen wiederholt sich hundertfach ein Fassadenelement mit einem bunten Aufdruck, der aussieht, als wäre er in einem Volkshochschulkurs zum Thema „Malen mit Klimt“ entstanden. Man merkt, wie sehr die Architekten eine Prise Hundertwasser in ihr Projekt holen wollen, aber nicht aus ihrer Rasterlogik und funktionalistischen Endlosschleife herausfinden. Noch drastischer ist dieses Unvermögen im Inneren zu spüren, in dessen Korridoren man spätestens nach der dritten Wendung um 45 Grad jede Orientierung verloren hat, während sich an Wänden, Decken und Böden Stein- und Holzintarsien ausbreiten wie eine Hautkrankheit.

Wie, fragt man sich, kann so ein Machwerk zum Baudenkmal werden? Hat hier jemand Kuriosität mit Kunst verwechselt? Eines ist klar: Ein Baudenkmal muss nicht schön sein. Zum geschützten Bestand gehören nicht nur Barockschlösser, sondern auch brutalistische Bauten aus den 1960er-Jahren, die schon zur Bauzeit das ästhetische Empfinden ihrer Zeitgenossen herausforderten und das bis heute tun.

Denkmalschutz ist eine Wissenschaft, die mit eigener Terminologie und Methodik operiert, um den Denkmalwert eines Objekts zu bestimmen. Der große Theoretiker des Denkmalschutzes, Alois Riegl, unterschied zwischen Erinnerungs- und Gegenwartswerten. Zu Ersteren zählen der Alters- und der historische Wert, also die am Objekt erlebbaren Spuren der Geschichte einerseits und andererseits die Qualität, für eine historische Epoche Zeugnis abzulegen. Zu den Gegenwartswerten zählte Riegl den Gebrauchs- und den Kunstwert, also den ästhetischen Wert eines Objekts jenseits von Alter und Geschich­te. Riegl spricht hier von einem „relativen“ Kunstwert, der sich über die Zeit mit der kulturellen Entwicklung verändern kann.

Das Resultat: ein Freilichtmuseum

Einen Kunstwert würde ich dem Bundesamtsgebäude rigoros absprechen, und zwar mit einer einfachen Frage. Gibt es irgendetwas an dem Gebäude, das nachahmenswert ist und für das sich kein deutlich besseres Vorbild finden lässt? Wenn schon intensive Bezugnahme auf den Kontext, dann bitte die virtuose postmoderne Variante wie bei Hans Holleins Haas Haus und nicht die halb gare wie hier. Ob dem Gebäude ein historischer Wert zukommt, ist schwieriger zu beantworten. Es ist sicher repräsentativ für eine Epoche der Wiener Architektur, in der eine kleine Gruppe von Groß­architekten öffentliche Aufträge ergattern konnte, bei denen sie im großen Maßstab an der Verbindung von Postmoderne und Spätfunktionalimus gescheitert ist. Aber bedeutet ihr Verlust tatsächlich – wie im Denkmalschutzgesetz gefordert – eine „Beeinträchtigung des österreichischen Kulturgutbestands in seiner Gesamtheit“? Wohl kaum.

Dass solche Objekte trotzdem unter Denkmalschutz kommen, hat mit einer Tendenz zu tun, die ich das „Arche-Noah-Syndrom“ nennen möchte. Es steht für den Ansatz, unabhängig vom Kunstwert eine ausgewogene, alle Epochen möglichst gleichmäßige abdeckende Samm­lung von Objekten aufzubauen. Das Resultat ist ein Freilichtmuseum, in dem auch Objekte, die von einer Umgestaltung massiv profitieren könnten, unverändert bleiben müssen.

Kunst- und Gegenwartswert gleich null

Besondere Vorsicht ist bei großen Bauwerken geboten. Wer Dinosaurier in die Arche Noah lässt, muss mit Schlagseite rechnen, vor allem wenn sie aus der Nutzung gefallen sind. Während das Bundesamtsgebäude als Bürohaus noch voll funktionsfähig ist, stellt sich die Lage bei einem anderen Objekt, für das derzeit ein Unterschutzstellungsverfahren läuft, anders dar: das Forschungs- und Verwaltungszentrum der AUVA im 20. Bezirk von Kurt Hlaweniczka aus dem Jahr 1977. Das Gebäude, das seit seiner Errichtung mit technischen Problemen zu kämpfen hatte, steht seit fünf Jahren leer.

Die Kosten für eine Sanierung wären exorbitant hoch, was noch nicht per se gegen eine Unterschutzstellung spricht. Auf den ersten Bick ist das Gebäude ein guter Kandidat für ein Baudenkmal, bringt es doch ein wichtiges Kriterium mit: Monumentalität. Kratzt man an der Oberfläche, dreht sich jedoch das Bild. Die Hängekonstruktion? Eine leere Geste, aus der räumlich nichts gemacht wird. Ein seltenes Beispiel für Strukturalismus und Metabolismus? Eine oberflächliche Ähnlichkeit. In Wirklichkeit ist hier alles symmetrisch und starr. Wird dieses Gebäude unter Denkmalschutz gestellt, ist mit einer Ruine im Freilichtmuseum zu rechnen, da nicht nur sein Kunst-, sondern auch sein Gebrauchswert gleich null ist. Die Einsicht, dass der österreichische Kulturgutbestand in seiner Gesamtheit den Verlust des AUVA-Gebäudes verschmerzen kann, muss nicht unbedingt den Totalabriss bedeuten. Innovation im Bestand braucht keinen Denkmalschutz.

Spectrum, Mo., 2025.02.03

11. Dezember 2024Christian Kühn
Spectrum

Muss in Wien alles bleiben, wie es ist?

Bauen in historischer Umgebung bedeutet nicht immer Harmonie, sondern manchmal Zerstören
mit Verstand. Über eine verpasste Gelegenheit auf dem Wiener Minoritenplatz.

Bauen in historischer Umgebung bedeutet nicht immer Harmonie, sondern manchmal Zerstören
mit Verstand. Über eine verpasste Gelegenheit auf dem Wiener Minoritenplatz.

Endlich ist es so weit. Die letzten Baugeräte haben sich zurückgezogen und die Bühne frei gemacht für das städtische Leben am runderneuerten Michaelerplatz. Reisende, die Wien öfter besuchen, werden kaum Veränderungen feststellen. Die Hofburg mit dem Durchgang zum Heldenplatz, die Michaelerkirche und das Loos-Haus bilden die Platzwände; eine große, in der Bodenpflasterung und durch Steinpoller markierte Kreisfläche deutet an, wo das geometrische Zentrum des Platzes liegen könnte. Quer über diese zentrale Fläche zieht sich nach wie vor der Hollein-Graben, dessen Sinn angesichts der mageren archäologischen Funde, die hier zu sehen sind, immer schon ein Rätsel war. Durch die neue Verkehrsführung ohne Kreisverkehr spült es den vom Kohlmarkt kommenden Touristenstrom jetzt ohne Unterbrechung an den Rand dieses Grabens.

Neu sind drei Bäume vor der Michaelerkirche, eine Baumreihe in der Schauflergasse, zahlreiche metallisch glänzende Poller und ein organisch gekurvtes und in Granit gefasstes Pflanzbecken mit drei Bäumen, das etwas verloren auf dem größeren der beiden Kreissegmente sitzt, die Holleins Einschnitt hinterlassen hat. Woher die Inspiration für diese Kurvatur kommt, ist mindestens so rätselhaft wie bei Holleins Graben. Dass sie hier völlig deplatziert ist, wird kaum jemand bestreiten.
Gemeinsames Vokabular der Stadtmöblierung

War die öffentliche Aufregung um das Projekt in den vergangenen Monaten also nur viel Lärm um nichts? Nein. Sie hat sich zumindest insofern gelohnt, als einige Teile des ursprünglichen Projekts gestrichen wurden, am prominentesten die geplanten Wasserspiele vor dem Loos-Haus und Blumentröge vor der Hofburg, die sich in niedrige Beete verwandelt haben. Wirklich glücklich ist mit dem Ergebnis niemand, weder das Stadtmarketing, das sich ein touristenfreundlicheres Ambiente gewünscht hätte, noch die konsequenten Bewahrer des Status quo, die am liebsten den Hollein-Graben zuschütten wollten, noch die kleinere Fraktion jener, die sich eine deutlichere Geste als ­Antwort auf die Klimakrise hätten vorstellen können, mit Bäumen als Material einer im Dialog mit den ­bestehenden Monumenten wachsenden Skulptur.

Die zuletzt genannten Positionen waren beide naiv, da sie von der Voraussetzung ausgingen, dass die Stadtverwaltung in ihrem Bemühen, Wien „klimafit“ zu machen, daran interessiert sein müsste, auf die Geschichte und das Potenzial jedes betroffenen Orts einzugehen. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Die zahlreichen in den jüngsten Jahren „klimafit“ gemachten Straßen und Plätze folgen einem einheitlichen Muster, das über die ganze Stadt ausgerollt wird. Gegen ein gemeinsames Vokabular der Stadtmöblierung ist nichts einzuwenden, es muss aber auch eine passende Grammatik geben, um unterschiedlichen Situationen gerecht zu werden. Was in der Thaliastraße gut funktioniert, kann in der Argentinierstraße unpassend sein. Das betrifft unter anderem die vielen fest im Asphalt verschraubten Sitzgelegenheiten, deren Positionierung nicht immer erklärbar ist, und massive Rankgerüste von zweifelhafter Gestalt. Eine Evaluierung des „klimafitten“ Baukastens wäre hoch an der Zeit.

Öffentlicher Aufenthaltsraum

Niemand wird der Stadt das ernsthafte Bemühen absprechen, den öffentlichen Raum nicht mehr in erster Linie als Verkehrsträger, sondern auch als Aufenthaltsraum zu gestalten, der an den Hitzetagen der Zukunft benutzbar bleibt. Auch am strategischen Rahmen fehlt es nicht: Die neueste, 2022 im Gemeinderat beschlossene Version der Wiener Smart City Strategie versteht sich als zentrales Element der Wiener Klimapolitik und wurde entsprechend überarbeitet. Während die Stadt in vielen Bereichen offensiv an Probleme herangeht, agiert sie im Bereich der Gestaltung erstaunlich defensiv und folgt der Maxime, dass schon viel erreicht sei, wenn das Schlimmste verhindert wurde.

Ein aktuelles Beispiel dafür findet sich am Mi­noritenplatz, zwei Gehminuten vom Michaelerplatz entfernt. Hier nutzt das Innenministerium einen großen, achtgeschoßigen Verwaltungsbau aus dem Jahr 1986. Bis 1903 befand sich an diesem Ort das alte Ballhaus, dessen Abbruch eine Lücke hinterließ, zu deren Füllung es mehr als 80 Jahre brauchte.

Nach einem Versuch 1954 schrieb man 1974 einen internationalen Wettbewerb für ein repräsentatives Amtsgebäude aus, den die Architekten Marschalek/Ladstätter/Gantar mit einem Projekt gewannen, das den Putzfassaden der umliegenden Palais, zu denen auch das Bundeskanzleramt gehört, eine Stahl-und-Glas-Fassade gegenüberstellte. Die rund 160 Meter lange Glasfassade wurde in der Öffentlichkeit heftig bekämpft und bot einen Anlass, die Wiener Bauordnung im Paragrafen 85 dahin gehend zu modifizieren, dass Neubauten in Schutzzonen „an umgebende Häuserzeilen anzugleichen seien“. Damit war das Projekt tot, aber die Debatte um das neue Bauen im Bestand noch lange nicht beendet.

Der nächste Wettbewerb 1979 erbrachte ein Ergebnis, mit dem nicht einmal der verantwortliche Planer, Roland Moebius, zufrieden war: „Unser Projekt hat keinen eigenen Stil, aber es passt. Objektiv gesehen ist es sicher nicht optimal, aber das beste, wozu wir imstande waren.“ Die Kritik der Fachwelt war vernichtend. „Das Projekt“, äußerte sich Clemens Holzmeister, „zeigt auf, dass im Bewusstsein der öffentlichen Bauadministration ein absoluter Tiefstand erreicht ist.“

Zu Tode geschützte Stadt?

Auch die Politik verstand bald, dass der neue Paragraf 85 der Bauordnung herausragende Projekte wie das Juridicum von Ernst Hiesmayr verhindert hätte. Eine zu Tode geschützte Stadt kann sich nicht entwickeln. Ein weiteres umstrittenes Projekt, das Haas-Haus von Hans Hollein, war schließlich Anlass für eine Reform der Bauordnung, in der ab 1987 nicht mehr die „Angleichung“ an den Bestand gefordert ist, sondern dessen „Berücksich­tigung“.

Das Amtshaus auf dem Minoritenplatz entstand trotzdem nach den historisierenden Plänen von Machart, Moebius und Partner. Heute steht es vor einer Generalsanierung, bei der die Fassade vollständig und das Innenleben weitgehend erneuert wird – eine einzigartige Gelegenheit, dem Gebäude eine neue Hülle auf der Höhe der Zeit zu geben. Die Klimakrise verändert den Fassadenbau, von den verwendeten Werkstoffen über den Sonnenschutz bis zu den Anforderungen der Kreislaufwirtschaft und neuen hoch präzisen Vorfertigungstechniken.

„Fassade soll so aussehen wie bisher“

Die Chance, hier ein Leuchtturmprojekt zu realisieren, blieb leider ungenutzt: Obwohl vom Fachbeirat der Stadt Wien für Stadtplanung und Stadtgestaltung, dem das Projekt 2023 vorgelegt wurde, gefordert, kam kein Architekturwettbewerb zustande.

Für die Fassade fand die MA 19, die zuständige Magistratsabteilung für Architektur und Stadtplanung, deren konservativer Umgang mit dem Paragrafen 85 zunehmend zum Problem wird, eine pragmatische Lösung: Sie soll nach der Sanierung so aussehen wie bisher. Immerhin sei sie inzwischen selbst historisch. Man darf gespannt sein, wie das „wie bisher“ am Ende aussieht.

Spectrum, Mi., 2024.12.11

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Publikationen

Presseschau 12

05. September 2025Christian Kühn
Spectrum

Die neue Sport Arena in Wien-Leopoldstadt: Hier beweist die Stadt Mut

Die neue Sport Arena Wien bietet Platz für Leichtathletik, Ballsport, Kunstturnen, Kraft- und Cardio-Training. Als Neubau und ohne begrünte Fassade widerspricht sie aktuellen Trends in der Architektur – belegt aber den Mut der Stadt, die Interessen der Nutzer zu berücksichtigen.

Die neue Sport Arena Wien bietet Platz für Leichtathletik, Ballsport, Kunstturnen, Kraft- und Cardio-Training. Als Neubau und ohne begrünte Fassade widerspricht sie aktuellen Trends in der Architektur – belegt aber den Mut der Stadt, die Interessen der Nutzer zu berücksichtigen.

Irgendwann war hier das Ende der Welt, eine Aulandschaft mit mäandernden Wasserläufen, in die sich die Donau aufspaltete. Erst durch die große Donauregulierung der 1870er-Jahre entstand daraus ein Fluss mit parallelen, wie mit dem Lineal gezogenen Ufern. Hunderte Hektar Bauland für die Donaumetropole Wien – Otto Wagners unbegrenzte Großstadt – wurden so geschaffen. Nach dem Ersten Weltkrieg verwandelte sich die Metropole in den „Wasserkopf“ eines scheinbar viel zu kleinen Landes mit einem Überangebot an Raum. Die Stadtregierung konnte großzügig mit den Flächen umgehen: Als 1929 nach einem Standort für ein Sportzentrum mit dem größten Stadion und dem größten Freibad des Landes gesucht wurde, fiel die Wahl auf ein Areal im Prater östlich der bestehenden Trabrennbahn. Hier fand 1931 ­die 2. Internationale Arbeiter-Olympiade mit 80.000 Teilnehmern aus 23 Ländern statt.

Die Anbindung an den Fluss war damals kein Thema. Das rechte Ufer der Donau blieb – wie der Name Handelskai andeutet – städtische Infrastruktur, die sich bis in die 1970er-Jahre nur langsam entwickelte. Erst mit dem Radstadion, das 1978 am Handelskai errichtet wurde, wagte das Sportzentrum den Sprung ans Wasser. Dieses Stadion war ein Rundbau aus Fertigteilen mit einem Durchmesser von 110 Metern, der Platz für bis zu 5500 Besucher bot. Besondere Attraktion war die Radrennbahn mit Steilkurve, aber auch Leichtathletik-Wettkämpfe fanden hier statt. Die Akzeptanz der Halle war in der engeren Radfahrszene durchaus vorhanden, ansonsten aber über die Jahre schwindend, nicht zuletzt wegen unattraktiver räumlicher Bedingungen, die sich auch nach einer ersten Sanierung 1999 nicht wesentlich verbesserten. 20 Jahre später stellte sich die Frage: Soll man neuerlich in den Bestand investieren oder einen Neubau wagen?

Städtebauliche Chance

Inzwischen hatten sich die äußeren Rahmenbedingungen deutlich verändert. Die neue U-Bahnlinie U2 erhielt die Station „Stadion“. Eine Shoppingmall mit 27.000 Quadratmeter Verkaufsflächen und einer Parkgarage für 880 Plätzen eröffnete 2007. Und schließlich wurde das unmittelbar im Osten angrenzende Grundstück zum Standort für einen Fernbus-Terminal erkoren, der unangenehm nahe an das Radstadion heranrücken musste. Die 2020 erfolgte Entscheidung, das Radstadion nicht zu sanie­ren, sondern als multifunktionale Sportarena mit neuem Programm neu zu errichten, war ei­ne städtebauliche Chance: Wo bisher ein Rund­bau mit 110 Meter Durchmesser wie eine unnahbare Festung gewirkt hatte, konnte man plötzlich in stadträumlichen Dimensionen denken.

Den Architekturwettbewerb für die Arena konnte das Büro von Christoph Karl und Andreas Bremhorst (KuB) 2021 für sich entschei­den. Ihr Projekt ist auf den ersten Blick unspektakulär, eine ruhige, horizontal gelagerte Box, die in alle vier Richtungen unterschiedlich reagiert: Nach Nordwesten öffnet sie sich mit einer fast monumentalen Loggia zu einem bestehenden Park mit alten Bäumen, der – wie alle Außenanlagen des Projekts – von Carla Lo gestaltet wurde. Nach Nordosten, also zum Handelskai, liegt ein großzügiger Ladehof, über den die Ver- und Entsorgung der Sportarena läuft.

Im Südosten bildet die Schmalseite der Box das Gegenüber zum Fernbusbahnhof, der hier so knapp an die Arena heranrückt, dass deren Freiflächen de facto Teil des Bahnhofsvorplatzes werden. Hier wurde versucht, einen nahtlosen Übergang zwischen den Freiräumen der beiden Projekte zu schaffen, unter Einbeziehung eines Beirats, der für das Busbahnhofprojekt zur Qualitätssicherung eingerichtet ist. Die vierte, 120 Meter lange südwestliche Front der Sportarena öffnet sich zu einem großen Vorplatz, der nach einem Wettkampf Raum für bis zu 3000 Besucher bieten muss. Auch dieser Vorplatz ist zoniert, wobei die erste Zone ein vor Regen geschützteer Außenraum ist, der durch eine Auskragung des ersten Obergeschoßes über die volle Länge der Sportarena entsteht.

Der Clou des Projekts ist die raffinierte Stapelung mehrerer Sporthallen übereinander: eine Ballsporthalle mit ausfahrbaren Tribünen für 3000 Personen, die das erste Untergeschoß und das Erdgeschoß verbindet; auf demselben Niveau eine Kunstturnhalle mit Besuchergalerie. Darüber liegen ein Bereich für Kraft- und Cardio-Training und eine Abfolge von flexibel nutzbaren Räumen, die bei Wettkämpfen als VIP-Zone fungieren. Die oberste, größte Halle bietet schließlich Platz für die Leichtathletik. Garderoben und Nebenräume sind nach Bedarf im Haus verteilt, ebenso die zahlreichen Möglichkeiten für das Aufwärmen, auch auf den Dachterrassen.

Sanierung hätte Weiterwursteln bedeutet

Die Erschließung der Halle kommt mit nur zwei innen liegenden Treppenhäusern aus und erlaubt es, auch bei Wettkämpfen in der Ballsporthalle den Trainingsbetrieb in den anderen Bereichen aufrechtzuerhalten. Trotz der Tiefe des Baukörpers gibt es auf der Eingangsebene so gut wie überall einen Blick ins Grüne, der durch die Verglasung der Erdgeschoßfassade möglich wird. Je heller, so die Architekten, desto besser. Bei Bedarf – vor allem bei Wettkämpfen, bei denen es auf gleichmäßige Belichtung ankommt – können die Räume aber verdunkelt werden. Dass hier mit großen Spannweiten und enormen statischen Kräften ge­arbeitet wird, zeigt sich nicht nur in der spektakulären Konstruktion der Leichtathletikhalle. Das Tragsystem ist insgesamt bis ins Detail von einer Klarheit und Präzision, die ihresgleichen suchen. Mit Gesamtkosten von 133 Millionen Euro spielt die Sportarena in einer Liga mit, zu der etwa das Wien Museum gehört. Würden diese beiden städtischen Bauten im architektonischen Zehnkampf gegeneinander antreten, würde die Sportarena zumindest in den Kategorien Logik der Konstruktion, Effizienz der Erschließung und Schönheit der Innenräume um Längen gewinnen.

Dabei widerspricht die Arena in mehrerer Hinsicht aktuellen Trends in der Architektur. Sie ersetzt einen gar nicht so alten Bestand durch einen Neubau ähnlicher Funktion, sie hat keine begrünte Fassade, und sie ist nicht in Holz konstruiert. Die Stadt Wien hat Mut bewiesen, die Interessen der Nutzer ins Zentrum zu rücken und mit diesem Neubau ein Zeichen des Respekts vor den Athleten zu setzen. Eine Sanierung hätte Weiterwursteln bedeutet, eine begrünte Fassade ist in einem Park mit alten Bäumen deplatziert, und eine Hallenkonstruktion aus Holz bei diesen Spannweiten unwirtschaftlich. Vielleicht kann man auch das von dieser Arena lernen: sich vom Zeitgeist nicht ­indoktrinieren zu lassen.

Spectrum, Fr., 2025.09.05

14. August 2025Christian Kühn
Spectrum

Passt die neue Architektur zu den legendären Knödeln? Das neue Resselpark-Café auf dem Wiener Karlsplatz

Zehn Jahre hat es vom ersten Konzept 2014 bis zum Baubeginn 2024 gedauert, jetzt ist das Resselpark-Café am Karlsplatz wieder in Betrieb. Passt die neue Architektur zu den legendären Knödeln?

Zehn Jahre hat es vom ersten Konzept 2014 bis zum Baubeginn 2024 gedauert, jetzt ist das Resselpark-Café am Karlsplatz wieder in Betrieb. Passt die neue Architektur zu den legendären Knödeln?

Die Erwartungen waren groß, als vergangenen Sommer der Abbruch des Café-Restaurant Resselpark auf dem Wiener Karlsplatz begann. Der kleine Holzpavillon mit dem großen Gastgarten war eine Institution, die von Studierenden und Mitarbeitern der TU Wien frequentiert wurde und von mehreren touristischen Trampelpfaden profitierte, die die Karlskirche mit dem Naschmarkt und über eine Passage mit den wichtigsten U-Bahnlinien und der Oper verbinden. Der kleine Pavillon erhielt 1958 eine Betriebsanlagen-Widmung als Meierei, ein Lokaltyp, der als „Milchtrinkhalle“ im späten 19. Jahrhundert bis in die 1920er-Jahre seine beste Zeit hatte. In mehreren Wiener Parks entstanden solche Meiereien, deren prominenteste, heute noch erhaltene im Stadtpark liegt. Der Entwurf des 1903 eröffneten Hauses stammt von Friedrich Ohmann, auf den auch die Gestaltung des Wienflussportals ein Stück flussaufwärts zurückgeht.

Heute beherbergt das Haus zwei miteinander verbundene Restaurants, die Meierei im Stadtpark und das Steirereck; Letzteres darf man als bestes Restaurant Österreichs bezeichnen. Dessen Erneuerung und Erweiterung im Jahr 2014 erfolgte nach Plänen des Büros PPAG, die dem Niveau der Küche das Wasser reichen konnten. Mit markanten Schiebefenstern und großformatigen, polierten Aluminiumplatten, die den Park reflektieren, gehört das Steirereck nicht nur kulinarisch, sondern auch architektonisch zu den Highlights der österreichischen Gastronomie.

Von Meiere zu Meierei

Als nach Baubeginn bekannt wurde, dass auch das neue Resselpark-Café nach Plänen von PPAG entstehen würde, durfte man gespannt sein. Wie viel lässt sich von Meierei zu Meierei übertragen, von der Spitzengastronomie auf ein gutbürgerliches Lokal mit vielen Stammgästen und einer soliden Küche ohne Experimente? Dass es dringend zumindest eine Generalsanierung brauchte, war evident. Die letzte größere Investition war 2006 die Erweiterung um einen Wintergarten gewesen, ein durchaus sympathischer Raum, in dem man zwar wie im Grünen sitzen konnte, der aber zugleich entsprechende Betriebskosten mit sich brachte. Der alte Gastraum war dagegen eher dunkel, mit abgeschirmten Nischen, wobei auch dieses Angebot seine Nachfrage fand. Für einen Abbruch und einen völligen Neubau sprachen schließlich die mangelnde Barrierefreiheit und der Gesamtzustand der Holzkonstruktion.

Das Konzept, das PPAG entwickelten, geht auf das Jahr 2014 zurück und sollte einerseits baukünstlerisch signifikant, andererseits nach allen pragmatischen Aspekten genehmigungsfähig sein. Wegen seiner besonderen Lage musste das Projekt trotz seiner geringen Größe dem Wiener Fachbeirat für Stadtplanung und Stadtgestaltung vorgelegt werden, der es positiv bewertete, aber auf die Wichtigkeit der detailbewussten Umsetzung hinwies. Nach einem Genehmigungsmarathon unter intensiver Einbeziehung der Stadt, nach Pandemie, Lockdown und Baukostenexplosion lag das Projekt auf Eis, bis schließlich im Frühjahr 2024 der Beschluss zur Umsetzung fiel, der dann ab dem Sommer unter großem Zeitdruck erfolgte.

Was heute auf dem Karlsplatz zu sehen ist, lässt sich als Versuch interpretieren, einen neuen Typus von Gasthaus zu entwerfen. Das Grundelement, das von dem Entwurf seinen Ausgang nimmt, ist die gesellige Tischrunde, die sich an einem Ort gruppiert, der von einem Tisch, einer L-förmigen Bank und ein paar Stühlen gebildet wird. Diese Orte werden addiert, im Raum gedreht und bilden so die gezackte Grundstruktur der Außenwände. Die kleinen haubenartigen Pultdächer, die auf der Grundstruktur aufbauen, geben diesen Orten mehr Raumhöhe und hatten ursprünglich einen zusätzlichen funktionellen Hintergrund. Es sollte auch hier – wie im Steirereck – vertikale Schiebefenster geben, nicht in der Hightech-Variante wie dort, sondern in einer einfacheren, in der die Fenster im offenen Zustand in den dreieckigen Zwickelräumen geparkt worden wären. Aufgrund höherer Kosten und des Zeitdrucks blieb es am Ende bei normalen Schiebefenstern mit einem Mittelkämpfer. Für die Lüftung ist diese Lösung ausreichend, aber von der Idee, den Raum komplett zu öffnen und das Café gleichsam in ein „Vogelhaus“ zu verwandeln, wie die Architekten erklären, ist durch diese Veränderung nicht viel übrig.

Das Konzept der betonten Tischgruppe funktioniert auch im Außenraum, wo die Betonung durch kleine Vordächer entlang der äuße­ren Kontur übernommen wird, die sich schützend über die dort Sitzenden aufspannen. Der Schutz ist zwar eher symbolisch, sobald der Wind den Regen gegen die Fassade treibt, aber die Vordächer sind auch aus formalen Gründen wichtig. Sie zeigen, wie dünn die äußerste Schicht aus großformatigen Eternitplatten ist, und lassen in der Nacht Licht durch die Fugen. Hinter der dünnen Haut verbirgt sich ein geometrisch komplexes Innenleben, das aus einer tragenden Schicht in Holztafelbauweise, einer dicken Isolationsschicht und der grauen äußeren Schutzschicht aus Eternit besteht.

Neuerdings Platten- statt Kiesboden

Gesessen wird im Gastgarten auf den alten Stühlen, aber auf einem neuen Plattenboden statt des früheren Kieses, den die Architekten erhalten wollten. Man kann die Entscheidung der Bauherrschaft gegen den Kies verstehen: Wer sich seit Jahren über die Steinchen ärgert, die ins Haus getragen werden, wird die Gelegenheit, sie loszuwerden, nicht auslassen. Aber an heißen Tagen sitzt es sich kühler über einem Kiesboden, und man hätte sich von der neuen Konkurrenz im Wien Museum, dessen Restaurantterrasse eine kleine Hitzeinsel für sich darstellt, durch eine Naturnähe, die der Situation im Park besser entspricht, absetzen können. Fairerweise muss man erwähnen, dass bestehende Asphaltflächen um das Café herum entsiegelt werden und selbst ein Plattenbelag nicht zwangsläufig eine Versiegelung bedeutet, wenn das Wasser durch Fugen versickern kann.

Eine große Qualität des Projekts, die erst nach Fertigstellung aller Außenanlagen des Projekts erfahrbar sein wird, ist die Tatsache, dass es in Zukunft kein Hinten und kein Vorne mehr geben wird, sondern eine Allansichtigkeit, wie es sich für einen Pavillon gehört. Der bestehende Tilgner-Brunnen, 1902 zum Gedenken an den 1896 verstorbenen Ringstraßen-Bildhauer Viktor Oskar Tilgner errichtet, wird aufgewertet und um „konsumationsfreie“ Bereiche, unter anderem an die Fassade angedockte Bänke, ergänzt. Dass das Vertrauen der Bauherrschaft, der Familie Trattner, in PPAG und vielleicht in die Architektur als baukünstlerische Praxis überhaupt enden wollend war, zeigt sich an einigen Punkten, bei denen sie die Architekten nicht einbezog und ihrem Rat nicht folgte. Gravierend fällt das etwa bei der Auswahl der Sessel im Innenraum auf. Der große, übersichtliche Raum mit Wänden aus hochwertiger Weißtanne bräuchte – wenn man wirklich einen neuen Typus von Gasthaus schaffen wollte – kräftige Holzstühle und keine mit hellgrauem Stoff bespannten Allerweltsstühle. Wenn sich das neue Resselpark-Café gut entwickelt: Hier wäre für eine Verbesserung Luft nach oben.

Spectrum, Do., 2025.08.14

09. Juli 2025Christian Kühn
Spectrum

Ljubljana: 25 Jahre Entstehungszeit bis zum Schwimmsport in der Halle

Ein Vierteljahrhundert vom Wettbewerb bis zur Eröffnung: das Ilijira-Sportzentrum in Ljubljana. Hat sich das Warten gelohnt?

Ein Vierteljahrhundert vom Wettbewerb bis zur Eröffnung: das Ilijira-Sportzentrum in Ljubljana. Hat sich das Warten gelohnt?

Theoretisch sollte kein Bauprojekt län­ger dauern als fünf Jahre: ein Jahr, um die Aufgabe zu verstehen, zwei Jahre für die Planung und zwei für die Ausführung. Wohnhäuser gehen schnel­ler, Flughäfen und alpendurchquerende Tunnels brauchen ein wenig länger. Wirklich rasch gebaut wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die meisten der knapp 50 Theater und Opernhäuser, die von den Architekten Fellner und Helmer in dieser Zeit geplant wurden, entstanden in der Rekordzeit von zwei Jahren.

So lange, inklusive Wettbewerb, brauchte auch Otto Wagner für seine Länderbank, den Vorläuferbau der Postsparkasse, die 1882 bis 1883 errichtet wurde, inklusive so innovativer Elemente wie eines Glasbodens, durch den Licht ins Tiefgeschoß fällt. Dass wir jemals wieder so rasante Planungs- und Bauzeiten erleben werden, ist eher unwahrscheinlich. Im Gegenteil: Die Bürokratisierung und Verrechtlichung der Planungs- und Bauprozesse nehmen seit Jahren zu. Dass kürzlich in China ein erstes Teilstück einer Autobahn mit 157 km Länge autonom, also nur von KI-gesteuerten Maschinen, realisiert wurde, deutet allerdings eine neue Welt an, in der sich fatalerweise rasches Wachstum mit höchster Effizienz paart.

Heftige Kritik am Standort

Wenn Bauprojekte wirklich lange, nämlich über mehrere Jahrzehnte, dauern, ist in der Regel Politik im Spiel. Das gilt für den Stuttgarter Bahnhof, für dessen Planung 1998 ein Wettbewerb stattfand. Nach heftigen Protesten von Gegnern des Projekts konnte der Bau erst 2010 begonnen werden. Für heuer ist ein Testbetrieb auf einigen Gleisen geplant; 2026 könnte der Bahnhof in Betrieb gehen. Dramatisch entwickelt haben sich die Kosten, von unter drei Mrd. Euro zu Projektbeginn auf geschätzte elf bis zwölf Mrd.

Das Ilijira Sportzentrum in Ljubljana bewegt sich mit Baukosten von knapp 50 Mio. Euro in einer anderen finanziellen Dimension; zeitlich kann es aber durchaus mithalten. Erste Überlegungen, auf dem Areal eines bestehenden Freibads eine Schwimmhalle im olympischen Wettkampfformat von 50 mal 25 Metern zu errichten, reichen bis in die Mitte der 1990er-Jahre zurück, als sich Slowenien gerade als unabhängiger Staat etabliert hat. Im Jahr 2000 wurde ein international offener Wettbewerb für ein Schwimmsportzentrum ausgeschrieben, das optimale Bedingungen für den Spitzensport bieten, aber auch für das allgemeine Publikum offen sein sollte.

Bereits im Vorfeld des Wettbewerbs gab es heftige Kritik am Standort. Das bestehende Freibad sei zwar desolat, sollte aber als Freizeitanlage für alle saniert werden. Die Anforderungen der Spitzensportler könnten in einer Anlage am Stadtrand erfüllt werden. Der Kritik folgte ein Aufruf unter den slowenischen Architekten, den Wettbewerb zu boykottieren. Die niedrige, eingeschoßige Bestandsbebauung sei dem Ort am Rande des Tivoli-Parks, der fünf Quadratkilometer „grünen Lunge“ der Stadt, nur ein paar Gehminuten vom historischen Zentrum entfernt, genau angemessen. Sie dürfe nicht durch eine großmaßstäbliche Halle ersetzt werden.
Public-Private-Partnership-Modell

Als Sieger ging das österreichische Büro von Peter Lorenz, Lorenz Ateliers, hervor, das eine andere Lesart des Orts lieferte. Die Entscheidung der Politik, genau an diesem Standort nahe am Zentrum dem Spitzensport Raum zu geben, sei eine Geste für Wettbewerb und Exzellenz, die man ernst nehmen und in Architektur übersetzen sollte. Außerdem biete sich hier die Möglichkeit, ein großzügiges Entree zum Tivoli-Park zu schaffen und eine alte Achse zu reaktivieren, die Lattermann-Allee, die diagonal über den Bauplatz führt und ihn in zwei Teile gliedert. Lorenz reagiert auf diese Bedingungen mit einem Land-Art-Projekt, einer begrünten und teilweise begehbaren Struktur, die mit Einschnitten und Absenkungen ein Dach über dem Sportbecken schafft, zur Stadtseite hin ansteigt und dort auf eine Glasfront trifft, hinter der das Leben im Sportzentrum sichtbar ist.

Unterstützt wurde das Projekt von der Bürgermeisterin, die bereits Teil der Jury im Wettbewerb gewesen war. In der Weiterentwicklung wagte man sich sogar an die Idee eines enormen Schiebedachs als Reaktion auf Kritiker, die dem alten Freibad nachtrauerten. Nach einem politischen Wechsel im Jahr 2002 versuchte die neue, bis 2006 regierende Bürgermeisterin, das Projekt als Public-Private-Partnership-Modell, also mit einem privaten Investor, umzusetzen. Neben anderen Geschäften wäre im Sportkomplex auch ein Eurospar eingezogen.

Als die PPP-Rechnung nicht aufging und der Investor sich zurückzog, beschloss die Stadt 2007 unter dem bereits dritten Bürgermeister, das Projekt selbst zu realisieren. Nun gab es allerdings ein neues Thema: der Denkmalschutz für das 1929 von Stanko Bloudek entworfene Bestandsbad, der 2011 ausgesprochen wurde. Lorenz reagierte darauf mit einem Projekt, bei dem das geschützte Eingangsgebäude erhalten bleibt und mit Schwimm- und Turnhalle unter ein großes Dach gestellt wird. Es dauerte weitere sieben Jahre, bis sich das Projekt wieder bewegte. Ende 2018 erhielten Lorenz Ateliers den Planungsauftrag. 2022 war Baubeginn, im März 2025 wurde das Bad offiziell eröffnet.
Symbol olympischer Exzellenz

Hat sich es sich gelohnt, so lange an einem Entwurf festzuhalten, der so umstritten war und in der rührigen Architekturszene Ljubl­janas immer noch ist? Dass ein Entwurf mit Verspätung umgesetzt wurde, ist per se weder gut noch schlecht. Gute Architektur sollte 100 Jahre und mehr halten. Manches hätte bei einer rascheren Umsetzung wahrscheinlich mehr Schwung bewahrt. Im Vergleich zum ursprünglichen Land-Art-Projekt wirkt das neue Dach weniger dynamisch und trotz seiner Größe etwas geduckt. Bei langer Projektdauer kann es passieren, dass sich der Fokus der Architektur verschoben hat, etwa vom Neubau zur Erhaltung und Umnutzung.

Vielleicht hätte sich eine alte Industriehalle gefunden, in die ein 50-Meter-Becken passt. Aber die läge wahrscheinlich an der Peripherie, und dann gäbe es hier im Ilijira keine neue Rampe als Zugang in den Tivoli-Park, die entlang der ehemaligen Lattermann-Allee durch das Schwimmbad hindurchführt und unter der Bahnlinie durchtaucht. Sie ist ein Raumkunstwerk, eine helle Schlucht aus Stahl und Glas, die den Baukörper aufschneidet und einen Blick auf die Schwimmer im Inneren freigibt. Und es gäbe auch keine überdachte Plaza im Norden, mit dem alten Eingangsgebäude als Reminiszenz an frühere Zeiten. Das neue Ilijira mag umstritten bleiben – als Symbol olympischer Exzellenz, als Stadtbaustein und als Stadt in der Stadt mit vielfältiger Nutzung hat es Anerkennung verdient.

Spectrum, Mi., 2025.07.09

09. Juni 2025Christian Kühn
Spectrum

Baut Kindern Paläste! Die Geburtsklinik in Wien-Gersthof wird ein Gymnasium

Fast wäre die 100 Jahre alte Geburtsklinik in Wien-Gersthof in Luxuswohnungen umgebaut worden. Jetzt ist sie das jüngste Gymnasium der Stadt, das hoffentlich weitere 100 Jahre bestehen wird.

Fast wäre die 100 Jahre alte Geburtsklinik in Wien-Gersthof in Luxuswohnungen umgebaut worden. Jetzt ist sie das jüngste Gymnasium der Stadt, das hoffentlich weitere 100 Jahre bestehen wird.

Bauen im Bestand ist heute – zumindest in hoch entwickelten Industriestaaten – das zentrale Thema des Architekturdiskurses. Es wird weiterhin Neubau geben, aber eines ist klar: Den kleinsten ökologischen Fußabdruck hinterlässt, wer ein bestehendes Gebäude nutzt, statt ein neues zu bauen. Dass es dabei oft zu Konflikten zwischen dem vorhandenen Gebäude und der neuen Nutzung kommt, kann man als Problem sehen – oder als Chance, konventionelle Muster zu hinterfragen und aus der Spannung zwischen neuer Nutzung und vorhandenem Gerüst innovative Lösungen zu schaffen.

Dass dies sogar unter den strengen Bedingungen des Denkmalschutzes gelingen kann, beweist das Anfang des Jahres eröffnete Gymnasiumsgebäude in Gersthof mit der Adresse Wielemansgasse 28. Sein endgültiger Name ist noch nicht fixiert, da es derzeit als Ausweichquartier für andere, gerade in Sanierung befindliche Schulen dient. Das Bestandsgebäude hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Nach Plänen der Architekten Alfred Mautner und Johann Rothmüller 1924 bis 1926 als Entbindungsklinik für Handelsangestellte errichtet, war es zeitweise Militärspital und schließlich seit den 1970er-Jahren ein Spezialkrankenhaus für Orthopädie, das 2019 ins neue Krankenhaus Nord in Floridsdorf übersiedelte.

Klassen und offene Lernzonen wechseln sich ab

Erste Überlegungen für eine Nachnutzung gingen in Richtung luxuriöser Wohnungen. Statt einer solchen Privatisierung öffentlichen Eigentums entschied sich die Stadt Wien für einen Verkauf an die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) mit der Auflage, einen Bildungsbau zu errichten. In einem europaweit offenen Verhandlungsverfahren setzte sich das Büro Franz & Sue mit dem Konzept durch, den Innengangtyp zwar beizubehalten, aber durch verglaste Nischen und Durchbrüche hell und freundlich zu gestalten.

Die Klassenräume fallen mit einer Tiefe von fünf Metern schmäler und deutlich länger aus als üblich. Diese Abweichung von der Norm ermöglicht es aber, den Klassenraum zu zonieren und im hinteren Bereich durch Stehpulte ein besonderes Lernarrangement anzubieten. Klassen und offene Lernzonen wechseln sich ab und bieten vielfältige Nutzungsoptionen. Die zahlreichen Balkone und Terrassen, auf denen sich früher die Wöchnerinnen erholten, wurden an die aktuellen Sicherheitsnormen angepasst und stehen zumindest theoretisch den Schülerinnen und Schülern zur Verfügung. Wie so oft erschweren Bedenken bezüglich der Aufsichtspflicht die tatsächliche Nutzung.

Rosarotes Märchenschloss

Das äußere Erscheinungsbild des Hauses erinnert nicht an ein Krankenhaus, sondern an ein rosarotes Märchenschloss in einem Park mit 100-jährigen Bäumen, die auf den Fotos aus der Entstehungszeit noch als Stecklinge zu sehen sind. Formal verbindet das Gebäude mit seinen dezenten Ornamenten, dem Skulpturenschmuck und den von stämmigen Säulen getragenen Pergolen späten Jugendstil, Art déco und Expressionismus. Charakteristisch für die Zeit ist die strenge Symmetrie, die in diesem Fall noch durch die Ausbildung eines den Eingang rahmenden Ehrenhofs betont wird. Formale Verwandtschaften gibt es zu mehreren Wiener Bauten der Zeit, vom Amalienbad über den Reumannhof bis zum Krematorium in Simmering, womit der Bogen von der Geburt bis zum Tod in einer architektonischen Sprache gespannt wäre. Dass die beiden Architekten Mautner und Rothmüller als erstes gemeinsames Projekt 1920 die Filmarchitektur für den Monumentalfilm „Sodom und Gomorrha“ mitgestaltet haben, könnte die leichte Kulissenhaftigkeit ihrer Architektur erklären.

Das Büro Franz & Sue hat viel Erfahrung mit der Sanierung komplexer denkmalgeschützter Bestandsbauten, wie etwa das Justizzentrum in Salzburg und die Volksschule und Mittelschule in Leoben zeigen. Der Erfolg solch komplexer Sanierungsprojekte hängt von der guten Beziehung zwischen Architektur, Denkmalamt, der Bauherrschaft und nicht zuletzt den ausführenden Firmen ab. In diesem Fall funktionierte diese Beziehung auch deshalb so gut, weil das Projekt im Laufe der Planungs- und Bauzeit ab 2020 für die BIG zu einem Leitprojekt wurde, mit dem sie Maßstäbe setzen wollte: grundsätzlich für das Bauen im Bestand, für Lowtech-Lösungen in der Haustechnik und für eine gewisse Elastizität in der Funktion im Interesse der Umsetzung neuer Modelle für das Lernen und Lehren. Gute Architektur ist kein eng anliegender Handschuh, der genau auf eine Nutzung zugeschnitten ist, sondern ein lockerer Fäustling, der mehrere, auch noch nicht absehbare Nutzungen erlaubt.

Die Turnsäle befinden sich im Park

Dazu gehört auch das Hinterfragen von scheinbar Selbstverständlichem. So war etwa zu Planungsbeginn noch unklar, wo die beiden Turnsäle für die Schule platziert werden sollten. Alle Versuche, sie direkt mit dem Altbau zu verbinden, führten zu keiner befriedigenden Lösung. So landeten die Turnsäle schließlich frei stehend im Park, vom Hauptgebäude in drei Minuten Fußweg erreichbar. Die beiden Säle haben sehr unterschiedlichen ­Charakter. Ein Saal ist eine Normturnhalle mit rund 30 mal 15 Metern, der andere ein Bewegungsraum mit einer Spiegelfront, deren Elemente sich schützend um 180 Grad drehen lassen, wenn statt Ballett Völkerball auf dem Spielplan steht. Eine Längswand des Bewegungsraums ist als Kletterwand ausgebildet und erhält zusätzliches Licht von oben, während die andere über die volle Breite verglast ist und einen Blick in die Stadt bietet. Im Außenraum wirken die beiden Säle mit ihrer Hülle aus schwarz lasierten Holzlamellen wie abstrakte Skulpturen.

Die Turnsäle sind nicht die einzigen vom Haupthaus abgesetzten Gebäude der Anlage. Auch die ehemalige Direktionsvilla erhielt eine neue Nutzung als Laborgebäude für die Naturwissenschaften ohne direkte Verbindung zum Hauptgebäude. Wirklich störend ist das nur bei sehr schlechtem Wetter. Die kurze Unterbrechung des schülerischen Innenraumdaseins durch einen kurzen Spaziergang im Park ist dagegen unbezahlbar. Mehr Natur ins Haus holen wollte man im Hauptgebäude auch durch die Schaffung eines Gartengeschoßes, also durch Abgrabung des angrenzenden Geländes auf das Niveau des Kellergeschoßes, das damit zumindest teilweise zu einem vollwertigen Raum wird, unter anderem für die Nachmittagsbetreuung, die nun einen direkten, niveaugleichen Zugang zum Park hat.

Mit diesem Umbau hat die BIG Maßstäbe für intelligentes Bauen im Bestand gesetzt. Es bleibt zu hoffen, dass sich hier eine Schulgemeinschaft etabliert, die das Potenzial dieses einzigartigen Schulgebäudes zu nutzen weiß. Vielleicht kann sie sich von Julius Tandler, dem Stadtrat für das Wohlfahrtswesen im Roten Wien, inspirieren lassen. Von ihm stammt, im Jahr 1927 anlässlich der Eröffnung des zum Kinderheim umgebauten Schlosses auf dem Wilhelminenberg formuliert, das berühmte Zitat: „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder.“ Oder in unsere Zeit übersetzt: „Für exzellenten Bildungsbau verschuldet man sich nicht; man investiert in die Zukunft.“

Spectrum, Mo., 2025.06.09

07. April 2025Christian Kühn
Spectrum

Trumps Liebe zum Klassizismus: Ohne Säulen geht es in den USA nicht mehr

In den USA sollen Bundes­gebäude in Zukunft nur noch im klassizistischen Stil errichtet werden. Eine Vorgabe mit Nebeneffekten.

In den USA sollen Bundes­gebäude in Zukunft nur noch im klassizistischen Stil errichtet werden. Eine Vorgabe mit Nebeneffekten.

Diesmal waren Donald Trump und seine Truppe besser vorbereitet. Schon am ersten Tag seiner zweiten Amtszeit unterzeichnete der Präsident Dutzende Erlässe, unter anderem zum Austritt aus dem Pariser Klima­abkommen, zur Einwanderungspolitik und zur Begnadigung aller wegen ihrer Beteiligung am Sturm auf das Kapitol Beteiligten. Neben diesen Erlässen, die geradezu eine Zeitenwende signalisierten, fiel ein Erlass dadurch auf, dass er sich auf eine ästhetische Frage bezog: „Erlass zur Förderung schöner Architektur für Bundesbauten“.

Konkret wird darin die Verwaltung der Bundesimmobilien aufgefordert, innerhalb von 60 Tagen Vorschläge für eine Politik zu liefern, öffentliche Bauten des Bundes visuell als solche erkennbar zu machen und dabei das regionale, traditionelle und klassische Architekturerbe zu respektieren, um „öffentliche Räume aufzuwerten und zu verschönern und die USA und ihr System der Selbstverwaltung zu nobilitieren“. Zugleich sei zu überlegen, die bestehenden, erstmals 1962 definierten Leitlinien für den Bundeshochbau zu reformieren und Strategien für mehr Partizipation bei der Auswahl von Entwürfen zu entwickeln.

Respekt vor dem Bestand problematisch?

Das klingt fürs Erste nicht weiter dramatisch. Was soll an Respekt vor dem historischen Erbe, an der Verbesserung des öffentlichen Raums und mehr Partizipation problematisch sein? Hat die Architektur nicht gerade in jüngster Zeit Respekt vor dem Bestand gelernt, nicht zuletzt aus ökologischen Gründen? Um die Sprengkraft dieses Erlasses zu verstehen, muss man fünf Jahre in die Vergangenheit zurückgehen. Der aktuelle Erlass ist nämlich nicht der erste, den Donald Trump zu diesem Thema unterschrieben hat. Bereits im Dezember 2020 veröffentlichte das Weiße Haus einen Erlass, der sich wie die Langfassung des aktuellen liest und die Ziele offen ausspricht: Öffentliche Bauten des Bundes sollen sich an klassizistischen Vorbildern orientieren, nicht nur im Neubau, sondern auch bei Sanierungen, bei denen zumindest untersucht werden soll, ob sich eine klassizistische Anmutung herstellen lässt.

Initiator des Erlasses war die Civic Arts Society, eine private Organisation, deren Mission Statement die Förderung klassizistischer Tendenzen in der Architektur ist. Ihr Vorsitzender, Justin Shabow, war im Jänner 2021 von Donald Trump zum Vorsitzenden eines seit 1910 bestehenden Gestaltungsbeirats für das Zentrum Washingtons bestellt, allerdings schon nach vier Monaten von Joe Biden abgesetzt worden, der auch den Erlass Trumps kassierte. Zu den Aktivitäten der Civic Arts Society gehörte eine Online-Befragung von 2000 Personen, die anhand von Fotos von Gerichtsgebäuden deklarieren konnten, ob sie eher klassizistische oder moderne Gebäudeformen präferieren würden. Das Ergebnis war eindeutig: 70 Prozent stimmten für den Klassizismus, 30 Prozent für das, was die Autoren der Studie als Brutalismus oder Dekonstruktivismus bezeichneten. Die Verteilung war bei Republikanern nicht anders als bei demokratischen Teilnehmern an der Umfrage.

So fragwürdig die Methodik dieser Studie sein mag – überraschend war das Ergebnis nicht. Die drei zentralen Institutionen der amerikanischen Demokratie sind im klassizistischen Stil errichtet: das Weiße Haus als Exekutive, das Kapitol als Legislative und der Oberste Gerichtshof als Judikatur. Das Weiße Haus und das Kapitol datieren aus einer Zeit, als der Klassizismus tatsächlich die modernste Formensprache war, nämlich aus den 1790er-Jahren, und sie behielten diesen Stil auch bei ihren zahlreichen Umbauten und Erweiterungen bei. Der Oberste Gerichtshof ist ein Nachzügler, von Cass Gilbert 1932 entworfen und 1935 eröffnet, Ausdruck des amerikanischen Selbstverständnisses, der legitime Erbe der griechischen Demokratie, des römischen Rechts und der humanistischen Kultur der Renaissance zu sein. In diesem geistigen Umfeld galt der Klassizismus als die Sprache der Vernunft, die jeder versteht, eine Rolle, die er nach dem Zweiten Weltkrieg an den Funktionalismus abtreten musste.

Verzicht auf Überraschungen

Auf die einfachste Formel gebracht, lebt der Klassizismus von der Idee, dass alle Dinge einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben. Dieses Prinzip sorgt für Symmetrie und eine Stabilität, die freilich ihren Preis hat: die Beschränkung auf wenige Muster und den Verzicht auf jede Überraschung. Die Architektur des 20. Jahrhunderts hat Schatztruhen an formalen Inspirationen geöffnet, aus der Natur, aus der Technik, aus der bildenden Kunst, die dem Klassizismus unzugänglich bleiben müssen, und sie hat dafür bereitwillig den „Verlust der Mitte“ in Kauf genommen, den ihr der konservative Kunsthistoriker Hans Sedlmayr in seinem berühmten gleichnamigen Buch aus dem Jahr 1948 vorwarf.

Damals war die Frage, ob eher der Verlust oder die kritiklose Verehrung der Mitte zur ­Katastrophe des Zweiten Weltkriegs beigetragen hätte, noch virulent und die Erinnerung an den Wettbewerb für den Völkerbundpalast in Genf noch in Erinnerung, bei dem Le Corbusiers dynamischer Entwurf sich nicht gegen den klassizistischen einer Gruppe um Henri-Paul Nénot durchsetzen konnte. Als der Völkerbund 1933 in den düsteren Palast einzog, hatten die totalitären Kräfte schon halb Europa ver­einnahmt.

Globales Freiheitsversprechen

Was bedeutet es, wenn der Erlass Donald Trumps tatsächlich umgesetzt wird? Es geht nicht nur um ein paar Gerichtsgebäude, die in den nächsten Jahren in den USA errichtet werden, sondern um ein populistisches Manöver, mit dem einer diversen und inklusiven Gesellschaft die Luft abgeschnürt werden soll. In den USA ist der Klassizismus die Sprache der weißen Eliten und der symbolische Garant für „White Supremacy“. Was 1790 ein globales Freiheitsversprechen und Ausdruck eines Systems von „Checks and Balances“ war, ist in Donald Trumps Welt nur noch Ausdruck des Rechts des Stärkeren.

Auf der Homepage der Civic Art Society wird der Winston Churchill zugeschriebene Gedanke zitiert, dass wir zuerst unsere Bauten formen und dann von ihnen geformt werden. Den Klassizismus zur Staatsarchitektur zu erklären passt gut zu totalitären Systemen, für die Stabilität das erste Staatsziel ist. Diese Architektur verspricht Machterhalt über viele Jahrzehnte.

Die Entwicklung in den USA sollte uns im Übrigen eine gewisse Dankbarkeit gegenüber den Institutionen nahelegen, die in Österreich die Kultur des öffentlichen Bauens verantworten. Die Bundesimmobiliengesellschaft BIG, die für jedes ­größere Projekt einen Architekturwettbewerb ­veranstaltet, ist ein Erfolgsmodell, das in Österreich seit Jahrzehnten geholfen hat, eine innovative und diverse Architekturszene aufzu­bauen. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Angesichts der drohenden Budgetkrise wird es Überzeugungsarbeit brauchen, damit nicht kurzfristig am falschen Platz gespart wird. Was wir heute bauen, sollte in 100 Jahren und darüber hinaus zum wertgeschätzten architektonischen Erbe gehören.

Spectrum, Mo., 2025.04.07

02. März 2025Christian Kühn
Spectrum

Neu bauen? Lieber noch einmal darüber schlafen

Können wir uns eine Welt vor­stellen, in der nur noch renoviert, aber nichts Neues mehr gebaut wird? Eine Europäische Bürgerinitiative fordert genau das.

Können wir uns eine Welt vor­stellen, in der nur noch renoviert, aber nichts Neues mehr gebaut wird? Eine Europäische Bürgerinitiative fordert genau das.

Der Begriff Ökologie leitet sich von Oikos ab, dem griechischen Wort für Haus. In seiner ursprünglichen, von Ernst Haeckel eingeführten Bedeutung stand er für eine bestimmte Art, die Natur zu sehen, als wohlgeordnete Hauswirtschaft mit klaren Regeln für die Nutzung von Ressourcen, die Entsorgung von Abfällen und die Aufrechterhaltung von Energiekreisläufen. Ökologie gab dem viel älteren Begriff des Kosmos ein neues, wissenschaftliches Fundament.

Heute stehen wir vor der Ruine dieses Hauses und wundern uns, wie es so weit kommen konnte. Es gibt noch ein paar luxuriöse Ecken, aber die meisten Räume sind kaum mehr zu brauchen. Der Müll wird unter den Teppich gekehrt; in manchen Trakten sind die Fenster im Krieg zerbrochen. Und tief im Keller lagert ein atomares Arsenal, mit dem man das Haus im Handumdrehen auslöschen könnte.

Enormer Leerstand

Die Haltung der Moderne, das Haus abzureißen und durch ein neues, besser geplantes zu ersetzen, ist keine Option mehr. Uns fehlen die Ressourcen für einen Neustart, nicht nur die materiellen, sondern auch die geistigen und sozialen. Ein Neustart würde klare Orientierung und globales, gegenseitiges Vertrauen voraussetzen, und zumindest die geteilte Illusion einer objektiven Realität. Stattdessen erleben wir die Erosion des Gemeinwohlgedankens und die schulterzuckend hingenommene Auflösung der Wirklichkeit in ein Gewirr alternativer Fakten.

Wenn wir dieses metaphorische Haus kurz verlassen und uns den konkreten Häusern zuwenden, wie sie in fortgeschrittenen Industriegesellschaften unsere Lebenswelt prägen, zeigen sich – wenig überraschend – Parallelen. Gebaut wird zu oft nicht für Menschen, sondern für den Profit. Und auch wenn die Produkte der Bauindustrie ästhetisch und technisch ambitioniert wirken, stammen sie aus einem Wirtschaftsbereich, der in der EU für 40 Prozent des gesamten Energieverbrauchs, 36 Prozent der CO2-Emissionen und 35 Prozent des Abfalls verantwortlich ist.

Angesichts der enormen Leerstandsraten bedeutet jeder Neubau, die Bodenversiegelung unnötig zu verstärken und die Biodiversität einzuschränken. Die im Rahmen des European Green Deal beschlossene Dekarbonisierung des Baubestands bis 2050 wird bei der aktuellen Erneuerungsrate von einem Prozent Illusion bleiben.

Berücksichtigung von grauer Energie

Viele Architektinnen und Architekten haben in den jüngsten Jahren erkannt, dass ihre Produkte derzeit eher Teil des Problems als Teil der Lösung sind. Die Strategien, das zu ändern, können auf vielen Ebenen ansetzen, von der Verwendung „gesunder“ Materialien bis zu emissionsfreien Heizungs- und Kühlsystemen. Zumindest in Europa konzentrieren sich die Vorschläge derzeit auf eine einfache Empfehlung: möglichst nichts mehr abzureißen und stattdessen die vorhandene Bausubstanz zu sanieren und, wenn nötig, umzunutzen. Warum wäre gerade dieser Zugang so effektiv? In erster Linie, weil er zusätzlich zur Heiz- und Betriebsenergie die sogenannte graue Energie berücksichtigt, die in jedem Bauwerk steckt. Beton, Stahl und Glas müssen hergestellt und antransportiert werden, wobei große Energiemengen und damit CO2-Emissionen anfallen. Wenn nicht neu gebaut, sondern nur saniert wird, muss keine zusätzliche graue Energie eingesetzt werden.

Neben diesen ökologischen Aspekten bietet ein Abrissmoratorium, also die Forderung, bis auf Weiteres auf Abriss zu verzichten, auch ökonomische und soziale Vorteile. Einerseits ist Sanieren personalintensiv und erleichtert in der Regel kleinen Unternehmen, zu Aufträgen zu kommen. Andererseits können die Bewohner während einer entsprechend konzipierten Sanierung in ihren Wohnungen bleiben, womit die sozialen Strukturen im Viertel erhalten bleiben.

Die Idee eines Abrissmoratoriums entstand um 2020 im universitären Umfeld, ursprünglich in der radikaleren, von Charlotte Malterre-Barthes an der ETH Zürich propagierten Version eines „Moratorium on New Construction“. Der Gedanke einer neuen Umbaukultur lag offenbar in der Luft und fand rasch Unterstützung, auch außerhalb der Universitäten. In Österreich publizierte die Bundeskammer der Ziviltechniker:innen Anfang 2024 ein „Positionspapier Klima, Boden und Gesellschaft“, das Österreich als „fertig bebaut“ bezeichnet und vor jedem Bauvorhaben eine verbindliche Prüfung einfordert, ob die Aufgabe nicht auch im Bestand zu lösen wäre. Im Herbst verabschiedete der Österreichische Baukulturbeirat eine „Empfehlung für Regularien zum Bauen im Bestand“, die fiskalische und rechtliche Erleichterungen vorschlägt.

Kultur der Sanierung

Auf EU-Ebene läuft gerade unter dem Titel „House Europe! Yes to Renovation“ eineEuropäische Bürgerinitiative von Arno Brandlhuber und Olaf Grawert, die bis Februar 2026 eine Million Stim­men sammeln möchte, um ihre Anliegen ins Europäische Parlament zu bringen. Bisher ist das nur bei Themen wie einem Glypho­satver­bot gelungen, bei denen es ein Ja oder ein Nein als Antwort gibt. „House Europe!“ vertritt ein komplexeres Anliegen, das zu einer neuen Kul­tur der Sanierung führt, die zur Innovation im Bestand spezielle Rahmenbedingungen erhält. Ein Erfolg der Initiative würde auch die Position des ersten EU-Kommissars für Energie und Wohnungswesen, Dan Jørgensen, innerhalb der Kommission stärken.

Wie schwierig es in der Praxis sein kann, ein radikales Neubauverbot durchzuhalten, zeigt ein aktuelles Projekt in Wien: der Jugendcampus der Arbeiterkammer in der Plößlgasse, der YOCA heißen wird. Er entsteht an der Stelle eines Schulbaus aus den 1950er-Jahren, eines für seine Zeit tadellosen Gebäudes, das jedoch strukturell gar nicht zum geforderten Raumprogramm des YOCA mit Restaurant, Ausstellungs-, Vortrags- und Bewegungsräumen, Makerspaces und einem Kindergarten passen wollte.

Beteiligungsprozesse

Im Wettbewerb, den das Stuttgarter Büro Haas Cook Zemmrich Studio 2050 für sich entschied, war es den Teilnehmern freigestellt, die Substanz zu erhalten. Die Preisträger entschieden sich für den Abbruch: Eine teilweise Erhaltung wäre zwar möglich gewesen, hätte aber nur den Eindruck eines aufwendig konservierten Zitats gemacht. Der Abbruch erlaubt die Errichtung eines großen, flexibel nutzbaren Regals in Holzkonstruktion, das sich über ein Atrium Licht in die Tiefe des Baukörpers holt. Eine zentral gelegene offene Treppe macht Lust, das Haus im Aufstieg zu entdecken. Die sehr diversen Zielgruppen, die ihre Ideen in einem Beteiligungsprozess einbringen durften, werden hier ihre Nischen finden.

Und auch das alte Haus wird nicht komplett verschwinden, sondern in Teilen eine neue Funktion bekommen, wenn etwa alte Deckenelemente als Trennwände weiterleben. Das große Gerüst verträgt solche Implantate gut. Wenngleich das CO2-Dilemma ungelöst bleibt: Hinter der großzügig verglasten Fassade des YOCA leuchtet eine Vorstellung von Moderne hervor, der man einen Neubau gerne gönnt.

Spectrum, So., 2025.03.02

03. Februar 2025Christian Kühn
Spectrum

Denkmalschutz Wien: Das Arche-Noah-Syndrom

Ein Bauwerk unter Denkmalschutz zu stellen braucht nicht mehr als einen einfachen Verwaltungsakt. Die Denkmalpflege kann dann Millionen kosten. Reflexionen über den Wert des Hässlichen.

Ein Bauwerk unter Denkmalschutz zu stellen braucht nicht mehr als einen einfachen Verwaltungsakt. Die Denkmalpflege kann dann Millionen kosten. Reflexionen über den Wert des Hässlichen.

Als Ende 2024 bekannt wurde, dass das Bundesamtsgebäude in der Radetzkystraße, ein Werk des Architekten Peter Czernin aus dem Jahr 1986, unter Denkmalschutz gestellt wurde, war die Überraschung unter Fachleuten groß. Dass es sich bei diesem Gebäude um eine Kuriosität ersten Ranges handelt, wird niemand bestreiten, der je in sein Inneres vorgedrungen ist. In der zentralen Verteilerhalle werden die Besucher von einer Skulptur von Anton Hanak begrüßt, einem schweren Bronzeguss, der auf einer Halbschale aus zarten Stahlrohren aufruht. Die Figur ist ein unfreiwilliger Torso, dem durch einen Kriegsschaden Kopf und Genitalien fehlen. Zum Trost leuchtet auf der Decke über der Figur ein elektrischer Sternenhimmel. Was die Planer auf die Idee brachte, genau diese Figur ins Zentrum ihres Werks zu setzen, bleibt ein Rätsel.

Dass die Hanak-Abgüsse überhaupt zum Einsatz kamen, ist eher ein Krimi: Anfangs war die Galerie Würthle beauftragt, das mit einem Prozent der Bausumme angesetzte „Kunst am Bau“-Programm mit zeitgenössischen Künstlern zu kuratieren. Am Ende blieb es bei acht weiteren, im Freien an der Radetzkystraße aufgestellten Hanak-Abgüssen und einer „Flammende Fahnen“ genannten Edelstahlskulptur von Gero Schwanberg, der bei vielen Projekten von Hans Hollein als Bildhauer mitgewirkt hatte. Die Skulptur schwebte ein paar Jahre bedrohlich über der Dachkante des Amtsgebäudes, bis sich in einem strengen Winter gefährliche Eiszapfen bildeten. Heute parkt sie zu ebener Erde auf einem Grünstreifen davor.

Assoziationen mit Wiener Militärbauten

Kurios ist auch die Fassadengestaltung. Die Ecktürme, in denen sich Fluchttreppen und Schächte befinden, sind mit blattförmigen Edelstahlkapitellen abgeschlossen und mit Sichtziegeln verkleidet, die Assoziationen mit Wiener Militärbauten wie der Rossauer Kaserne oder dem Arsenal herstellen sollen. Dazwischen wiederholt sich hundertfach ein Fassadenelement mit einem bunten Aufdruck, der aussieht, als wäre er in einem Volkshochschulkurs zum Thema „Malen mit Klimt“ entstanden. Man merkt, wie sehr die Architekten eine Prise Hundertwasser in ihr Projekt holen wollen, aber nicht aus ihrer Rasterlogik und funktionalistischen Endlosschleife herausfinden. Noch drastischer ist dieses Unvermögen im Inneren zu spüren, in dessen Korridoren man spätestens nach der dritten Wendung um 45 Grad jede Orientierung verloren hat, während sich an Wänden, Decken und Böden Stein- und Holzintarsien ausbreiten wie eine Hautkrankheit.

Wie, fragt man sich, kann so ein Machwerk zum Baudenkmal werden? Hat hier jemand Kuriosität mit Kunst verwechselt? Eines ist klar: Ein Baudenkmal muss nicht schön sein. Zum geschützten Bestand gehören nicht nur Barockschlösser, sondern auch brutalistische Bauten aus den 1960er-Jahren, die schon zur Bauzeit das ästhetische Empfinden ihrer Zeitgenossen herausforderten und das bis heute tun.

Denkmalschutz ist eine Wissenschaft, die mit eigener Terminologie und Methodik operiert, um den Denkmalwert eines Objekts zu bestimmen. Der große Theoretiker des Denkmalschutzes, Alois Riegl, unterschied zwischen Erinnerungs- und Gegenwartswerten. Zu Ersteren zählen der Alters- und der historische Wert, also die am Objekt erlebbaren Spuren der Geschichte einerseits und andererseits die Qualität, für eine historische Epoche Zeugnis abzulegen. Zu den Gegenwartswerten zählte Riegl den Gebrauchs- und den Kunstwert, also den ästhetischen Wert eines Objekts jenseits von Alter und Geschich­te. Riegl spricht hier von einem „relativen“ Kunstwert, der sich über die Zeit mit der kulturellen Entwicklung verändern kann.

Das Resultat: ein Freilichtmuseum

Einen Kunstwert würde ich dem Bundesamtsgebäude rigoros absprechen, und zwar mit einer einfachen Frage. Gibt es irgendetwas an dem Gebäude, das nachahmenswert ist und für das sich kein deutlich besseres Vorbild finden lässt? Wenn schon intensive Bezugnahme auf den Kontext, dann bitte die virtuose postmoderne Variante wie bei Hans Holleins Haas Haus und nicht die halb gare wie hier. Ob dem Gebäude ein historischer Wert zukommt, ist schwieriger zu beantworten. Es ist sicher repräsentativ für eine Epoche der Wiener Architektur, in der eine kleine Gruppe von Groß­architekten öffentliche Aufträge ergattern konnte, bei denen sie im großen Maßstab an der Verbindung von Postmoderne und Spätfunktionalimus gescheitert ist. Aber bedeutet ihr Verlust tatsächlich – wie im Denkmalschutzgesetz gefordert – eine „Beeinträchtigung des österreichischen Kulturgutbestands in seiner Gesamtheit“? Wohl kaum.

Dass solche Objekte trotzdem unter Denkmalschutz kommen, hat mit einer Tendenz zu tun, die ich das „Arche-Noah-Syndrom“ nennen möchte. Es steht für den Ansatz, unabhängig vom Kunstwert eine ausgewogene, alle Epochen möglichst gleichmäßige abdeckende Samm­lung von Objekten aufzubauen. Das Resultat ist ein Freilichtmuseum, in dem auch Objekte, die von einer Umgestaltung massiv profitieren könnten, unverändert bleiben müssen.

Kunst- und Gegenwartswert gleich null

Besondere Vorsicht ist bei großen Bauwerken geboten. Wer Dinosaurier in die Arche Noah lässt, muss mit Schlagseite rechnen, vor allem wenn sie aus der Nutzung gefallen sind. Während das Bundesamtsgebäude als Bürohaus noch voll funktionsfähig ist, stellt sich die Lage bei einem anderen Objekt, für das derzeit ein Unterschutzstellungsverfahren läuft, anders dar: das Forschungs- und Verwaltungszentrum der AUVA im 20. Bezirk von Kurt Hlaweniczka aus dem Jahr 1977. Das Gebäude, das seit seiner Errichtung mit technischen Problemen zu kämpfen hatte, steht seit fünf Jahren leer.

Die Kosten für eine Sanierung wären exorbitant hoch, was noch nicht per se gegen eine Unterschutzstellung spricht. Auf den ersten Bick ist das Gebäude ein guter Kandidat für ein Baudenkmal, bringt es doch ein wichtiges Kriterium mit: Monumentalität. Kratzt man an der Oberfläche, dreht sich jedoch das Bild. Die Hängekonstruktion? Eine leere Geste, aus der räumlich nichts gemacht wird. Ein seltenes Beispiel für Strukturalismus und Metabolismus? Eine oberflächliche Ähnlichkeit. In Wirklichkeit ist hier alles symmetrisch und starr. Wird dieses Gebäude unter Denkmalschutz gestellt, ist mit einer Ruine im Freilichtmuseum zu rechnen, da nicht nur sein Kunst-, sondern auch sein Gebrauchswert gleich null ist. Die Einsicht, dass der österreichische Kulturgutbestand in seiner Gesamtheit den Verlust des AUVA-Gebäudes verschmerzen kann, muss nicht unbedingt den Totalabriss bedeuten. Innovation im Bestand braucht keinen Denkmalschutz.

Spectrum, Mo., 2025.02.03

11. Dezember 2024Christian Kühn
Spectrum

Muss in Wien alles bleiben, wie es ist?

Bauen in historischer Umgebung bedeutet nicht immer Harmonie, sondern manchmal Zerstören
mit Verstand. Über eine verpasste Gelegenheit auf dem Wiener Minoritenplatz.

Bauen in historischer Umgebung bedeutet nicht immer Harmonie, sondern manchmal Zerstören
mit Verstand. Über eine verpasste Gelegenheit auf dem Wiener Minoritenplatz.

Endlich ist es so weit. Die letzten Baugeräte haben sich zurückgezogen und die Bühne frei gemacht für das städtische Leben am runderneuerten Michaelerplatz. Reisende, die Wien öfter besuchen, werden kaum Veränderungen feststellen. Die Hofburg mit dem Durchgang zum Heldenplatz, die Michaelerkirche und das Loos-Haus bilden die Platzwände; eine große, in der Bodenpflasterung und durch Steinpoller markierte Kreisfläche deutet an, wo das geometrische Zentrum des Platzes liegen könnte. Quer über diese zentrale Fläche zieht sich nach wie vor der Hollein-Graben, dessen Sinn angesichts der mageren archäologischen Funde, die hier zu sehen sind, immer schon ein Rätsel war. Durch die neue Verkehrsführung ohne Kreisverkehr spült es den vom Kohlmarkt kommenden Touristenstrom jetzt ohne Unterbrechung an den Rand dieses Grabens.

Neu sind drei Bäume vor der Michaelerkirche, eine Baumreihe in der Schauflergasse, zahlreiche metallisch glänzende Poller und ein organisch gekurvtes und in Granit gefasstes Pflanzbecken mit drei Bäumen, das etwas verloren auf dem größeren der beiden Kreissegmente sitzt, die Holleins Einschnitt hinterlassen hat. Woher die Inspiration für diese Kurvatur kommt, ist mindestens so rätselhaft wie bei Holleins Graben. Dass sie hier völlig deplatziert ist, wird kaum jemand bestreiten.
Gemeinsames Vokabular der Stadtmöblierung

War die öffentliche Aufregung um das Projekt in den vergangenen Monaten also nur viel Lärm um nichts? Nein. Sie hat sich zumindest insofern gelohnt, als einige Teile des ursprünglichen Projekts gestrichen wurden, am prominentesten die geplanten Wasserspiele vor dem Loos-Haus und Blumentröge vor der Hofburg, die sich in niedrige Beete verwandelt haben. Wirklich glücklich ist mit dem Ergebnis niemand, weder das Stadtmarketing, das sich ein touristenfreundlicheres Ambiente gewünscht hätte, noch die konsequenten Bewahrer des Status quo, die am liebsten den Hollein-Graben zuschütten wollten, noch die kleinere Fraktion jener, die sich eine deutlichere Geste als ­Antwort auf die Klimakrise hätten vorstellen können, mit Bäumen als Material einer im Dialog mit den ­bestehenden Monumenten wachsenden Skulptur.

Die zuletzt genannten Positionen waren beide naiv, da sie von der Voraussetzung ausgingen, dass die Stadtverwaltung in ihrem Bemühen, Wien „klimafit“ zu machen, daran interessiert sein müsste, auf die Geschichte und das Potenzial jedes betroffenen Orts einzugehen. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Die zahlreichen in den jüngsten Jahren „klimafit“ gemachten Straßen und Plätze folgen einem einheitlichen Muster, das über die ganze Stadt ausgerollt wird. Gegen ein gemeinsames Vokabular der Stadtmöblierung ist nichts einzuwenden, es muss aber auch eine passende Grammatik geben, um unterschiedlichen Situationen gerecht zu werden. Was in der Thaliastraße gut funktioniert, kann in der Argentinierstraße unpassend sein. Das betrifft unter anderem die vielen fest im Asphalt verschraubten Sitzgelegenheiten, deren Positionierung nicht immer erklärbar ist, und massive Rankgerüste von zweifelhafter Gestalt. Eine Evaluierung des „klimafitten“ Baukastens wäre hoch an der Zeit.

Öffentlicher Aufenthaltsraum

Niemand wird der Stadt das ernsthafte Bemühen absprechen, den öffentlichen Raum nicht mehr in erster Linie als Verkehrsträger, sondern auch als Aufenthaltsraum zu gestalten, der an den Hitzetagen der Zukunft benutzbar bleibt. Auch am strategischen Rahmen fehlt es nicht: Die neueste, 2022 im Gemeinderat beschlossene Version der Wiener Smart City Strategie versteht sich als zentrales Element der Wiener Klimapolitik und wurde entsprechend überarbeitet. Während die Stadt in vielen Bereichen offensiv an Probleme herangeht, agiert sie im Bereich der Gestaltung erstaunlich defensiv und folgt der Maxime, dass schon viel erreicht sei, wenn das Schlimmste verhindert wurde.

Ein aktuelles Beispiel dafür findet sich am Mi­noritenplatz, zwei Gehminuten vom Michaelerplatz entfernt. Hier nutzt das Innenministerium einen großen, achtgeschoßigen Verwaltungsbau aus dem Jahr 1986. Bis 1903 befand sich an diesem Ort das alte Ballhaus, dessen Abbruch eine Lücke hinterließ, zu deren Füllung es mehr als 80 Jahre brauchte.

Nach einem Versuch 1954 schrieb man 1974 einen internationalen Wettbewerb für ein repräsentatives Amtsgebäude aus, den die Architekten Marschalek/Ladstätter/Gantar mit einem Projekt gewannen, das den Putzfassaden der umliegenden Palais, zu denen auch das Bundeskanzleramt gehört, eine Stahl-und-Glas-Fassade gegenüberstellte. Die rund 160 Meter lange Glasfassade wurde in der Öffentlichkeit heftig bekämpft und bot einen Anlass, die Wiener Bauordnung im Paragrafen 85 dahin gehend zu modifizieren, dass Neubauten in Schutzzonen „an umgebende Häuserzeilen anzugleichen seien“. Damit war das Projekt tot, aber die Debatte um das neue Bauen im Bestand noch lange nicht beendet.

Der nächste Wettbewerb 1979 erbrachte ein Ergebnis, mit dem nicht einmal der verantwortliche Planer, Roland Moebius, zufrieden war: „Unser Projekt hat keinen eigenen Stil, aber es passt. Objektiv gesehen ist es sicher nicht optimal, aber das beste, wozu wir imstande waren.“ Die Kritik der Fachwelt war vernichtend. „Das Projekt“, äußerte sich Clemens Holzmeister, „zeigt auf, dass im Bewusstsein der öffentlichen Bauadministration ein absoluter Tiefstand erreicht ist.“

Zu Tode geschützte Stadt?

Auch die Politik verstand bald, dass der neue Paragraf 85 der Bauordnung herausragende Projekte wie das Juridicum von Ernst Hiesmayr verhindert hätte. Eine zu Tode geschützte Stadt kann sich nicht entwickeln. Ein weiteres umstrittenes Projekt, das Haas-Haus von Hans Hollein, war schließlich Anlass für eine Reform der Bauordnung, in der ab 1987 nicht mehr die „Angleichung“ an den Bestand gefordert ist, sondern dessen „Berücksich­tigung“.

Das Amtshaus auf dem Minoritenplatz entstand trotzdem nach den historisierenden Plänen von Machart, Moebius und Partner. Heute steht es vor einer Generalsanierung, bei der die Fassade vollständig und das Innenleben weitgehend erneuert wird – eine einzigartige Gelegenheit, dem Gebäude eine neue Hülle auf der Höhe der Zeit zu geben. Die Klimakrise verändert den Fassadenbau, von den verwendeten Werkstoffen über den Sonnenschutz bis zu den Anforderungen der Kreislaufwirtschaft und neuen hoch präzisen Vorfertigungstechniken.

„Fassade soll so aussehen wie bisher“

Die Chance, hier ein Leuchtturmprojekt zu realisieren, blieb leider ungenutzt: Obwohl vom Fachbeirat der Stadt Wien für Stadtplanung und Stadtgestaltung, dem das Projekt 2023 vorgelegt wurde, gefordert, kam kein Architekturwettbewerb zustande.

Für die Fassade fand die MA 19, die zuständige Magistratsabteilung für Architektur und Stadtplanung, deren konservativer Umgang mit dem Paragrafen 85 zunehmend zum Problem wird, eine pragmatische Lösung: Sie soll nach der Sanierung so aussehen wie bisher. Immerhin sei sie inzwischen selbst historisch. Man darf gespannt sein, wie das „wie bisher“ am Ende aussieht.

Spectrum, Mi., 2024.12.11

31. Oktober 2024Christian Kühn
Spectrum

Einfach aus dem Baumarkt

Ein Architekten­­haus, das für jeden Häuslbauer leistbar ist, gibt es das? Konrad Frey hat eines gebaut und lebt dort mit seiner Frau seit zehn Jahren als Testbewohner. Ein Hausbesuch.

Ein Architekten­­haus, das für jeden Häuslbauer leistbar ist, gibt es das? Konrad Frey hat eines gebaut und lebt dort mit seiner Frau seit zehn Jahren als Testbewohner. Ein Hausbesuch.

Jede neu gewidmete Parzelle dehnt den Siedlungsraum weiter aus, reduziert die Biodiversität und verursacht Kosten für Zubringerstraßen und Kanalisation. Ein Pkw für jeden erwachsenen Bewohner gehört zur Grundausstattung. Dazu kommen die Baumaterialien, die im Geschoßwohnbau wesentlich effizienter eingesetzt sind als im Einfamilienhaus. Die CO2-Bilanz eines Einfamilienhauses ist naturgemäß schlecht.

So berechtigt diese Kritik ist, die Liebe der Österreicher zum Einfamilienhaus ist ungebrochen: 44 Prozent der Bevölkerung lebt in Einfamilienhäusern; bei Umfragen geben rund 80 Prozent der Befragten diese Wohnform als ihr Ideal an. Immer noch fließt ein beachtlicher Teil der Wohnbauförderung in diesen Sektor: Von 17.000 Förderzusagen entfielen 2023 österreichweit 3800 auf Einfamilienhäuser, mit länderweise sehr unterschiedlichen Anteilen: Im Burgenland wurden ausschließlich Einfamilienhäuser gefördert, wenn auch insgesamt nur 160; in Nieder- und Oberösterreich entfiel ein knappes Drittel der Zusagen auf diesen Bereich, 1150 bzw. 1300, womit Oberösterreich mit Abstand den Spitzenplatz unter den Bundesländern einnimmt.

Stupide Häuser mit Flachdach

Eine Qualitätssicherung für die hier eingesetzten öffentlichen Gelder gibt es nicht, zumindest nicht in ästhetischer Hinsicht, und das sieht man Österreich auch an. Da wird weiterhin über die Dorfränder hinaus gewidmet und parzelliert, als wäre die Erde eine endlos verfügbare Scheibe, und auf diesen Parzellen entsteht meist nichts Gutes. In den aktuellen Ausläufern der Bebauung machen sich an vielen Orten Häuser mit Flachdach breit, die so stupide sind, dass man die planenden Baumeister zurück zu ihren Urgroßvätern in die Lehre schicken möchte, damit sie lernen, ein Haus einfach und klar zu organisieren und richtig in die Landschaft zu setzen. Und selbst das wären ja immer noch richtige Häuser am falschen Ort. Die Aktivierung von Leerständen im Ortskern mit neuen Konzepten des Zusammenlebens wird keinem Dorf gelingen, das Wildwuchs an seinen Rändern zulässt.

Bei einem Beliebtheitswert von 80 Prozent wird sich das Problem Einfamilienhaus sicher nicht durch die Einrichtung einer architektonischen Schönheits- und Sittenpolizei lösen lassen. Das beste Mittel ist, darauf zu hoffen, dass die Klimakrise und ihre ökologischen Konsequenzen, etwa in Form überfluteter Keller, zur Suche nach Alternativen führen.

Haus liefert originelle Antworten

Bis es so weit ist, ergibt es durchaus Sinn, Einfamilienhäuser zu diskutieren, die außergewöhnlich und zumindest in Teilaspekten vorbildlich sind. „Außergewöhnlich“ kann vieles bedeuten: den längsten Infinity-Pool, ein Marmorbad mit Karawanken-Blick oder ein Energiekonzept, das völlige Autonomie garantiert. Mich interessieren andere Aspekte, nämlich Typologie und Kosten: Wie zweckmäßig ist das Haus im Grundriss organisiert? Sind die eingesetzten Mittel angemessen und sparsam gewählt? Das Haus in Hart bei Graz, das der Architekt Konrad Frey für sich und seine Frau entworfen hat, liefert auf beide Fragen höchst originelle Antworten. Frey, der heuer seinen 90. Geburtstag feierte, nennt es Low Budget Loft House. Die ersten Ideen für das Haus datieren ins Jahr 2012, bezogen wurde es 2015, also vor knapp zehn Jahren, die es Zeit hatte, sich im Gebrauch zu bewähren. Der Anlass für das Projekt war die Wohnsituation der Freys in einem historischen Altbau auf demselben Grundstück, in dem Konrad Frey schon seine Kindheit verbracht hatte. Als barrierefreier, komfortabler Alterssitz war dieses Haus nicht geeignet. Frey verkaufte den Altbau, teilte das Grundstück und errichtete auf seiner Hälfte das Loft House.

Wie der Name andeutet, besteht das Haus aus einer großen Hülle mit Satteldach, die in der Gesamtfigur auch eine einfache Lagerhalle sein könnte. Das Innere ist durch zwei abgeschlossene Rückzugsräume gegliedert, die jeweils an drei Seiten vom Großraum umspült werden, einem Kreativbereich mit funktionellen Zonen, etwa fürs Kochen und Essen. Ein Wintergarten und ein Bad sind seitlich unter das große Dach geschoben. Wer will, kann in der Grundrissfigur das Echo einer palladianischen Villa entdecken; Konrad Frey betont lieber den hohen Alltagswert, von der perfekten Schmutzschleuse am Eingang bis zum umfangreichen Stauraum, der den kostensparenden Verzicht auf einen Keller möglich macht. Das Obergeschoß besteht im Wesentlichen aus einer Art Brücke unter dem Giebel, die den Kreativraum luftig nach oben erweitert. Hier hat Bärbl Frey ihr Atelier für Textilkunst und Konrad Frey sein Büro.

Keine Scheu vor Welleternit

„Low Budget“ ist das Haus insofern, als es weitgehend vorgefertigt und einfach konstruiert ist. Frey zeigt keine Scheu vor Welleternit und Wellkunststoff als Dachdeckung und vor einer Kombination von Stahlstützen und Holzfertigteilen für das Tragwerk, die auch außen ablesbar ist. Viele Elemente kommen vom Baumarkt, unter anderem die Treppe ins Obergeschoß und ein Kunststofffenster an der Hauptfassade mit wirklich grausigen Profilen, die man als Provokation verstehen muss, über das Wesen des „Billigen“ nachzudenken. Licht fällt auch durch dieses Fenster nämlich sehr schön.

Ob Konrad Frey sich mit diesem Haus genauso in die österreichische Architekturgeschichte einschreiben wird wie mit dem Haus Fischer am Grundlsee, das er 1972 bis 1978 mit seinem Büropartner Florian Beigel entwickelte, wird sich zeigen. Das Haus wurde oft als typisches Beispiel für die „Grazer Schule“ missverstanden, ein zweifelhaftes Etikett, das auf Frey und Beigel trotz mancher formalen Ähnlichkeit nicht passt. Sie suchen nach einer Logik der Form, die sich – soweit möglich – aus technischen und sozialen Parametern ergibt. Für Baukunst bleibt dabei noch Platz genug. Das Haus Fischer steht seit Kurzem unter Denkmalschutz, sehr zum Leidwesen seines Architekten, der diesen Experimentalbau lieber offen für Veränderungen gehalten hätte.

Dem Low Budget Loft Haus möchte man eine andere Zukunft wünschen, nämlich zahlreiche Nachahmer, die von einem räumlich komplexen Haus träumen, sich aber nur ein Fertighaus leisten können. Der Plan des Hauses liegt als Open Source Lizenz vor. Wenn die Kombination aus Forschergeist und sprühendem Optimismus, die Konrad Frey sich aus den 1960er-Jahren in die Gegenwart gerettet hat, in dieser Lizenz enthalten ist, ist sie jeden Preis wert.

Spectrum, Do., 2024.10.31

04. Oktober 2024Christian Kühn
Spectrum

In den Siebzigern lebten wir auch nicht schlecht

Rurale Baukultur zwischen Tradition und Innovation: Das Symposium „Interventa“ in Hallstatt verfehlt sein Thema – zum Glück.

Rurale Baukultur zwischen Tradition und Innovation: Das Symposium „Interventa“ in Hallstatt verfehlt sein Thema – zum Glück.

Wenngleich das Jahr noch nicht zu Ende ist, lässt sich eines schon mit Sicherheit sagen: Das Salzkammergut zur Europäischen Kulturhauptstadt 2024 zu erklären war ein voller Erfolg. International hat schon die Idee, ein ländliches, von grandioser Landschaft geprägtes Gebiet als Kulturraum zu präsentieren, Aufmerksamkeit erregt.

Dass es dem von Elisabeth Schweeger geleiteten Festival gelang, kompromisslos hinter die Idylle zu blicken, gab dem Unternehmen Glaubwürdigkeit: die Überreste der NS-Diktatur, die in der angeblichen Alpenfestung unter dem menschenverachtenden Einsatz von Zwangsarbeitern Rüstungsgüter produzierte; aber auch die Salzgewinnung, die sich bei genauerer Betrachtung als dramatischer Raubbau an den Wäldern der Region darstellt, die in immer weiterem Umkreis abgeholzt wurden, um die gigantischen Sudpfannen zu befeuern. Unsere Rücksichtslosigkeit im Umgang mit natürlichen Ressourcen hat tiefe Wurzeln.

Halleins kulturelle Ressourcen

Auch der öffentliche Raum ist eine solche Ressource, die durch überbordenden Touris­mus an die Grenze der Erschöpfung gerät: Hallstatt mit seinen 750 Einwohnern und 1,4 Mio. Touristen pro Jahr ist dafür ein international bekanntes Beispiel, das die Gratwanderung zwischen Freilichtmuseum und zeitgenössischer Lebenswelt zu meistern versucht. Die Stadt kann dabei auf eigene kulturelle Ressourcen zurückgreifen, die 2024 eine Präsenz bekommen haben, die zu vorsichtigem Optimismus berechtigt.

Die Tatsache, dass es in Hallstatt eine international renommierte HTL für Holzverarbeitung gibt, die Spezialisierungen von der Tischlerei über den Boots- bis zum Musikinstrumentenbau anbietet und auf letzterem Gebiet auch in der Forschung erfolgreich ist, trägt dazu bei. Die gelungenen, von Riccione Architekten geplanten Erweiterungsbauten der HTL, die sich gerade in Fertigstellung befinden, sind ein deutliches ­Zeichen des Vertrauens in die Region.

Schwimmende Plattform mit Sauna

Die Veranstaltungen des Kulturhauptstadtjahres ergeben eine dichte, von vier Programmlinien – GlobaLokal, Kultur im Fluss, Macht und Tradition, Sharing Salzkammergut – durchzogene Landschaft, in der es nicht leicht ist, den Überblick zu wahren. Programmleiterin für die Themen Architektur, Baukultur und Handwerk war Eva Mair, die auf Kooperationen mit Studierenden setzte, etwa mit der Kunstuniversität in Linz, den Universitäten Innsbruck und Kassel sowie der TU Wien, die vor Ort kleine Projekte umsetzten. Das auf dem Traunsee schwimmende Inselgefüge der Kunstuni Linz, vom Publikum v. a. in seiner Funktion als Sauna wahrgenommen, wird in Erinnerung bleiben.

Den diskursiven Höhepunkt der Architekturveranstaltungen im Kulturhauptstadtjahr bildete ein viertägiges Symposium unter dem Titel „Interventa“, das von Marie Therese Harnoncourt-Fuchs und Sabine Kienzer kuratiert wurde. Die Namensähnlichkeit mit der Kasseler Documenta ist kein Zufall. Harnoncourt-Fuchs ist an der dortigen Universität Professorin für Entwerfen und Gebäudelehre. Das Programm machte mit der oft beschworenen transdisziplinären Durchmischung ernst. Zu den Themen Neue Lebenswelten, Identität, Kreisläufe, Raumproduktion und Mobilität trafen Architekten und Planer auf Ökonomen und Philosophen, Künstler und Musiker auf Agronomen und Komplexitätsforscher.

Neben den zahlreichen österreichischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus dem Architekturbereich wa­ren als internationale Gäste unter anderem Anna Heringer, Yasmeen Lari und Xu Tiantian geladen, die neben kurzen Werkvorträgen auch abwechselnd in Podiumsdiskussionen im Einsatz waren. Die 83-jährige Yasmeen Lari ist in Österreich seit einer Ausstellung im AzW 2023 als heimlicher Star der Weltarchitektur bekannt. Im Westen ausgebildet und jahrzehntelang als erste Architektin Pakistans in der Logik eines repräsentativen Modernismus tätig, veränderte sie nach dem großen Erdbeben 2005 ihre Praxis radikal in Richtung eines ökologisch orientierten Selbstbaus, der Nutzer nicht zu Almosenempfängern macht, sondern sie dazu ermächtigt, in eigener Sache tätig zu werden.

Architektur und Raumplanung sind entscheidend für das Schicksal der Welt: Das zeige sich, so Lari, schon daran, dass elf der 17 Sustainable Development Goals der UNO eng mit diesen Praxisfeldern verknüpft sind. Wo, fragt Lari, sind die Architekt:innen, die sich wirklich darum kümmern? Anna Heringer und Xu Tiantian sind mehr als eine Generation jünger als Lari und biografisch ohne die Kehrtwende unterwegs, aus der Lari ihre besondere Energie bezieht. Heringer hat sich mit herausragenden Lehmbauten einen Namen gemacht, einem Material, an dessen Einsatz in unterschiedlichen Kontexten sie bis heute arbeitet.

Tofu-Fabrik als konkrete Utopie

Bei der Interventa forderte sie mit dem Slogan „Form Follows Love“ zu mehr Empathie auf, eine sehr breite Generalisierung ihrer bekannten Forderung, nur architektonische Lösungen zu akzeptieren, die mit dem Wohlergehen aller acht Mrd. Menschen, die derzeit unseren Planeten bevölkern, vereinbar sind. Xu Tiantians bekanntestes Projekt ist eine Tofu-Fabrik in einer ländlichen Region Chinas, ein leichter Holzbau mit eleganten Details, der die Lebenswelt der Dorfbewohner, die ihre Produkte davor individuell und nun genossenschaftlich herstellten, radikal verändert hat. Das Projekt ist eine konkrete Utopie, die sich weiterentwickelt, zuletzt mit einem eigenen Pavillon für Schulklassen.

Die Projekte von Lari, Heringer und Xu ha­ben eins gemeinsam: Sie definieren sich nicht durch ihre Position auf der Achse zwischen Tradition und Innovation, sondern verlangen eine radikal neue, innovationsorientierte Architektur. Der Untertitel der Interventa, ein „Symposium über Rurale Baukultur zwischen Tradition und Innovation“ zu sein, wird so obsolet. Das Rurale ist nicht weniger innovativ als das Städtische und darf sogar den Anspruch haben, Letzteres so lange zu befruchten, bis daraus etwas Neues entstanden ist.

Wie dringend es wäre, dieses unbekannte Neue als Gesellschaftsform zu erfinden, machte der erste Vortrag des Symposiums klar. Die deutsche Bestsellerautorin Ulrike Herrmann erläuterte ihre These, dass Klimaschutz nur durch Schrumpfen der weltweiten wirtschaftlichen Aktivität möglich sei, da sich mit heutigen Technologien nicht ausreichend Ökostrom herstellen lasse. Da der Kapitalismus ein System sei, das nur im Wachstumsmodus funktioniere, bedeute die Klimakrise sein Ende. Ein System, das ihn ersetzt, müsste in der Lage sein, unser materielles Wohlstandsniveau auf das Niveau der späten 1970er-Jahre abzusenken, ohne zu einer Spaltung der Gesellschaft zu führen.

Wie ein neues System aussehen müsse, dem das glückt, konnte Herrmann nur andeuten. Dass es einen hohen Anteil an Planwirtschaft enthalten würde, ist aber klar. Baukultur wird auch in diesem System, wie im Kapitalismus, eine zentrale Rolle spielen, als Verbraucher von Ressourcen, aber zugleich als Medium gesellschaftlicher Veränderung. Wie auch immer sich die Koalitionsverhandlungen gestalten: Klima, Umwelt und Baukultur sollten am Tisch sitzen und eine Stimme haben.

Spectrum, Fr., 2024.10.04

06. September 2024Christian Kühn
Spectrum

Kein Platz? Kein Problem! Gelungene Verdichtung in Innsbruck

Verdichten statt erweitern, so lautet der ökologische Imperativ: weniger Flächenverbrauch, kurze Wege, bessere Nutzung der Infrastruktur. Aber entsteht dadurch auch bessere Architektur? Zwei Wohnbauten in Innsbruck zeigen, wie das gelingen kann.

Verdichten statt erweitern, so lautet der ökologische Imperativ: weniger Flächenverbrauch, kurze Wege, bessere Nutzung der Infrastruktur. Aber entsteht dadurch auch bessere Architektur? Zwei Wohnbauten in Innsbruck zeigen, wie das gelingen kann.

Österreich wächst. Mehr Menschen, das bedeutet einen höheren Bedarf an Wohnraum, aber auch an sozialer und kultureller Infrastruktur wie Kindergärten, Schulen, Bibliotheken. Das Bevölkerungswachstum verteilt sich aber nicht gleichmäßig über Österreich, sondern konzentriert sich auf Wien und die Landeshauptstädte.

Die Strategie, mit der die Städte auf diese Entwicklung reagieren, ist im Prinzip überall gleich, nämlich durch Nachverdichtung: entweder durch Wachstum in der Gebäudehöhe oder durch das Auffüllen untergenutzter Flächen, v. a. dort, wo der Städtebau der 1950er- bis 1970er-Jahre für großflächiges, aber wenig attraktives „Abstandsgrün“ gesorgt hat. Gegen diese Strategie ist nichts einzuwenden. Sie versucht, die Ressource Boden möglichst sparsam zu nutzen, auf kurze Wege zu achten und die bestehende Infrastruktur effizienter zu nutzen, als es bei einer Stadterweiterung auf der grünen Wiese möglich wäre.

Es kommt freilich darauf an, wie man dieses Prinzip umsetzt. Die Konsequenzen in der Stadtmorphologie sind nämlich trotz dieses ähnlichen Ansatzes recht unterschiedlich. In Graz werden in Vierteln mit Stadtvillen dezent Flächen in der zweiten Reihe zur Bebauung freigegeben. Linz hat sich zur Stadt der mittelhohen Hochhäuser entwickelt, die recht gleichmäßig und unspektakulär über die Stadt verteilt sind. Auch in Wien gibt es dafür Beispiele, wobei die Stadtplanung mehr auf Ensemblewirkung setzt.

Im Wiener Wohnbau scheint sich aber ein neuer Gebäudetypus durchzusetzen, frei stehend und sehr tief, oft mit Innengangerschließung und in der Gebäudehöhe knapp unter den rund 35 m angesiedelt, ab der aus Brandschutzgründen teure zusätzliche Sicherheitssysteme wie druckbelüftete Stiegenhäuser vorgeschrieben sind. Wie eine Herde von grasenden Hauselefanten füllen solche Wohnbauten dann ehemalige gründerzeitliche Blockstrukturen aus.

Besichtigen lässt sich das Ergebnis etwa an der Kreuzung Eichenstraße und Gaudenzdorfer Gürtel. Die aus dem Raster verschwenkte Positionierung der Bauten verhindert zumindest das Gefühl, hier völlig eingesperrt zu sein. Zu dicht wirkt diese Lösung trotzdem. Ist Wien wirklich so intensiv bebaut, dass man aus jedem Grundstück alle Reserven herausquetschen muss? Wahrscheinlich nicht. Eine weniger dichte, über die Stadtgrenze hinaus gedachte und am Prinzip der Gartenstadt orientierte Stadtmorphologie, sollte wenigstens diskutiert werden.

Für die Situation in Innsbruck gilt das nicht. Hier sind der Stadterweiterung durch die Berge und das Inntal enge Grenzen gesetzt. Wie Verdichtung gelingen kann, einerseits durch Wachstum in die Höhe, andererseits durch Bebauung von „Abstandsgrün“, zeigen zwei Projekte des Büros von Karin Triendl und Peter Larcher, die gemeinsam als Work Space Architekten firmieren.

Das erste, 2023 fertiggestellte Projekt liegt an der Kreuzung von Pradler und Amraser Straße, wobei die Pradler Straße Teil eines großräumigen Blockrastersystems ist, das die Amraser Straße diagonal kreuzt. Das Grundstück ist entsprechend verzwickt mit unterschiedlichen Anschlussmöglichkeiten: an der Pradler Straße die Weiterführung der geschlossenen Verbauung, an der Amraser Straße das Setzen einer Zäsur, die den Blockrand öffnet und das Projekt in zwei Teile gliedert: einen niedrigeren, der an einen Wohnbau aus den 1990er-Jahren andockt, und einen höheren mit zehn Geschoßen, der über Eck betrachtet als Turm erscheint. Als Gebäudetyp ist er zu den Elefantenhäusern zu zählen, die oben kritisiert wurden: die typische Höhe von rund 35 m, ein sehr tiefer Baukörper, in dem pro Geschoß bis zu acht Wohnungen erschlossen werden. Der niedrige Bauteil, der sich in der Höhe an der Nachbarschaft orientiert, ist mit seinem tiefen Baukörper und bis zu sechs Wohnungen pro Geschoß zumindest ein Babyelefant.

Fassadengestaltung ist konsequent komponiert

Der Unterschied zum Wiener Beispiel betrifft vor allem die Reaktion auf den Bestand und die Feinarbeit an der Fassade. Die Architekten nennen ihr Projekt in Bezug auf die beiden Bauteile „Pradler Duett“, aber eigentlich spielt hier ein kleines Orchester: Bestandsbauten aus vielen Epochen werden integriert, und der öffentliche Durchgang zwischen Pradler und Amraser Straße legt einige Rückseiten frei, die Teil der Komposition werden. Auch die Gestaltung der Fassaden ist konsequent komponiert, mit feinen horizontalen Linien, die keine andere Funktion haben, als die Fassadenflächen in Proportion zu bringen. Technisch sind sie die Fortführung der Aluminiumprofile der Fensterverblechung.

Bei genauem Hinsehen entdeckt man, dass die gute Proportion der Fenster dem Umstand zu verdanken ist, dass die Brüstungen nur 65 cm hoch sind. Eine kaum sichtbare Verglasung an der Außenseite gleicht die fehlende Höhe im Sinne einer Absturzsicherung aus. Neben der guten Proportion der Öffnung bringt das mehr Licht und mehr Blick nach außen. In den Stiegenhäusern ist ebenfalls für natürliches Licht gesorgt, das wegen der Tiefe der Baukörper über Lichtbrunnen von oben einfällt. Hochwertig im Detail ist zudem die Verkleidung der Erdgeschoßzone mit gelaserten Aluminium-Verbundplatten, die sich aber genauso wenig in den Vordergrund spielt wie die Differenzierung der Putzoberflächen zwischen den Geschoßen. Wer in einem formal diversen Bestand baut, sollte besser leise auftreten.

Zugegeben, das Projekt ist frei finanziert und kein sozialer Wohnbau. Allerdings musste der Bauträger, Panorama plus Immobilien, von den 117 Wohnungen 30 als Stadtwohnungen – wie in Innsbruck die Gemeindewohnungen heißen – zur Verfügung stellen.

Dass hohe Qualität in der Verdichtung auch im sozialen Wohnbau möglich ist, haben Work Space Architekten schon 2018 für das gemeinschaftliche Projekt der Innsbrucker Immobilien GmbH und der Tiroler Wohnbau mit den Passivhäusern in der Bienerstraße gezeigt. Hier ging es um die Bebauung von „Abstandsgrün“ zwischen drei Wohnscheiben aus den 1960er-Jahren unmittelbar neben der S-Bahnstation Innsbruck Messe. Die Architekten erfanden für diese Aufgabe einen neuen, sechseckigen Typus von Turmhaus, mit bis zu sechs Wohnungen pro Geschoß, insgesamt 136 Wohnungen in drei Größen, S, M, und X-Large, einer Vierzimmerwohnung.

Keine Nachahmer?

Anheimelnd sind die Türme nicht, Verzierung gibt es erst im Erdgeschoß, v. a. durch eine Steinverkleidung der Sockelwand und gut gestaltetes Stadtmobiliar. In der Dreierkombination leisten die Türme genau das, was das „Abstandsgrün“ nicht leistet, nämlich den öffentlichen Raum zu proportionieren und Kommunikation anzuregen. Die im Wettbewerb angeregte und später von der Stadt Innsbruck realisierte Öffnung der Bahnviadukte unter der S-Bahnstation hat aus dem ehemaligen Nicht-Ort einen urbanen Raum geschaffen. Die Freiraumplanung stammt von PlanSinn, die hier mit einem farbig gestalteten Vorplatz zur Bahnstation eine erkennbare Abfolge zwischen öffentlichen, halb öffentlichen und privaten Bereichen geschaffen haben.

Es ist erstaunlich, dass dieses Projekt, das ja als Passivhaus energetisch höchsten Standards entspricht, keine Nachahmer gefunden hat. Selbst Wien, der Stadt mit dem vermeintlich besten sozialen Wohnbau der Welt, könnte ein Blick über den westlichen Tellerrand nicht schaden.

Spectrum, Fr., 2024.09.06

02. August 2024Christian Kühn
Spectrum

Der neue Kiesler-Preisträger Junya Ishigami: ein Visionär mit Wirklichkeitssinn

Zum 13. Mal wurde heuer der Friedrich-Kiesler-Preis für Architektur und Kunst verliehen – an den Japaner Junya Ishigami.

Zum 13. Mal wurde heuer der Friedrich-Kiesler-Preis für Architektur und Kunst verliehen – an den Japaner Junya Ishigami.

Bühnenbildner, Möbeldesigner, Ausstellungsgestalter, Bildhauer, Architekt: Friedrich Kiesler, eine der schillerndsten Figuren der Architektur- und Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, entzieht sich jeder Zuordnung. Im Jahr 1890 in Czernowitz geboren, verließ er Österreich 1926 in Richtung New York, wo er sich rasch als Künstler und Architekt etablierte. Ende der 1930er-Jahre war er Professor an der Columbia University, an der er einen wissenschaftsaffinen, biotechnischen Architekturansatz verfolgte, den er unter dem Namen „Correalismus“ zu verbreiten suchte.

Die Nähe zum Surrealismus, zu dessen Exponenten Kiesler beste Kontakte pflegte, war kein Zufall. In den späten 1940er-Jahren begann Kieslers Arbeit am „Endless House“, einer Raum­idee, charakterisiert durch organische Formen, die er in Modellen und Skizzen immer weiter ausarbeitete. Sie repräsentieren eine „magische“ Architektur, als deren Schöpfer und Schamane sich Kiesler in stilistisch imposanten Fotoserien inszenierte. Gebaut wurde das „Endless House“ nie. Das einzig erhaltene Bauprojekt Kieslers ist der „Shrine of the Book“, ein vergleichsweise konventioneller Rundbau, den er mit Armand Bartos in den 1950er-Jahren in Jerusalem re­alisiert hat.

1998 wurde Frank Gehry ausgezeichnet

Kieslers umfangreicher Nachlass gelangte 1998 auf Initiative des Kunsthistorikers Dieter Bogner nach Wien. Der Kaufpreis von damals drei Millionen Dollar wurde über eine Stiftung aufgebracht, an der sich die Republik, die Stadt Wien, die Nationalbank und private Sponsoren beteiligten. Die Witwe Kieslers verzichtete auf ein Drittel des Kaufpreises; im Gegenzug sagten die Stadt Wien und die Republik zu, alle zwei Jahre den Österreichischen Friedrich-Kiesler-Preis für Architektur und Kunst auszuloben und mit 750.000 Schilling zu dotieren.

Dieser Preis wurde bisher 13-mal verliehen und ist eine Art umgekehrte Ahnengalerie Kieslers geworden, deren Exponenten manchmal mehr und manchmal weniger mit dem Namensgeber des Preises zu tun haben. Der erste Preisträger, Frank Gehry, war keine Überraschung. Mit dem großen Namen sollte das ­Niveau des Preises hoch angesetzt werden. Bei den weiteren Preisträgern gibt es einige, die eindeutig der Kunst zuzuordnen sind, wie etwa Bruce Nauman und Judith Barry, die meisten sind aber echte Grenzgänger, die in manchen Fällen auch in der Wahl der Grenzen über ­Architektur und Kunst hinausgehen. Nicht alle haben die Chuzpe, ihr Atelier Office for Political Innovation zu nennen, wie der Preisträger des Jahres 2016, Andrés Jaque; aber zu den meisten würde die Bezeichnung gut passen: Cedric Price, Yona Friedman, Ólafur Elíasson, Theas­ter Gates.

Bekanntheit seit der Biennale 2008

Mit Junya Ishigami, nach Toyo Ito der zweite Japaner unter den bisherigen Preisträgern, hat die Jury eine besonders glückliche Wahl getroffen. Ishigami wurde international durch seine Gestaltung des japanischen Pavillons bei der Architekturbiennale in Venedig 2008 bekannt, bei der er dessen Umfeld in eine Gartenlandschaft mit exotischen Pflan­zen verwandelte. Durchdrungen wurde diese Landschaft von einem Gerüst aus extrem zarten, weiß lackierten Stahlprofilen, die im Lauf der Ausstellung von den sorgfältig ausgewählten Pflanzen erobert werden sollten. Wer wollte, konnte hier den Kontrast zwischen japanischer Gartenkunst mit ihrer Ästhetik des kontinuierlichen Wandels und „westlicher“ Rationalität dargestellt finden.

Bei genauerer Betrachtung geht ­Ishigami aber über diesen Kontrast hinaus. Die Position der vertikalen Profile folgte keinem simplen Raster, sondern einer eigenen, von der Pflanzenwelt inspirierten Logik. Für sein erstes größeres, ebenfalls 2008 realisiertes Projekt, ein eingeschoßiges Werkstättengebäude für das Kanagawa Institute of Technology (KIT), skalierte Ishigami diese Idee nach oben und konzipierte die Werkstätte als Säulenwald aus extrem dünnen Stahlprofilen, deren Lage und Ausrichtung minutiös geplant sind. Im scheinbaren Chaos entstehen dabei flexibel nutzbare Zonen, die sich die Studierenden als Arbeitsplatz aneignen.

Werte bezeichnen die Weite

Für Ishigami ist diese Indifferenz gegenüber einer funktionellen und typo­logischen Vorherbestimmtheit der Ausgangspunkt für eine neue Beziehung zwischen der Architektur und der Welt, in der es keine allgemein anerkannten Werte mehr gebe: „Werte bezeichnen eine fast unendlich erscheinende Weite, in der die Welt als Ganze versucht, das Gleichgewicht zu halten, während sie sich ständig entscheidet, was sie annehmen oder ablehnen soll, und dabei blindlings im Dunkeln tappt, sich in die eine oder andere Richtung bewegt, ohne ihr Ziel zu erkennen.“

Entsprechend vielfältig und überraschend sind die Projekte, die Ishigami bisher umgesetzt hat. Dazu zählen die „Caféteria“ für das KIT, eine horizontal über eine Fläche von 80 mal 120 Meter gespannte Membran aus einem knapp einen Zentimeter starken Stahlblech mit zahlreichen quadratischen Öffnungen, durch die Licht und Regen fallen. Je nach Temperatur schwankt die Höhe dieses Meditationsraums um bis zu 80 Zentimeter. Den Goldenen Löwen für die beste Einzelarbeit gewann Ishigami bei der Biennale 2010 mit der Installation „Architecture as Air“, die ein architektonisches Volumen von vier mal acht mal 20 Metern aus nur einen Millimeter starken Karbonfasern nachzeichnete, die von Fäden mit einer Stärke von 0,02 Millimetern stabilisiert waren.

Eine spektakuläre Gartengestaltung realisierte Ishigami für ein Hotel in Tochigi, indem er den Wald, der dem Hotelprojekt weichen musste, Baum für Baum in einen Wassergarten transplantieren ließ, dessen Kontur sich je nach Wasserstand kontinuierlich verändert. Die Ausstellung, die in den Räumen der Kiesler-Privatstiftung in der Mariahilfer Straße bis Oktober zu sehen ist, zeigt zwei aktuelle Projekte Ishigamis in Zeichnungen und Modellen: ein Museum, das über einen Kilometer Länge zur Hälfte in einem künstlichen See versenkt ist, und ein unterirdisches Restaurant, dessen durch mehrfaches Aushöhlen und Ausgießen eines Erdkörpers entstandene Geometrie stark an Kieslers „Endless House“ erinnert.

Die Idee, Kieslers Nachlass nach Wien zu holen und auf dieser Basis die internationale Rezeption Kieslers zu fördern, ist aufgegangen. Kiesler ist international präsent, durch Leihgaben der Stiftung für zahlreiche Ausstellungen und durch den Preis, der einer kleinen, aber wichtigen Randgruppe der Architekturszene die Aufmerksamkeit schenkt, die sie verdient: den im Realen geerdeten Visionären. „Form folgt nicht der Funktion, Form folgt der Vision“, hat Kiesler einmal gesagt und ergänzt: „Vision folgt der Wirklichkeit.“

Spectrum, Fr., 2024.08.02

06. Juli 2024Christian Kühn
Spectrum

Am Beispiel Benko: Wenn das Betongold zu Staub zerfällt

Im Unterschied zu einem ­Pyramidenspiel hinterlässt fahrlässige Projektentwicklung immerhin Spuren. Die Signa-Pleite aus Sicht der Architekturkritik.

Im Unterschied zu einem ­Pyramidenspiel hinterlässt fahrlässige Projektentwicklung immerhin Spuren. Die Signa-Pleite aus Sicht der Architekturkritik.

Was für eine Lücke! Als die Bagger das Möbelhaus Leiner an der Mariahilfer Straße abgetragen hatten und der Schutt entsorgt war, eröffnete sich im Herbst 2021 für ein paar Wochen ein leerer Raum, in den das Leopoldmuseum, das MuMoK und die Kunsthalle aus dem angrenzenden Museumsquartier locker hineingepasst hätten – eine gigantische Tabula rasa, der einiges geopfert wurde, unbedeutende Zubauten aus den 1980er-Jahren, aber auch historisch wertvoller Bestand: Das 1895 an dieser Stelle errichtete „Haus zur großen Fabrik“, ein auf Bekleidung spezialisiertes Warenhaus, war einer der ersten Bauten in Wien, bei dem Eisenbeton zum Einsatz kam, um große Auslagenscheiben auf Straßenniveau und im ersten Obergeschoß zu ermöglichen.

Der Sog des Neuen, der diesen Bestand hinwegfegte, trägt einen Namen: Signa. Der Konzern des Immobilienentwicklers René Benko versprach, die besten Stararchitekten einzuladen, um auf diesem Areal ein Hotel und ein Kaufhaus neuen Typs zu entwerfen, das „Traditionsbewusstsein mit modernem Lebensgefühl vereinen“ sollte. Ein öffentlicher, teilweise konsumfrei zugänglicher Dachgarten und ein spezielles Warenangebot, nicht nur für Touristen, sondern auch für den Alltagsbedarf, sollten die lokale Bevölkerung positiv für das Projekt stimmen.

Den 2019 durchgeführten Wettbewerb mit vier Teilnehmern, Snøhetta, BIG, Hadi Teherani und OMA (Rem Koolhaas) gewann OMA mit einem gerade noch am Kitsch vorbeischrammenden Projekt mit gekurvten Arkaden und einer Fassade aus dekorativen Glaselementen. Im Inneren überzeugte das Projekt allerdings durch Kompaktheit, Flächeneffizienz und eine klare Wegführung. Die Kritik urteilte mehrheitlich positiv, auch wenn leise Zweifel aufkamen, ob das Projekt sein Investment jemals hereinspielen könne. Das Luxussegment des Handels war von Signa ja schon im Goldenen Quartier abgeschöpft worden, einer mehrere Straßen umfassenden Quartiersentwicklung im ersten Bezirk.

Erfolg mit Kaufhaus Tyrol

Solche Bedenken versuchte Signa mit dem Verweis auf seine anderen erfolgreichen Luxuskaufhäuser, etwa das bereits 2022 von OMA umgebaute Berliner KaDeWe, zu zerstreuen, die nach ähnlichem Konzept bestens funktionieren würden. Den Namen Lamarr für das Kaufhaus in Wien lieh man sich von Hedi Lamarr, der Filmschauspielerin und Erfinderin, die als Hauptdarstellerin im Film „Ekstase“ berühmt wurde. Als Verbindung von Sinnlichkeit und ­Erfindergeist sollte sie Teil des „Narrativs“ werden, mit dem Signa das Projekt bewarb.

Heute erinnern an dieses Narrativ nur noch einige Plakate am Bauzaun des im Rohbau fertiggestellten Komplexes. Wann weiter gebaut wird, ist nach der Implosion der Signa ungewiss. Der tiefe Fall des Unternehmens wird Geldgeber und Gerichte noch lange beschäftigen. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass die Signa auch Teil der Architekturgeschichte Österreichs war, mit einer für die ersten Jahre durchaus positiven Bilanz. Das erste öffentlichkeitswirksame Projekt René Benkos war das Kaufhaus Tyrol in Innsbruck, das er 2004 erwarb und 2010 nach einer verwickelten Planungsgeschichte eröffnen konnte. Ein Wettbewerb im Jahr 2006 hatte eine futuristische Fassadenlösung von BEHF auf den ersten Platz gesetzt, gegen die es Einsprüche aus mehreren Richtungen gab. Ein formal an den Bestand angelehnter Alternativentwurf eines Wiener Denkmalpflegers erregte umgekehrt den berechtigten Widerstand der lokalen Architekturszene. Benko bewies mit der Beauftragung von David Chipperfield, gemeinsam mit Dieter Mathoi die Fassaden und die innere Halle neu zu gestalten, strategisches Geschick. Das Projekt wurde zum Erfolg beim Publikum und bei den Fachleuten, die den hohen Qualitätsanspruch bis ins Detail hervorhoben.

Auch das zweite innovative Projekt, eine als Public Private Partnership entwickelte Kombination einer Shopping Mall mit einem Gymnasium, befindet sich in Innsbruck. Geplant von Helmut Reitter in Zusammenarbeit mit dem Büro Eck & Reiter, wurde es 2011 eröffnet. Auf einem Areal von rund 100 Meter im Quadrat liegen Tiefgarage, Shopping Mall und Schule übereinandergestapelt, aber mit jeweils deutlich separiertem eigenem Eingang. Als PPP-Projekt war die Schule nicht den damals noch sehr strengen Flächenvorgaben des Unterrichtsministeriums unterworfen und ist mit ihrer in Cluster gegliederten Organisation und großzügigen Freiflächen immer noch vorbildlich. Die rechtlichen Komplikationen bei der Kombination unterschiedlicher Nutzer, insbesondere bei einer Mischung von öffentlichen und privaten Interessen, sind bekanntlich eine Herausforderung. Vor allem deshalb sind solche Lösungen selten, obwohl aus stadtökologischer Sicht vieles für sie spricht.

Fremdkörper Park Hyatt Hotel

Mit dem Wachstum der Signa verlagerte sich der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit vorerst nach Wien. Hier relevante Projekte zu finden, ist schwierig. Das Goldene Quartier wurde bereits erwähnt. Die Sterilität der Sanierung wird erst bemerkbar, wenn nachts die Touristenströme versiegen und die Auslagen der Luxus-Shops ihre repetitive Wirkung entfalten. Der eigentliche Kern des Projekts, das Park Hyatt Hotel, ist mit seinen steifen Innenräumen ein Fremdkörper in der Stadt geblieben.

Mehr Beachtung verdienen die vom Büro des italienischen Altmeisters Renzo Piano 2008 entworfenen und 2019 fertiggestellten Park­apartments Belvedere. An einer extremen Lage neben den Bahngleisen sind die zwei Hotel- und vier Wohntürme auf schlanken Stützen über dem Bahnbetrieb aufgeständert. Mit ihren guten Grundrissen und der hochwertigen Keramikfassade gehören sie zu den besten Wohnhochhäusern Wiens.

Am anderen Ende dieses Spektrums trifft man allerdings auch auf ein Projekt, an dem Signa beteiligt war. Das von DMAA auf der Basis eines städtebaulichen Vorprojekts entworfene Hochhauskonglomerat vor der U-Bahn-Station Kagran mit dem Projektnamen Vienna TwentyTwo ist vor allem eines: profitabel. Mit dem 2018 partizipativ für das Zentrum Kagran erarbeiteten Leitbild hat dieses Projekt mit seinem 150 Meter hohen Hauptturm nicht mehr das Geringste zu tun.

Wird die Signa-Pleite die Architektur verändern? Es sieht so aus, als hätte sich die Welt sowieso längst weitergedreht und der Architektur andere Schwerpunkte vorgegeben: Ressourcenschonung, Emissionsvermeidung und die günstige Bereitstellung sozialer Infrastruktur von der Schule bis zum Wohnraum. Haben wir nicht endlich genug von Stararchitekten und gierigen Projektentwicklern, die keine moralischen Skrupel kennen und Architektur wie ein Finanzprodukt behandeln? So einfach ist die Welt nicht. Auch wenn das in Wien mit seinem hohen Anteil an geförderten Wohnungen nicht immer gern gehört wird: Eine gut funktionierende Stadt lebt vom kompetenten Zusammenwirken zwischen öffentlichem und privatem Engagement. Projektentwicklung den Bankern zu überlassen, wäre fatal.

Spectrum, Sa., 2024.07.06

08. Mai 2024Christian Kühn
Spectrum

Hotel The Hoxton Vienna: Gut, dass dieses Haus unter Denkmalschutz steht

Das „Gewerbehaus“ der Wiener Wirtschaftskammer war repräsentativ für eine Phase der Nachkriegsarchitektur, nun beherbergt es das Hotel The Hoxton. Das Ergebnis der Sanierung beweist: Es war richtig, dieses Haus unter Schutz zu stellen.

Das „Gewerbehaus“ der Wiener Wirtschaftskammer war repräsentativ für eine Phase der Nachkriegsarchitektur, nun beherbergt es das Hotel The Hoxton. Das Ergebnis der Sanierung beweist: Es war richtig, dieses Haus unter Schutz zu stellen.

Man muss zweimal hinsehen, um in diesem Haus ein Baudenkmal zu erkennen. Zwischen 1952 und 1954 erbaut, steht es mit breiter Brust da, eine symmetrische Fassade mit zentralem Eingang, zehn Stockwerke hoch. Für die Wiener Wirtschaftskammer errichtet und unter dem Namen „Gewerbehaus“ bekannt, war das Haus repräsentativ für eine Phase der Nachkriegsarchitektur, die Elemente der Moderne mit Referenzen an die klassische Architektur verknüpfte.

Im konkreten Fall ist eine solche Referenz vor allem das mit grünem Naturstein gerahmte Eingangsportal, das leicht vorspringt und eine Tempelfront mit sechs Säulen andeutet, aber auch der über die volle Höhe steinverkleidete Mittelteil der Fassade lässt sich als monumentale Säulenfront interpretieren. Die an diese Front im Winkel von 45 Grad anschließenden verputzten Bauteile könnten dagegen vom Bauhaus stammen. Auch im Inneren gibt sich das Haus moderat modern. Die zweigeschoßige Eingangshalle ist klassisch in der Anlage, aber modern in den Details und Oberflächen, und im Auge des großzügigen Treppenhauses schraubt sich ein Lichtband dynamisch nach oben.

Der Entwurf des Hauses stammt von Carl Appel, einem der produktivsten Wiener Architekten der Nachkriegszeit. Allein und in diversen Partnerschaften zeichnete er unter anderem für das alte Haas-Haus am Stephansplatz und für das Steyr-Daimler-Puch-Haus am Ring verantwortlich. Ersteres musste Hans Holleins Neubau weichen, Letzteres fiel 1987 einer Brandstiftung zum Opfer, die das Grundstück frei für die Errichtung der Ringstraßengalerien machte.

Ohne geeignete Nutzung entsteht eine Ruine

Von den großen Projekten unter Appels Beteiligung sind in Wien noch der Opernringhof und das stark veränderte Kaufhaus Neumann, heute Steffl, erhalten. Für die Unterschutzstellung des Gewerbehauses, die erst 2020 erfolgte, mag auch dieser Umstand eine Rolle gespielt haben. Appel war zwar das Feindbild der jungen Architektenszene der 1960er-Jahre, aber mit einer Werkliste von rund 100 realisierten Projekten doch eine relevante Figur.

Bei einem Objekt dieser Größe ist der umfassende Denkmalschutz, wie er hier ausgesprochen wurde, eine wirtschaftliche Herausforderung. Ohne eine geeignete Nutzung, die sich rentiert, entsteht kein Denkmal, sondern eine Ruine. Eine Nutzung als Hotel bot sich schon aufgrund der Lage in der Nähe des Stadtparks an. Der neue Eigentümer des Hauses, die JP Immobiliengruppe, ist in dem Bereich mit 18 entwickelten Hotelprojekten ausgewiesen. Dazu zählt das 25 Hours Hotel an der Lerchenfelder Straße, ebenfalls ein Bau der Nachkriegsmoderne, der zwar nicht unter Denkmalschutz steht, aber trotzdem respektvoll saniert und um drei Geschoße aufgestockt wurde. Die Verkleidung der Bestandsgeschoße mit Waschbetonplatten blieb erhalten, wurde aber schwarz imprägniert. Als wahrscheinlich einziges schwarzes Haus innerhalb des Gürtels macht es eine erstaunlich gute Figur.

Den Entwurf reichte das interdisziplinäre Büro BWM Architektur & Design ein, das nicht nur zahlreiche Hotelprojekte geplant hat, in Wien neben dem 25 Hours Hotel unter anderem das Topazz, das Indigo und Innenräume für das Hotel Sacher. In Bad Gastein haben BWM mit dem Hotelensemble am Straubingerplatz einen denkmalgeschützten Bestand ertüchtigt und den Hotel-Hochhäusern aus dem 19. Jahrhundert ein weiteres spektakuläres hinzugefügt. BWM haben auch eine starke theoretische Seite, wie ihre Ausstellungsgestaltungen, etwa für das Literaturmuseum und das Haus der Geschichte in der Hofburg beweisen. Speziell zum Thema historische Bausubstanz ist eine Bewertungsmethodik für die Nachkriegsmoderne von 1945 bis 1979 im Auftrag der Stadt Wien zu erwähnen, an der Erich Bernard, einer der Gründer von BWM, beteiligt war.

Der Auftrag für die denkmalgerechte Sanierung des Gewerbehauses für eine Hotelnutzung forderte BWM auf mehreren Ebenen: Erstens ging es um die Sanierung in Bezug auf Brandschutz und Wärmedämmung. Zweitens um die Vermittlung zwischen den Interessen der zukünftigen Pächter, der zum französischen Accor-Konzern zählenden Marke The Hoxton, und den Vorgaben des Denkmalamts. Die Innenausstattung wurde von einer Abteilung von Accor übernommen, Ennismore Lifestyle, die zentral für Konzeption und Design des Erscheinungsbildes von 14 Hotelmarken mit jeweils mehreren Häusern verantwortlich ist. Das Motto von The Hoxton lautet: „A good neighbour with an open house“. Dass es im ehemaligen Gewerbehaus im obersten Geschoß keine Luxussuiten gibt, sondern eine öffentliche Dachterrasse mit Bar und offenem Pool, verdankt sich dieser Idee.

Die für die Dachterrasse geopferten Nutzflächen kompensierten BWM durch eine Aufstockung an der Rückseite des Hauses, wo eine eingeschoßige verglaste Box mit sechs Hotelzimmern über dem bestehenden Veranstaltungssaal schwebt – ein einigermaßen surrealistischer Eingriff in die Substanz, dem das Denkmalamt zustimmte. Flexibel zeigte sich das Denkmalamt auch an anderen Punkten, etwa im Umgang mit der Eingangshalle und ihren Windfängen. BWM polierten die subtil geschwungenen Oberflächen der 1950er-Jahre auf und reduzierten die bestehenden Windfänge auf ein Gerüst, in dem kleine Sitzbuchten entstehen. Das etwas plüschige Mobiliar folgt den Komfortvorstellungen der Betreiber. Die Atmosphäre der Halle hat sich damit im Vergleich zu Wirtschaftskammer-Zeiten radikal verändert, aus Nutzersicht eindeutig zum Besseren.

Eine radikalere Auffassung von Denkmalschutz, die nicht nur die Bausubstanz, sondern auch die Atmosphäre erhalten möchte, hätte mit dem Ergebnis wohl Schwierigkeiten. Die aktuelle Praxis der österreichischen Denkmalpflege lässt mehr Innovation im Bestand zu, um die technischen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen und eigene, zeitgenössische Akzente zu setzen.

Überraschungen auf technischer Ebene hatte das Projekt einige zu bieten. Die Primärkonstruktion aus Stahlbeton mit Ziegelausfachung musste verstärkt, zusätzliche Treppen und Lifte eingebaut werden. Für den Brandfall musste eine Sprinkleranlage installiert werden, um zu verhindern, dass sich ein Brand über die französischen Fenster rasch von einem Stockwerk zum nächsten ausbreiten kann. Die wirtschaftlich gravierendste Überraschung bot die Natursteinfassade, deren Cipollino-Marmor sich als nicht sanierbar herausstellte und komplett erneuert werden musste.

Weniger kostspielig, aber ziemlich vertrackt war die Frage der Geländer der Haupttreppe, deren Stäbe 13 statt der heute zulässigen zwölf Zentimeter Abstand voneinander haben. Sie einfach mit einem Hüllrohr zu verstärken hätte die Proportionen der Treppe ruiniert. BWM schlugen ein Stahlnetz vor, das als Absturzsicherung wie ein Schlauch über die volle Höhe des Treppenauges gespannt ist. Das Lichtband – aus LEDs statt der ursprünglichen Neonröhren – schraubt sich jetzt in einem Käfig nach oben.

Das Gesamtergebnis beweist, dass die Unterschutzstellung dieses auf den ersten Blick wenig attraktiven Hauses gerechtfertigt war. In der Kooperation zwischen Eigentümer, Hotelbetreiber und Architekt war das Denkmalamt oft das Zünglein an der Waage, das baukulturelle Qualitäten einmahnen konnte, die sonst unter den Tisch gefallen wären. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Projekt Vorbildwirkung entfaltet, auch über den Denkmalschutz hinaus.

Spectrum, Mi., 2024.05.08

06. April 2024Christian Kühn
Spectrum

Im Chaos um die Ecke denken: Personale über Hermann Czech in Wien

Eine längst fällige Ausstellung zeigt eindrucksvoll das Gesamtwerk von Hermann Czech,
des derzeit einflussreichsten österreichischen Architekten und Architekturtheoretikers.

Eine längst fällige Ausstellung zeigt eindrucksvoll das Gesamtwerk von Hermann Czech,
des derzeit einflussreichsten österreichischen Architekten und Architekturtheoretikers.

Die „Personale“ als Ausstellungsformat ist im Architekturbereich weitgehend passé. Aktuell zeigt das Museum für angewandte Kunst eine Ausstellung über „Protestarchitektur“, von der Barrikade des 19. Jahrhunderts bis zu den Protestcamps der Occupy-Wallstreet-Bewegung, während das Architekturzentrum Wien sich des Themas „Tourismus“ annimmt. Hier geht es nicht um Autorenschaft und Werke, sondern um die größeren Zusammenhänge.

Wenn heute Personalen gezeigt werden, dann oft mit einer zusätzlichen Agenda, etwa den eurozentrischen Blick zu brechen oder eine Ausgewogenheit aus Genderperspektive herzustellen. Angesichts der männlich dominierten kuratorischen Praxis der vergangenen 50 Jahre heißt das für männliche, weiße und westliche Architekten, sich ziemlich lange ziemlich weit hinten anstellen zu müssen.

Älter als der Papst

Dass man mit dieser Tendenz, würde sie ausnahmslos durchgezogen, auch einiges versäumt, beweist als Ausnahme, die die Regel bestätigt, die derzeit in der Galerie FJK3 – Raum für zeitgenössische Kunst laufende Personale über Hermann Czech, auf den neben den oben genannten Kriterien von männlich, weiß und westlich noch ein weiteres Klischee zutrifft, nämlich das Alter.

Czech ist älter als der Papst, wenn auch nur um ein paar Wochen und ohne jeden Hang zur Dogmatik. Dass Czech bei der jüngsten Architekturbiennale im Team mit dem Architekturkollektiv AKT einen der besten österreichischen Beiträge in der Geschichte der Biennale entwickelt hat, war ein Zeichen von erfreulicher Agilität.

Die Ausstellung in den Räumen der Galerie FJK3 – der Name steht für Franz-Josef-Kai 3 – wurde von einem Kuratorinnenteam aus Claudia Cavallar, Gabriele Kaiser, Eva Kuß und Fiona Liewehr in Zusammenarbeit mit Hermann Czech entwickelt. Von Eva Kuß stammt auch das aktuellste, 456 Seiten starke Buch über Czech und sein Werk, das 2018 bzw. 2023 in der englischen, erweiterten Version bei Park Books erschienen ist und gewissermaßen den monumentalen Katalog zur Ausstellung darstellt. Ergänzt wird dieses Material um einen Stadtplan mit der Verortung aller Projekte, die Czech für Wien entworfen hat.

»Denken zum Entwurf«

Die 430 m² großen Räume der FJK3-Galerie eignen sich perfekt für eine Ausstellung über Czechs Arbeit. Sie bestehen aus den Erdgeschoß- und Kellerräumen eines Zinshauses aus der Zeit um 1900, die eine an die unterschiedlichen Baufluchtlinien angepasste, abwechslungsreiche Sequenz von Situationen mit Seiten- und Oberlicht ergeben. Das passt gut zum Titel der Ausstellung „Ungefähre Hauptrichtung“, den Czech schon als Titel für eine 2021 erschienene Sammlung seiner Texte gewählt hat. Als schreibender Architekt sieht Czech sich in der Tradition von Otto Wagner, Adolf Loos und Josef Frank, die alle über eine praxisorientierte Architekturtheorie verfügten, die Czech als „Denken zum Entwurf“ bezeichnet.

Im Originalton 1996: „Gegenstand der Architektur ist nicht das architektonische Objekt. Das Thema der Architektur ist zunächst der genutzte Raum, die definierte und strukturierte Leere im und am Objekt, und diese Leere ist weiters vermittelt durch eine persönliche, soziale und historische Sicht – durch eine Individualität. Das Thema der Architektur ist also immateriell. Gegenstand der Architektur ist der architektonische Gedanke. Obwohl das architektonische Objekt also etwas Transzendierendes, nicht aus und für sich selbst Bestehendes ist, gerinnt es doch zu etwas Fassbarem, wird gezeichnet und hergestellt, fotografiert und beurteilt, wogegen das, woraus es erst verständlich wird, wofür es dienen soll, unsichtbar bleibt. Aber indem alle unsichtbaren Bestimmungsgründe hier zum Ausdruck kommen, teilen alle Bau-Teile mit, wie und warum sie entstanden sind. Die konstruktiven, ökonomischen, gesellschaftlichen Bedingungen sind in jeder architektonischen Form enthalten. Architektur gewinnt deshalb einen realen Charakter des „Objekts“. Das ist ihr Reichtum, der allem Bemühen um plastische, skulpturale Form weit überlegen ist.“

Vermittlung »architektonischer Gedanken«

Folgerichtig verfügt Czech nicht über ein „Formenvokabular“, aus dem er eine Architektursprache artikulieren würde, sondern über einen Werkzeugkasten, mit dem er an Aufgaben herangeht. Ein konkretes Beispiel ist die Hängelinie, die Czech in einem seiner ersten Projekte, dem Kleinen Café, zum Einsatz bringt, um Spiegelnischen, die ihrerseits auf die Loos-Bar Bezug nehmen, einen weicheren oberen Abschluss zu geben.

Durchhängen dürfen später so unterschiedliche Dinge wie der Boden des Restaurants Salzamt, der Laufsteg der Stadtparkbrücke und die Decke des Plenarsaals im Parlament, die leider nur Entwurf geblieben ist, eine luftgefüllte Blase aus transluzenter Kunststofffolie, die bedrohlich über den Köpfen der Parlamentarier gehangen wäre.

Die inhaltlich dichte, aber luftig präsentierte Ausstellung folgt weder einer chronologischen noch einer strikten thematischen Ordnung. An einer Stelle zusammengefasst sind die unmittelbar politisch aufgeladenen Projekte wie der städtebauliche Entwurf für die Überbauung der SS-Kaserne Oranienburg oder die Ausstellungsgestaltung „1938“ im Rathaus. Auch die zahlreichen Restaurants und Cafés bilden eine Gruppe, aber ansonsten geht es tatsächlich um die Vermittlung jener „architektonischen Gedanken“, von denen Czech in seiner Theorie spricht.
Dieser Akzidentismus hat Zukunft

Die hölzerne, nur 50 Zentimeter breite Treppe, die für die Ausstellung in einen Luftraum der Galerie eingepasst wurde, ist ebenso gebaute Theorie: Diese Treppe bietet einen dramatischen Aufstieg, bei dem man mehrmals die Richtung wechseln muss und leicht verwirrt oben ankommt. In der Beengtheit wird einem bewusst, dass der Nutzwert im leeren Raum steckt, und dass die unbestreitbare skulpturale Qualität der Treppe als Objekt nur ein Nebeneffekt ist.

Josef Frank hat in diesem Zusammenhang von „Akzidentismus“ gesprochen, der Kunst, die Umwelt so zu gestalten, als sei sie durch Zufall entstanden. Entlastet von ideologischen Perfektionsansprüchen steht diese Architektur da, leicht, komfortabel und anschlussfähig an das Chaos unserer postmodernen Welt. Hermann Czechs Werk beweist, dass dieser Akzidentismus Zukunft hat.

Spectrum, Sa., 2024.04.06

01. März 2024Christian Kühn
Spectrum

Kippt das Klima schneller als die Stimmung unter den Architekten?

Es hat lange gedauert, bis die drohende Klimakatastrophe als zentrale Herausforderung für das Bauen erkannt wurde.

Es hat lange gedauert, bis die drohende Klimakatastrophe als zentrale Herausforderung für das Bauen erkannt wurde.

Die Fakten sind hinlänglich bekannt: Wenn es nicht gelingt, die Erderwärmung auf ein Ausmaß von plus 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu beschränken, wird es ungemütlich auf unserem Planeten. Konkret bedeutet das unter anderem, dass beim Überschreiten dieses Durchschnittswerts keine Ernährungssicherheit für die wachsende Weltbevölkerung mehr gegeben wäre. Im Jahr 2015 haben sich 195 Staaten in Paris auf das 1,5-Grad-Ziel verpflichtet.

2018 erstellte das Intergovernmental Panel for Climate Change, kurz IPCC, einen Bericht, nach dem dieses Ziel sinnvoll und noch erreichbar wäre, allerdings mit großen Anstrengungen bereits in den Jahren vor 2030. Die EU hat sich daher eine Reduktion der CO2-Emissionen um 55 Prozent bis zu diesem Datum als Ziel gesetzt.

Das Bauwesen trägt zu diesen Emissionen mehr bei als jeder andere Sektor der Wirtschaft. Das mag überraschen, war man doch seit den 1970er-Jahren gewöhnt, das Problem vor allem im Energieverbrauch für das Heizen und Kühlen unserer Häuser zu sehen. Die Sorge galt der Frage, ob die Öl- und Gasreserven dafür ausreichen.

Verantwortlich für 60 Prozent des Ressourcenverbrauchs

Dass wir es nicht mit einem Energie-, sondern mit einem Emissionsproblem zu tun haben, wurde erst Anfang der 1990er-Jahre klar, als die Beweise für den menschengemachten Klimawandel nicht mehr zu leugnen waren.

Die Menschheit hat, zumindest auf längere Sicht betrachtet, kein Energieproblem. Allein die Sonne liefert 10.000 Mal mehr Energie, als wir verbrauchen, dazu kommen Wind- und Wasserkraft. Das ändert allerdings nichts daran, dass das Bauwesen zusätzlich zu Heizung und Kühlung noch massiv zu den globalen klimaschädlichen Emissionen beiträgt.

Das liegt einerseits an den fossilen Energien, die für die Herstellung von Baumaterialien nötig sind. Allein die Zementindustrie trägt fünf bis sieben Prozent zu den globalen Emissionen bei. Da diese Materialien oft über weite Strecken transportiert werden, entstehen zusätzliche Emissionen, die dem Bauwesen zuzurechnen sind. Andererseits kommen noch die Abbruchmaterialien dazu, die viel zu günstig deponiert werden können.

Alles in allem ist das Bauwesen in den Industrienationen für 60 Prozent des Ressourcenverbrauchs, 50 Prozent des Mülls, über 35 Prozent des Energieverbrauchs und letztlich über 50 Prozent der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich.

Moratorium für den Neubau

Die Planenden in den Bereichen Architektur und Ingenieurwesen mussten sich erst daran gewöhnen, als Teil des Problems betrachtet zu werden und nicht mehr ausschließlich als Erfinder neuer Welten. Dass es ein paar Jahre gedauert hat, bis das Emissionsthema im Bauwesen von den Rändern ins Zentrum gerückt ist, lag wohl darin begründet, dass im Kern jeder Antwort der Begriff „weniger“ stehen muss: weniger Boden verbrauchen, weniger neu bauen, stattdessen Leerstände nutzen und umbauen. Nur langsam sickerte die Erkenntnis durch, dass es auch ohne Neubau so etwas wie Fortschritt in der Architektur geben könnte.

Heute ist die Stimmung gekippt: Die Architekturszene ist auf das Thema fokussiert wie nie zuvor. Radikale Forderungen jüngerer Kolleginnen und Kollegen nach einem Moratorium für den Neubau oder zumindest für den Abriss werden als kreative Provokation diskutiert. Die Pioniere der Kreislaufwirtschaft im Bauen, die sich seit vielen Jahren diesem scheinbar wenig attraktiven Thema widmen, bekommen die Anerkennung, die sie verdienen.

An den Universitäten beginnt eine Umstellung der Curricula in Richtung einer ganzheitlichen Betrachtung, bei der es um dynamische Systeme und nicht um statische Objekte geht. Zukünftige Architektinnen und Architekten müssen lernen, die Präzision von Weltraumingenieuren mit der Geduld von Gartenarchitekten zu verbinden.

Großer Leerstand

Auch die Kammer der Ziviltechniker:innen hat reagiert und vor wenigen Tagen ein Positionspapier mit dem Titel „Klima, Boden & Gesellschaft – Positionen zum verantwortungsvollen Planen und Gestalten“ veröffentlicht, bei dessen Präsentation sie die von den Sozialpartnern ins Spiel gebrachte Idee eines „Eigenheimbonus“ massiv kritisierte. „Aktuell auf Neubauten und somit auf Versiegelung zu setzen, um die Bauwirtschaft anzukurbeln“, gleiche der „Forderung nach einer neuen Pandemie, um mehr Patienten behandeln zu können“. Das Positionspapier stellt in vier Kapiteln den Beitrag vor, den gute Planung und Gestaltung zu einem effektiven und sozial gerechten Klimaschutz leisten können.

Beim Architekturfestival TurnOn, das vorige Woche in Wien stattfand, war das Thema ebenso bereits im Festvortrag von Andreas Hofer präsent, dem Intendanten der IBA27, der Internationalen Bauausstellung der StadtRegion Stuttgart, die 2027 eröffnet wird. Er fühle sich manchmal als „Suchtberater“ in einer Welt, die süchtig geworden sei nach immer mehr Ressourcen, vom Bauland über die Wohnfläche pro Person bis zum Energieverbrauch. Die IBA Stuttgart möchte zeigen, welche neuen Symbiosen, etwa zwischen Wohnen und Produktion, in einem hoch industrialisierten Umfeld möglich sind.

Auch in der Podiumsdiskussion von TurnOn zum Thema „Bodenverbrauch“ ging es sehr bald um das Thema Leerstand. Laut einer Analyse der Statistik Austria, die im Herbst publiziert wurde, stehen rund 653.000 von 4,9 Millionen Wohnungen leer.

Exzentrisches ist auch erlaubt

Noch dramatischer ist die Lage im gewerblichen Bereich. Während die leer stehenden Wohnflächen auf 12,5 km² geschätzt werden, sind es bei Industrie- und Gewerbeflächen fast zehnmal so viele. Wie sich solche Leerstände anders nutzen lassen, zeigte bei TurnOn das Büro Smartvoll, das an der Salzburger Peripherie für den Projektentwickler Marco Sillaber an der Revitalisierung zweier Industriebrachen arbeitet. Beide Standorte – das Sony CD-Werk und ein Zentrallager des Universal Versand – gehörten einmal zu prominenten Unternehmen. Das Potenzial dieses Bestands liegt in seiner enormen Dimension, die mit Lichthöfen nutzbar gemacht wird. Der im Lager des Universal Versand verbaute Beton entspricht mit rd. 63.000 Tonnen 0,5 Prozent des jährlich in Österreich anfallenden Bauschutts, die nun nicht deponiert, sondern weitergenutzt werden.

Bei so viel smartem Pragmatismus war man froh, bei TurnOn auch Exzentrischem zu begegnen, wie etwa Peter Haimerls Wabenhaus für die bayrische Wohnbaugenossenschaft Wogeno. Was auf den ersten Blick nach ornamentaler Fassadenakrobatik aussieht, hat ein raffiniertes Erschließungskonzept, das ungewöhnliche Raumkombinationen erlaubt. Sähen alle Häuser so aus, könnten wir das 1,5-Grad-Ziel wohl nie erreichen. Ab und zu vom Leben in der Schräge zu träumen sollte man sich von diesem Ziel aber nicht verbieten lassen.

Spectrum, Fr., 2024.03.01

05. Februar 2024Christian Kühn
Spectrum

Wiener Nordbahnhofareal: Was für eine Stadt wird das?

Gemäß dem Slogan „Freie Mitte und vielseitiger Rand“ wird auf dem Wiener Nordbahnhofgelände der zentrale Grünraum als Stadtwildnis frei gehalten und die Randzone verdichtet. Die Umsetzung stellt sich komplexer dar als gedacht.

Gemäß dem Slogan „Freie Mitte und vielseitiger Rand“ wird auf dem Wiener Nordbahnhofgelände der zentrale Grünraum als Stadtwildnis frei gehalten und die Randzone verdichtet. Die Umsetzung stellt sich komplexer dar als gedacht.

Plötzlich ist sie da, die Zukunft. Vor 15 Jahren war die Bruno-Marek-Allee nicht mehr als zwei Striche auf einem Plan für die Bebauung des ehemaligen Nordbahnhofgeländes. Der Plan von 1992 ging auf ein städtebauliches Leitbild zurück, das Heinz Tesar und Boris Podrecca entworfen hatten. Es sah eine Blockrandbebauung vor, die an den bereits bestehenden großvolumigen Bürobauten in der Lasallestraße Maß nimmt und im Zentrum einen 200 mal 200 Meter großen Park ausspart, den heutigen Rudolf-Bednar-Park.

Auf dem Areal rundherum entstand eine Struktur, die mit dem Begriff „Blockrandbebauung“ nicht ganz korrekt bezeichnet ist. Die Straßen folgen zwar einem orthogonalen Raster, aber für die Bebauung haben sich bis auf wenige Ausnahmen jene Bautypen durchgesetzt, die Wiens Bauträger am liebsten haben: Zeilen und kompakte frei stehende Punkthäuser mit Abstandsgrün und der Aussicht auf maximale Rendite.

Mehr Grün bedeutet Kosten sparen

Es war nicht überraschend, dass die Stadt Wien für das restliche Nordbahnhofareal einen neuerlichen Wettbewerb ausschreiben ließ, bei dem eine Fortsetzung der Blockrandstruktur nicht zwingend vorgeschrieben war. Das Konzept des Siegerprojekts von Bernd Vlay und Lina Streeruwitz lässt sich in einen einfachen Slogan gießen: „Freie Mitte und vielseitiger Rand“. Es sieht vor, die Mittelzone des Areals als „Stadtwildnis“ frei zu halten und dafür die Randzone stark zu verdichten.

In der Gegenüberstellung mit dem Blockraster ist die Idee unmittelbar überzeugend: Es entsteht ein sehr großer zusammenhängender Grünraum, der mit weniger Erschließung auskommt, was Kosten für teure Straßen einspart. Und weil die Häuser in die Höhe wachsen, reduziert sich – bei gleichbleibendem Volumen – das Ausmaß der schwer vermietbaren Erdgeschoßzonen, die gleichzeitig durch die Verdichtung von einer höheren Frequenz profitieren.

Hauptschlagader des Areals

In der Umsetzung stellt sich die Idee komplexer dar. Die hohe Dichte am Rand bedingt Gebäudehöhen, die wegen zusätzlicher bautechnischer Auflagen teurer kommen. Grundeigentümer können damit ein Argument finden, noch ein paar einträgliche Geschoße auf ihr Projekt aufstocken zu lassen, wodurch sich die Dichte weiter erhöht.

Schwierig zu lösen ist auch die Frage, wer für die Pflege des in dieser Dimension nicht geplanten zentralen Freiraums zuständig ist. Im konkreten Fall verfolgten die Architekten gemeinsam mit den französischen Landschaftsplanern Agence Ter den Ansatz, die freie Mitte zur pflegeleichten Stadtwildnis zu erklären, die weiterhin den romantischen Charme des aufgelassenen Bahnhofsareals verströmen soll.

Die Bruno-Marek-Allee, die das Gebiet parallel zur Schnellbahn vom Praterstern bis zur Freien Mitte auf einer Länge von 800 Metern durchzieht, ist die Hauptschlagader des Areals. Stadtauswärts läuft sie auf den Millenniumstower zu, stadteinwärts mündet sie in den Austria Campus, einen gigantischen Bürokomplex, der am Beginn der Allee vier Blockrandfelder beansprucht. Warum diese große Achse dann genau auf die Quadratlochfassade eines Bürohauses zuläuft, die bestenfalls Hinterhofqualität hat, bleibt ein städtebauliches Rätsel.

Schichtung mehrgeschoßiger Baukörper

Das Areal, das jetzt unter dem Namen Freie Mitte Nordbahnhof zusammengefasst wird, gliedert sich in acht Baufelder unterschiedlicher Dichte, worunter die auf einem Baufeld erzielbare Summe der Geschoßflächen dividiert durch die Grundfläche des Baufelds verstanden wird. Sie reicht in diesem Fall von einem Dichtewert von 2,5 nordöstlich der Stadtwildnis bis zu einem Wert von 5,0, der vor allem an der Nordbahnstraße erzielt wird, die jenseits der Stadtbahn parallel zur Marek-Allee verläuft. Möglich wird diese sehr hohe Dichte nicht zuletzt durch Hochhäuser mit Höhen zwischen 60 und 98 Metern, von denen die höchsten direkt an der Stadtwildnis gelegen sind.

Bereits fertiggestellt und bezogen ist ein Hochhaus am anderen Ende der Marek-Allee, das nach einem Entwurf von Querkraft Architekten vom Bauträger Strabag Real Estate errichtet wurde. Mit 60 Meter Höhe gehört das Taborama in eine Kategorie, die vor Jahren in einem Hochhauskonzept für Innsbruck als „Stadtelefant“ bezeichnet wurde. Es ist kein Turm, sondern eine Schichtung von vier mehrgeschoßigen Baukörpern, die locker übereinandergesetzt sind, sodass zwischen ihnen jeweils ein Fugengeschoß verbleibt. In diesen Geschoßen ist die Fassade so weit zurückversetzt, dass durchgehende Balkone entstehen, was es erleichtert, hier nicht nur Wohnungen, sondern auch Büroflächen unterzubringen.

Bibliothek und Boulder-Raum

In den übrigen Geschoßen sind die Balkone zwar individualisiert, aber Teil einer gemeinsamen begrünten Schichte vor der eigentlichen Fassade. Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass der Vorhang aus Rankgerüsten im ersten und im dritten der gestapelten Blöcke dichter ausfällt als in den beiden anderen. Ursache dafür ist der Brandschutz, der einer durchgehenden Begrünung nicht zustimmte. So gibt es jetzt nur in den „intensiv“ begrünten Etagen Pflanztröge mit automatischer Bewässerung.

Überraschend für ein frei finanziertes Projekt ist das Angebot an gemeinsam genutzten Flächen. Es inkludiert eine kurzzeitig anmietbare Gästewohnung sowie ein Schwimmbecken auf der obersten Etage und in jedem zweiten Geschoß einen doppelt hohen Gemeinschaftsraum mit speziellen Angeboten, die von der Bibliothek bis zum Boulder-Raum reichen. Eine solche Ausstattung findet man in Wien üblicherweise bei Baugruppenprojekten, und es ist erfreulich, dass diese zumindest in Einzelfällen ansteckend auf den Mainstream wirken.

Nahe am Kitsch?

Wer nach innovativen Baugruppenprojekte sucht, findet am Ende der Bruno-Marek-Allee, an der Stadtwildnis gelegen, das Projekt HausWirtschaft des Büros Einszueins („Spectrum“, 25. November 2023): eine Baugruppe, die speziell auf die Interessen von Einpersonen- bzw. Kleinunternehmen zugeschnitten ist. Mit einer Kombination von 50 Prozent Wohn- und 50 Prozent Gewerbefläche mit gemeinsam nutzbarer Infrastruktur ist der Baugruppe ein durchschlagender Erfolg in einem Marktsegment gelungen, das von Bauträgern wegen des im Vergleich zum reinen Wohnbau höheren Vermietungsrisikos eher gemieden wird. Es bleibt zu hoffen, dass sich in den Erdgeschoßzonen im gesamten Areal ähnlich innovative Nutzungsmodelle entwickeln werden.

Ein Besuch im neuen Stadtteil lohnt sich jedenfalls, auch wenn viele Objekte noch in Bau und manche Straßen für Passanten noch nicht zugänglich sind. Die Bebauungsdichte an der Nordbahnstraße wird Anlass zur Diskussion geben, und auch die Stadtwildnis wirft noch Fragen auf: Kann es hier, angesichts des rundum massenhaft vergossenen Betons, wirklich eine Wildnis geben? Und ist eine künstliche Wildnis nicht ein Paradoxon, das gefährlich nahe am Kitsch liegt?

Spectrum, Mo., 2024.02.05

05. Januar 2024Christian Kühn
Spectrum

Mehr (schönen) Platz für Fußgänger

Was nützen optimierte Ampelphasen, Barrierefreiheit und breitere Gehsteige, wenn der öffentliche Raum per se unattraktiv ist? Straßenzüge sind verödet, es fehlt an schattenspendenden Bäumen und unversiegelten Flächen, auf denen Fußgänger rasten können.

Was nützen optimierte Ampelphasen, Barrierefreiheit und breitere Gehsteige, wenn der öffentliche Raum per se unattraktiv ist? Straßenzüge sind verödet, es fehlt an schattenspendenden Bäumen und unversiegelten Flächen, auf denen Fußgänger rasten können.

Wien wächst rasant. Von 2012 bis 2021 betrug das Bevölkerungswachstum im Schnitt 21.500 Personen pro Jahr. Der öffentliche Raum wird dabei zu einer umkämpften Ressource. Er ist Teil des Verkehrssystems, aber zugleich ein Raum zum Flanieren, ein öffentliches Wohnzimmer im Freien und mit seinen Gärten, Parks und städtischen Landschaftsräumen ein Ort, der uns das Paradies in Erinnerung rufen kann. In Wien wurden nach Erhebung der Wiener Linien im Jahr 2022 26 Prozent aller Wege mit dem Pkw, 35 Prozent zu Fuß und 30 Prozent mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zurückgelegt. Die restlichen ­Prozent entfallen auf den Fahrradverkehr. Bemerkenswert ist, dass der Anteil des Fußgängerverkehrs seit 2019 um neun Prozentpunkte gewachsen ist.

Das sind im internationalen Vergleich gute Werte, auch wenn Städte wie Amsterdam beweisen, dass ein Anteil des Fahrrads von 50 Prozent möglich ist. Dieser Wert geht dort jedoch nicht auf Kosten des Pkw, dessen Anteil etwa gleich hoch ist wie in Wien, sondern auf Kosten des öffentlichen Verkehrs. In Wien sollte das Bevölkerungswachstum durch den Ausbau des öffentlichen Verkehrs in neue Stadterweiterungsgebiete und durch eine Erhöhung des Rad- und Fußgängeranteils auf Kosten des Pkw bewältigbar sein. Der aktuelle Stadtentwicklungsplan sieht vor, dass 2025 nur noch 20 Prozent aller Wege mit dem Auto zurückgelegt werden.

Auch ein Beitrag zum Klimaschutz

Noch ist Wien aber eine Stadt, deren öffentlicher Raum vom Pkw dominiert wird. Um das zu ändern, betreibt die Stadt Wien seit 2011 eine Mobilitätsagentur zur Förderung des Radverkehrs, in die seit 2013 auch der „Fußverkehr“ inkludiert ist. Dieser Begriff klingt seltsam, als wären da isolierte Füße unterwegs, die man vom Körper abmontieren könnte. Das Zu-Fuß-Gehen unterscheidet sich aber von den anderen Fortbewegungsformen gerade dadurch, dass alle Sinne am Gehen beteiligt sind. Pkw-Fahrer sind in ihrer Konserve eingeschlossen und körperlich kaum an der Bewegung beteiligt; Fahrradfahrer müssen vor allem in der Stadt den Großteil ihrer Aufmerksamkeit aus blankem Überlebenswillen ihrer unmittelbaren Umgebung widmen. Nur Fußgänger haben zumindest die Chance, den öffentlich Raum aufmerksam zu erfassen und zu genießen. Daher sollte die Perspektive der Fußgänger jene sein, mit der sich Stadtplanung und Stadtgestaltung am intensivsten befassen. In der Konkurrenz um Raum und Geld musste sich der Fußgängerverkehr aber bis vor wenigen Jahren ganz hinten anstellen.

Im Jahr 2014 legte die Mobilitätsagentur ein „Strategiepapier Fußverkehr“ vor, das ganzheitlich an das Thema heranging, nämlich sowohl von der Verkehrsplanung wie von der Stadtgestaltung her. Was nützen optimierte Ampelphasen, Barrierefreiheit und breitere Gehsteige, wenn der öffentliche Raum per se unattraktiv ist? Daher forderte das Papier nicht nur eine technische Infrastrukturentwicklung, sondern auch eine „ästhetische Gestaltung“, die Platz für „Individualität und Originalität“ lassen und den öffentlichen Raum als „Wohnzimmer der Stadt“ etablieren sollte. Schließlich betrachtete das Papier das Thema auch als einen Bereich, in dem Wien international Aufmerksamkeit erzielen könnte. Seit 2021 fördert der Bund im Weg der Klima:aktiv-Mobilitätsförderung auch Maßnahmen zur Verbesserung des Fußgängerverkehrs.

Das ist logisch: Jeder Weg, der sich aufs Gehen verlagert, ist ein Beitrag zum Klimaschutz. Voraussetzung für eine Förderung ist das Vorhandensein eines „Masterplans Gehen“ für die jeweilige Gemeinde beziehungsweise in Wien für den Bezirk. Diese Förderung hat eine überraschende Eigendynamik entwickelt. Im Jahr 2023 wurden 21 Millionen Euro investiert, wobei die Stadt Wien zusätzlich zu den Bundesmitteln eine Finanzierung aus dem Programm „Lebenswerte Klimamusterstadt“ beigesteuert hat. Für zehn Bezirke liegen inzwischen Pläne vor, die im Auftrag des Bezirks erstellt wurden. Einen systematischen Zusammenhang mit anderen Strategiepapieren der Stadt, wie den Fachkonzepten des Stadtentwicklungsplans für Grün- und Freiraumplanung oder dem Klimafahrplan, ist nicht unmittelbar zu erkennen, aber durch die Einbindung der Magistratsabteilung für Stadtentwicklung und Stadtplanung in den Prozess gegeben.

Traurig ist es um die Fußgängerwelt bestellt

Für zehn Wiener Bezirke liegen derzeit Masterpläne vor, sechs weitere werden heuer folgen. Sie enthalten jeweils eine Defizitanalyse, die zeigt, wie traurig es vielfach um die Fußgängerwelt bestellt ist: Müllcontainer blockieren Gehsteige, Straßenzüge sind verödet, es fehlt an schattenspendenden Bäumen und unversiegelten Flächen, auf denen Fußgänger rasten können. Es gibt Nutzungskonflikte zwischen Mobilitätsformen, aber auch zwischen Generationen und Kulturen. Bei den Maßnahmen geht es entsprechend um eine fairere Verteilung des öffentlichen Raums zu Lasten des Pkw, also breitere Gehsteige und Vorplätze, etwa vor Schulen. Im Sinne einer Stadt der kurzen Wege, die im Idealfall alle alltäglichen Dienstleistungen im Umkreis von 15 Gehminuten anbietet, untersuchen die Masterpläne auch mögliche Durchgänge und Passagen zur Vermeidung von Umwegen. Ästhetische Fragen, etwa bezüglich Stadtmöblierung und Beleuchtung, kommen in den Masterplänen – anders als im „Strategiepapier Fußverkehr“ – nur am Rande vor. Das liegt möglicherweise daran, dass es für diese Themen eigene Papiere gibt, wie etwa die „Sitzfibel“ der Magistratsabteilung für Architektur und Stadtgestaltung.

Streitfall Michaelerplatz

Schade ist, dass für den ersten Bezirk kein „Masterplan Gehen“ existiert. Dort würde man Auskunft über einen aktuellen Streitfall der Stadtplanung erhalten, nämlich den ­Michaelerplatz. Aus Fußgängerperspektive kann man die Forderung nach Bäumen auf diesem Platz gut nachvollziehen. Wie ihr nach dem aktuellen Entwurf entsprochen werden soll, ist leider für eine Weltstadt beschämend. Ein Wasserspiel vor dem Loos-Haus, drei Bäumchen vor der Michaelerkirche, drei weitere neben dem Hollein-Graben, der seit Kurzem unter Denkmalschutz steht, und Pflanztröge mit eingebauter Terror-Abwehr. Dieses Klein-klein ist lächerlich und ruiniert den Dialog zwischen dem Loos-Haus und dem Portal der Michaelerkirche, von der Loos erklärte, dass zwischen ihr und seinem Haus „stilistisch kein großer Unterschied ist“.

Hermann Czech hat kürzlich in einem Vortrag über Fischer von Erlach einen Hinweis für eine Alternative gegeben: Im Bath Circus in England stehen in der Mitte einer kreisrunden, klassizistischen Bebauung aus dem 18. Jahrhundert sechs mächtige Platanen. Noch ist es nicht zu spät auch am Michaelerplatz nach einer kraftvollen Lösung ohne Wasserspiele und sonstigen Firlefanz zu suchen, die der Würde und Bedeutung dieses Platzes gerecht wird und gleichzeitig auf neue Bedingungen und Bedürfnisse der Stadtbewohner eingeht.

Spectrum, Fr., 2024.01.05

01. Dezember 2023Christian Kühn
Spectrum

Wien Museum: Dieser Beton schwebt nicht

Das neue Wien Museum wirft viele Fragen auf: warum an diesem Ort eine Box aus rohem Beton? Warum ein neues Foyer, das niemand braucht? Warum eine Kutsche, die einen Wal jagt? Die Antworten bleiben kryptisch. Über unscharfes Denken als baukünstlerisches Erfolgsrezept.

Das neue Wien Museum wirft viele Fragen auf: warum an diesem Ort eine Box aus rohem Beton? Warum ein neues Foyer, das niemand braucht? Warum eine Kutsche, die einen Wal jagt? Die Antworten bleiben kryptisch. Über unscharfes Denken als baukünstlerisches Erfolgsrezept.

Nach knapp fünf Jahren Exil öffnet das Wien Museum am Karlsplatz, frisch renoviert und erweitert, seine Räume fürs Publikum. Dem Architekturwettbewerb im Jahr 2015 waren intensive Diskussionen über den Standort und die Frage des Denkmalschutzes für das von Oswald Haerdtl entworfene Bestandsgebäude aus den 1950er-Jahren vorausgegangen. Vor allem in Kombination waren diese Fragen brisant. Dass der Karlsplatz ein optimaler Standort für ein Stadtmuseum ist, steht außer Frage. Ein Neubau hätte die Möglichkeit geboten, städtebaulich an die Aufgabe heranzugehen und gleichzeitig den Typus des Universalmuseums neu zu denken. Ob das auch unter der Vorgabe, Haerdtls mittelmäßigen Bestandsbau als Denkmal zu erhalten, gelingen könnte, war allerdings von Beginn an fraglich.

In der Einleitung zur Wettbewerbsausschreibung, gemeinsam verfasst vom „alten“ Direktor Wolfgang Kos und vom „neuen“ Direktor Matti Bunzl, fehlte es dennoch nicht an großen Erwartungen: „Keine Schatzkammer“, sondern eine „architektonische Vision“; ein „Labor der Zivilgesellschaft“; ein „Museum, das in der internationalen Museumswelt Vorbildwirkung hat“; eine „Wiener Sehenswürdigkeit der Top-Kategorie“. In der ersten Wettbewerbsstufe wurden 274 Projekte eingereicht, die sich im Spagat zwischen architektonischer Vision und Denkmalschutz versuchten. Die meisten Entwürfe lösten das Bestandsmuseum aus der Umklammerung mit dem später angebauten Nachbarn, der Winterthur-Versicherung, heraus und machten ihn dadurch wieder als Solitär auf Augenhöhe mit Künstlerhaus und Musikverein erlebbar.
Erweiterung des Bestands durch Zubauten und Aufstockung

Entscheidend war die Frage, wo die eingereichten Projekte die zusätzlich geforderten Volumina für die beinahe verdoppelten Ausstellungsflächen platzierten: in einem eigenständigen Baukörper vor dem Bestand mit unterirdischer Verbindung, wie es die Zweit- und Drittgereihten im Wettbewerb versuchten; als Verbindung von Alt und Neu zu einer neuen Gesamtfigur; oder als Erweiterung des Bestands durch Zubauten und Aufstockung. Bezüglich der letzteren Variante wird in der Ausschreibung angemerkt, dass „vonseiten des Bundesdenkmalamts eine Aufstockung oder ein weiterer Anbau an das Bestandsgebäude als nicht möglich erachtet wird“. Trotzdem konnte sich im Wettbewerb ein Projekt durchsetzen, das beides tat.

Das Projekt von Roland Winkler, Klaudia Ruck und Ferdinand Certov stockt den Bestand um zwei Geschoße auf und erweitert ihn um ein zusätzliches Foyer vor dem bestehenden Eingang. Im Modell sah das Projekt bestechend aus: ein kompakter Quader, durch ein verglastes Fugengeschoß getrennt über dem Bestand schwebend. Die innere Visualisierung des Quaders zeigte einen stützenfreien Raum mit einer Lichtdecke, ideal für Wechselausstellungen. Teile der Jury sahen in der scheinbaren Einfachheit eine Irreführung, vor allem angesichts des Versprechens, dass Alt- und Neubau sich nicht berühren, sondern die neuen Geschoße wie ein Pilz aus Stahlbeton aus dem bestehenden Hof wachsen würden. Die Jury blieb bis zum Schluss gespalten: Sechs der 15 Juroren stimmten gegen das Projekt.
Als hätte man dem Eingangsportal alle Zähne gezogen

Das Ergebnis, wie es heute am Karlsplatz zu sehen ist, hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Die schwebende Box ist eine starke Geste, die sicher Freunde finden wird. Fragt man die Architekten, warum sie an diesem Ort ausgerechnet mit rohem Sichtbeton arbeiten, ist die Antwort überraschend: Auch der Haerdtl-Bau sei ein schalraues Betonskelett, mit dem man in Dialog treten wollte. Aber ist das wirklich eine Begründung für eine brutalistische Box neben Karlskirche und Musikverein? Außerdem handelt es sich konstruktiv nicht um eine Konstruktion aus Stahlbeton, sondern um ein extrem aufwendiges Stahlfachwerk, das innen und außen mit Betonplatten verkleidet ist. Das mag bei oberflächlicher Betrachtung keinen Unterschied machen, fällt aber an der Unterkante der Box auf, wo das Stahltragwerk unangenehm, weil nicht zum Rhythmus der Haerdtl-Fassade passend, zum Vorschein kommt.

Ähnlich irritierend ist die Argumentation für das neue Foyer. Man muss hier angesichts der Entfernung der Eingangstüren von einer Zerstörung sprechen, als hätte man dem Eingangsportal alle Zähne gezogen und ihm einen Maulkorb verpasst. Auf die Frage, wozu es dieses Foyer braucht, geben die Architekten eine entwaffnende Antwort: Sie seien stolz darauf, einen Raum geschaffen zu haben, der seine Nutzung noch finden darf. Sollte ein zeitgemäßes Museum nicht vor allem aus Räumen mit solchem Aneignungspotenzial bestehen?
Zu viele unscharf gedachte Lösungen

Entsprechend durchdesignt ist das Innere des restlichen Museums. Sichtbeton in so überirdischer Qualität wie in der zentralen Halle findet man wohl in ganz Österreich nicht. Räumlich ist die Halle großes Theater mit schwebenden Exponaten, unter anderem einem Wal aus dem Wurstelprater, der vom Museum auf den Namen „Poldi“ getauft wurde. Hier darf er sich mit einer barocken Kutsche, Figuren aus dem Donner-Brunnen und Alfred Hrdlickas Holzpferd ein surrealistisches Wettrennen liefern. Neu eingefügte Treppen erlauben einen kontinuierlichen Rundgang durch die dicht präsentierte, chronologisch aufgebaute Dauerausstellung und in das Fugengeschoß mit großzügigem Kinderbereich, einem Saal für 300 Personen und einer Terrasse mit Blick auf die Karlskirche. Der Raum für Wechselausstellungen im obersten Geschoß ist zwar groß, aber schwer teilbar: Die Stahlkonstruktion macht sich hier mit zwei diagonal im Raum stehenden Elementen störend bemerkbar.

Internationale Vorbildwirkung wird das neue Wien Museum nicht entfalten. Trotz spürbarer Liebe zum Detail gibt es zu viele unscharf gedachte Lösungen, an die laufenden Diskurse um Ressourcenschonung und Angemessenheit der Mittel kann das Haus mit seiner unnötig komplizierten Konstruktion auch nicht anschließen. Keinesfalls sollte es denkmalpflegerisch zum Vorbild werden. Es wäre klüger gewesen, den Denkmalschutz für den Haerdtl-Bau aufzuheben und es den Planern zu überlassen, Teile des Bestands als Exponate zu erhalten. Statt Zerstörung mit Verstand zu betreiben, haben wir uns wieder an die Vergangenheit gebunden. Das Publikum wird sich daran nicht stoßen.

Spectrum, Fr., 2023.12.01



verknüpfte Bauwerke
Wien Museum

04. November 2023Christian Kühn
Spectrum

Wohnen in Atzgersdorf: Scheu vor den Nachbarn sollte man hier nicht haben

Urbaner Nutzungsmix mit mediterranem Flair? Oder doch eine Betonwüste? Ein Wohnbau in Wien Atzgersdorf verbindet hohe Dichte mit abwechslungs­reicher Gestaltung. Reicht das?

Urbaner Nutzungsmix mit mediterranem Flair? Oder doch eine Betonwüste? Ein Wohnbau in Wien Atzgersdorf verbindet hohe Dichte mit abwechslungs­reicher Gestaltung. Reicht das?

Wohnen am Bach, mitten in Wien: Wahrscheinlich war das die Botschaft, die der Immobilienkonzern Buwog seinen Kunden mit dem Projektnamen „Rivus“, dem lateinischen Wort für „Bach“, vermitteln wollte. Inspiriert wurde der Name vom Liesingbach im 23. Wiener Gemeindebezirk, der zwar nicht unmittelbar, aber doch recht nah an dem Areal vorbeifließt, auf dem die Buwog über 800 Wohnungen und ergänzende Gewerbe- und Handelsflächen entwickelt hat.

Das Areal liegt in Atzgersdorf, an der stark befahrenen Breitenfurterstraße, die hier eine leichte Kurve macht. Die Nutzungen in der Umgebung reichen von Lagerhallen und ­Gewerbebetrieben über den großvolumigen Wohnbau bis zu Einfamilienhäusern, wobei die Zukunft tendenziell dem Wohnbau gehört. In einer ersten Bauphase entstanden acht würfelförmige Wohnhäuser mit rund 30 Meter Seitenlänge, ein Bautyp, der gern als „Stadtvilla“ bezeichnet wird. Im Schachbrett-Raster aufgestellt, erlauben sie eine hohe Bebauungsdichte, die allerdings damit erkauft wird, dass der öffentliche Raum zwischen den „Villen“ an den Ecken ausrinnt und oft zum Abstandsgrün verkommt.

Rasante Zunahme der Bodenversiegelung

Typologisch interessanter sind zwei von Lorenzateliers entworfene Baublöcke direkt an der Breitenfurterstraße, ein Wohnhaus mit Innenhof und Dachschwimmbad sowie ein Hybridgebäude mit mehreren übereinander gestapelten Nutzungen: ein Interspar-Markt mit Tiefgarage, darüber auf zwei Geschoßen eine Volksschule und Sportflächen auf dem Dach. Die Kombination von Schule und Supermarkt funktioniert gut, weil beide in der Regel ähnliche Einzugsbereiche haben und sich kaum stören. Angesichts der rasanten Zunahme der Bodenversiegelung sollte eine solche Stapelung zumindest im Stadtgebiet eine Selbstverständlichkeit sein. Auf der anderen Straßenseite zeigt ein Billa-Markt, wie es nicht sein sollte: eine große Asphaltfläche als Parkplatz mit einer in die Tiefe des Grundstücks versetzten Box. Mit etwas Fantasie kann man sich die Breitenfurterstraße als Boulevard vorstellen, allerdings erst, wenn diese unverantwortliche Art der Bodennutzung verschwunden ist.

Die letzte Bauetappe von Rivus wurde im Herbst 2022 fertiggestellt. Sie setzt die Bebauung an der Breitenfurterstraße auf einer Länge von rund 180 m und einer Breite von 60 m fort und bietet Platz für 290 Wohnungen und 2400 m² Geschäftsflächen. Letztere orientieren sich einerseits zur Breitenfurterstraße und andererseits zu einem öffentlichen Platz, an dem auch der Zugang zum Interspar-Markt liegt. Ursprünglich war das gesamte Areal als Einkaufszentrum gewidmet, auf dem ein innovativer Baumarkt mit Schwerpunkt „Urban Gardening“ geplant war. Als der Marktbetreiber aus dem Projekt ausstieg, entschloss sich die Buwog, auch hier frei finanzierte Mietwohnungen zu errichten. Die neue Bebauung unterscheidet sich radikal von den benachbarten Stadtvillen. Statt frei stehende Baukörper auf die grüne Wiese zu stellen, haben PPAG architects sieben Häuser zu einer feingliedrigen Struktur verschmolzen, in der die untersten Geschoße einen künstlichen Hügel bilden, in dem Garage, Kellerräume, Lager, Technik und Müllräume verschwinden. Darüber entwickeln sich auf unterschiedlichen Ebenen Platzfolgen, die als halb öffentliche Räume auch Besucher von außen einladen. Auf der Ebene des zweiten Obergeschoßes sind all diese Plätze miteinander verbunden.

PPAG haben auf die Gestaltung der Freiräume gleich viel Wert gelegt wie auf die Gestaltung der Gebäude. Das bedeutet, Freiraumplanung in der dritten Dimension zu betreiben und nicht als zweidimensionale Oberflächenkosmetik. Das erfordert Planungsstrategien, mit denen Stockwerk für Stockwerk eine Balance zwischen der inneren Qualität der Wohnungen und der Qualität der Lufträume, die sie erzeugen, gefunden werden muss. PPAG haben für diese doppelte Gestaltung eine Grammatik entwickelt, deren Ergebnis in zahlreichen Arbeitsmodellen kontrolliert wurde, bis eine räumlich befriedigende Lösung gefunden war. Besonders berücksichtigt haben PPAG das Thema der sommerlichen Überwärmung, indem auch schattige Freiräume geplant wurden.

Fensterläden, die den Wiener an Urlaub erinnern dürften

Die so entstandene Atmosphäre hat Ähnlichkeiten mit mediterranen, kleinteiligen Stadträumen, und PPAG bedienen diese Assoziation mit Fensterläden, die den Wiener an Urlaub erinnern dürften. Grün sind diese Höfe – so wie ihre mediterranen Vorbilder – nur bedingt: Der Garagensockel lässt nur wenige große Bäume zu. Pflanztröge, Hoch­beete und extensiv begrünte Dächer beleben die Außenräume, in die auch zahlreiche großzügig bemessene Balkone ragen. Scheu vor den Nachbarn sollte man hier nicht haben. Laut Homepage der Buwog sind 80 Prozent der Wohnungen vermietet, zu Nettomieten von knapp zwölf Euro, was inklusive Betriebskosten und Steuern für eine Wohnung von 52 m² brutto 830 Euro ergibt.

Die Begeisterung für das mediterrane Flair der Höfe wird nicht allgemein geteilt. Als „Der Standard“ im vergangenen Frühjahr ausführlich und sehr positiv über das Projekt berichtete, hagelte es Postings, die von einer „grauenhafte Betonwüste“ und vom „Verbrechen“ sprachen, „angesichts des aktuellen Wissenstands noch so zu bauen“. Man möge sich „endlich wieder die alten Bauten ansehen, angefangen vom Karl-Marx-Hof, mit Wiesen und Bäumen!“

Was wäre die Alternative in einer wachsenden Stadt? Doch Wohnen im Hochhaus? Alt Erlaa, dessen Terrassenhochhäuser ganz in der Nähe liegen, lässt grüßen. Oder sollte man vielleicht den Rahmen der Kritik ins Städtebauliche erweitern? „Ein neuer Stadtteilpark ist für die Freiraumversorgung der bestehenden und neuen Stadtteile in Atzgersdorf unablässig“, liest man in einem Strategieplan für den 23. Bezirk aus dem Jahr 2015. In diesem Fall hat die Stadt ihre Versprechen gehalten: Im Mai dieses Jahres wurde der Stadtteilpark Atzgersdorf mit 2,7 Hektar eröffnet, vom Rivus-Projekt aus gut in 700 m Distanz erreichbar. Ein weiterer Park mit drei Hektar wird unmittelbar gegenüber vom Rivus-Projekt entstehen. Das Konzept, hohe großstädtische Dichte abwechslungsreich zu gestalten und mit wohnungsnahen Parkanlagen zu verbinden, hat jedenfalls Zukunft und kann vielleicht auch Kritiker überzeugen.

Spectrum, Sa., 2023.11.04

06. Oktober 2023Christian Kühn
Spectrum

„Bildet Banden“? Oder: „Macht euch keine Sorgen“? Neue Ausstellungen

Die Ausstellungssaison ist eröffnet, und es gibt viel Neues zu lernen: über Architektur als Pflegeberuf, Schwarm­intelligenz und den ewigen Kampf gegen die Schwerkraft. Eine Rundschau.

Die Ausstellungssaison ist eröffnet, und es gibt viel Neues zu lernen: über Architektur als Pflegeberuf, Schwarm­intelligenz und den ewigen Kampf gegen die Schwerkraft. Eine Rundschau.

Hans Hollein, Österreichs bisher einziger Pritzker-Preisträger, hat zeitlebens hart an der Marke Hollein gearbeitet. Berüchtigt ist sein Beitrag für die „Absolut Vodka“-Kampagne 1999, für die er in einem Foto des Haas-Hauses am Stephansplatz die zylindrischen Fassadenkörper durch eine Vodka-Flasche ersetzte. Auf die Frage, ob das sein erster Ausflug in die Welt der Werbung sei, antwortete Hollein, als Architekt sei man sein Leben lang auf einem Werbefeldzug für sich selbst. Dass diese Haltung auch auf das Werk abfärbt, ist fast unvermeidlich. Spätestens Mitte der 1990er-Jahre hatte Hollein seinen Zenit überschritten, nach einer provokanten theoretischen Phase, auf die kleine Geschäftslokale folgten, die international Aufmerksamkeit erregten, sowie die großen Projekte der 1980er-Jahre: die Museen in Mönchengladbach und Frankfurt und das Haas-Haus in Wien. Danach war die Marke Hollein etabliert, erwies sich aber als Korsett, das kaum Entwicklung zuließ. Holleins provokanter Schlachtruf aus den 1960er-Jahren, „Alles ist Architektur“, der Möglichkeitsräume öffnen sollte, roch nun nach geschicktem Marketing. Rem Koolhaas verkehrte ihn schon Mitte der 1980er-Jahre ins Gegenteil: „Wo nichts ist, ist alles möglich. Wo Architektur ist, ist nichts (anderes) möglich.“

Das Architekturzentrum Wien hat mit dem Nachlass des 2014 verstorbenen Architekten ein komplexes Erbe zu verwalten, das einen respektvollen, aber kritischen Umgang erfordert. Die derzeit im AzW laufende, von Lorenzo de Chiffre, Benni Eder und Theresa Krenn konzipierte Ausstellung „Hollein Calling – Architektonische Dialoge“ löst diesen Anspruch bravourös ein. Sie präsentiert Zeichnungen und Modelle aus dem Nachlass zu 15 ausgewählten Projekten und stellt sie aktuellen internationalen Positionen von 15 Büros vor, von denen die meisten in den Nullerjahren gegründet wurden. Gemeinsam ist den Büros dieser Generation ein Bekenntnis zur Relevanz der architektonischen Form, deren Entwicklung in Zeichnung und Modell in der Ausstellung nachvollziehbar wird.

Zwischen Alltagspraxis und Weltrettung

Die ausführlichen Interviews mit den 15 Büros, die im Katalog publiziert sind, machen deutlich, dass Hollein mit seinem expliziten Fokus auf die architektonische Form durchaus wahrgenommen wurde; sein postmodernes formales Repertoire und die Tatsache, dass er soziale Fragen weitgehend aussparte, werden von den Interviewpartnern aber überwiegend kritisch gesehen.

Schwarmintelligenz scheint die Strategie der Stunde zu sein. Parallel zum Dialog mit Hollein zeigt das AzW eine weitere Ausstellung mit dem Titel „Zwischen Kostenschätzung, Muttermilch und Bauwende“, in der die jüngste Generation von Architekturschaffenden in Österreich über die aktuelle Lage reflektiert. Der Schwarm besteht in diesem Fall aus rund 60 Personen, die gerade dabei sind, eine Architekturpraxis zu eröffnen, was nicht unbedingt mit einer Tätigkeit als Ziviltechniker gleichzusetzen ist. Der Titel deutet an, dass nicht nur das Spannungsfeld zwischen Alltagspraxis und Weltrettung Thema ist, sondern auch die Lebenssituation der Akteure, Stichwort Life-Work-Balance. Kuratiert von einem Kernteam von sechs Personen, haben in ganz Österreich Workshops stattgefunden, deren Ergebnisse jetzt präsentiert werden, als „umfassendes, kollektiv kuratiertes Mapping, das Positionen versammelt und Fragen stellt, um Diskussionsräume zu öffnen“, wie es im Pressetext heißt. Form spielt hier bestenfalls eine Nebenrolle, dafür entstehen griffige Slogans, die der Ausstellung Struktur geben. Manche davon könnten Karriere machen, etwa „Mitreißen statt Abreißen“, „Bildet Banden“ und die Empfehlung zum „Taktischen Optimismus“, der wohl bedeutet, in die allgemeine Untergangsstimmung ein „Macht euch keine Sorgen!“ hineinzurufen und dann aus den verfügbaren Strohalmen ein rettendes Floß zu bauen.

Den Begriff „Sorge“ trägt auch eine Ausstellung im Titel, die derzeit in Wien im Gebäude der alten Wirtschaftsuniversität nahe des Hundertwasser’schen Verbrennungsturms zu sehen ist. „Sorge um den Bestand – Zehn Strategien für die Architektur“ ist eine Wanderausstellung, die vom Bund Deutscher Architektinnen und Architekten mit einer Förderung durch das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen erarbeitet wurde. Auch hier gibt es eine Verbindung: Das Wort „Sorge“ haben AzW-Leiterin Angelika Fitz und Elke Krasny 2019 mit der Ausstellung „Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise“ im Kontext des Bauens popularisiert. Krasny hat für den aktuellen Katalog einen Beitrag verfasst, in dem sie die Architekt:innen ermahnt, sich nicht länger als staatstragende Akteur:innen zu gerieren, sondern als systemerhaltende – sozusagen als Pflegeberuf.

Kampf gegen die Gemütlichkeit

Dazu kann man in der von Olaf Bahner, Matthias Böttger und Laura Holzberg kuratierten Ausstellung zehn Ansätze des Umgangs mit dem Bestand kennenlernen, die sich allerdings überwiegend essayistisch und nicht strategisch präsentieren, geschweige denn griffige Slogans produzieren, die eine Debatte auslösen können. Vielversprechend ist das von der Plattform für Baukulturpolitik kuratierte Begleitprogramm, von dem bis zum Ausstellungsende am 26. Oktober noch fünf Termine geplant sind.

Aus diesen schwarmintelligenten Unternehmungen sticht eine Ausstellung heraus, die derzeit in Linz auf dem Nestlé-Areal in der ehemaligen Franck & Kathreiner Kaffeefabrik zu sehen ist. Michael Hofstätter und Wolfgang Pauzenberger, die unter dem Namen Pauhof firmieren, haben hier Arbeiten aus den vergangenen drei Jahrzehnten zu einem Schaulager arrangiert, das 30 Jahre Kampf gegen die Gemütlichkeit dokumentiert, der sie mit monumentalen Projekten begegneten – etwa für den Berliner Reichstag oder für die Expo 95 und das Museumsquartier in Wien. Hätte man ihre Vorschläge aufgegriffen, würde man Wien heute ansehen, dass es Zentrum einer Metropolregion von knapp drei Millionen Einwohnern ist.

In den 1990er-Jahren international renommiert und im Vortragszirkus und in Ausstellungen präsent, haben Pauhof ihre Karriere als einen Kampf gegen die Schwerkraft angelegt, der nicht zu gewinnen war. Ihr gebautes Werk beschränkt sich auf einige wenige Einfamilienhäuser, exemplarische Architekturen, dazu kommen Ausstellungs­installationen und Wettbewerbsbeiträge. Das meiste davon findet man in Linz frisch restauriert und auf 500 Quadratmetern arrangiert, sodass neue Sinnzusammenhänge entstehen. Das aufgelassene Fabriksgebäude, in dem die Ausstellung zu sehen ist, wird bald drei banalen Hochhäusern weichen, dem Trinity Park. Bei Pauhof könnte man lernen, Architektur im städtebaulichen Maßstab zu denken, statt die Stadtentwicklung dem Finanzmarkt zu überlassen.

Spectrum, Fr., 2023.10.06

05. September 2023Christian Kühn
Spectrum

Heumarkt: Drei Aussichten auf das Welterbe

Das Ringen um das Heumarkt-Projekt geht in die nächste Runde. Die nächsten Monate werden zeigen, ob es der Stadt gelingt, einen Neustart zu wagen.

Das Ringen um das Heumarkt-Projekt geht in die nächste Runde. Die nächsten Monate werden zeigen, ob es der Stadt gelingt, einen Neustart zu wagen.

Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass auf dem Heumarkt-Areal im Jahr 2023 noch immer Stillstand herrschen wird? Schon 2012 war die Idee einer Hochhausbebauung an diesem Ort erstmals der Fachöffentlichkeit vorgestellt worden. Diese zeigte sich entsetzt über die vorgeschlagene Dichte; der Investor, Michael Tojner, gab sich konziliant und versprach, die Kosten eines kooperativen Expertenverfahrens unter der Leitung des TU-Professors Rudi Scheuvens zu übernehmen. Dessen Ergebnis waren rund 50 Bebauungsstudien, aus denen ein Beirat zwei Alternativen destillierte. Die erste sah die Sanierung und Aufstockung des Hotel Intercontinental aus den 1960er-Jahren vor. Den Hauptteil an teuer verkaufbaren Nutzflächen sollte ein schlanker, vor das Hotel platzierter Turm von 73 m Höhe liefern, annähernd das Maß des Ringturms am anderen Ende des 1. Bezirks. Die andere Alternative sah den Abriss des Hotels und eine Kombination einer Art Blockrandbebauung mit einem Turm vor.

Diese Vorgaben sollten als Grundlage für einen Architekturwettbewerb dienen. Was folgte, war ein Aufschrei in der nationalen und internationalen Fachwelt, auch vieler Teilnehmer am kooperativen Verfahren, die keinen Zusammenhang zwischen ihrer Arbeit und der Empfehlung des Beirats finden konnten. Kritisiert wurde vor allem eine Fehlkonstruktion des Verfahrens: nicht, welche Bebauung der Ort vertrage, sei zur Debatte gestanden, sondern wie sich die Rendite-Vorstellungen des Investors an diesem Ort umsetzen ließen. Die Kritiker forderten einen Neustart der Planung und eine Anpassung der Rendite-Erwartungen an das Potenzial des Orts. Angesichts der Tatsache, dass der Investor das Areal 2008 um kolportierte 4,2 Millionen Euro gekauft hatte, sei der Spielraum dafür mehr als ausreichend.

Eine scheinbar schwebende Platte für das Veranstaltungsgeschoß

Der Investor gab sich unbeeindruckt. In Abstimmung mit der Stadt lobte er einen Wettbewerb aus, den der brasilianische Architekt Isay Weinfeld 2014 für sich entscheiden konnte. Er bevorzugte die erste Variante, also Erhaltung des Hotels und Errichtung eines Turms mit 73 m, der genau auf der Blickachse vom Belvedere zu liegen kam. Die zwingend geforderte Eisfläche von rund 5000 m² erreicht das Projekt durch eine Verdrehung um 90 Grad, wodurch ein Teil auf öffentlichem Grund zu liegen kommt und überdies eine Verlegung der Lothringerstraße nötig wird. Kompositorisch ergänzte Weinfeld Turm und Scheibe um eine verbindende, scheinbar schwebende Platte für das Veranstaltungsgeschoß. Das Projekt bestätigte die Befürchtungen der Kritiker: Das Volumen sprengte den Rahmen der historischen Stadt, sowohl in seiner Nachbarschaft als auch vom Belvedere aus betrachtet, wo der Turm mit seiner Rasterfassade dem Stephansdom Konkurrenz machen würde.

In einem Interview im „Kurier“ sprach Weinfeld von einem Übergangsphänomen, das sich mit der Errichtung weiterer Hochhäuser auflösen werde, wie sie die Stadt im „Masterplan Glacis“ vorgesehen hätte. Beim Masterplan handelte es sich zwar nur um eine unverbindliche Studie, die die Stadt bei Erich Raith (TU Wien) in Auftrag gegeben hatte; sie wurde vom Investor aber als Bestätigung des Projekts dargestellt. Dem Widerstand dagegen ließ sich so freilich nicht begegnen. Vor allem ein Aspekt stellte sich zunehmend als kritisch dar: die Vereinbarkeit des Projekts mit dem Welterbe-Status der Wiener Innenstadt. Schon bei den ersten öffentlichen Vorstellungen 2012 hatte der damalige Präsident von Icomos Österreich, des International Council of Monuments and Sites, Wilfried Lipp, klar zum Ausdruck gebracht, dass Icomos keinem Projekt zustimmen werde, das über die 38 m Höhe der Traufkante des Hotels Intercontinental hinausgeht. Der Investor zeigte sich davon unbeeindruckt. Es werde sich ein Kompromiss finden.
Ringkampf um den Heumarkt

Mit dem Jahr 2014 begann ein Ringkampf um das Projekt, der dem Heumarkt, im vorigen Jahrhundert jeden Sommer ein Mekka des Freistilringens, alle Ehre machte. Er kulminierte 2017 in einem neuen Projekt mit einem von 73 m auf 67 m reduziertem Turm, dessen Gesamtvolumen aber praktisch gleich blieb. Dieser Kunstgriff geht auf einen weiteren TU-Professor zurück, den inzwischen verstorbenen Berater der Planungsstadträtin Maria Vassilakou, Christoph Luchsinger. Er schlug vor, das Hotel Intercontinental abzureißen und durch einen näher an den Stadtpark gerückten, höheren und tieferen „Ersatzneubau“ zu ersetzen.

Bevor die Widmung für das Projekt im Gemeinderat beschlossen wurde, zeigten die Wiener Grünen ihr Talent im politischen Freistilringen: Die grüne Basis setzte eine Urabstimmung durch, die gegen das Projekt ausfiel; Vassilakou stellte den Mandataren auf Druck des roten Koalitionspartners ihr Votum frei. Der Rest ist Geschichte: Die Widmung für das Projekt erhielt eine Mehrheit, die Grünen verloren ihre Glaubwürdigkeit und nicht zuletzt auch deshalb die nächsten Nationalratswahlen.

Das Projekt hatte damit aber nur scheinbar freie Fahrt. Einen Monat nach der Abstimmung im Landtag setzte die Unesco die Innere Stadt auf die Liste der gefährdeten Welterbestätten. Trotzdem bescheinigte die Wiener Landesregierung 2018, dass das Projekt zu klein sei, um eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) durchführen zu müssen. Gegen diesen Bescheid erhob „Alliance for Nature“, unterstützt von der „Initiative Denkmalschutz“, eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Weiters stellte der EuGH Ende 2022 fest, dass Österreich in seinem UVP-Gesetz unzulässige Schwellenwerte eingeführt habe, die allein keine Begründung gegen die Durchführung einer UVP darstellen dürfen.

Und das neue Projekt?

Damit hängt das Verfahren in Österreich in der Warteschleife. Der Investor hat laut Auskunft der Stadt zwei Feststellungsersuchen eingereicht, eine für den Projektstand 2018 und einen für ein neues Projekt aus dem Herbst 2021. Selbst wenn sie gegen die UVP ausgehen, ist mit Beschwerden zu rechnen, womit das BVwG am Zug ist. Wenn es auf UVP-Pflicht erkennt, muss diese erst einmal durchgeführt werden, und dann geht es in die nächste Runde von Beschwerden, bis zu deren Behandlung alle baurechtlichen Bewilligungen blockiert sind.

Und das neue Projekt? Es sieht statt einem Turm eine quer zum Intercontinental stehende 56,5 m hohe Scheibe vor. An der Dichte am Standort und am ruinierten Blick vom Belvedere ändert die Zweischeibenlösung nichts: zwei abgestellte Reisekoffer statt einem frech aufzeigenden Finger. Wenn das keine erhebliche Beeinträchtigung des „Universal Outstanding Value“ ist, was dann?

Die hektischen Aktivitäten des Wiener Landtagspräsidenten Ernst Woller von der SPÖ, im Vorfeld der nächste Woche in Riad beginnenden Sitzung der Unesco-Kommission das Projekt doch noch von der roten Liste zu bekommen, sind so gut wie chancenlos, und einfach zurückgeben lässt sich die Auszeichnung auch nicht. Erst wenn aus der Gefährdung eine Zerstörung geworden ist, gäbe es kein Welterbe mehr und damit auch keine UVP. Die nächsten Monate werden zeigen, ob es der Stadt gelingt, die Initiative an sich zu reißen und einen Neustart zu wagen.

Spectrum, Di., 2023.09.05

08. August 2023Christian Kühn
Spectrum

Was drei Hochhäuser in Wien-Erdberg zur Stadtentwicklung beitragen

Leicht ist es nicht zu erklären, warum sie gerade hier stehen, aber Gründe gibt es schon. „The Marks“: drei neue Hoch­häuser in Wien-Erdberg. Zehn Jahre dauerte es vom Wettbewerb bis zur Realisierung.

Leicht ist es nicht zu erklären, warum sie gerade hier stehen, aber Gründe gibt es schon. „The Marks“: drei neue Hoch­häuser in Wien-Erdberg. Zehn Jahre dauerte es vom Wettbewerb bis zur Realisierung.

Braucht Wien Hochhäuser? Nur dann, so steht es im Wiener Hochauskonzept aus dem Jahr 2014, wenn sie „außerordentliche Mehrwerte für die Allgemeinheit beisteuern“. Das ist ein hoher Anspruch. Aber von welchen Mehrwerten wird hier gesprochen? Was ist außerordentlich? Und wer genau ist die Allgemeinheit?

In anderen Städten, etwa in Zürich oder München, erfolgt das Beisteuern auf dem Weg des Besteuerns: Wer von der Öffentlichkeit für sein Grundstück eine neue Widmung erhält und damit einen hohen Gewinn macht, muss einen Teil davon abgeben. In Österreich gilt diese Lösung aus verfassungsrechtlichen Bedenken für nicht umsetzbar. Stattdessen nutzt man hierzulande oft sogenannte Städtebauliche Verträge, die zwischen der öffentlichen Hand und dem Eigentümer abgeschlossen werden. Solche Ver­träge regeln, zu welchen Leistungen sich ein Eigentümer verpflichtet, wenn er die gewünschte Widmung erhält. Das können qualitätssichernde Verfahren sein, etwa ein Architekturwettbewerb, die Mitfinanzierung eines Kindergartens, die Schaffung schattiger Freiräume oder die Verpflichtung, einen Teil der Wohnungen „leistbar“ anzubieten.

Kürzlich wurde in Wien ein Hochhausprojekt fertiggestellt, das auf einem solchen Vertrag aufbaut. Für einen Wohnbau ist die Lage – gefühltes Simmering, aber gerade noch in Erdberg – nicht gerade prickelnd: Es liegt am Rande eines Gewerbegebiets; die Südost-Tangente, Wiens meistbefahrene Straße, führt ein Stück weit im Westen vorbei; von ihr zweigt an der Anschlussstelle St. Marx eine namenlose, überdimensionierte sechsspurige Zubringerstraße ab, deren Verlängerung das Areal an einer Seite begrenzt. Zumindest hat die Straße hier einen Namen, Döblerhofstraße, und sie hat auch Nachbarstraßen, teilweise mit altem Baumbestand. Die U-Bahnstation Gasometer mit ihrem Zugang zur Shoppingmall und zum Kinocenter liegt nur fünf Minuten Fußweg entfernt.

Architekturwettbewerb im Frühjahr 2014

Warum sind gerade auf diesem Gewerbegrundstück, auf dem sich eine als Parkplatz genutzte Asphaltfläche befand, drei Hochhäuser entstanden? Der Hintergrund ist ein Interessengemenge zwischen dem privaten Eigentümer, Ariel Muzicant, und zwei Politikern, deren Parteien gerade in der Stadtregierung eine Koalition bildeten, Michael Ludwig, Wohnbaustadtrat von der SPÖ, und Christoph Chorherr, Sprecher für Stadtplanung der Grünen und rechte Hand von Maria Vassilakou, der Stadträtin für Stadtentwicklung und Verkehr.

An der Interessenlage ist nichts Anrüchiges: Muzicant sah in der Errichtung von Hochhäusern die maximale Wertsteigerung für sein Grundstück, und er konnte die Signale aus dem Rathaus richtig deuten: Die seit 2010 regierende rot-grüne Stadtregierung hatte ein Faible für Wohnhochhäuser entwickelt, als eine Antwort auf die demografisch bedingte steigende Nachfrage nach Wohnraum, aber auch als Symbol einer neuen Zeit. Dass beide Parteien das Heumarkt-Projekt, mit dem sich die Karikatur dieser neuen Zeit ins Stadtbild zu pressen versuchte, mit Nachdruck unterstützten, war Teil dieses Signals und umso überraschender, als es bei der SPÖ und den Grünen traditionell eine dem Wohnhochhaus gegenüber eher kritische Stimmung gegeben hatte. Als Grundlage für die Widmung führte Muzicant in Abstimmung mit der Stadt im Frühjahr 2014 einen Architekturwettbewerb mit 19 Teilnehmern durch, der die Position und Gestalt der Türme klären sollte. Der erste Preis ging an das Studio Vlay Streeruwitz, das einen öffentlichen Platz im Format von 70 mal 35 Metern ins Zentrum rückte.

Ein Platz braucht naturgemäß platzbildende Wände, die Studio Vlay Streeruwitz teilweise aus den Sockelzonen der Hochhäuser bilden, zum überwiegenden Teil aber aus einem mehrgeschoßigen Stahlregal, das als Garage für 2400 Fahrräder dient. Das schwarz gestrichene Regal ist mit einer Membran aus gelochtem Blech verkleidet, das einen Blick nach außen erlaubt, aber in umgekehrter Blickrichtung dicht genug ist, um raumbildende Baukörper zu erzeugen. Neben dem großen „Festplatz“ entstanden so drei weitere, von den Landschaftsarchitekten Isolde Jarek und Oliver Barosch sorgfältig gestaltete, öffentlich zugängliche Grünräume. In Summe ergibt das eine klar ausgeformte Mitte mit anpassungsfähigen Rändern als Übergang zu einer unwirtlichen Umgebung.

Hat Wien dieses Triple gebraucht?

Vermarktet wurde das Gesamtprojekt unter dem Namen „The Marks“; der Turm von Studio Vlay Streeruwitz heißt „The One“, die zweit- und drittplatzierten Türme aus dem Wettbewerb heißen Q- und Helio-Tower, entworfen von Rüdiger Lainer und Partner sowie BEHF. Dass das Projekt fast zehn Jahre vom Wettbewerb bis zur Realisierung gebraucht hat, lag an den zähen Verhandlungen über den „Städtebaulichen Vertrag“. Aus 1030 Wohnungen wurden 1282, von denen die Hälfte in die Kategorie „leistbar“ zu fallen hatte. Schließlich erwarb ein Konsortium der Bauträger Buwog, Neues Leben, ÖSW und WBV-GPA das entsprechend gewidmete Areal und errichtete das Projekt unter Verwendung günstiger Kredite aus der Wohnbauinitiative 2015.

In der Schönheitskonkurrenz der drei Hochhäuser schneidet „The One“ eindeutig am besten ab. Es hat die durchdachtesten Grundrisse und die formal überzeugendste Fassade. Die umlaufenden Balkone variieren in der Breite, wodurch sich in der Fassade Vor- und Rücksprünge ergeben, denen ab der Höhe von 50 Zentimetern eine verglaste Brüstung folgt, die an den Ecken des Turms zu einem raumhoch verglasten Windschutz wird. Was auf den ersten Blick chaotisch wirkt, erweist sich bei genauerer Betrachtung als fein proportionierte begehbare Skulptur.

Hat Wien dieses Triple gebraucht? Ob hier wirklich „außergewöhnliche Mehrwerte für die Allgemeinheit“ entstanden sind, wird man erst in ein paar Jahren beurteilen können. Hochhäuser in Wien passieren, unter mehr oder weniger stiller Beteiligung der Stadtverwaltung und -politik. Das kann Achtungserfolge ergeben, wie hier mit „The Marks“, oder einen Totalschaden wie am Heumarkt. Vielleicht ist die abflauende Baukonjunktur ein guter Anlass für eine Inventur der Strategien und Instrumente, mit denen Wien in der Hochhausfrage operiert.

Spectrum, Di., 2023.08.08

15. Juli 2023Christian Kühn
Spectrum

Sanieren unter allen Umständen? Dann gäbe es diese Schule nicht!

Das Wienerwaldgymnasium in Tullnerbach bietet die perfekte Musilsche Kombination von Seele und Genauigkeit. Doch heute würde es so wohl nicht mehr errichtet: Aus ökologischer Sicht hätte man den alten Stahlbetonbau an seiner Stelle erweitern und thermisch sanieren müssen.

Das Wienerwaldgymnasium in Tullnerbach bietet die perfekte Musilsche Kombination von Seele und Genauigkeit. Doch heute würde es so wohl nicht mehr errichtet: Aus ökologischer Sicht hätte man den alten Stahlbetonbau an seiner Stelle erweitern und thermisch sanieren müssen.

Wenn von Innovation im Bauwesen gesprochen wird, ist in der Regel technische Innovation gemeint: Materialien mit immer höherer Leistungsfähigkeit und in immer größeren Formaten; neue Heizungs- und Kühlungssysteme mit Erdwärmesonden und Wärmepumpen, die möglichst CO2-neutral arbeiten; oder neue Lösungen für begrünte Fassaden, die das Mikroklima verbessern. Hinter solchen Innovationen stehen langjährige Forschung sowie industrielle Entwicklung. Der Beitrag der Baukunst – so wird oft behauptet – sei dagegen die blitzartige geniale Eingebung im konkreten Entwurf, die zwar jahrzehntelange Übung brauche, aber im Kern irrational bleibe.

Es gibt dieses intuitive Moment tatsächlich, doch in der Baukunst genauso einen systematischen Erkenntniszuwachs, der mit technischer Innovation durchaus vergleichbar ist. Die dazugehörige Methode wird oft als Typologie bezeichnet, als Auseinandersetzung mit typischen Lösungen für bestimmte Bauaufgaben wie Wohnbauten, Schulen, Theater etc., aber ebenfalls für formale Grundmuster wie Linear- und Zentraltypen. Wichtig ist, dass auf der Basis von Typologien Projekte entstehen können, die einander gar nicht ähnlich sehen: Typen sind abstrakte Muster, die sich an eine konkrete Situation anpassen und mit anderen Mustern kombinieren lassen. Typologische Innovation bedeutet, eine Grundidee systematisch von einem Projekt zum nächsten weiterzuentwickeln.

Gute Architektinnen und Architekten produzieren daher nicht nur Entwürfe für konkrete Projekte, sondern sie schaffen ihre eigenen Typologien. Ein Büro, das in dieser Hinsicht hervorsticht, betreiben die Architekten Hemma Fasch und Jakob Fuchs gemeinsam mit Fred Hofbauer in Wien. Von ihnen stammen die Entwürfe für einige der spannendsten Bildungseinrichtungen der vergangenen Jahrzehnte in Österreich, darunter neben mehreren Universitätsprojekten auch insgesamt 14 Schulen.
Offene Atmosphäre

Schon das erste Projekt, eine 1995 fertiggestellte Sanierung und Aufstockung einer HBLA in Krieglach, fiel durch seine leichte Stahlkonstruktion und raffinierte Lichtführung aus dem Rahmen des Üblichen. Internationale Aufmerksamkeit erregten fasch&fuchs mit der im Jahr 2006 fertiggestellten Sonderschule in Schwechat. Das vielfach prämierte Projekt zeichnet sich durch einen tiefen, aber von oben bestens belichteten Baukörper aus, in den auch der große Turnsaal integriert ist, ein aus allen Richtungen einsehbarer, nach außen verglaster Raum. Im vorgelagerten Wintergarten werden nicht nur Pflanzen gezüchtet; im selben Querschnitt ist auch das Therapiebecken der Schule untergebracht. Eine solche einladende und offene Atmosphäre hatte man im österreichischen Schulbau seit Josef Lackners Gymnasium der Ursulinen in Innsbruck nicht mehr gesehen. Und sie war 2006 auch nur bei einer Sonderschule möglich, da die üblichen Schulbaunormen nicht zur Anwendung kommen mussten.

Mit diesem Projekt hatten fasch&fuchs einen entwicklungsfähigen Typus definiert, auf dessen Basis seit 2011 ein Dutzend Schulen errichtet wurde, also im Schnitt eine pro Jahr, alle im Rahmen von Wettbewerben akquiriert. Die Typologie hat sich entwickelt: Neue Elemente kamen dazu wie die Lesetreppe als Herz der Schule oder die Öffnung der Klassenräume zu „Clustern“, die offenes Lernen unterstützen, sowie großzügige Terrassen vor den Klassenräumen, die als Freiklassen dienen.

Auch in der jüngsten Schule von fasch&fuchs, dem Wienerwaldgymnasium in Tullnerbach, knapp an der Wiener Stadtgrenze gelegen, spielen Terrassen eine große Rolle. Die Schule liegt auf einem steilen Südhang mit üppiger Vegetation und schmiegt sich abgetreppt ins Gelände. Der Sportplatz davor ist als im Hang schwebende Plattform ausgebildet, darunter ein offenes Parkdeck. Der Sonnenschutz liegt nicht direkt an der Fassade, sondern auf einem Gerüst 185 Zentimeter davor, wodurch die Vertikaljalousien nicht voll heruntergefahren werden müssen, um die Sonneneinstrahlung zu verhindern, und den Blick ins Freie immer zu gewährleisten.
Stützenfreie Räume

Typologisch verbindet das Projekt einen Terrassentyp mit einem hangseitigen Kammtyp, bei dem jeweils vier Klassenräume einen offenen Hof begrenzen. Durch verschiebbare Wände eignet sich der Grundriss sowohl für ein konventionelles Stammklassensystem, wie es derzeit betrieben wird, als auch für ein Departmentsystem.

Im Inneren wirkt die Schule wie eine gut gegliederte Landschaft mit teilweise sehr hohen, von allen Seiten belichteten Bewegungsräumen mit Längs- und Querblick ins umgebende Grün, das freundlich zurückschaut. Das Farbkonzept der Künstler Gustav Deutsch und Hanna Schimek bereichert diesen Blick durch farbige Gläser, die mit dezenten grünen und braunen Farbtönen wie eine zweite Natur wirken. Konstruktiv sind diese über weite Strecken stützenfreien Räume eine Meisterleistung, für die die Ingenieure von Werkraum verantwortlich zeichnen.

Mit dieser in jeder Hinsicht erfreulichen Schule ist fasch&fuchs die perfekte Musilsche Kombination von Seele und Genauigkeit gelungen. Und trotzdem würde sie heute möglicherweise nicht mehr gebaut. An ihrer Stelle stand nämlich ein Seminarzentrum aus den späten 1970er-Jahren, ein Stahlbetonskelettbau, in dem die Schule seit ihrer Gründung 2008 bereits untergebracht war. Es war zu klein und hätte erweitert und thermisch saniert werden müssen. Es abzureißen und als Bauschutt auf die Deponie zu führen würde heute jedenfalls kritisch hinterfragt werden.

Hier radikal zu denken wird uns nicht erspart bleiben: Neubau-Moratorium bis 2030? Ja, aber nur, wenn wir dafür die geeigneten Typologien entwickeln. Es wäre fatal, die Bebauung der Erde den vorgeblichen Sachzwängen des Bauens im Bestand zu überlassen.

Spectrum, Sa., 2023.07.15



verknüpfte Bauwerke
Wienerwaldgymnasium Tullnerbach

08. Juni 2023Christian Kühn
Spectrum

Soll man Sechzigerjahre-Gebäude überhaupt noch renovieren?

Lieber günstiger neu bauen oder doch das bestehende Gebäude sanieren? Für die renovierungsbedürftige Mittelschule im steirischen Weiz gibt es zwei Optionen – noch ist nichts entschieden.

Lieber günstiger neu bauen oder doch das bestehende Gebäude sanieren? Für die renovierungsbedürftige Mittelschule im steirischen Weiz gibt es zwei Optionen – noch ist nichts entschieden.

Die Bau-Scham geht um. Von der Architekturbiennale in Venedig bis zu den Einführungsseminaren an den Architekturschulen der Welt wird über die Frage diskutiert, ob man in fortgeschrittenen Industriegesellschaften noch neue Gebäude errichten darf. Vor ein paar Jahren wäre die Antwort der Mehrheit der Architekturszene ein klares Ja gewesen. Gerade wegen der drohenden Klimakatastrophe müsse man die neuesten Technologien nutzen und Häuser bauen, die praktisch keine Energie mehr verbrauchen oder sogar als Plus-Energie-Häuser einen Überschuss produzieren.

Inzwischen hat sich der Horizont dieser Debatte erweitert. Berücksichtigt man die graue Energie, die in die Produktion von Baumaterialien, in deren Transport auf die Baustelle und schließlich in die Kosten für Abbruch, Recycling und Endlagerung fließt, sieht die Bilanz düster aus. Klimaneutrales Bauen mit den Technologien der Industriegesellschaft ist langfristig so gut wie unmöglich. Allein die Zementherstellung erzeugt zwischen fünf und sieben Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Im besten Fall lässt sich der Zementeinsatz effizienter gestalten, durch intelligente Konstruktionen, etwa Schalentragwerke im mehrgeschoßigen Bauen, oder durch Wiederverwendung von Bauteilen. Die geringsten CO2-Emissionen erzeugt allerdings, wer nichts Neues baut, sondern einen Bestand adaptiert.

Angesichts beachtlicher Leerstände quer über alle Sektoren des Immobilienwesens liegt hier beachtliches Potenzial. Doch kann es sein, dass eine Sanierung höhere Kosten verursacht als Abbruch und Neubau. Eine konsequente und drastisch höhere CO2-Bepreisung für Baumaterialien könnte das ändern und die für den „Naturverbrauch“ ausgelagerten Kosten wieder in die Kalkulation hereinholen. Zumindest für die nächsten Jahre ist eine solche Entwicklung angesichts hoher Inflationsraten politisch nur schwer zu vermitteln, selbst wenn die CO2-Bepreisung aufkommensneutral angelegt ist. Umso wichtiger ist die Vorbildwirkung der öffentlichen Hand im Umgang mit ihrer Bausubstanz, gerade in schwierigen Fällen, bei denen eine rein ökonomische Betrachtung eher gegen Erhaltung spricht.

Ein Beispiel dafür ist das Schulzentrum in Weiz in der Steiermark, ein Komplex aus Realgymnasium und Neuer Mittelschule mit gemeinsamem Turnsaaltrakt, der 1964 vom Architekten Viktor Hufnagl entworfen und in Etappen bis Anfang der 1970er-Jahre realisiert wurde. Für das Projekt erhielt die Gemeinde Weiz 1968 den Bauherrenpreis der Zentralvereinigung der Architekten, 1969 wurde Hufnagl dafür mit dem Staatspreis für Architektur ausgezeichnet. In der Broschüre, die anlässlich der Eröffnung des ersten Bauabschnitts erschien, wurde die gute Zusammenarbeit mit dem Architekten hervorgehoben. Der Bauausschuss der Gemeinde hätte eine Reise zu innovativen Beispielen in ganz Österreich unternommen und sei dabei auf Viktor Hufnagls Schule in Strobl am Wolfgangsee gestoßen, eine Hallenschule, bei der mehrere Klassenräume um einen gemeinsamen mehrgeschoßigen Raum angeordnet sind.

Die Halle ist dabei nicht einfach ein weiterer Raum, sondern ein die ganze Schule verbindendes Element; die Trennung in Klassenzimmer und Gänge löst sich auf. „Die ganze Bodenfläche“, so Hufnagl, „kann als ein Kontinuum miteinander in Beziehung stehender Räume aufgefasst werden.“ Das Schulzentrum in Weiz markiert einen ersten Höhepunkt in Hufnagls Werk, gemeinsam mit der Schule in Wörgl in Tirol, die er ab 1970 mit Fritz G. Mayr entwarf. Die Schule in Wörgl, ein lichtdurchfluteter Bau, der trotz seiner Konstruktion aus Sichtbeton leicht und fast schwebend wirkt, wurde 1998 bis 2003 vom Schweizer Peter Märkli vorbildlich saniert und steht heute unter Denkmalschutz. Sie gilt zu Recht als ein Meilenstein des österreichischen Schulbaus.

Unter Denkmalschutz steht – seit 2021 – auch die Schule in Weiz. Ihre Zukunft ist aber alles andere als sicher. Der Bundesschulteil wurde zwar saniert, nicht aber der Hauptschulteil, für dessen Finanzierung die Gemeinde verantwortlich ist: Ein Neubau auf dem Sportplatz nebenan wäre um 15 Prozent günstiger als eine Sanierung. Kosten sind ein zulässiges Argument, vor allem bei einem Bau, in den man sich nicht auf den ersten Blick verlieben würde: sehr viel verwitterter Stahlbeton mit ornamentartigen Vertiefungen, durchlaufende Bandfenster. Erst eine genauere Analyse zeigt, dass dieser Bau noch radikaler ist als sein jüngerer Bruder in Wörgl. Er versucht nämlich, die Anzahl der tragenden Stützen auf zwölf zu minimieren, an jeder Ecke der zentralen Halle als Dreiergruppe positioniert, ergänzt um einige Pendelstützen in der Fassade. Das ist keine selbstgefällige konstruktive Akrobatik: Ziel ist ein möglichst flexibles Raumangebot, das abgeschlossene Bereiche für den Frontalunterricht ebenso zulässt wie offene Lernlandschaften. Die archaisch-expressive Konstruktion, die für die Wiener Moderne der 1960er-Jahre typisch ist, bildet einen festen Rahmen für diese Nutzungsvielfalt.

Seit vorigem Jahr liegt ein vom Land Steiermark beauftragtes, von den Architekten Gangoly & Kristiner in Abstimmung mit dem Denkmalamt erstelltes Gutachten vor, das nachweist, dass hier im Bestand eine absolut zeitgemäße Schule mit einzigartigen räumlichen Qualitäten entstehen kann. Ein nachträglich angebautes Stiegenhaus kann dabei entfernt werden, die Fassade erhält eine zweite innere Schicht nach dem Prinzip des Kastenfensters. Hier könnte ein Leuchtturmprojekt für die intelligente Sanierung von schwierigen Bauten aus den 1960er-Jahren entstehen. Eine ähnliche Situation findet sich in Wien mit der Schule am Kinkplatz von Helmut Richter, die nach Einsprüchen der Stadt Wien noch auf ihre definitive Unterschutzstellung wartet. Als Produkt der 1990er-Jahre wäre sie ein Leuchtturmprojekt für eine andere Epoche.

Die angekündigte Novellierung des Denkmalschutzgesetzes könnte in solchen Fällen mit einem „Erhaltungsgebot“ dafür sorgen, dass Eigentümer ihrem Denkmal nicht beim Sterben zusehen dürfen, sondern die nötigen Schritte für dessen Erhaltung setzen müssen. Kombiniert mit der schon lange geforderten steuerlichen Absetzbarkeit von Erhaltungsmaßnahmen könnte diese Novelle die Rahmenbedingungen für die Denkmalpflege spürbar verbessern.

Spectrum, Do., 2023.06.08

06. Mai 2023Christian Kühn
Spectrum

Wenn Maschinen träumen lernen

Bedeutet der Erfolg der künstlichen Intelligenz den Sieg des Ausprobierens über das Nachdenken? Eine Ausstellung im Wiener MAK sucht Antworten und lädt zu einer Reise in die neue Virtualität.

Bedeutet der Erfolg der künstlichen Intelligenz den Sieg des Ausprobierens über das Nachdenken? Eine Ausstellung im Wiener MAK sucht Antworten und lädt zu einer Reise in die neue Virtualität.

Es gibt kaum ein Thema in der langen Geschichte der industriellen Revolution, das so oft totgesagt wurde wie die künstliche Intelligenz. Ihre Geburtsstunde ist relativ einfach zu bestimmen: der Darthmouth Workshop, ein 1956 von Marvin Minsky organisiertes Treffen von Wissenschaftlern, an dem u. a. Herbert Simon, Allen Newell und Paul McCarthy teilnahmen. Minsky war einer der Miterfinder künstlicher neuronaler Netzwerke und eine der treibenden Kräfte der KI-Forschung; Newell und Simon propagierten die Idee eines „General Problem Solvers“; McCarthy empfahl die Speicherung des gesamten Wissens der Menschheit in einheitlicher Form. Das ist in Summe – vereinfacht – das Rezept, auf dem auch die heute erfolgreichen KI-Systeme aufbauen.

Die Geschichte der KI ist eine Abfolge großer Versprechungen, gefolgt von abrupten Abstürzen. Nach dem ersten Boom geriet die KI-Forschung in den Jahren 1974 bis 1980 ins Abseits, erhielt in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre neuen Auftrieb, vor allem durch das vom japanischen Industrieministerium massiv geförderte „Fifth Generation“-Projekt“, das eine neue Ära der Digitalisierung versprach, aber seine Ziele weit verfehlte. Bis 1993 wurden über 300 KI-Unternehmen in Konkurs geschickt oder aufgekauft. Der nächste „KI-Winter“ war nicht so frostig wie die vorigen. Im neuen Jahrtausend zeichnete sich das Potenzial der Technologie im Umfeld von Internet, steigender Rechenleistung und besserer Algorithmen ab. Aber bis in die 2010er-Jahre war es schwer, Geldgeber zu finden, die in ein KI-Unternehmen zu investieren bereit waren.

Inzwischen scheint die Technologie aber ihre Versprechungen zu halten, und es ist zu erwarten, dass sie unsere Lebenswelt und unser Selbstverständnis dramatisch verändern wird. Aktuelle KI-Systeme schlagen jeden menschlichen Spieler in Schach und seit Kurzem in Go; sie verstehen Witze; sie können Bilder deuten, übersetzen Texte auf hohem Niveau in andere Sprachen und verfassen Essays und Gedichte, die sich mit denen von Menschen messen können.

Auch im Bereich der Bilderzeugung haben KI-Systeme wie DallE oder Midjourney neue Maßstäbe gesetzt. Sie generieren Bilder als Antwort auf eine verbale Eingabe, in der das gewünschte Bild inhaltlich und stilistisch beschrieben wird. Der menschliche Einfluss ist damit noch gegeben, die Ausführung liegt aber in der Hand des Computers. Die Ergebnisse können verfeinert oder durch eine modifizierte Beschreibung verändert werden. Derzeit haben die entstehenden Bilder noch einen leicht surrealistischen Charakter, der aber in Zukunft ein Sonderfall auf einer Skala von photorealistisch bis psychedelisch sein wird. Indem sie sich nicht vollständig kontrollieren lassen, sind diese „generativen“ Systeme der endgültige Sieg des Ausprobierens über das Nachdenken. In Architektur und Design treffen diese Systeme auf ein Feld, in dem schon fast so lange mit Computern experimentiert wird, wie es den Begriff KI gibt.

Ergebnis dieser Experimente waren Computer-Aided-Designsysteme zur Planerstellung und zum Modellieren von dreidimensionalen Geometrien, die sich heute zum Building-Information-Modelling (BIM) weiterentwickelt haben. BIM speichert im digitalen Modell nicht nur Geometriedaten, sondern auch Kennwerte, aus denen sich etwa der Energieverbrauch für Herstellung und Betrieb von Bauten ableiten und optimieren lässt. Dazu kamen Programme zur immer realistischeren Visualisierung, die auch in Computerspielen eingesetzt werden, und die 3-D-Produktion von Modellen und Bauteilen über Robotik- und Druckverfahren.

Die von Marlies Wirth und Bika Rebek kuratierte Ausstellung, die ab kommendem Mittwoch unter dem Titel „Imagine: Eine Reise in die Neue Virtualität“ im MAK zu sehen ist, verbindet diese Themen zu einem gelungenen Panorama von Werken, die in den vergangenen zehn Jahren entstanden sind. In vier Kapiteln – „Speculative Narratives and Worldbuilding“, „Research Investigations“, „Dreamscapes“ und „KI and Algorithmic Variation“ – werden Arbeiten in unterschiedlichen Medien gezeigt: Filme wie Liam Youngs „Planet City“ über eine Stadt für zehn Milliarden Menschen; eine Mixed-Reality-Installation von Lara Lesmes und Frederik Hellberg zum Thema „Portale“ als Instrumente der Verbindung und der Ausschließung; Genevieve Goffmans 3-D-gedruckte Miniaturen treffen auf das „Doghouse“ der Gruppe SPAN (Sandra Manninger und Matias del Campo), der Rückübersetzung eines KI-generierten Bilds in einen fast monumentalen 3-D-Druck, der von Roboterhunden bewohnt wird. Gegenüber zeigt Lee Pivnik, Gründer des Institute of Queer Ecology, KI-unterstützte, in Zusammenarbeit mit lokalen Gruppen in Südflorida entwickelte Architekturvisionen.

Dass die Ausstellung auf historische Tiefe verzichtet, ist Programm. Die virtuellen Welten, die hier gezeigt werden, brauchen keinen Stammbaum. Soweit sie KI-generiert sind, haben sie sowieso alles Wissen der Welt in sich aufgesogen.

Muss man sich vor KI-Systemen fürchten? Als Kränkung, weil sie in manchen Bereichen mehr leisten als ein einzelnes Gehirn, sollten wir sie nicht empfinden. Der Gedanke, „klüger“ sein zu wollen als eine Bibliothek, ergibt ja auch keinen Sinn. Im Idealfall werden sie neue Mitspieler und Mitgestalter, vielleicht auch Botschafter und Moderatoren, die mit ihrem überlegenen Zugriff auf große Datenmengen Sachverhalte transparent machen und zwischen Interessen vermitteln. Dass sie, wie jede disruptive neue Technik, großes Missbrauchspotenzial haben und entsprechend reguliert werden müssen, sollte sich von selbst verstehen.
Wer nach der Ausstellung im MAK noch Zeit hat, dem sei im Anschluss ein Besuch im Architekturzentrum Wien empfohlen, dessen aktuelle Werkschau der 82-jährigen pakistanischen Architektin Yasmeen Lari vorige Woche an dieser Stelle von Franziska Leeb besprochen wurde. Ganz abgesehen von der Kluft zwischen den dort und hier gezeigten Architekturwelten: Nach einem bewegten Leben alt und weise zu werden ist eine Erfahrung, die künstlichen Intelligenzen für immer unzugänglich bleiben wird.

Spectrum, Sa., 2023.05.06

04. April 2023Christian Kühn
Spectrum

Krematorium Simmering: Ein kühler Abschied ins Feuer

Vor 100 Jahren wurde das Krematorium Simmering eröffnet. Nun hat es einen Zubau mit allem Komfort erhalten. Aber sollte Architektur im Umfeld des Todes nicht doch einen Gedanken ausdrücken?

Vor 100 Jahren wurde das Krematorium Simmering eröffnet. Nun hat es einen Zubau mit allem Komfort erhalten. Aber sollte Architektur im Umfeld des Todes nicht doch einen Gedanken ausdrücken?

Auch in einer aufgeklärten, entzauberten Welt bleibt die Gestaltung des letzten Wegs eine heikle Frage. Heute gilt die Entscheidung zwischen Erd- oder Feuerbestattung als Privatsache, vor 100 Jahren war sie noch massiv ideologisch belastet. In Wien wurde 1904 der Arbeiterverein „Die Flamme“ gegründet, der sich für die Feuerbestattung einsetzte. Erfüllt wurde diese Forderung erst, als das „Rote Wien“ unter Bürgermeister Jakob Reumann 1922 ein Krematorium errichten ließ. Bis zuletzt blieb es Spielball im Konflikt der Ideologien: Der christlich-soziale Innenminister Richard Schmitz untersagte die Inbetriebnahme per Weisung; Reumann eröffnete trotzdem und bekam vom Verfassungsgerichtshof, wo der Fall schließlich landete, Recht.

Das Gebäude, das für diesen Zweck errichtet wurde, stammt von Clemens Holzmeister und gilt als der „bedeutendste expressionistische Bau Österreichs“. Als solchen bezeichnete ihn Friedrich Achleitner, der profundeste Chronist der österreichischen Architektur des 20. Jahrhunderts. Dem 1886 geborenen Holzmeister brachte das Projekt internationale Aufmerksamkeit für das, was seine Zeitgenossen als „gewaltigen inneren Drang zur Monumentalität“ würdigten. Achleitner spricht von „Theatralik und Pathos, dem man sich auch heute nicht entziehen kann“. Dass mit Holzmeister ausgerechnet der zukünftige Chefarchitekt des Ständestaats und Planer zahlreicher Kirchen für dieses Renommierprojekt des roten Antiklerikalismus zum Zug kam, ist bemerkenswert. Bei genauerer Betrachtung erweist sich Holzmeisters Expressionismus denn auch als ziemlich erdig, nicht zuletzt im Vergleich zu dem nach Meinung der Zeitgenossen fortschrittlichsten Projekts aus dem Wettbewerb, der 1921 für das Krematorium ausgeschrieben wurde: Arthur Grünberger und Adolf Jelletz, auf deren Pläne die 1938 zerstörte Neue-Welt-Synagoge in Hietzing zurückgeht, entwarfen einen kronenartigen, filigranen Rundbau, der sich am deutschen Expressionismus der Zeit orientiert, etwa Bruno Tauts Visionen zur „Alpinen Architektur“. Holzmeisters markante Spitzbögen verströmen dagegen einen Hauch von Burgenromantik.

Diese Romantik dürfte der Grund sein, dass Holzmeister als Drittplatzierter des Wettbewerbs den Auftrag zur Realisierung erhielt. Ursprünglich war für das Projekt ein Standort in St. Marx vorgesehen gewesen; man entschied sich aber schließlich für ein Areal gegenüber dem Zentralfriedhof – den Park des Schlosses Neugebäude, das Maximilian II. Mitte des 16. Jahrhunderts hatte errichten lassen. Die Begrenzungsmauern des Schlossparks mit ihren Wehrtürmen waren ein ideales Umfeld für Holzmeisters Projekt. Auf der Hauptachse des Schlosses, etwas ins Innere des Parks gerückt und durch gedeckte Kolumbarien-Gänge mit der Schlossmauer verbunden, bildet die Feuerhalle das Zentrum eines gefassten Freiraums, der sich in das Ensemble des Neugebäudes einfügt. Der kompakte Zentralbau bestand im Wesentlichen aus dem Verabschiedungsraum direkt unter der steilen Kuppel, an dessen Stirnwand der Sarg aufgebahrt und über einen „Tumbenaufzug“ nach unten zu den Verbrennungsöfen abgesenkt wurde. Ein Aufbahrungsraum und eine Leichenkammer lagen an der Rückseite, wo auch die Anlieferung erfolgte. Diese Anlage wurde bereits 1931 um zusätzliche Aufbahrungsräume erweitert und Ende der 1960er-Jahre von Holzmeister radikal umgebaut. Der Raum unter der Kuppel verwandelte sich dabei in einen Verteiler, von dem aus zwei seitliche und ein auf der Hauptachse liegender Verabschiedungsraum erschlossen werden. Die beeindruckende, von Giselbert Hoke gestaltete Glaswand, die den Raum abschließt, ändert nichts daran, dass der Um- und Zubau insgesamt eher plump ausgefallen ist. Vom spannungsvollen Zentraltyp ist im Inneren nicht mehr viel zu spüren.

Der jüngste Zubau eines weiteren Verabschiedungsraums, der voriges Jahr zum 100-Jahr-Jubiläum der Feuerhalle fertiggestellt wurde, setzt die Erweiterung axial nach hinten fort, mit dem Problem, dass Holzmeisters Erweiterung seitlich überholt werden muss. Im Wettbewerb war dafür vonseiten der Friedhöfe Wien ein Gang vorgegeben, der zwangsläufig ungeschickt an den Bestand andocken muss. Nur ein einziges der eingereichten 38 Projekte schlug eine überzeugende Alternative vor: Juri Troy wiederholt Holzmeisters Erweiterungsstrategie, indem er dessen zentrale Verabschiedungshalle zu einem Verteiler umfunktioniert, der beiderseits je eine neue Halle erschließt. Die Jury konnte sich nur zu einem zweiten Platz für das Projekt durchringen.

Das Siegerprojekt stammt von Christian Tabernig und Harald Kloiber, die als Projekt CC firmieren. Sie setzen dem Bestand eine große Betonskulptur gegenüber und verbinden Alt und Neu durch seitliche Spangen, die einen Innenhof umschließen. Der Verabschiedungsraum wirkt im Gegensatz zum rauen Äußeren skandinavisch komfortabel. Er bietet Licht von beiden Seiten, auch Ausblick in den Park, der allerdings durch eine quadratische Betonscheibe ohne statische Notwendigkeit störend unterbrochen ist. Die vergoldete schwebende Ellipse über dem Tumbenaufzug ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Christof Cremer.

Ursprünglich war geplant, in der neuen Halle eine „Verabschiedung ins Feuer“ zu ermöglichen, bei der die Angehörigen den Weg des Sarges in den Verbrennungsofen verfolgen können, aus logistischen Gründen nahm man davon wieder Abstand. Nun gibt es auf dem unteren Niveau einen Raum, in dem das für bis zu zehn Personen möglich ist. In der oberen Halle ist dafür ein hochauflösender Bildschirm an der Stirnwand montiert, um die Verstorbenen in Bild und Ton zu würdigen. Die Friedhöfe Wien bieten bereits ein „Digitales Grab“ zum Totengedenken im virtuellen Raum an.

Was kann Architektur in diesem Umfeld noch leisten? Sie müsste kompromisslosere, außergewöhnliche Ort schaffen. Unter den Beiträgen im Wettbewerb gab es dazu nur wenige Ansätze (architekturwettbewerb.at): einen Luftschiffhangar für die aufsteigenden Seelen von Wolfgang Tschapeller; eine präzise um einen Seerosenteich geneigte Rampe von Gerhard Vana. Sollte Architektur zumindest im Umfeld des Todes nicht doch einen Gedanken ausdrücken?

Spectrum, Di., 2023.04.04



verknüpfte Bauwerke
Krematorium Wien Simmering

09. März 2023Christian Kühn
Spectrum

Diese Bücher machen Lust auf Architektur

Wie wollen wir leben? Wer macht Stadt? Um sich dem Thema Architektur zu nähern, gibt es verschiedene Wege: etwa über das Festival Turn On, ein Buch mit farbenfrohen und musikalischen Entwürfen oder den Katalog des Architekturzentrums Wien als Einstiegsdroge.

Wie wollen wir leben? Wer macht Stadt? Um sich dem Thema Architektur zu nähern, gibt es verschiedene Wege: etwa über das Festival Turn On, ein Buch mit farbenfrohen und musikalischen Entwürfen oder den Katalog des Architekturzentrums Wien als Einstiegsdroge.

Es ist noch nicht zu spät. Wenn Sie diesen Text lesen, ist es wahrscheinlich Samstagvormittag, und Sie überlegen, was Sie mit dem Tag noch anstellen wollen. Offensichtlich sind Sie an Architektur interessiert, sonst hätten Sie diese Seite nicht aufgeschlagen. Die Empfehlung für den Nachmittag fällt mir daher leicht: Das Architekturfestival Turn On im Radiokulturhaus Wien, geleitet von Margit Ulama und veranstaltet von der Architekturstiftung Österreich, öffnet um 13 Uhr die Pforten. Schon der Ort ist Architekturgeschichte: der Große Sendesaal im ehemaligen Ravag-Gebäude in der Argentinierstraße, 1935 von den Architekten Aichinger und Schmid mit Clemens Holzmeister entworfen. Turn On findet hier seit 2003 jährlich statt und besteht inzwischen aus zwei Teilen, einem ersten am Donnerstag und Freitag, in dem Planer und Unternehmen gemeinsam ein Projekt und seine technische Realisierung vorstellen, und einem zweiten Teil am Samstag, bei dem Architekt:innen ausgehend von einem Projekt ihre Denk- und Arbeitsweise präsentieren.

Inklusive eines Festvortrags von Walter Angonese und einer Talkrunde, in der András Pálffy, Wilfried Kühn und Claudia Cavallar um 16.15 Uhr über die Frage diskutieren, unter welchen Bedingungen neu bauen statt sanieren vertretbar ist, ergibt das 40 Präsentationen quer durch die hiesige Architekturlandschaft: vom VinziDorf bis zum Wien Museum, von Querkraft bis Flöckner und Schnöll. Als Gäste aus dem Ausland ergänzen Sergison Bates und Ripoll-Tizón das Programm. Die Vorträge sind auch über einen Livestream auf turn-on.at zu sehen.

Abrufbar sind danach aus Copyright-Gründen allerdings nur die Vorträge vom Donnerstag und Freitag. Wenn Sie diesen Text erst am Sonntag lesen, haben Sie also Pech gehabt. Das tut mir leid, denn wenn Sie bis hier gelesen haben, sind Sie wirklich an Architektur interessiert. Zum Trost kann ich Ihnen einige neu erschienene, außergewöhnliche Architekturbücher empfehlen.

Vom Reden zum Bauen

Die ersten beiden sind Werkmonografien zweier annähernd gleich alter Büros: Holodeck wurde 1998 von Marlies Breuss und Michael Ogertschnig gegründet, Nonconform 1999 von Peter Nageler und Roland Gruber. Von einem „Werk“ im üblichen Sinn kann man bei Nonconform nur bedingt sprechen. Für sie ist Architektur vor allem ein Prozess, und so deklariert sich ihr von Wojciech Czaja und Barbara Feller im Jovis Verlag herausgegebenes Buch schon im Titel als „Lesebuch“ über das „Reden, Planen, Bauen auf dem Land und in der Stadt“. Im Zentrum stehen – durch zahlreiche Fotos porträtiert – „die Menschen“ auf dem Weg vom Reden zum Bauen. Das Buch entwickelt seinen Sog durch eine Fülle an Interviews und Fallstudien, mit denen Nonconform beweisen, dass man auch in der Prozessbegleitung eine kollektive Meisterschaft entwickeln kann. Zentrales Werkzeug dafür ist die „Nonconform Ideenwerkstatt“, ein Partizipationsformat, das Kommunen und Unternehmen hilft, Interessen abzuwägen und die Richtung für die weitere Planung festzulegen. Dass Nonconform mit inzwischen sieben Bürostandorten in Österreich und Deutschland auch Gebäude planen, geht im Buch beinahe unter.

Der Unterschied zu der bei Birkhäuser erschienenen Werkmonografie von Holodeck könnte kaum größer sein, wie sich schon bei der äußeren Erscheinung der Bücher zeigt. Während das Nonconform-Lesebuch mit seinem weichen Cover und einer speziellen Fadenheftung einer scheinbar beiläufig zusammengefügten Zettelsammlung gleicht, kombinieren Holodeck zwei massive Bücher zu einem perfekt konstruierten Ensemble aus Bildern, Texten, Plänen und Skizzen. Einfach loslegen mit dem Lesen ist hier keine Option: Um das Buch scharf zu machen, braucht man exakt 100 Zentimeter freie Tischplattenlänge, auf die man die beiden Teile auffalten muss. Das mag unzeitgemäß wirken, zwingt aber zu einer konzentrierten, fast klösterlichen Lektüre der Projekte, die diese Aufmerksamkeit durchwegs verdient haben, allen voran die österreichische Botschaft in Bangkok. Strahlende Gesichter wird man auf den Fotos nicht finden, dafür gut proportionierte und gestaltete Räume und zahlreiche komplexe Detailzeichnungen – eine Seltenheit in heutigen Architekturpublikationen.

Wofür die Farben stehen

Wer die beiden Publikationen in einen größeren Kontext stellen will, kann zu einer Neuerscheinung greifen: dem von Angelika Fitz und Monika Platzer herausgegebenen Katalog zur Schausammlung des Architekturzentrums Wien unter dem Titel „Hot Questions, Cold Storage. Architektur aus Österreich“. Hier geht es um die ganz großen Fragen geordnet nach Leitbegriffen wie Planet, Kapital, Habitat, Selbstschau, Gemeinwohl: Wie wollen wir leben? Wer macht Stadt? Wie überleben wir auf einem immer heißeren Planeten? Das Buch übersetzt die atmosphärisch dichte Ausstellung kongenial in ein Druckwerk, bis hin zur starken Farbigkeit in der Gestaltung. Eine Geschichte der österreichischen Architektur des 20. und 21. Jahrhunderts kann und will der Katalog nicht liefern – als Einstiegsdroge zum Thema Architektur ist er bestens geeignet.

Das eigenwilligste Architekturbuch des Jahres ist schon im Herbst im Verlag Sonderzahl erschienen, wird aber erst am 16. März in der Buchhandlung König im MQ vorgestellt: Sabine Pollaks „Die unendliche Stadt“, eine Sammlung von 80 Textminiaturen mit Zeichnungen, die Pollak während der Lockdowns begonnen hat. Die Inspirationen sind offensichtlich: Für den Text sind es Italo Calvinos „Unsichtbare Städte“, für die Zeichnungen Yona Friedmans Raumstadt-Skizzen. Pollaks Sprache ist präzise, trockener Humor hält die Miniaturen zusammen. Da gibt es eine Sechseckstadt, eine Medusenstadt und eine erotische mit dem Namen Visiona X, die sich auf Verner Pantons Rauminstallation Visiona 2 bezieht. Eine andere zeigt unter dem Titel Schlauchstadt sechs Wohnkugeln, die auch geflochtene Körbe sein könnten, verbunden durch Schläuche in Rot, Gelb und Grün. „Wenn eine Kugel einatmet, atmet eine andere aus“: Und wofür stehen die Farben? „Panafrikanisch? Zu ideologisierend. Postkolonialistisch? Wahrscheinlich. Antikapitalistisch? Ja, doch. Reggae? Auf jeden Fall!“

Ist das zu verspielt angesichts der laufenden Weltkatastrophen? Wohl kaum. Gerade nach Katastrophen braucht es Imagination, also eine Vorstellungskraft, die bildhaft über das Quantitative hinausgeht. Nur wer von Städten träumt, die schöner und lebenswerter sind als je zuvor, hat Kraft genug für einen Wiederaufbau.

Spectrum, Do., 2023.03.09

16. Januar 2023Christian Kühn
Spectrum

In Graz wachsen Türme und Träume

Zwei neue Stadtteile in Graz erwachen zum Leben: Smart City und Reininghausquartier. Reichen Dichte und Durchmischung aus, um echte Urbanität zu erzeugen?

Zwei neue Stadtteile in Graz erwachen zum Leben: Smart City und Reininghausquartier. Reichen Dichte und Durchmischung aus, um echte Urbanität zu erzeugen?

Graz wächst. Seit 2012 ist die Zahl der Stadtbewohner von 298.000 auf 335.000 gestiegen, ein Zuwachs von 12,5 Prozent. Damit liegt die Stadt proportional gleichauf mit der Entwicklung in Wien. Eine im Herbst 2022 veröffentlichte Wohnbaustudie zeigt einige Grazer Besonderheiten: 18.000 neue Wohnungen zwischen 2015 und 2020, davon nur 15 Prozent Gemeinde- und Genossenschaftswohnungen. Im Jahr 2021 wurden 44 Prozent der Wohnungen zur Weitervermietung gekauft, wobei die durchschnittliche Wohnungsgröße auf rund 60 Quadratmeter zurückging, wie es für Anlegerwohnungen typisch ist.

Die beiden innerstädtischen Gebiete, die mit den größten Ambitionen entwickelt wurden, sind alte Industrieareale, beide im Westen in der früheren Vorstadt gelegen, jenseits der Bahn, die immer noch eine Barriere darstellt. Das kleinere der Areale, das sich als Smart City Graz positioniert, liegt unmittelbar an der Bahntrasse hinter dem Hauptbahnhof; das mit 52 Hektar deutlich größere, die Reininghausgründe, etwas weiter stadtauswärts im Südwesten. Beide Areale wurden mit neuen beziehungsweise erweiterten Straßenbahnlinien an den öffentlichen Verkehr angebunden.

Die Smart City hinter dem Bahnhof hat eine spezielle Entwicklungsgeschichte, deren erster Impuls auf zwei vom Architekten Markus Pernthaler entworfene Bauten zurückgeht, die List Halle und den Science Tower, die als Basilika und Campanile zum Nukleus eines Stadtquartiers wurden, das in dieser Form eigentlich nicht geplant war. Heute ist das Areal gerade in der letzten Phase der Fertigstellung; eine bewohnte Baustelle, an der man die städtebauliche Idee aber bereits gut ablesen kann: eine Stadt mit klaren Platz- und Straßenräumen, gemischt genutzt und hoch verdichtet. Trotz klassischer städtebaulicher Vorgaben gibt es eine gute Bandbreite an Gebäudelösungen, durchaus mit typologischen Innovationen.

Verkehrs- versus Freiraumplanung

Urbanität braucht neben Durchmischung und Dichte aber noch eine dritte Komponente, nämlich Theatralik, gewissermaßen die Art und Weise, wie Menschen und Räume im Alltag zu einem Ereignis verschmelzen. Ob es in der Smart City genug dafür geeignete Orte gibt, darf bezweifelt werden. Wie so oft in neuen Stadtvierteln schlägt die Verkehrsplanung die Freiraumplanung: Auch eine noch so gelungene Stadtmöblierung kann gegen überdimensionierte Asphaltflächen nicht viel ausrichten.

Das Reininghausquartier dürfte in Hinblick auf die Freiräume besser abschneiden. Hier ist erst ein Viertel der Bewohner eingezogen, im Herbst 2022 waren es 2300 Personen von 10.000, die hier im Endausbau vorgesehen sind. Dazu sollen 5000 Arbeitsplätze kommen. Maßstab für die vertikale Entwicklung des Gebiets war der Siloturm einer am Standort weiterhin in Betrieb befindlichen Malzfabrik. Hier entstehen mehrere Wohnhochhäuser mit 50 bis 70 Meter Höhe, unter anderem ein Green Tower mit begrünter Fassade von Thomas Pucher und ein Doppelturm nach Plänen der Architektengruppe Pentaplan, der auf einem Sockelgebäude aufsitzt. Dieser Sockel ist Teil der Randbebauung des Reininghausparks, der mit rund drei Hektar Fläche das grüne Herz des Gesamtprojekts werden soll. Eine kleine Wasserfläche am nördlichen Rand des Parks erinnert an die Eisteiche, die es hier zu Zeiten gab, als auf dem Areal noch Bier gebraut wurde. Die Randbebauung des Parks lag weitgehend in der Hand von Pentaplan, die alle von der Stadt vorgeschriebenen Wettbewerbe gewonnen haben. Ihre Architektur ist kostengünstig, intelligent organisiert und gut proportioniert. Sie vereint Pragmatik mit einem nicht zu dick aufgetragenen Witz, wenn sie etwa das große Bauvolumen, das die gesamte Nordseite des Parks markiert, einfach in einen beigen und einen rötlichen Teil gliedert und damit der großen Masse neue Obertöne herauslockt.

Für mehr Spektakel wird aber ein Projekt sorgen, dass an der Ostseite des Parks entstehen soll: ein Büro- und Wohnhaus nach Plänen von Coop Himmelb(l)au und Hermann Eisenköcks Büro Architektur Consult, eine Glas-und-Stahl-Glitzermaschine mit zwei Türmen und schwungvollem Sockel.

Spätestens bei diesen Namen im Grazer Kontext darf man stutzig werden: War da nicht noch etwas? Ein Modell Steiermark, das in den 1980er-Jahren im österreichischen Wohnbau eine Vorreiterrolle innehatte, mit von der Politik unterstützten Beamten wie Wolfdieter Dreibholz als Strippenzieher? Oder eine „Grazer Schule“, die sich zur selben Zeit international bemerkbar machte, mit Günther Domenig als Leitfigur? Auf dessen Einladung Wolf Prix und Helmut Swiczinsky 1980 an der TU Graz einen tonnenschweren „Flammenflügel“ brennen ließen, als Illustration zu ihrem Motto „Architektur muss brennen“?

Künstlerarchitekten

Viel weiter weg von dieser Architekturvorstellung könnte der Pragmatismus, der heute den Mainstream nicht nur der Grazer, sondern der Architektur im Allgemeinen prägt, nicht sein: auf der einen Seite die anonymen Dienstleister, auf der anderen Seite die kompromisslosen, geradezu besessenen Einzelkämpfer, die die Architekturgeschichte hinter sich lassen und ihre Ideen gegen eine Vielzahl von Widerständen durchsetzen. Dass sich hinter dieser für die Öffentlichkeit inszenierten Figur des Künstlerarchitekten eine komplexere Realität verbirgt, zeigt eine höchst gelungene Ausstellung, die derzeit im Kunsthaus Muerz in Mürzzuschlag zu sehen ist: „Wir Günther Domenig. Eine Korrektur.“ Ihr Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass das Wort „wir“ im Sprachgebrauch Günther Domenigs nicht existierte, seine Karriere aber von einem vielfältigen Netzwerk von Förderern, Partnern, Bauherren und nicht zuletzt Mitarbeitern getragen war.

Der Ausstellungsmacher Michael Zinganel hat dieses Netzwerk minutiös, Lebensphase für Lebensphase und Projekt für Projekt untersucht, von der frühen Partnerschaft mit Eilfried Huth bis hin zu Domenigs Lehrtätigkeit an der TU Graz und dem Netzwerk aus Diplomand:innen, die oft auch Mitarbeiter:innen in Domenigs Büro waren. Das klingt nach trockenem Stoff, ist aber höchst abwechslungsreich mit Originalmaterialien, Filmen und Modellen aufbereitet. Deutlich wird auch Domenigs erstaunliche Fähigkeit, intuitiv den nächsten Trend zu erkennen und von einer brutalistischen über eine technoide zu einer organischen Architektur zu finden, die sich schließlich auch als dekonstruktivistische darstellen ließ.

Bis zum Ende der Ausstellung am 5. Februar sind noch einige Kuratorenführungen angesetzt, die man Architekturinteressierten dringend empfehlen kann. Die raffiniert geknüpften Männernetzwerke, die hier zum Vorschein kommen, müssen uns nicht abgehen; die ansteckende Leidenschaft für die Sache Architektur aber sehr wohl.

Spectrum, Mo., 2023.01.16

16. Dezember 2022Christian Kühn
Spectrum

Ein Brüsseler Plenarsaal in den Wolken

Der Wettbewerb für ein neues EU-Parlament in Brüssel ist entschieden. Ob wirklich etwas Neues entsteht oder es am Ende bei der Sanierung eines schwachen Bestands bleibt, ist freilich noch offen.

Der Wettbewerb für ein neues EU-Parlament in Brüssel ist entschieden. Ob wirklich etwas Neues entsteht oder es am Ende bei der Sanierung eines schwachen Bestands bleibt, ist freilich noch offen.

Versucht man einem Gast aus den USA die politische Struktur der EU zu erklären, wird es rasch kompliziert. In den USA bilden der Präsident, der Kongress und der oberste Gerichtshof ein stabiles Dreieck von Exekutive, Legislative und Judikative. In der EU gibt es gleich drei Präsident:innen: eine mächtige für die Kommission, eine weniger mächtige für das Parlament und einen vergleichsweise machtlosen, alle 2,5 Jahre neu gewählten, der den „Europäischen Rat“ der Regierungschefs leitet; im „Rat der EU“ treffen sich die Minister auf fachlicher Ebene.

Immerhin haben die beiden EU-Räte seit ein paar Jahren ein eigenes Haus: die Erweiterung eines Art-déco-Gebäudes aus den 1920er-Jahren unweit des Brüsseler Place Schumann, genau gegenüber vom Sitz der Kommission. Der Bestand wurde vom belgischen Büro Samyn und Partner um einen gebäudehohen Wintergarten erweitert, hinter dessen Fassade aus nachgenutzten Eichenholzfenstern eine gigantische gläserne Amphore hervorleuchtet, in der die Ratssäle gestapelt sind. Das Ensemble aus Alt und Neu wirkt einigermaßen surrealistisch, insbesondere da die Amphore nicht kreisrund, sondern gequetscht ist, was ihr in der Seitenansicht einen beachtlichen Schmerbauch verleiht. Als Hintergrund für die mediale Berichterstattung ist das „Haus Europa“ aber gut brauchbar. Im Logo der Räte findet sich das Haus ebenso wieder: als kleines Fass mit horizontalen Streifen.

Auch das Europäische Parlament hat ein Logo: einen konzentrisch angelegten Plenarsaal, das einen konzentrisch angelegten Plenarsaal darstellt. Dass hier kein Gebäude gezeigt wird, ist kein Zufall. Die Frage, wo das Europaparlament zu Hause ist, lässt sich nämlich nicht so einfach beantworten. Straßburg ist als offizieller Sitz des Parlaments in Verträgen festgeschrieben, die nur einstimmig geändert werden können. Dass es klüger wäre, Kommission, Räte und Parlament an einem gemeinsamen Ort unterzubringen, liegt aber auf der Hand.

Zwischen Brüssel und Straßburg

Als die Belgier Ende der 1980er-Jahre versuchten, das Parlament in einen Neubau nach Brüssel zu locken, musste dieser Plan quasi geheim umgesetzt werden, was bei einer Bauführung im Ausmaß von mehreren Hunderttausend Quadratmetern Fläche nicht einfach ist. Der Zaubertrick, mit dem dies gelang, war die Planung eines Kongresszentrums in zufällig denselben Ausmaßen, wie sie das EU-Parlament benötigte. Der Standort dieses als „Espace Léopold“ bezeichneten Komplexes liegt prominent am Rande des Quartier Léopold, 15 Minuten Fußweg vom Place Schumann entfernt. Sein Spitzname „Caprice des Dieux“ bezieht sich auf einen Käse gleichen Namens, dessen Schachtel eine ähnlich längliche, an beiden Seiten abgerundete Form aufweist wie das Parlamentsgebäude. Heute finden hier im Schnitt sechs Sitzungen des EU-Parlaments pro Jahr sowie die Ausschuss- und Fraktionssitzungen statt. Zwölf weitere Sitzungen des Plenums erfolgen im 400 Kilometer entfernten Straßburg, wo seit 1999 ein für 470 Millionen Euro errichteter Parlamentsneubau zur Verfügung steht. Mit diesem Investment signalisierte Paris, dass es der EU nie erlauben würde, das Parlament komplett nach Brüssel zu verlagern. Das hat seinen Preis: Die Kosten für das Hin- und Herreisen werden auf rund 200 Millionen Euro pro Jahr geschätzt.

Nun steht das Brüsseler Parlament nach knapp 30 Jahren und zahlreichen Zu- und Umbauten vor einer Generalsanierung, die bis zum Abbruch und Neubau gehen könnte. Um Vorschläge dafür zu erhalten, startete das Parlament 2019 einen mehrstufigen Architekturwettbewerb für ein Projekt mit einem Kostenrahmen von rund 300 Millionen Euro. Diesmal wollte die EU nichts falsch machen: Die Ausschreibung war präzise, das Preisgeld angemessen, und in der Jury saßen mit Kazuyo Sejima, Dorte Mandrup, Manuelle Gautrand und Kristiaan Borret international ausgewiesene Expert:innen. Die Jurysitzung der letzten Stufe mit 25 Finalisten fand im Juni 2021 statt. Die Ergebnisse wurden dem Parlament coronabedingt erst im Sommer 2022 präsentiert und kürzlich im Internet veröffentlicht.

Wo Demokratie reflektiert wird

Die Grundentscheidung war jene zwischen Abbruch und Neubau. Ist es ökologisch vertretbar, ein Objekt dieser Größe nach nur 30 Jahren abzutragen? Nein, argumentieren in ihrem Projekt die Architekten Baumschlager-Eberle: Der Bestand wird transformiert, teilweise in Holz ergänzt und in eine neue Hülle gepackt, die nicht unangenehm auffällt. Ja, argumentieren Jabornegg und Pálffy, die in Kooperation mit Kuehn Malvezzi den zweiten Platz im Wettbewerb erzielten: Ein Plenarsaal fast in den Wolken verbindet sich mit einem Sockelgebäude zu einer gläsernen Skulptur, die aus dem Kontext herauswächst. Der defizitäre Bestand wird abgetragen, womit der Weg frei wird zu einer präzisen räumlichen Fassung des parlamentarischen Betriebs, mit grandiosen Foyers, Besucherterrassen und Gärten. Das Ergebnis ist ein Ort, an dem Demokratie nicht nur praktiziert, sondern auch reflektiert wird. Über die nächsten 50 oder 100 Jahre, die das Gebäude überdauern sollte, wird sich auch die Praxis der Demokratie verändern. Die großzügigen Begegnungszonen in diesem Entwurf bieten dafür den nötigen Raum.

Der erste Platz im Wettbewerb ging an einen Kompromiss: Das belgische Büro JDS in Partnerschaft mit Carlo Ratti, NL Architects, Ensamble Studio und Coldefy aus Frankreich entfernt den mittleren Teil des Bestandes und implantiert dort die Elemente des parlamentarischen Betriebs als Revue von Themen: eine Rolltreppenhalle für die Besucher, ein als Totem bezeichnetes Implantat für diplomatische Spezialanlässe, dazwischen eingespannt der Plenarsaal, über dem als krönender Abschluss ein Wintergarten errichtet wird, in dem Pflanzen aus der ganzen EU wachsen sollen.

Diese Theatralik wirkt etwas billig. Aus der Käseschachtel würde mit diesem Projekt eine Pralinenschachtel. Das mag ein Fortschritt sein, aber er reicht nicht. Laut Ausschreibung muss der Auftraggeber den Rat der Jury nicht unbedingt befolgen. Er sollte diese Option nutzen und ein konsequentes Projekt wählen statt eines faulen Kompromisses – falls er an einer Umsetzung interessiert ist. Vonseiten der Parlamentspräsidentin Roberta Metsola gibt es jedenfalls kein offizielles Statement zum Projekt.

Spectrum, Fr., 2022.12.16

17. November 2022Christian Kühn
Spectrum

Sag nicht Schule zu mir

Ein Campus kombiniert verschiedene Aufgaben – beim neuen Campus Penzing gehören dazu ein Inklusions-Cluster für Kinder mit Hörbehinderung und eine Musikschule. Infrastrukturen dieser Art werden wir in den nächsten Jahrzehnten vermehrt brauchen.

Ein Campus kombiniert verschiedene Aufgaben – beim neuen Campus Penzing gehören dazu ein Inklusions-Cluster für Kinder mit Hörbehinderung und eine Musikschule. Infrastrukturen dieser Art werden wir in den nächsten Jahrzehnten vermehrt brauchen.

Wien wächst. Nach einem Tiefpunkt im Jahr 1988 mit unter 1,5 Millionen Einwohnern bewegt sich die Stadt gerade wieder auf die Zwei-Millionen-Grenze zu, die sie schon einmal, im frühen 20. Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg, überschritten hat.

Mit dem Wachstum einher geht der Bedarf an zusätzlichem Wohnraum, der entweder an der Peripherie in Stadterweiterungsgebieten befriedigt wird oder durch Verdichtung im Inneren, etwa auf den Flächen aufgelassener Industrie- und Gleisanlagen. Mit den zusätzlichen Wohnungen steigt die Nachfrage nach dem, was Planer gern „soziale Infrastruktur“ nennen, also nach Gesundheitseinrichtungen, Schulen oder Kindergärten.

Der Begriff „Infrastruktur“ kommt eigentlich aus dem militärischen Bereich und bezeichnet heute Einrichtungen, die im Hinter- und Untergrund für das Funktionieren einer Gesellschaft nötig sind. Schulen und Kindergärten in einen Topf mit Kanälen, Schnellstraßen und Brücken zu werfen ist aus architektonischer Sicht allerdings kein glücklicher Gedanke. Als wichtige soziale Einrichtungen sollten sie ja alles andere als im Hintergrund wirken – nämlich zu den schönsten und prägendsten Bauten eines Stadtteils gehören.

Die Entwicklung des Bildungsbaus in der Stadt Wien über die vergangenen Jahrzehnte war in dieser Hinsicht durchaus erfreulich. Die erste Welle ambitionierter Schulbauten geht auf das Jahr 1991 zurück, als unter Stadtrat Hannes Swoboda das „Schulbauprogramm 2000“ lanciert wurde, in dessen Rahmen über 30 neue Volks- und Hauptschulen errichtet wurden. Geplant wurden sie von renommierten Architekten, die vor dem EU-Beitritt noch in Direktvergabe zu ihren Aufträgen kamen, danach über Wettbewerbe.

Wiener Campusmodell

Die Spannweite der Lösungen war typologisch bescheiden, da man sich vom traditionellen Modell der Gangschule nicht trennen wollte; architektonisch lagen freilich Welten zwischen den Resultaten, zu denen Hermann Czechs im besten Sinne „manieristische“ Schule in der Fuchsröhrenstraße ebenso gehört wie Helmut Richters „gläserne“ am Kinkplatz, deren Schicksal nach Jahren des Leerstands ungewiss ist.

Da sich das Bevölkerungswachstum Ende der 1990er-Jahre überraschend abflachte, kam es auch im Bildungsbau zu einer kurzen Stagnation, in der unter der Ägide der Stadträtin und ausgebildeten Lehrerin Grete Laska ein neuer Typ von Schulgebäude erfunden wurde, das „Wiener Campusmodell“. Mit dem angelsächsischen Modell eines Campus, der in der Regel aus mehreren isolierten Gebäuden besteht, die in einen großzügigen Freiraum komponiert sind, hat der Wiener Campus nichts zu tun. Er besteht zwar aus mehreren Institutionen, meist Kindergarten, Volksschule, Hauptschule und anderen Einrichtungen wie etwa einer Musikschule. Diese Institutionen sind aber nicht auf der grünen Wiese verteilt, sondern in ein sehr großes Gebäude verpackt, in dem sich bis zu 1100 Kinder unterschiedlicher Altersstufen und mit unterschiedlichen Talenten beziehungsweise Förderbedarf tummeln. Die Verbindung der Einrichtungen soll unterschiedliche Betreuungskompetenzen zusammenführen und das Arbeiten in Teams erleichtern. Als erste Realisierung dieses Modells gilt der Bildungscampus Monte Laa von NMBP-Architekten, der 2010 eröffnet wurde.

Seit damals ist die Wiener Bevölkerung um rund 200.000 Einwohner gewachsen, und die Stadt hat neben der Sanierung und Erweiterung bestehender Schulen ihr Campusprogramm auf 14 Standorte erweitert. Ein wichtiger Meilenstein für die Entwicklung war der Campus Sonnwendviertel von PPAG-Architekten, der erstmals im Wiener Kontext eine Cluster-Typologie verfolgte, bei der mehrere Klassenräume um eine gemeinsame Mitte, den „Marktplatz“, angeordnet sind. Die Klassenräume sind keine Schachteln, sondern über Verglasungen mit dem Marktplatz verbunden. Kleine Annexräume zur Klasse bieten den Kindern eine Rückzugsmöglichkeit, und zu jedem Klassenraum gehört eine Terrasse für den Unterricht im Freien. Während im Sonnwendviertel der Kindergarten und die Volksschule separiert bleiben, befinden sich bei den jüngeren Projekten Räume für den Kindergarten und die Volksschule in einem gemeinsamen Cluster, wodurch der Übergang zwischen den beiden Institutionen unterstützt wird.

Der mit dem laufenden Schuljahr in Betrieb gegangene Campus Deutschordensstraße in Penzing ist das jüngste in einer Reihe von Campusprojekten, die durch ihre städtische Figur und eine Gebäudehöhe von bis zu fünf Geschoßen auffallen. Das Grundstück liegt nordseitig direkt an der Westbahn und südseitig an einem Grünzug, der parallel zur Bahn alte und neue Wohnhäuser verbindet. Die Architekten Misa Shibukawa und Raphael Eder setzen ihren Bau an die nordwestliche Ecke ihres Grundstücks und treppen ihn südseitig über vorgelagerte Terrassen ab. Dabei entsteht ein öffentlicher Vorplatz mit dem Haupteingang in den Campus, der in ein Foyer mit doppelter Raumhöhe führt. Von hier aus geht es über zwei Treppen, die jeweils einen Cluster erschließen, nach oben. Diese Treppen haben Aufenthalts- und Entdeckerqualität: Die Architekten haben angrenzend jeweils über zwei Geschoße reichende Lufträume implantiert, in denen Pflanzen nach oben wachsen.

Platz für Visionen

Seinen besonderen Charakter bekommt der Campus durch die südseitigen Terrassen. Aus dem einfachen rechteckigen Grundriss wächst hier eine vertikale Landschaft von großer Heiterkeit nach oben. Das liegt nicht zuletzt an den minzgrün gestrichenen Geländern, die leicht diagonal zu einem Muster verschweißt sind, dessen Geometrie von der nächsten Fassadenebene, den Rankgerüsten, aufgenommen wird. Außen liegende Jalousien und Sonnensegel schützen die Klassenräume und die Freibereiche vor sommerlicher Überhitzung. Während sich die älteren Kinder, die in beiden obersten Geschoßen einquartiert sind, eher auf diesen Terrassen aufhalten werden, steht der Kleinkindergruppe ein großzügiger Freiraum zur Verfügung, der auf den ehemaligen Bahndamm Bezug nimmt und von den Simma Zimmermann Landschaftsarchitektinnen als kleinteilige Spiellandschaft gestaltet wurde.

Zur Nordseite gibt sich das Campusgebäude mit schmalen Fensterschlitzen eher zugeknöpft. Dass die Bahngleise hier auf ewige Zeiten bestehen bleiben, ist allerdings nicht zu erwarten. Wahrscheinlich reichen hier wenige Gleise als Zubringer zum Westbahnhof, und dann wäre Platz für Visionen: ein Westpark auf der Strecke von Hütteldorf bis zum Gürtel, gemischt mit Wohnbebauung an den richtigen Stellen. Dann wird auch die neue soziale Infrastruktur nicht mehr ausreichen und um neue Campusstandorte ergänzt werden müssen.

Einen Bildungscampus als „Schule“ zu bezeichnen ist für die Pädagogen der Stadt Wien übrigens fast ein Sakrileg. Tatsächlich ist das Besondere eines Campus die Kombination vieler Funktionen, die früher separiert waren. Beim Penzinger Beispiel gehören dazu ein Inklusions-Cluster für Kinder mit Hörbehinderung und eine Musikschule. Vielleicht schafft es die Stadt Wien eines Tages, noch einen Schritt weiterzugehen und weitere Institutionen zu integrieren, etwa ein Tageszentrum für Senioren. Das ist die „soziale Infrastruktur“, die wir in den nächsten Jahrzehnten brauchen werden.

Spectrum, Do., 2022.11.17



verknüpfte Bauwerke
Bildungscampus Deutschordensstraße

19. Oktober 2022Christian Kühn
Spectrum

Wenn das Gerüst zum Raum wird

Der Mies van der Rohe Award ist die höchste europäische Auszeichnung für zeitgenössische Architektur. Nominiert wurden 532 Projekte. Die 40 besten werden derzeit in einer Ausstellung im Architekturzentrum Wien präsentiert.

Der Mies van der Rohe Award ist die höchste europäische Auszeichnung für zeitgenössische Architektur. Nominiert wurden 532 Projekte. Die 40 besten werden derzeit in einer Ausstellung im Architekturzentrum Wien präsentiert.

Seit 2001 ist der Mies van der Rohe Award endlich der offizielle „Preis der EU für zeitgenössische Architektur“. Die Mies van der Rohe Stiftung in Barcelona, die den Preis seit 1988 alle zwei Jahre vergibt, hat sich bei der EU für diese Rolle beworben und den Zuschlag erhalten. Mit einem Preisgeld von 80.000 Euro gehört er neben dem Kiesler- und dem Pritzker-Preis zu den höchstdotierten Architekturpreisen der Welt. Die Nominierungen stammen aus zwei Quellen: auf der einen Seite von den Berufsvertretungen der einzelnen Länder, auf der anderen von unabhängigen Experten. Letztere werden von einem Beirat vorgeschlagen, dem Vertreter von 15 europäischen Architekturmuseen angehören, darunter das Architekturzentrum Wien (AzW). Die Berufsvertretungen nominieren je nach Größe des Landes fünf bis sieben Projekte, die Experten je fünf; und auch der Beirat hat das Recht, bis zu 20 Projekte zusätzlich vorzuschlagen. Die Auswahl der Preise aus diesen Projekten obliegt einer siebenköpfigen Jury, die diesmal aus 532 Projekten zuerst eine Shortlist von 40 Projekten zu wählen hatte. Reduziert auf sieben Finalisten, wurden diese von der Jury vor Ort besucht. Am Ende stehen ein Sieger und eine Auszeichnung für das beste Projekt eines Nachwuchsbüros fest.

Die Europakarte, die dem Award zugrunde liegt, ist etwas eigenwillig: Albanien, die Ukraine und Montenegro gehören dazu, die Schweiz nicht. Großbritannien ist 2022 zum letzten Mal dabei, allerdings mit fulminantem Abschied: Das Siegerprojekt der irischen Architektinnen Shelley McNamara und Yvonne Farrell, die als Grafton Architects firmieren, ist Teil des Campus der Kingston Universität in London. Der Name des Gebäudes, „Town House“, deutet schon an, dass man es hier nicht mit einem normalen Universitätsgebäude zu tun hat. Obwohl sich eine Bibliothek im Kern des Hauses befindet, ist es kein klassisches „Learning Center“, sondern ein offener Ort, an dem auch getanzt, gegessen und Theater gespielt wird. Das wichtigste Element des Hauses ist eine Loggia, die dem Baukörper an der Südseite vorgesetzt ist. Diese Loggia besteht aus einem raffinierten System von Platten und Stützen aus Stahlbeton mit zahlreichen Vor- und Rücksprüngen und Verkröpfungen, die nicht willkürlich sind, sondern nach einem System komponiert, das McNamara und Farrell virtuos beherrschen.

Augenmerk auf die Gebäudehülle

Das ist keine Architektur der leisen Töne: Wäre sie ein Musikinstrument, dann eine Orgel, an der alle Register gezogen sind. Ihren praktischen Zweck findet diese Loggia als Begegnungszone und als Traggerüst für vertikales Grün, das einige der Rahmen schattenspendend füllen wird. Das besondere Augenmerk auf die Gebäudehülle ist charakteristisch für die zeitgenössische Architektur, zumindest wenn man die Nominierungen zum Mies Award als repräsentativ betrachtet. Diese Hülle wird nicht mehr zweidimensional als „Fassade“ gedacht, sondern als Raumschichte mit Tiefe, die zwischen innen und außen vermittelt.

In einer extremen Form findet sich das Thema bei einem multifunktionalen Schulbau in Ghent von Xaveer De Guyter, das auf die Shortlist des Awards kam. Hier mutiert die Hülle zu einem offenen Raumgerüst, dessen Volumen den eigentlichen Nutzbau übersteigt. Auch der „Emerging“-Preis für das beste Nachwuchsbüro ging an ein Projekt, in dem die Idee von Gerüst und Hülle besonders betont wird. La Borda ist ein Baugruppenprojekt in Barcelona, das vom Architekturkollektiv Lacol gemeinsam mit den späteren Nutzern entwickelt wurde. Niedrige Mieten bei hoher räumlicher Qualität zu schaffen gelingt dem Projekt durch kompakte Grundrisse für das private Wohnen, einen günstig gepachteten Baugrund und eine preiswerte Holzkonstruktion. (Zur Zeit seiner Errichtung war das Projekt das höchste Holzhaus in Spanien.) Das Innere des Hauses wird belebt durch einen überdachten Hof, über den nicht nur alle Wohnungen, sondern auch ein zwei Geschoße hoher und damit räumlich im besten Sinn verschwenderischer Gemeinschaftsraum erschlossen werden kann.

Eine ähnliche Hof-Typologie zeichnet ein weiteres Projekt auf der Shortlist aus: einen sozialen Wohnbau in Cornellà de Llobregat in Spanien von Peris + Toral Arquitectes. Auch dieses Haus ist aus Holz, in einem Quadratraster von 3,6 Metern konstruiert, der für das Material optimal, für die üblichen Grundrisse im Wohnbau aber eher eng ist. Peris + Toral erfinden dafür einen neuen, hocheffizienten Typus von Wohnbau, ein System von scheinbar identischen Zellen, die ohne Innengänge aneinandergekoppelt werden. Verbunden ist dieser Ansatz mit einem raffinierten Erschließungssystem, das sich in den Raster integriert, und einer umlaufenden Loggia als privatem Freiraum.

Europa der Städte und Regionen

Aus österreichischer Sicht erfreulich ist, dass fünf Projekte aus Österreich auf die Shortlist der besten 40 gekommen sind, unter anderem die Schule in Neustift im Stubaital von Fasch und Fuchs, das Baugruppenprojekt Gleis 21 von 1:1 Architekten und das Atelierhaus C.21 von Werner Neuwirth, beides in Wien. Alle Projekte auf der Shortlist werden in einer Ausstellung präsentiert, die derzeit im AzW in Wien zu sehen ist. Besonders hervorzuheben ist der von David Lorente/Spread gestaltete Katalog zur Ausstellung, in dem die 532 eingereichten Projekte präsentiert werden. Er ist ein Geniestreich der Architekturpublizistik – nicht zuletzt, weil er die nationalistische Betrachtung, wie ich sie oben angestellt habe, bewusst ignoriert. Die Einträge im Katalog sind streng alphabetisch geordnet und listen mit Querverweisen sowohl die Projektnamen als auch die Namen der Architekten und jene der Städte auf, in denen sich die Projekte befinden. Je nach Auszeichnung wird den Projekten innerhalb dieser Ordnung mehr oder weniger Platz gegeben; zu den Nominierungen gibt es über mehrere Seiten lange Essays mit ausführlicher Foto- und Plandokumentation. Die Nationalstaaten kommen in diesem Katalog nicht mehr vor: Er erzählt von einem vereinten Europa der Städte und Regionen.

Neben der Ausstellung im AzW gibt es derzeit im Ringturm eine weitere sehenswerte Ausstellung, in der die Ergebnisse des wichtigsten österreichischen Architekturpreises gezeigt werden, des Bauherrenpreises der Zentralvereinigung der Architekten. Zu den sechs Preisträgern gehören die Bauherren für das Sigmund Freud Museum von Hermann Czech, das Schulzentrum in Gloggnitz von Dietmar Feichtinger und das VinziDorf Wien von Alexander Hagner und Ulrike Schartner (Gaupenraub). Auffällig ist, dass es – anders als beim Mies Award – kein mehrgeschoßiger Wohnbau auf die vordersten Plätze geschafft hat. Vielleicht wollte die Jury daran erinnern, dass die österreichische Baukultur in dieser Hinsicht doch nicht so hoch entwickelt ist, wie sie gern glaubt.

Spectrum, Mi., 2022.10.19

14. September 2022Christian Kühn
Spectrum

Wien: Im Land der Pratoide

Jahrzehntelang nur Passierort und Verkehrsinsel, nun ein Platz mit Aufenthaltsqualität: Die Umbauten am Praterstern sind abgeschlossen, dem heterogenen Gebilde wurde neues Leben eingehaucht. Kritik an der Wiener Stadt- und Verkehrsplanung blieb bei der Eröffnung aber nicht aus.

Jahrzehntelang nur Passierort und Verkehrsinsel, nun ein Platz mit Aufenthaltsqualität: Die Umbauten am Praterstern sind abgeschlossen, dem heterogenen Gebilde wurde neues Leben eingehaucht. Kritik an der Wiener Stadt- und Verkehrsplanung blieb bei der Eröffnung aber nicht aus.

Ein richtiger Platz zum Verweilen war der Praterstern nie, hier ist immer vieles zusammen- und durchgelaufen: die Achsen der Alleen, die den Prater durchzogen, später die Eisenbahn, die in Hochlage erst um, dann quer über den Platz führte. Seine annähernd halbkreisförmige Grundrissfigur war danach für die Fußgänger kaum mehr wahrnehmbar. Nach dem Zweiten Weltkrieg verwandelte sich der Praterstern endgültig in eine Verkehrsinsel, umspült von dreispurigen Straßen und durch unterirdische Fußgängerpassagen mit dem Festland verbunden. Aus dem Halbkreis wurde eine für die Zeit typische geschmeidige Nierentischform.

Heute passieren 150.000 Menschen pro Tag diesen Ort. Mit der 2007 abgeschlossenen Neugestaltung des Bahnhofs durch Albert Wimmer verbesserte sich die Innenraumqualität des Bahnhofsgebäudes deutlich, der Platz rundherum blieb aber gestalterische Kampfzone. Boris Podrecca, der im Wettbewerb für das Bahnhofsgebäude eine monumentale Gesamtüberdachung des Pratersterns mit einem Membrandach vorgeschlagen hatte, durfte die stadtseitige Kontur des Platzes mit einer fünf Meter hohen Stahlpergola nachzeichnen. Von seiner Überdachungsidee blieb ein Glasdach übrig, das den Haupteingang zum Bahnhof markiert und zugleich die Gleise der Straßenbahnlinien überdeckt, die den Platz kreuzen und hier ihre Haltestellen haben.

Zu den Menschen, die hier aneinander vorbei strömen, zählen Touristen auf der Suche nach dem Riesenrad, aber auch Obdachlose und Suchtkranke, die aus dem Praterstern einen sozialen Brennpunkt machen, den die Stadt durch Alkoholverbote, Sozialarbeit und Polizeipräsenz einzuhegen versucht. Diesem heterogenen Bestand neues Leben einzuhauchen war Gegenstand eines zweistufigen, im Jahr 2019 ausgeschriebenen Bieterverfahrens, das eine Arbeitsgemeinschaft der Architektengruppe KENH mit D&D Landschaftsarchitektur für sich entschied. KENH waren bereits seit 2015 am Praterstern tätig: Sie hatten den Auftrag, die ehemalige Polizeistation, einen kleinen fünfeckigen Pavillon, in ein Café-Restaurant umzuwandeln. Das Projekt hat gedauert: Der Pavillon wurde erst diese Woche als veganes Restaurant PURE in Betrieb genommen. Seine frühere Aufgabe, den Platz gut im Blick zu haben, ist auch jetzt ein Vorteil: Das Restaurant mit seinem kleinen Gastgarten bereichert den gesamten Platz.

Erlebnis „Platz am Platz“

Eine Polizeistation gibt es nach wie vor. Sie wächst wie eine schwarze Wucherung aus dem Bahnhof heraus und entstand ohne Abstimmung mit der restlichen Platzgestaltung. Die Wucherung enthält neben den Räumen für die Polizei einige Abluftschächte der U-Bahn, neue Geschäfte und einen neu organisierten Abgang zu den U-Bahnpassagen. Mit den schwarzen Streckmetallgittern wirkt sie so kommunikativ wie ein geschlossener Vollvisierhelm. Man kann nur hoffen, dass sich die Polizei nicht von diesem Bauwerk repräsentiert fühlt.

KENH suchten für den Praterstern nicht nach dem „großen Wurf“, der dem Platz eine neue Ordnung aufprägt, sondern entwickelten einen Katalog aus einem Dutzend Einzelmaßnahmen, die zusammen ein neues Platzerlebnis bieten. „Platz am Platz“ zu schaffen war eine davon: Die Pergolen und Pflanzgerüste aus Podreccas Projekt wurden entfernt, das Tegetthoff-Denkmal freigespielt. Die Grünflächen bleiben zwar weiterhin Inseln auf der Verkehrsinsel, werden aber in ihrer Dimension verdoppelt, ebenso die Anzahl der Bäume, wobei die Neupflanzungen nach dem Schwammstadt-Prinzip, also mit einer speziellen wasserspeichernden Schichte, erfolgen. Die bisher klare Trennung des Platzes in eine Vorderseite zur Stadt und eine Rückseite zum Prater wird nicht ganz aufgehoben, aber reduziert.

Die Stadtmöblierung nutzt dieselben Geometrien – bezeichnet als Pratoide, weil sie die eiernde Form des Pratersterns aufnehmen –, teilweise als Betonkörper, die eher skulptural und nicht für längeres Sitzen geeignet sind, teilweise als schwebende Betonbänder, von denen viele um bestehende oder neue Bäume herumführen. Bequem werden diese Bänder erst durch aufgesattelte Holzbänke, die leider nicht ganz mit ihrem Unterbau harmonieren. Hier musste auf eine Standardlösung zurückgegriffen werden, die von der Stadt vorgegeben wird. Insgesamt gibt es doppelt so viele Sitzmöbel wir früher, aber in besserer Verteilung, was es sozialen Randgruppen erlauben soll, den Platz konfliktfrei zu nutzen. Die Bespielung wird wie bisher von Sozialarbeitern betreut.

Ungenutzte Chancen?

Um den Platz möglichst niederschwellig als Veranstaltungsort anbieten zu können, wurden vier spezielle Zonen geschaffen, an denen Strom, Wasser und Abwasser installiert sind und die Genehmigung durch Standardverträge vereinfacht ist. Die größte Zone ist zugleich die zentrale Attraktion des Platzes, ein 500 Quadratmeter großes Wasserspiel mit Spritz- und Nebeldüsen. Ein erster Eindruck des Platzes im Betrieb bestätigt das Konzept: Dieser Platz hat Aufenthaltsqualität, für Tagespendler ebenso wie für Touristen und die Wohnbevölkerung. Vergleicht man die Baukosten von rund 7,5 Millionen Euro mit den Hunderten Millionen, die hier im Untergrund verbaut sind, ist der Platz ein Geschenk, auf das die Stadt stolz sein kann.

Getrübt wurde dieser Stolz bei der Pressekonferenz mit den Stadträten Ulli Sima und Jürgen Czernohorszky zur Eröffnung Ende August durch den Auftritt einer Gruppe von Aktivisten, die mit einem Transparent „Greenwashing ist keine Klimapolitik“ den Praterstern in einen erweiterten Kontext rückten. Der Protest richtete sich gegen die „Stadtstraße“ in der Donaustadt, die wie unter einem Brennglas Fehlentwicklungen der Stadt- und Verkehrspolitik der jüngsten Jahre ans Licht bringt, und gegen den Bau einer Sporthalle auf dem Areal der Venediger Au hinter dem Praterstern, eines Parks mit Sportflächen und Spielplätzen.

Die neue Sporthalle ersetzt eine bestehende, die andernorts dem neuen Busbahnhof weichen muss. Dass es für sie keinen bereits versiegelten Standort gegeben hätte, muss man der Stadt glauben. Dass man das Projekt nicht zum Anlass nahm, den ganzen Park neu zu denken und die Chancen auszunutzen, die eine Sporthalle an einem so prominenten Platz bietet, ist bedauerlich. Beispiele für innovative Sportbauten gäbe es genug, etwa in Dänemark. Die Banalität des Wiener Hallenentwurfs war offenbar gewünscht: Auf einen Architekturwettbewerb glaubte man verzichten zu können, weil laut Projekt-Webseite „die baulichen und qualitativen Vorgaben der Ersatzhalle zum Zeitpunkt der Beauftragung bereits klar definiert waren, nämlich eine sportlich gleichwertige Halle unter heutigen ökologischen Gesichtspunkten zu errichten“. Die Direktvergabe eines Entwurfsauftrags mit diesem Argument grenzt an einen Missbrauch des Vergaberechts.

Spectrum, Mi., 2022.09.14

06. August 2022Christian Kühn
Spectrum

Klimarat: Die radikalen Pläne der Bürger

Der Klimarat empfiehlt, was Experten seit Jahrzehnten fordern – die Raumplanungskompetenz von den Gemeinden auf die Landes- oder Bundesebene zu verlagern. Bisher scheint das in Österreich unmöglich zu sein.

Der Klimarat empfiehlt, was Experten seit Jahrzehnten fordern – die Raumplanungskompetenz von den Gemeinden auf die Landes- oder Bundesebene zu verlagern. Bisher scheint das in Österreich unmöglich zu sein.

Der Nachteil der Demokratie, so beklagt es Coriolan im gleichnamigen Shakespeare-Stück, bestehe darin, dass nichts entschieden werden könne ohne Zustimmung der Dummen. Dieser elitäre Dünkel äußert sich heute selten so freimütig. Seine mächtigste Plattform findet er im Populismus, dem die Dummen gar nicht blöd genug sein können, siehe Brexit und Trump. Die repräsentative Demokratie ist für diesen Populismus nur noch Folklore, die in regelmäßigen Wahlkämpfen abgefeiert wird. Wählen war aber nicht immer der Königsweg zu einer demokratischen Legitimation. Der belgische Historiker David van Reybrouck hat 2013 in seinem Buch „Gegen Wahlen“ historische und aktuelle Alternativen beschrieben, die auf dem Zufallsprinzip basieren. Im antiken Athen beruhte die Mitgliedschaft im gesetzgebenden Rat der 500 nicht auf Verdienst und Wahl, sondern auf einem Losverfahren. Bis auf das Heer und die Finanzen galt das auch für die operativen Organe der attischen Demokratie: Jede Bürgerin und jeder Bürger sollte fähig sein, ein öffentliches Amt zu bekleiden.

Die moderne Form dieses Prinzips, die auch David van Reybrouck propagiert, sind Bürgerräte, deren per Zufall ausgewählte Mitglieder einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung abbilden. In Österreich wurden solche Bürgerräte auf Gemeindeebene vor allem in Vorarlberg erfolgreich durchgeführt. Der erste solche Beirat auf nationaler Ebene war das Resultat des Klimavolksbegehrens 2020, das von fast 400.000 Menschen unterstützt wurde und die Einrichtung eines „Klimarats“ forderte. Dessen Zusammensetzung erfolgte nach den Kriterien Alter, Geschlecht, Schulbildung, Einkommen, Wohnsitzregionen, Geburtsland und Urbanisierungsgrad. Die Statistik Austria zog entsprechend eine gewichtete Zufallsstichprobe von mehreren Tausend Personen aus dem zentralen Melderegister, die zur Teilnahme eingeladen wurden. Am Ende blieben 84 Personen übrig, die an sechs Wochenenden begleitet von Expert:innen zu den Themen Energie, Konsum und Produktion, Ernährung und Landnutzung, Wohnen und Mobilität diskutierten und Empfehlungen aussprachen.

Bereit zu Verhaltensänderungen

Das Ergebnis: eine bemerkenswert objektive Auseinandersetzung mit der drohenden Klimakatastrophe und ein Hinweis darauf, dass die „Dummen“ weit weniger dumm sind, als sich manche wünschen. Dass die Treibhausemissionen weltweit um 45 Prozent gegenüber 2010 gesenkt werden müssen, um die Folgen der Erderwärmung kontrollierbar zu halten, ist die unwidersprochene Ausgangsposition des Klimarats. In den ersten vier Treffen ging es um das gemeinsame Problemverständnis, den „common ground“, auf dem zuletzt Empfehlungen formuliert und noch einmal kritisch hinterfragt wurden. Diese lassen den Schluss zu, dass die Bevölkerung sehr wohl zu Verhaltensänderungen bereit wäre, wenn der Staat dafür entsprechende Rahmenbedingungen schafft. Von der Politik wird dabei mehr fraktionsübergreifende Zusammenarbeit und Sachlichkeit gefordert.

Viele der Empfehlungen haben mit Architektur und Raumplanung zu tun. Das ist nicht weiter überraschend, bedenkt man, dass die Bau- und Gebäudewirtschaft 38 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes ausmacht und der Verkehr 22 Prozent. Überraschend ist aber sehr wohl, dass dem Klimarat eine Empfehlung so wichtig war, dass sie fast gleichlautend in drei Handlungsfeldern auftaucht: die Verlagerung der Verantwortung für die Raumplanung von der Gemeinde- auf die Landes- bzw. Bundesebene. Dort, und nicht bei den Ländern, sollte die Verantwortung für die Gesetzgebung in Raumplanungsfragen liegen, während der Vollzug eine Ebene über den Gemeinden anzusiedeln wäre. Das sind keine neuen Forderungen. Experten erheben sie seit Jahrzehnten, und seit Jahrzehnten werden sie gebetsmühlenartig abgewürgt. Der Gemeinderat als höchste Instanz in Raumplanungsfragen, das ist heilige österreichische Tradition und aktuelle Rechtslage. Die Folgen sind weitreichend: Die regionale Abstimmung von sozialer Infrastruktur wird erschwert, ebenso die effiziente Organisation des öffentlichen Verkehrs. Wenn Wettbewerb statt Kooperation zwischen den Gemeinden herrscht, breiten sich Gewerbeparks und Fachmarktzentren aus. Baulandwidmungen auf Gemeindeebene sind ein eigenes Kapitel. Zu den berüchtigten 16 Fußballfeldern, die täglich dem Landschaftsraum entzogen werden, zählen auch sie. Nicht jeder Bürgermeister hat das Rückgrat und die Berater, hier Grenzen zu setzen.

Kulturelle und planerische Fragen

Die Probleme sind bekannt, und es gibt Hilfskonstruktionen, ihre negativen Effekte zu reduzieren. Dass aber die klarste und in anderen Ländern selbstverständliche Lösung, den Großteil der Raumplanungsagenden auf regionale oder nationale Ebene zu heben, in Österreich unmöglich scheint, ist ein Skandal für sich. Dabei geht es auch um kulturelle, nicht nur um planerische Fragen, wie das Beispiel der Gemeinde Laßnitzhöhe zeigt, einer Umlandgemeinde von Graz, die langsam mit neuer Wohnbebauung zuwächst. Der Flächenwidmungsplan sieht ein großzügiges Angebot an Grundstücken mit einer Bebauungsdichte von „0.2 bis 0.8“ vor. Diese Spannweite bietet dem Eigentümer das Recht auf maximale Ausnutzung.

Für Laßnitzhöhe ist das insofern von Belang, als sich die Gemeinde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Luftkurort etabliert hat, mit Villen und Sanatorien, und sie ist sich dieses Werts bewusst: Ein „Villenwanderweg“ führt Besucher zu den wichtigsten Objekten. Dass der Gemeinde aber die Instrumente fehlen, an das baukulturelle Erbe anzuschließen, zeigt sich an aktuellen Neubauprojekten. An der Adresse Greimelweg soll ein Wohnbau entstehen, der architektonisch mehr als fragwürdig den Hang hinuntertanzt. Zwar noch ohne publiziertes Projekt, aber durch seine Nachbarschaft zu einer historischen Villa wesentlich brisanter ist ein Projekt, das bei maximaler Ausnutzung des Grundstücks bis zu 2200 Quadratmeter Nutzfläche erzielen könnte. Die denkmalgeschützte Villa Luginsland (1905) stammt vom Architekten Adalbert Pasdirek-Coreno und wurde von der Kunsthistorikerin Antje Senarclens de Grancy kürzlich in einer im Onlinemagazin „Gat.st“ publizierten Analyse auf eine Stufe mit Werken von Adolf Loos und Josef Hoffmann gestellt.

Wie knapp werden die neuen Nachbarn an die Villa heranrücken? Wird der Neubau in einen Dialog mit dem Bestand treten? Sollte eine Gemeinde, die ein so außergewöhnliches Erbe verwaltet, nicht auf einen Gestaltungsbeirat zurückgreifen können, der sie kompetent unterstützt? Es wäre kein Schaden für die Gemeinde, fielen Fragen in die Verantwortung des Landes oder teilweise – wie es beim Denkmalschutz der Fall ist – des Bundes.

Spectrum, Sa., 2022.08.06

01. Juli 2022Christian Kühn
Spectrum

Eine Bühne für die Kunst

Das neue Museum für die Heidi Horten Collection ist ein gelungener Ort zur Begegnung mit großer Kunst, dem der Spagat zwischen White Cube und Wohnlichkeit virtuos gelingt.

Das neue Museum für die Heidi Horten Collection ist ein gelungener Ort zur Begegnung mit großer Kunst, dem der Spagat zwischen White Cube und Wohnlichkeit virtuos gelingt.

Schön, wenn man nicht sparen muss. Welcher Architekt wünscht sich nicht eine Bauherrin mit tiefen Taschen, die alles möglich macht? Ein Füllhorn kann allerdings auch zum Problem werden; man denke nur an Donald Trumps goldstrotzende Interieurs. Wer sich alles leisten kann, ist gut beraten, über die Angemessenheit der Mittel nachzudenken, die er zum Einsatz bringt.

Das gilt auch für die exquisite Bauaufgabe des Privatmuseums, wie es sich die verwitwete Milliardärin Heidi Horten im Wiener Hanuschhof errichten ließ. Die Kunstsammlung, die Horten mit fachlicher Unterstützung von Agnes Husslein, der ehemaligen Direktorin des Museums der Moderne in Salzburg und der Galerie Belvedere, seit Mitte der 1990er-Jahre aufgebaut hat, war ursprünglich nicht fürs Museum gedacht. Horten integrierte ihre Bacons und Picassos in ihre diversen privaten Wohnsitze. Im Lauf der Jahre wuchs die Sammlung auf mehrere Hundert Objekte, mit einem Schwerpunkt auf der klassischen Moderne, zunehmend ergänzt um Werke der Gegenwartskunst. Man darf vermuten, dass die Sammlung mit wachsender Größe ein Eigenleben zu führen begann und quasi von sich aus danach drängte, in eigene Räume zu übersiedeln.

In die Öffentlichkeit wagte sich ein Teil der Sammlung zum ersten Mal 2018, als das Leopold Museum unter dem aus der Pop-Art entlehnten Titel „WOW! The Heidi Horten Collection“ zentrale Werke zeigte. Die Ausstellung war ein enormer Erfolg bei Presse und Publikum und setzte die Sammlung auf der Landkarte der Privatsammlungen Europas an eine respektable Position. Die Errichtung eines eigenen Museums erschien als der logische nächste Schritt.

In Wien einen guten Platz für ein neues Museum zu finden ist keine leichte Aufgabe. Wenn man ernsthaft mitspielen will, muss man im ersten Bezirk bleiben, wo freie Grundstücke oder zumindest eine Bausubstanz, in die man ohne allzu große Sorgen um den Denkmalschutz eingreifen kann, nicht gerade dicht gesät sind.

Das Hofgebäude im Hanuschhof, in dem das Museum schließlich entstand, erfüllt diese Anforderungen. Es liegt im ersten Bezirk nahe der Albertina, einem der großen Museumstanker, und es ist nicht denkmalgeschützt. Anders als die Albertina, die mit der Kombination aus Flugdach und Rolltreppe, beide von Hans Hollein entworfen, Touristen mit beachtlichem „Wow!“ entgegenkommt, liegt das Horten-Museum versteckt in einem Innenhof. Ursprünglich stand an der Stelle des Gebäudes eine eingeschoßige Reithalle.

Im Jahr 1914 entstand hier im bestehenden Umriss ein dreigeschoßiges Gebäude, das im Erdgeschoß als Wagenpark für die Automobile Erzherzog Friedrichs genutzt wurde. Um den Automobilen mehr Platz zu bieten, kam hier eine Konstruktion mit Säulen aus Stahlbeton zum Einsatz, während für die Bürozellen im Obergeschoß eine konventionelle Mittelmauer aus Ziegel errichtet wurde. Nach außen neobarock verziert, ist dieser Bau exemplarisch für den trockenen, auf höchste Effizienz getrimmten Rationalismus in den letzten Jahren der Monarchie.

In einem Architekturwettbewerb im Jahr 2019, zu dem drei Büros geladen waren, konnten sich Marie-Therese Harnoncourt und Ernst Fuchs, die unter dem Namen The Next Enterprise Architects firmieren, gegen Ortner und Ortner Baukunst und Kühn Malvezzi durchsetzen. Ihr Konzept lässt den Bestand von außen praktisch unangetastet, entkernt aber den im Grundriss quadratischen Mittelteil, der durch eine über alle Geschoße reichende Halle ersetzt wird. In diese Halle platzieren Next Enterprise zwei um rund 45 Grad verdrehte kleinere quadratische Ebenen für die Ausstellung übereinander und verbinden diese über zwei frei im Raum geführte Treppen. In den Ecken des großen Quadrats im Erdgeschoß entstehen damit Lufträume, die einen spannungsvollen Kontrast zur Horizontalität der Ausstellungsebenen herstellen. Links und rechts der zentralen Halle wird der Bestand nicht entkernt, sondern saniert und in kleinere Ausstellungsräume umgewandelt.

Seine besondere Qualität erhält dieses klare Konzept durch die spielerische Feinjustierung. Die Quadrate der Ausstellungsebenen sind nämlich keine exakten Quadrate, und die Verdrehung um 45 Grad erweist sich beim genaueren Hinsehen auch als ungefähr. Dass die Ebenen nicht exakt übereinanderliegen, gibt der vertikalen Dynamik zusätzlichen Schwung, andererseits erlaubt es konstruktiv, die Lasten der Stahlkonstruktionen in zwei separate Pfeiler abzuleiten. Ein wichtiges Element sind die beiden Treppen aus massivem Edelstahl, die sich in die hofseitigen Lufträume schwingen.

Insgesamt vermittelt das Museum einen wohnlichen Charakter. Die Details sind exquisit, vom Handlauf mit integrierter Beleuchtung bis zu den Anschlüssen der Sicherheitsverglasung zum Hof, der man nicht anmerkt, dass das Gebäude sicherheitstechnisch beinahe ein Safe ist. Im ersten Obergeschoß befindet sich ein von Markus Schinwald gestalteter „Tea Room“, eine mit Gobelins verkleidete höhlenartige Wunderkammer mit einer speziell für diesen Raum entwickelten Deckenskulptur aus rot eloxiertem Aluminium von Hans Kupelwieser.

Den schwierigen Spagat zwischen White Cube und Wohnlichkeit meistern Next Enterprise virtuos, indem sie ihr Projekt als eine „Bühne für die Kunst“ anlegen. Man mag sich daran stoßen, dass durch die Dachverglasungen direktes Sonnenlicht auf manche Kunstwerke fällt und dass die Mischung von künstlichem und natürlichem Licht schwierig ist. Im Kontext einer privaten Sammlung, die aus dem Wohnumfeld in die Kunstwelt migriert ist, kann man das in Kauf nehmen. Als Bühne verstanden, wird sich dieses Museum verändern: Manche Verdunklungen sind bereits installiert, zusätzliche Stellwände für eine dichtere Bespielung vorbereitet. Diese Architektur ist nicht neutral, sondern selbstbewusst und flexibel. Sie wird mit der Sammlung mitwachsen.

Und der Wow-Effekt von außen? Hätte man von Next Enterprise, den Architekten des Wolkenturms in Grafenegg, nicht doch eine kräftigere Geste erwarten dürfen? In diesem engen Hof wäre eine solche Geste wohl verpufft. Der präzise gesetzte Schnitt an der Ecke reicht. Er lässt keinen Zweifel, wo der Eingang ist. Zum verzauberten Ort wird dieser Hof werden, wenn in ein paar Jahren die bunt blühenden Kletterpflanzen die Fassade des Museums überwuchert haben.

Spectrum, Fr., 2022.07.01



verknüpfte Bauwerke
Museum Heidi Horten Collection

15. Juni 2022Christian Kühn
Spectrum

Retten uns Holz und modulares Bauen vor der Klimakatastrophe?

Holz als Baustoff? Das Forum am Seebogen in Wien Aspern zeigt, dass weder Materialien noch Technologie allein den Ausschlag geben. Entscheidend wäre systemisches Denken.

Holz als Baustoff? Das Forum am Seebogen in Wien Aspern zeigt, dass weder Materialien noch Technologie allein den Ausschlag geben. Entscheidend wäre systemisches Denken.

Die Seestadt Aspern bezeichnet sich gern als das größte Städtebauprojekt Österreichs. Im Endausbau sollen hier 25.000 Menschen wohnen und 20.000 Ausbildungs- und Arbeitsplätze angesiedelt sein. Die 3420 Aspern Development AG, die das Projekt entwickelt, steht im öffentlichen Eigentum, wobei der Stadt Wien 75 Prozent der Anteile gehören und der Bundesimmobiliengesellschaft 25 Prozent. Wer ein so großes Bauvolumen dirigiert, kann sich einzelne Experimente leisten, was die 3420 AG auch tut. Manche missglücken, wie etwa der Plan, einen Campus der Religionen in Verbindung mit einer Kirchlich-Pädagogischen Hochschule zu errichten: Das Projekt, für das schon ein Architekturwettbewerb stattgefunden hatte, scheiterte schließlich an der Finanzierung. Anderes gelingt, wie etwa ein Hochhaus namens HoHo, das sich als höchstes Holzhaus Österreichs bezeichnen darf, auch wenn es sich eigentlich um eine Mischkonstruktion mit hohem Holzanteil handelt. Auch das „Forum am Seebogen“ ist ein Sonderprojekt, bei dem Holz schließlich eine zentrale Rolle spielte. Ursprünglich ging es weniger um den Werkstoff, sondern um das modulare und damit schnelle Bauen. Die 3420 AG wollte mit dem Projekt vor allem testen, ob sich Bauzeiten und damit die Lärmbelastung der Anrainer drastisch auf sechs Monate reduzieren ließen. In der Projektentwicklung kann es laut 3420 AG sinnvoll sein, ein Baufeld vorerst frei zu halten, um es temporär anders, etwa als sozialen „Hub“, zu bespielen, bis die umliegenden Wohnbauten realisiert sind. Bei der Errichtung des „Schlusssteins“ kommt es dann auf kurze Bauzeiten an, um die Nachbarn nicht zu belasten. Den Namen „Forum“ erhielt das Projekt, weil es kein üblicher Wohnbau ist: Nur 80 Prozent der knapp 1800 m? Nutzfläche sind Wohnungen, der Rest Büros, die im Haus verteilt sind, und ein großes Lokal im Erdgeschoß, das bis Jahresende von der Internationalen Bauausstellung Wien als Quartierszentrum für den IBA-Standort Seestadt genutzt wird. Die unmittelbare Nähe des Bauplatzes zur U-Bahnstation prädestiniert ihn für eine solche halböffentliche Nutzung.

Im Bauträgerwettbewerb, der 2017 stattfand, mussten nicht nur – wie in Wien im geförderten Wohnbau üblich – Bauträger und Architekten gemeinsam antreten, sondern als dritten Partner den Hersteller der vorgefertigten Elemente mit Preisgarantie mitbringen. Dass am Ende alle Projekte der engeren Wahl in Holz konstruiert waren, ist bezeichnend für den aktuellen Trend. Das Image des Betons, der wahrscheinlich nach wie vor das größte Volumen an vorgefertigten Bauelementen produziert, ist schwer angeschlagen; mit Stahl assoziiert man in der Modulvorfertigung bestenfalls den Container als temporäre Unterkunft. Holz gilt dagegen als ökologischer, weil nachwachsender Baustoff.

Den Zuschlag für das Grundstück erhielt der Bauträger Familienwohnbau mit einem Projekt der Architekten Heribert Wolfmayr und Josef Saller, die gemeinsam als heri&salli firmieren, und einem Hersteller von Holzbauelementen. Das Projekt ist ungewöhnlich für einen Holzbau: Während üblicherweise tragende Holzelemente möglichst hinter einer Verschalung geschützt werden, zeigt dieses Haus sein Holzgerüst selbstbewusst nach außen und vermittelt den Eindruck, als ob es noch nicht ganz zu Ende gebaut wäre. Verstärkt wird dieser Eindruck durch zahlreiche Loggien, die aus dem quaderförmigen Baukörper herausgeschnitten sind. Das gibt dem Haus eine gewisse Leichtigkeit und „Lufthaltigkeit“; konstruktiv führen die pittoresken Holzrahmen und die schmucken Loggien allerdings zu schwierig lösbaren Details. Es ist nicht verwunderlich, dass der vorgesehene Hersteller recht bald aus dem Projekt ausstieg. Ein estnisches Unternehmen konnte zwar trotz weiter Transportwege im Preisrahmen anbieten, erhielt den Auftrag aber aus Gewährleistungsgründen nicht: Der Hersteller hätte die Elemente geliefert, aber nicht selbst montiert. Schließlich übernahm die steirische Firma Strobl Holzbau den Auftrag. Die Bauzeit betrug für den reinen Holzbau mit in der Fabrik vorgefertigten Elementen sechs Monate; die Errichtung der betonierten Teile – Erdgeschoß und den Erschließungskern mit Treppe und Aufzug – dauerte allerdings genauso lang.

Das Ergebnis sieht exakt so aus wie 2018 in den Wettbewerbsbildern versprochen, mit der Ausnahme der Loggien-Entwässerungen, deren Rohre die Fassade recht prominent überziehen. Ein Modell für die Zukunft ist das Projekt aber nur bedingt. Das beginnt bei der Konstruktion aus verleimten Brettsperrholz-Elementen, die sich wegen des Leimanteils nur schlecht recyclieren lassen. Außerdem ist der Preis dieser massiven Holzelemente in den letzten Jahren durch die große Nachfrage aus den USA dramatisch angestiegen. Dieser Anstieg wird inzwischen durch die generellen Preissprünge bei Baumaterialien etwas relativiert. Gewichtsreduktion und bessere Wiederverwertbarkeit sind im Bauen aber das Gebot der Stunde. Dass in Österreich und Deutschland Förderprogramme existieren, die Holzbauten mit einem Euro pro verbautem Kilo Holz fördern, ist ein Signal in die falsche Richtung.

Auch als Vorbild für serielles Bauen kann das Projekt in Aspern nicht überzeugen. Seine Ästhetik ist zu formalistisch, um die Kostenvorteile der Herstellung in der Fabrik auszunutzen. Die einmalige Komposition ist hier eindeutig wichtiger als die serielle Konstruktion. Drastische Einsparungen bei den Kosten lassen sich so nicht erreichen. Es gibt in Österreich einige Unternehmen, die radikale Modelle des seriellen Bauens verfolgen, etwa Gropyus, das gerade in Koblenz ein neungeschoßiges Wohnhaus mit 54 Wohnungen errichtet hat. Die Bauzeit vor Ort betrug elf Wochen, das einzig Bemerkenswerte an der Fassade sind die integrierten PV-Elemente. Bei Gropyus werden Häuser nicht entworfen, sondern am 3-D-Modell „konfiguriert“. Architekten verlieren hier ihre klassische Rolle; als Gestalter auftreten können sie bestenfalls in der Produktentwicklung.

Was das für die Architektur als Disziplin bedeutet, ist noch nicht abzusehen. Werner Sobek, der renommierteste deutsche Bauingenieur und Leiter des Lehrstuhls für Leichtbau in Stuttgart, hat kürzlich in einem Interview für „Die Welt“ eine Zeitenwende für die Architektur verkündet, um die anstehenden Emissions- und Ressourcenprobleme zu bewältigen. Dazu braucht es eine andere Wahrnehmung von Gebäuden als Teil eines größeren Ökosystems, in dem Stoff- und Energiekreisläufe maßgeblich sind. Ob Holz, Beton oder Stahl das ökologisch bessere Material ist, lässt sich dabei nicht generell beantworten. Sobek provoziert mit der Empfehlung, Holz besser im Wald zu lassen, um dort CO? zu absorbieren. Beton hält er für unverzichtbar; er müsse aber in leichteren Konstruktionen und aus wiederverwerteten Zuschlagstoffen zum Einsatz kommen. Generell würden sich die Klimaziele aber nur durch Verzicht realisieren lassen, auch wenn das weder Politik noch Wirtschaft in dieser Klarheit zugeben möchten.

Zumindest die Energiekrise hält Sobek für ein temporäres Problem. Die Sonne liefere 10.000 Mal mehr Energie an die Erde, als für deren Versorgung benötigt werde. Sobald irgendwann um das Jahr 2050 keine Energie mehr durch Verbrennung gewonnen wird, käme es zu einer neuerlichen Umwertung aller Werte, bei der Materie durch die dann im Überfluss vorhandene Energie ersetzt werden könne. Wie wir die knapp drei Jahrzehnte bis dahin überstehen, ist eine andere Frage. Zu ihrer Beantwortung wird es nicht zuletzt eine grundsätzlich andere Vorstellung von Architektur brauchen, die in Kreisläufen denkt und ihren angeborenen Kompositionstrieb vor allem auf der systemischen Ebene zum Einsatz bringt.

Spectrum, Mi., 2022.06.15

09. Mai 2022Christian Kühn
Spectrum

Reden wir über Baukultur!

Die IG Architektur feiert ihren 20. Geburtstag. Ein guter Anlass für ein Fest, ein Buch und eine Ausstellung, die zum Nachdenken anregen möchten. Reicht das Reden über Baukultur?

Die IG Architektur feiert ihren 20. Geburtstag. Ein guter Anlass für ein Fest, ein Buch und eine Ausstellung, die zum Nachdenken anregen möchten. Reicht das Reden über Baukultur?

Am Anfang war es eher der Zufall, der die Dinge ins Rollen brachte. Im Wiener Künstlerhaus, damals noch keine hochgerüstete Kulturmaschine, sondern das Aschenputtel unter den Wiener Kunstinstitutionen, kuratierten Peter Bogner, Karin Christof und der – letzten Herbst verstorbene – Jan Tabor im Jahr 2000 eine Ausstellung mit dem Titel „Den Fuß in der Tür. Manifeste des Wohnens“. Eingeladen waren Vertreter der jüngeren Architekturszene, für die Tabor als genialer Netzwerker eine Art Vaterfigur war. Das Budget war knapp; die beteiligten Nachwuchs-Büros halfen einander mit Kontakten und Werkzeug und tauschten ihre E-Mail-Adressen aus. Das Ergebnis war eine Ausstellung, die in Erinnerung blieb, weil sie an das Thema Wohnen origineller und weniger utilitaristisch heranging als in der Hauptstadt des Sozialen Wohnbaus sonst üblich.

Auf diesen Ursprung hinzuweisen, ist im Falle der Interessengemeinschaft (IG) Architektur, die sich ein Jahr später formierte, wichtig. Der im Jahr 2001 gerade ins Amt gekommene Wiener Planungsstadtrat Rudolf Schicker wollte die Kontakte der Stadt zu jüngeren Büros verbessern und bat Susanne Höhndorf, die an der Ausstellung im Künstlerhaus beteiligt war, Namen zu nennen. Höhndorf leitete die Einladung offen im Schneeballsystem weiter. Das war die Geburtsstunde der IG, zu deren ersten Treffen im Herbst 2001 sechzig bis hundert Gäste kamen, die sich schnell organisierten und Doris Burtscher und Jakob Dunkl als ihre ersten Sprecher wählten.

Das Besondere an der IG ist ihr Glaube an das Kollektiv und die Kraft der „gegenseitigen Hilfe“. Um die Jahrtausendwende galt dieser Glaube als anachronistisch. Der Star-Architekt machte in den Jahren 1996 bis 2008 Furore, wobei das erste Datum auf Hans Holleins Titel für die Architekturbiennale verweist, „Sensing the Future – Der Architekt als Seismograph“: das zweite Datum markiert mit der Finanzkrise das Ende der rauschenden Party. Den Initiatoren der IG ging es einerseits um die Baukultur an sich, andererseits um die Rahmenbedingungen ihres beruflichen Schaffens, insbesondere restriktiven Berufszugang, der von der Kammer der Ziviltechniker:innen kontrolliert wird. Recht bald war der Beschluss gefasst, den langen Marsch durch die Institutionen anzutreten und eine eigene Liste bei den Kammerwahlen aufzustellen. Mit Erfolg: 2014 bis 2018 konnte die Liste der IG in der Kammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland in Kooperation mit den Ingenieuren die zentralen Positionen besetzen.

Es ist daher kein Zufall, dass die IG gerade an diesem Wochenende ein großes Fest zu ihrem 20. Geburtstag abhält, kurz vor den Kammerwahlen am 19. Mai. Berufspolitik nimmt im Programm dieses Festes trotzdem nur eine Nebenrolle ein. Zum Anlass erscheint unter dem Titel „Reden wir über Baukultur!“ ein Buch mit zahlreichen kurzen Essays. Das Spektrum der Texte ist breit: Nachhaltigkeit, Mobilität, Boden, Spekulation, alternde Gesellschaft, Migration, Wohnen, Ausbildung, Verfahren und Prozesse, Berufsbild. Das Mosaik ist gut komponiert und vermittelt ein Bild des aktuellen Architekturdiskurses, das nicht nur für ein Fachpublikum verständlich ist. Publikumswirksam sind auch die Events des Fests, für das am Samstag am späten Nachmittag die Gumpendorfer Straße gesperrt wird, um „Platz für die Menschen“ zu schaffen. Die IG Architektur ist in den 20 Jahren ihres Bestehens zu einer unverzichtbaren Institution geworden. Sie ist damit eine von vielen, die sich bemühen, die Baukultur in Österreich zu stärken: Da gibt es die Architekturhäuser in allen Bundesländern und ihre gemeinsame Dachorganisation, die Architekturstiftung Österreich. In Wien hat sich das Architekturzentrum längst zu einem vollwertigen Architekturmuseum entwickelt; es gibt die Zentralvereinigung der Architekten, die älteste Berufsvertretung, die mit dem Bauherrenpreis den renommiertesten Architekturpreis des Landes verleiht. Es gibt die Kammern als primär berufliche Interessenvertretung, die über die Leistung ihrer Mitglieder die Hauptlast der baukulturellen Produktion trägt. Sie engagiert sich aber auch in der Baukulturvermittlung, etwa im Rahmen der biennalen Architekturtage, die in Kooperation mit der Architekturstiftung heuer wieder am 10. und 11. Juni zum Thema „Leben.Lernen.Raum“ stattfinden. Zusätzlich gibt es zahlreiche kleinere Initiativen mit speziellem Programm wie „architektur in progress“, und als alle diese Akteure übergreifende Klammer die „Plattform für Baukulturpolitik“, die vor allem vor Wahlen auftritt und die Position der Parteien zum Thema hinterfragt.

An Betriebsamkeit fehlt es in puncto Baukultur offenbar nicht. Dieser Betrieb erreicht durchaus eine immer größer werdende Anzahl von interessierten Bürgerinnen und Bürgern, die erkennen, dass Baukultur nichts Geringeres ist als die materiell gestaltete Antwort auf die Frage nach „einem guten Leben in einer gerechten Gesellschaft“. Architekten mit der passenden Haltung gibt es genug, und insofern bräuchte man sich für die Zukunft keine Sorgen zu machen, wäre da nicht die Evidenz, dass es mit der Baukultur des Landes nicht gut bestellt ist. In der Publikation der IG Architektur wird dieser Umstand kommentarlos durch zwei Fotoessays von Paul Ott, einem der besten Architekturfotografen des Landes, vermittelt. Die Bilder von Situationen in Wien und Graz zeigen eine traurige Sammlung missglückter Architektur, teilweise ohne, in den meisten Fällen aber mit Architektenbeteiligung, jedes eine Entgleisung für sich. Es sind keine Einzelfälle: Diese Fotos sind symptomatisch für ein ästhetisches Elend, von dem ganze Landstriche befallen sind.

Weder 20 Jahre IG noch 25 Jahre Architekturstiftung haben daran viel geändert. Themen wie Bodenverbrauch, Nachhaltigkeit und Freiraumqualität sind seit Jahrzehnten auf der Agenda und Teil von Regierungsprogrammen. Wo sind die politischen Akteure, die sich als Umsetzer einen Namen machen wollen? Einbetoniert in ihre Sachzwänge? Von der Wiener Stadtpolitik ist trotz Einladung jedenfalls niemand zum Fest der IG angekündigt.

Die Ausstellung „Reden wir über Baukultur!“ der IG Architektur findet bis 12. Juni in Graz und Wien statt. Weitere Infos unter: www.ig-architektur.at/baukulturausstellung

Spectrum, Mo., 2022.05.09

28. März 2022Christian Kühn
Spectrum

Wien-Penzing: Wie der Baron in den Bäumen

Wie gehen baulicher Pragmatismus, künstlerische Freiheit, öffentliche Grünfläche und geförderter Wohnbau zusammen? Gut – wenn sich ein Planungsbüro auf die richtige Sache konzentriert. Zum Stadtteilprojekt in der Spallartgasse.

Wie gehen baulicher Pragmatismus, künstlerische Freiheit, öffentliche Grünfläche und geförderter Wohnbau zusammen? Gut – wenn sich ein Planungsbüro auf die richtige Sache konzentriert. Zum Stadtteilprojekt in der Spallartgasse.

Ein vier Hektar großes, mit alten Bäumen bewachsenes Areal mitten im dicht bebauten Teil des Bezirks Penzing: Wo es in anderen Städten Industriebrachen gibt, die darauf warten, wachgeküsst zu werden, sind es in Wien alte Kasernenareale, die ganz oder teilweise aus der Funktion gefallen sind. Das Areal südlich der Spallartgasse gehörte zu einer ehemaligen Kadettenschule, errichtet 1898, in dem heute das Heeres-Nachrichtenamt untergebracht ist. Selbst mit Respektabstand braucht dieses Amt bestenfalls die Hälfte des Grundstücks, auf dem es steht. So war es naheliegend, sich von der anderen Hälfte zu trennen.

Zuständig für den Verkauf war die Sivbeg, eine 2005, in Zeiten der privatisierungsfreudigen schwarz-orangen Koalition gegründete Gesellschaft, die bis zu ihrer Auflösung 2016 Heeresliegenschaften im Wert von rund 370 Millionen Euro verkauft hatte. Die Stadt Wien hätte das Areal gerne selbst erworben, konnte sich aber mit der Sivbeg nicht über die den Preis bestimmenden Faktoren – Bebauungsdichte und Anteil an gefördertem Wohnbau – einigen. In einem irritierenden Konflikt zwischen zwei Auffassungen von „öffentlichem Interesse“ – der Schaffung von günstigem Wohnraum versus Budgetsanierung durch Privatisierung – ging das Areal schließlich 2015 an den Meistbietenden, den oberösterreichischen Projektentwickler CCI. Einige Platzhirsche unter den Wiener Bauträgern aus dem geförderten Bereich kamen nicht zum Zug.

Vonseiten der Stadt wurde eine Bebauung mit einer oberirdischen Bruttogeschoßfläche von 90.000 Quadratmetern in Aussicht gestellt. Im Gegenzug durfte der Anteil an frei finanziertem Wohnbau nicht mehr als ein Drittel ausmachen, der Rest sollte mit Wohnbauförderung errichtet und zu erschwinglichen Preisen vermietet werden. Diese Vereinbarungen wurden in einem städtebaulichen Vertrag zwischen Projektentwickler und Stadt festgelegt, in dem sich die CCI auch verpflichtete, für eine kontinuierliche Qualitätssicherung zu sorgen. Diese begann mit der Ausrichtung eines internationalen, zweistufigen städtebaulichen Realisierungswettbewerbs im Jahr 2016, an dem sich 94 Architekturbüros beteiligten.

Als Sieger ging das Projekt von Georg Driendl hervor, dem es am raffiniertesten gelang, die geforderten 90.000 Quadratmeter auf dem Areal zu verteilen. Driendl erfindet dabei keine neue Architektur: Das Rastermaß von 3,6 Metern, dem der Entwurf folgt, ist im Stahlbetonbau tausendfach bewährt; die tiefen Baukörper mit Innengängen und beidseitig angeordneten Wohnungen sind im heutigen Wiener Wohnbau Standard, ebenso Gebäudehöhen von bis zu zehn Geschoßen; knapp unter der Maximalhöhe, ab der verschärfte Brandschutzbestimmungen zum Tragen kommen. Die Haustechnik entspricht dem aktuellen Standard, die Materialien sind robust, aber sicher nicht reif für die Kreislaufwirtschaft, und die Balkontrenner in kräftigem Gelb und Orange zur Belebung der Fassaden hat man auch schon gesehen. Man könnte sagen: Driendl ist ein Pragmatiker, der sein Handwerk beherrscht. Es ist derselbe Pragmatismus, den auch Otto Wagner anspricht, wenn er als primäre Aufgabe der Architektur „peinlich genaues Erfassen und vollkommenes Erfüllen des Zwecks“ nennt. Dieser Pragmatismus hat allerdings eine Kehrseite: den Anspruch auf künstlerische Freiheit jenseits der Zweckmäßigkeit. Bei Driendls Entwurf für die Spallartgasse besteht diese Freiheit nicht zuletzt darin, im Rahmen des ökonomischen Rasters von 3,6 Metern die richtigen Baulinien zu finden. Sie folgen streckenweise der Straße, bilden U-förmig geschlossene Höfe, springen von der Straßenflucht zurück, wenn es zu eng wird, und weichen besonders erhaltenswerten Baumgruppen aus. Die Baukörper, die dabei entstehen, sind weder frei stehende, modernistische Einzelwesen noch starre Blockrandtypen, sondern locker platzierte Figuren, die miteinander und mit der Nachbarschaft im Dialog stehen. An einer Stelle schiebt sich eine dieser Figuren in die Tiefe des Parks und bildet dort einen der drei zehngeschoßigen Hochpunkte, mit denen die vereinbarte Dichte erreicht wird. Dass es sich hier ab dem fünften Geschoß lebt wie in Italo Calvinos „Baron auf den Bäumen“, ist ein Luxus, den es im geförderten Wohnbau selten gibt. Im Erdgeschoß dieses Trakts befindet sich ein Café mit Terrasse, das wie der ganze Park öffentlich zugänglich ist.

Dass Driendl überhaupt den Auftrag für die Objektplanung erhielt, ist keine Selbstverständlichkeit. Der Wettbewerb von 2016 hatte sich nur auf den Städtebau bezogen, der Ende 2017 nach Bürgerbeteiligung und Behandlung in der Stadtentwicklungskommission zu einer Widmung und Ausweisung von Baufeldern führte. Die CCI beschloss, die Wohnhäuser nicht selbst zu errichten, sondern die Baufelder an gemeinnützige Wiener Bauträger zu verkaufen, darunter jene, die sich schon 2015 für das Areal interessiert hatten. Üblicherweise hätten diese Bauträger ihren eigenen Architekten die weitere Planung übertragen, Driendl konnte sie aber mithilfe der Stadt Wien überzeugen, ihn und drei andere Wettbewerbsteilnehmer – Frötscher/Lichtenwagner, Gangoly & Kristiner und BWM – zu beauftragen.

Wer die Wiener Praktiken im geförderten Wohnbau kennt, weiß, dass das kein Geschenk ist. Die Bauträger streifen hohe Nebenkosten ein, vergeben aber die Ausführung an Generalunternehmer, die einen weiteren Aufschlag berechnen. Architekten, denen Ausführungsqualität ein Anliegen ist, müssen unter diesen Bedingungen um jedes Detail kämpfen. Driendls Projekt hat sich in diesem Kampf als extrem robust erwiesen. Fensterflächen mussten reduziert werden, liegen aber immer noch um fast das Doppelte über der Vorschrift. Die Raumhöhe blieb bei 2,7 Metern, und auch ein zentraler Aspekt des Brandschutzes blieb unverändert: Um den Park nicht für die Feuerwehr befahrbar machen zu müssen, gibt es in den Häusern parkseitig aufwendigere bauliche Brandschutzmaßnahmen.

Wenn hinter diesem Projekt eine Botschaft steht, dann lautet sie wohl: Konzentrieren wir uns auf die richtige Sache, und machen wir die Sache richtig. Die neue Architektur kommt dann ganz von selbst.

Spectrum, Mo., 2022.03.28

04. Februar 2022Christian Kühn
Spectrum

Architekturzentrum Wien: Wenn die Sammlung zu erzählen beginnt

„Hot Questions – Cold Storage“: Unter diesem Titel präsentiert das Architekturzentrum Wien seine von Grund auf neu konzipierte Dauerausstellung. Unter den Schauobjekten: ein Riesenrad für Architekturmodelle. Wien ist um eine Attraktion reicher.

„Hot Questions – Cold Storage“: Unter diesem Titel präsentiert das Architekturzentrum Wien seine von Grund auf neu konzipierte Dauerausstellung. Unter den Schauobjekten: ein Riesenrad für Architekturmodelle. Wien ist um eine Attraktion reicher.

Die „a_chau“ nannte sich von 2004 bis 2021 die Dauerausstellung des Architekturzentrums Wien, eine chronologische Übersicht über die österreichische Architektur seit Mitte des 19. Jahrhunderts, mit einem klaren Schwerpunkt im 20. und ein paar ersten Beiträgen aus dem 21. Jahrhundert. Konzeptionell und gestalterisch war die „a?chau“ eine Herausforderung: Sie wirkte, als hätte ein Wirbelsturm Hunderte Seiten aus reich bebilderten Fachbüchern gerissen und im Raum verteilt. Einprägsam war diese Ausstellung jedenfalls nicht.

Dass gerade der Dauerausstellung des AzW der Erfolg verwehrt blieb, war kein Zufall. „Sturm der Ruhe. What is architecture?“ hieß 2001 die Ausstellung, mit der AzW-Direktor Dietmar Steiner sein Debüt in den neu adaptierten Räumen im Museumsquartier gab. Sie wollte dazu anregen, Architektur von ihren Rändern her zu denken, vom Unspektakulären, nicht medial Verwertbaren, und von den lapidaren Lösungen her, die erst auf den zweiten Blick ihre hohe „konzeptionelle Kompetenz“ preisgeben, von der sich Steiner eine „neue Architektur“ erwartete. Leicht vernebelte Assoziationsräume dieser Art zu öffnen war Steiners Stärke, und zu Recht wurde diese Ausstellung in der Architekturszene heftig diskutiert. Die didaktisch angelegte „a?chau“ war dagegen nie sein Herzensprojekt, auch wenn der Katalog zur „a?chau“ sich über die Jahre als Bestseller erwies.

Als Angelika Fitz im Jahr 2017 die Leitung des AzW übernahm, blieb die „a_chau“ trotz einiger Verbesserungen in der Präsentation und im Vermittlungsprogramm weitgehend unverändert. Der Schwerpunkt des AzW lag bei Sonderausstellungen, die sich konsequent mit den aktuellen „großen Fragen“ befassten, darunter „Boden für alle“ über die Ökonomie und Ökologie des Bodenverbrauchs, „Critical Care“ über den sorgsamen Umgang mit einem „Planeten in der Krise“ oder „Form folgt Paragraph“ über den Einfluss von Normen auf die Architekturentwicklung. Ergänzt wurde das Programm um Ausstellungen international renommierter Architektinnen und Architekten von Denise Scott Brown über Balkrishna Doshi bis Tatiana Bilbao.

Parallel dazu entstanden wichtige, von der Leiterin der AzW-Sammlung, Monika Platzer, kuratierte historische Ausstellungen, die vor allem die politische Dimension von Architektur und Stadtplanung untersuchten: „Kalter Krieg und Architektur“, quasi die Fortsetzung einer in der Ära Steiner entstandenen Ausstellung über die NS-Planungen unter dem Titel „Wien. Perle des Reiches“, oder eine Ausstellung über „Roland Rainer. (Un)Umstritten“, in der Rainers Karriere im NS-Staat in den Fokus rückte.

Dass man sich im AzW so lange mit der Neugestaltung der Dauerausstellung Zeit ließ, liegt nicht zuletzt daran, dass die Sammlung des AzW in den vergangenen Jahren auf inzwischen über 100 Vor- und Nachlässe gewachsen ist. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Materials erfordert einen langen Atem. Seit Mittwoch ist klar: Die Wartezeit hat sich gelohnt. Die neue, von Angelika Fitz und Monika Platzer konzipierte Dauerausstellung unterscheidet sich radikal von der bisherigen. Sie ist weder chronologisch aufgebaut noch versucht sie, aus der umfangreichen Sammlung eine Präsentation von Meisterwerken zusammenzustellen. Stattdessen überträgt sie das Konzept, mit dem das Sonderausstellungsprogramm des AzW so erfolgreich wurde, auf die Dauerausstellung: Sie stellt Fragen an die Sammlung und macht in ihren Antworten deutlich, dass Architektur nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine sozioökonomische und politische Sache ist.

Der Titel der Ausstellung, „Hot Questions – Cold Storage“, bezieht sich auf die Doppelrolle jedes Museums: auf das so weit wie möglich objektive, „kühle“ Sammeln und Forschen auf der einen Seite und auf das Ausstellen auf der anderen, das immer bis zu einem gewissen Grad subjektiv bleiben muss, mit Präferenzen, die ein- und ausschließen, sowie mit Fragestellungen, die aus dem Heute an die Vergangenheit gestellt werden und so erst die aktuelle Relevanz eines Museums ausmachen. Das gilt für alle Museen, aber ganz besonders für ein Architekturmuseum, dessen Gegenstand eng mit sozioökonomischen und politischen Aspekten verbunden ist.

So lesen sich auch die sieben Begriffe und Fragen, nach denen die Ausstellung organisiert ist, wie ein Panorama des Zeitgeists: Kapital – Wer macht die Stadt? Habitat – Wie wollen wir leben? Gemeinwohl – Wer sorgt für uns? Selbstschau – Wer sind wir? Macher:innen – Wer spielt mit? Bausteine – Wie entsteht Architektur? Planet – Wie überleben wir?

Zu jeder dieser Fragen gibt es ein räumliches Gerüst, in dem Antworten aus der Sammlung präsentiert werden. Bei der Frage nach der Identität finden sich naheliegende Materialien über österreichische Beiträge zu Weltausstellungen, aber auch Detailinformationen über die Entstehung der Wiener UNO-City und Fotos von Kurt Waldheim, wie er als UNO-Generalsekretär in New York ein von österreichischen Betrieben gestiftetes Arbeitszimmer übernimmt, dazu die Rezeption dieses Nicht-Ereignisses in der österreichischen Presse.

Ein Unterabschnitt befasst sich mit Moscheen und Synagogen und präsentiert neben einem Modell der 1939 zerstörten Hietzinger Moschee von Arthur Grünberger und Adolf Jelletz ein geometrisch verwandtes Fassadenelement des islamischen Friedhofs von Bernardo Bader in Altach. In einer weiteren Unterabteilung zeigt ein unscheinbares Plandetail, die Beschriftung eines Geschäftsportals, den großen Architekten Otto Wagner als kleingeistigen Antisemiten. Dass er beides war, ist schmerzlich, aber eine Tatsache. Die Ausstellung ist voll von Überraschungen und mehr oder weniger großen Irritationen. So werden etwa die Monumentalbauten der Ringstraße im Abschnitt über das Kapital behandelt und als winzige Lego-Modelle gezeigt, an denen sich die Postkartenklischees, die wir von diesen Bauten im Gedächtnis haben, brechen.

Die Ausstellungsgestaltung von Michael Hieslmair mit Michael Zinganel (tracing spaces) und Christoph Schörkhuber mit Stefanie Wurnitsch (seite zwei) setzt mit ihrem Farbverlauf vom heißen Orange bis zum kalten Blau – wo Videos Einblick in den Betrieb des AzW-Lagers in Möllersdorf geben – die Grundidee der Ausstellung kongenial um. Zentrales Schauobjekt ist ein nach dem Vorbild des Paternosters langsam rotierendes Regalsystem hinter Glas, in dem Wohnbaumodelle mit der Unerbittlichkeit eines Uhrwerks durch den Raum kreisen (noch tun sie das nicht, weil pandemiebedingt einige Teile des Mechanismus fehlen).

Mit dieser Ausstellung ist Wien um eine Top-Attraktion reicher. Inhaltlich kann es das AzW mit den großen Tankern vom MAK bis zum Wien Museum aufnehmen. Jetzt sollte es endlich vom Bund und der Stadt Wien die Ressourcen erhalten, die diesem Format entsprechen.

Spectrum, Fr., 2022.02.04

11. Januar 2022Christian Kühn
Spectrum

Was eine gute Universität ausmacht

Heute braucht es an Hochschulen nicht mehr nur gut ausgestattete Labore und Hörsäle, sondern auch Bereiche für informelles Zusammentreffen sowie Projekträume für selbstständiges Arbeiten. Die FH St. Pölten agiert mit ihrem Erweiterungsbau auf der Höhe der Zeit.

Heute braucht es an Hochschulen nicht mehr nur gut ausgestattete Labore und Hörsäle, sondern auch Bereiche für informelles Zusammentreffen sowie Projekträume für selbstständiges Arbeiten. Die FH St. Pölten agiert mit ihrem Erweiterungsbau auf der Höhe der Zeit.

Von Loris Malaguzzi, dem Begründer der „Reggio-Pädagogik“, stammt die viel zitierte Behauptung, der Raum sei – nach den Mitschülern und den Lehrern – der „dritte Pädagoge“. Entstanden in den 1960er-Jahren im Bereich der Kindergartenpädagogik, in der mit Maria Montessoris Prinzip der „vorbereiteten Umgebung“ bereits eine explizit raumverständige pädagogische Praxis etabliert war, brauchte die Idee des „dritten Pädagogen“ einige Jahrzehnte, bis sie auch Volksschule und Gymnasium erfasste. Heute reicht es nicht mehr, wenn Architektur in der Schule einen neutralen Hintergrund bietet. Sie muss gut gestaltete Reviere zur Verfügung stellen: für die Jagd nach Wissen und für das Training im kultivierten Umgang miteinander.

Auch Universitäten und Fachhochschulen brauchen solche Reviere. Dass sich das Selbstverständnis dieser Institutionen gewandelt hat, zeigt sich in der Wortwahl: Zu den klassischen Begriffen Lehre und Forschung ist das Lernen als gleichwertige Aktivität getreten, für die es in den Gebäuden und Freiräumen optimale Bedingungen braucht. Dazu gehören nicht nur gut ausgestattete Labore und Hörsäle, sondern auch Bereiche für informelles Zusammentreffen und Projekträume, in denen Studierende selbstständig miteinander arbeiten können.

Die Fachhochschule in St. Pölten ist mit ihren zwei Bauetappen ein besonders gutes Beispiel dafür, wie sich die Anforderungen an solche Räume in den vergangenen Jahren geändert haben. Die FH nahm ihren Betrieb 1996 auf, zehn Jahre, nachdem St. Pölten zur Landeshauptstadt Niederösterreichs erhoben worden war. 2007 bezog sie ihr erstes neu gebautes Haus. Ende vorigen Jahres eröffnete sie einen Erweiterungsbau, der die zur Verfügung stehende Fläche fast verdoppelt. Hinter diesem Zuwachs an Fläche steht der Erfolg der FH, die von 60 Studierenden zu Beginn auf heute über 3500 gewachsen ist. Rund 360 hauptberufliche Mitarbeiter und 900 externe Lehrende betreuen 26 Bachelor- und Masterstudien, die von Informatik, Wirtschaft und Medien bis zu Gesundheits- und Krankenpflege reichen.

Der Standort des Campus liegt 15 Gehminuten nördlich des historischen Zentrums in einem Umfeld, das von Wohnbauten der 1960er-Jahre und dem benachbarten Universitätsklinikum geprägt ist. Ein Bundesschulzentrum markiert die südöstliche Grenze des Areals, auf dem noch Platz für zukünftige Erweiterungen ist. Das Haus aus dem Jahr 2007, ein im Grundriss annähernd quadratischer Block mit fast 70 Meter Seitenlänge und rund 14000 Quadratmeter Nutzfläche, bildet den Auftakt des Campus. Er enthält im Erdgeschoß Hörsäle und eine Mensa, darüber ein Geschoß mit Seminarräumen und zwei Ebenen mit Büro- und Laborräumen. Eine zentrale, von oben belichtete Halle verbindet alle Geschoße. Seine Form bekommt der Baukörper durch leichte Abschrägungen, die im Grundriss als auch im Schnitt vorgenommen werden und dem Haus ein kristallines Aussehen geben.

Der Entwurf stammt von Sascha Bradic, dem „B“ im Wiener Architekturbüro NMPB, das unter Extrembedingungen arbeitete: Die Planung hatte nur sechs Monate Vorlauf und ging fließend in eine Ausführungsphase von 15 Monaten über. Dass dabei nicht nur die Termine, sondern auch die Kosten eingehalten wurden, schuf beim Bauherrn nachhaltiges Vertrauen. Als 2015 eine Erweiterung um rund 11.000 Quadratmeter beschlossen wurde, ergab eine Machbarkeitsstudie einen Budgetrahmen von 30 Millionen Euro reiner Baukosten, die als Vorgabe für ein mehrstufiges Verhandlungsverfahren angesetzt wurden. Das inhaltliche Konzept wurde unter Einbindung von Studierenden und Mitarbeitern in einer vom Büro Nonconform moderierten „Ideenwerkstatt“ erarbeitet. Im folgenden Wettbewerb traten neben NMPB mehrere renommierte Büros gegeneinander an, darunter Dietmar Feichtinger aus Paris, Architekt der Donau-Universität in Krems, Laura Spinadel, Architektin des WU Campus, und DMAA, die Architekten des FH Campus Wien.

Der Siegerentwurf von Sascha Bradic lebt davon, nicht originell sein zu wollen. Er ist im Prinzip nichts anderes als der etwas kleinere Bruder des Bestandsgebäudes: eine rechteckige, von oben belichtete Halle, aufgespannt zwischen vier Fluchttreppenhäusern, darum gruppiert Seminar- und Büroräume; und eine äußere Hülle, die aus dem orthogonalen System ausbricht und dem Haus ein kristallines Aussehen gibt. Der Witz des Projekts besteht darin, innerhalb dieser typologischen Bindung einen evolutionären Qualitätssprung zu erzielen, der auf mehreren Ebenen eindrucksvoll gelingt. Die Halle, das Herz des Gebäudes, dient im Neubau nicht nur der Belichtung, sondern ist ein Aufenthaltsraum mit Podesten und Nischen geworden, ein „Wohnraum“, wie er in der Ausschreibung gefordert war.

Zur gleichwertigen Verbindung von Bestands- und Neubau auf allen Ebenen dient ein verglastes Zwischenelement, in dem nicht nur Verbindungsgänge, sondern auch Plattformen, die zum Verweilen einladen, von oben abgehängt sind. Die Büros werden großteils im Desk-Sharing-Prinzip bespielt und sind so verglast, dass man sich nie abgekapselt, aber auch nicht jedem Blick von außen ausgesetzt fühlt. Für Studierende gibt es großzügige Aufenthaltsbereiche mit 300 freien Arbeitsplätzen; zusätzlich können sie bei Bedarf Besprechungsräume buchen.

Die FH St. Pölten versteht sich als Teil der sozialen Infrastruktur der Stadt und als Brutstätte für „Open Innovation“. Das bedeutet etwa, dass die Hochschulbibliothek öffentlich zugänglich ist und als Filiale der städtischen Bücherei fungiert, mit einer kleinen Auswahl an Jugendliteratur. Auch den Rücksprung der Fassade im Erdgeschoß kann man als freundliche Geste zum umgebenden Stadtraum interpretieren. Beim Bestandsbau ist dieser Rücksprung eher symbolisch; im Neubau ist er ein ernsthaftes Angebot, sich niederzulassen: Vor dem Haupteingang beträgt die Auskragung satte acht Meter.

Nur 14 Jahre liegen zwischen diesen beiden Häusern. Ohne den Bestand abzuwerten, zeigt der Neubau, wie stark sich die Vorstellungen vom Lehren und Lernen in der kurzen Zeit verändert haben. Wie das Projekt typologische Kontinuität mit dem Anspruch verbindet, auf der Höhe der Zeit zu agieren, ist eine beachtliche Leistung.

Spectrum, Di., 2022.01.11

16. Dezember 2021Christian Kühn
Spectrum

Ist das die Stadt der Zukunft?

Ein gut vorbereiteter städtebaulicher Wettbewerb bot Gelegenheit, einen neuen Stadtteil zu gestalten. Am Ergebnis scheiden sich die Geister: Kann Wien sich aus den Mustern des vergangenen Jahrhunderts befreien? Ein Beispiel aus der Donaustadt.

Ein gut vorbereiteter städtebaulicher Wettbewerb bot Gelegenheit, einen neuen Stadtteil zu gestalten. Am Ergebnis scheiden sich die Geister: Kann Wien sich aus den Mustern des vergangenen Jahrhunderts befreien? Ein Beispiel aus der Donaustadt.

Eine ebene Fläche, von der U-Bahnlinie U2 in einem großen Bogen überquert: Mehr ist hier nicht zu sehen, und trotzdem könnte die Zukunft dieses Orts kaum spannender sein. Auf einer Fläche von rund einem Viertel der Wiener Innenstadt sollen hier 2340 Wohnungen entstehen, in denen 5380 Menschen leben werden. Zehn Prozent der Bruttogrundfläche von 260.000 Quadratmetern werden für Büro- und Gewerbenutzungen, die sich vor allem im Bereich um die U-Bahnstation Aspernstraße am nördlichen Rand des Areals konzentrieren sollen, zur Verfügung stehen.

Die Umgebung dieses Gebiets ist eine Art Freilichtmuseum des Wiener Wohnbaus der Jahre 1980 bis 2000. Südöstlich liegt die 1981 entworfene Wohnhausanlage Biberhaufenweg. Otto Häuselmayer, Carl Pruscha und Heinz Tesar zitierten hier in bester postmoderner Manier traditionelle dörfliche Grundelemente: Anger, Gasse und Platz statt der rationalistischen Zeilenbebauung der Moderne. Im Südwesten, gegenüber dem SMZ Ost (heute Klinik Donaustadt), liegt die 1983 fertiggestellte Wohnhausanlage Gerasdorferstraße von Viktor Hufnagl, eine Variante der Gartenstadtidee mit lang gestreckten, von Laubengängen gesäumten Höfen. Zehn Jahre jünger ist die Siedlung Pilotengasse im Nordosten, geplant von Herzog & de Meuron und Adolf Krischanitz, ein Ensemble aus leicht gekrümmten Reihenhauszeilen, die an den Wiener Siedlungsbau nach dem Ersten Weltkrieg erinnern.

Zwei Nachbarn grenzen unmittelbar an den neuen Stadtteil an: im Westen die 1992 entstandene Wohnanlage Tamariskengasse von Roland Rainer, der hier sein Konzept einer Gartenstadt mit Atriumhäusern endlich auch in Wien umsetzen durfte. Der deutlich dichtere Nachbar im Osten ist die Erzherzog-Karl-Stadt, 1998 nach Plänen von Gustav Peichl und Martin Kohlbauer entstanden. Stadträumlich folgt sie den Ideen einer speziellen Postmoderne, aus der man die Moderne noch deutlich herausschmeckt: Diese „White City“ fällt im Freiluftmuseum durch ihre Sterilität auf, die nicht auf die einheitliche Farbe, sondern auf die industriell anmutende Wiederholung ihrer Elemente zurückgeht.

Je genauer man sich in dieser Gegend umsieht, desto deutlicher spürt man, dass etwas fehlt. Die Siedlungen sind zu sehr auf sich bezogen. Sie gleichen einem Patchwork von Ideen, die nicht zueinanderfinden. Und überhaupt: Kann eine Stadt aus nichts anderem bestehen als aus „Siedlungen“? Sollte es nicht möglich sein, andere Nutzungen zu integrieren und dafür neue, multifunktionale Bautypen zu entwickeln?

Antworten auf diese Fragen durfte man sich von einem städtebaulichen Wettbewerb erwarten, dessen Ergebnisse vergangene Woche bekannt wurden. Dass dieser Wettbewerb europaweit ausgeschrieben und anonym sowie zweistufig abgehalten wurde, ist bemerkenswert. Seit einigen Jahren hat sich die Stadt für ähnliche Aufgabenstellungen oft anderer Verfahren, die als „kooperativ“ bezeichnet werden, bedient. Bei diesen Verfahren sind die Teilnehmer bekannt und interagieren mit der Jury und den anderen beteiligten Büros. Das soll im Dialog Erkenntnisse bringen und zu einem besseren Verständnis der Aufgabe führen. Kritiker dieser Verfahren bemängeln, dass sie oft auf schwammigen Vorgaben aufbauen, weil die Aufgabe ja erst im Verfahren präzisiert werden soll, und am Ende schwache Kompromisse hervorbringen, für die niemand verantwortlich zeichnet.
Quo vadis, Donaustadt?

Im gegenständlichen Fall konnte die Ausschreibung der Stadt auf langjährigen Vorstudien aufbauen. Das Areal war bereits im Stadtentwicklungsplan 2005 ein „Zielgebiet“ und 2013 Teil des Strategieplans „Wo willst Du hin, meine Donaustadt?“. Vorgegeben war die Teilung des Areals in vier Quadranten mit einem verbindenden Park im Ausmaß von 2,15 Hektar. Um die Selbstbezogenheit früherer Siedlungen zu vermeiden, sollten sich die Gebäudehöhen an den Rändern an den Bestand angleichen und an der U-Bahnstation sowie im Zentrum des Areals auf maximal 35 Meter ansteigen dürfen; Hochhäuser jenseits dieser Grenze waren unzulässig. Zur Vernetzung der Stadtteile sollte die Empfehlung beitragen, die Eibengasse, gewissermaßen die Hauptstraße der „White City“ von Peichl und Kohlbauer, im neuen Stadtteil fortzuführen.

Das Siegerprojekt des Wettbewerbs vom Büro Superblock ist symptomatisch für den aktuellen Stand des Städtebaus in Wien. Das Verhältnis zur Umgebung ist durch eine entsprechende Abstufung der Gebäudehöhen zwar einigermaßen gelöst – problematisch ist allerdings der Umgang mit dem öffentlichen Raum. Superblock interpretieren das ebene Feld als Aufmarschplatz für Baukörper, die sich zu L- und U-förmigen Strukturen anordnen, zwischen denen Dreiergruppen von mittelhohen Türmen Aufstellung nehmen. Der öffentliche Raum ist das, was dazwischen übrig bleibt. Diese Art von Klötzchen-Urbanismus wird in der Regel damit verteidigt, es handle sich um eine Parklandschaft mit Einbauten, eine Metapher, an die Superblock mit der gewagten Behauptung anknüpfen, ihre Dreiertürme seien „Stadtkronen“ und „Leuchttürme“. Den Park gibt es zwar, aber er wird von der in Hochlage geführten U-Bahn dominiert und verfließt übergangslos ins Abstandsgrün zwischen den Baukörpern.

Ganz anders geht das zweitplatzierte Projekt von Hubert Rieß und seinen Partnerarchitekten an die Aufgabe heran. Es legt eine klare Ordnung fest, die Freiraum und Bebauung zugleich und überzeugend reguliert. Die Eibengasse wird als Allee durch das gesamte Planungsgebiet geführt und der Park als rechteckiges freies Feld einmal zur linken und einmal zur rechten Seite angeordnet. Seine Gestaltung bleibt offen; fürs Erste darf man sich eine große Wiese vorstellen, die frei bespielt werden kann. Das Areal wird durch Eibengasse und U-Bahn in vier Quadranten aufgeteilt, die nach einem einheitlichen Muster bebaut sind: linear angeordnete Zeilen mit einzelnen Hochpunkten, zwischen denen halb öffentliche, dicht mit Bäumen bewachsene Höfe entstehen. Die vorherrschende Gebäudehöhe beträgt 22 Meter, das Maximum, das bei dieser Struktur und Dichte sinnvoll ist. Die innere Erschließung der Wohnviertel erfolgt über West-Ost gerichtete Fußgängerwege mit kommerziell oder für soziale Zwecke nutzbaren Erdgeschoßzonen.

Dieses Projekt wäre eine Einladung, neben den gewohnten auch neue Formen städtischer Bebauung und neue Freiraumtypen zu entwickeln. Für die meisten Bauträger ist das eine Zumutung, da sie am liebsten Wohnungen, aber keine Stadt bauen wollen. Auf diesem Weg wird Wien in den Mustern des vergangenen Jahrhunderts stecken bleiben. Die zuständige Stadträtin, Ulli Sima, hätte die Aufgabe, die öffentliche Debatte über die Zukunft der Stadt anzuzünden, am besten mit einem Symposium, bei dem die Ergebnisse dieses Wettbewerbs diskutiert werden, als ginge es um den Lobau-Tunnel. Baumpflanzen, Installieren von Nebelduschen und Pseudo-Partizipation reichen nicht. Immerhin trägt Simas Ressort den Begriff „Innovation“ im Titel.

Spectrum, Do., 2021.12.16

05. November 2021Christian Kühn
Spectrum

Studieren auf der Piazza

Ob Österreich tatsächlich eine weitere medizinische Fakultätin Linz gebraucht hat, ist bis heute strittig. Ihren neuen Gebäuden, geplant von Lorenz Ateliers, fehlt es jedenfalls nicht an Selbstbewusstsein.

Ob Österreich tatsächlich eine weitere medizinische Fakultätin Linz gebraucht hat, ist bis heute strittig. Ihren neuen Gebäuden, geplant von Lorenz Ateliers, fehlt es jedenfalls nicht an Selbstbewusstsein.

Seit 2014 gab es die neue medizinische Fakultät der Johannes-Kepler-Universität in Linz, wenn auch vorerst vor allem auf dem Papier: Die ersten Studierenden erhielten ihre Grundausbildung in Graz. Dass die neue Fakultät bald ein Bauwerk für Lehre und Forschung mit Signalwirkung erhalten würde, war anzunehmen: Die JKU hat sich unter Rektor Meinhard Lukas einen Ruf als Bauherr mit saftigem Repräsentationsanspruch erworben. Im Architekturwettbewerb für den neuen Erweiterungsbau des ehemaligen Linzer Allgemeinen Krankenhauses standen trotzdem die funktionellen Anforderungen im Vordergrund: große Hörsäle und Seminarräume, Bibliothek und Learning Center, Laboreinrichtungen für die medizinische Forschung sowie ein großer Bürotrakt. Die Ausschreibung war auf den Entwurf eines großen Hauses angelegt, in dem alle genannten Funktionen Platz finden.

Den Wettbewerb gewannen Lorenz Ateliers mit einem genau konträren Konzept, indem sie nicht vom monumentalen Einzelobjekt, sondern von der Stadt her dachten. Statt ein großes Haus zu entwerfen, schlugen sie die Schaffung eines städtischen Platzes vor, der sich an italienischen Vorbildern orientiert: eine Piazza ohne Bäume, ein städtisches Zimmer, dessen Wände von vier separaten, nur punktuell durch Brücken verbundenen Baukörpern gebildet werden. Diese Lösung wirkt in der Umsetzung so selbstverständlich, dass man sich im Nachhinein wundert, warum nicht mehrere Wettbewerbsteilnehmer auf sie gesetzt haben.

In der Geschichte des Universitätsbaus in Österreich gäbe es mit dem Campus der Wirtschaftsuniversität in Wien sogar einen Präzedenzfall, bei dem ebenfalls ein großes Haus ausgeschrieben war und am Ende ein Campus realisiert wurde, bei dem sich unabhängige Baukörper um eine gemeinsame Mitte versammeln. Angesichts der Größe des WU-Campus kamen dort in der Umsetzung verschiedene Architekten für die einzelnen Bauteile zum Zug. Beim Med Campus in Linz, der um eine Größenordnung kleiner ist als das Wiener Projekt, mussten Lorenz Ateliers diese Heterogenität selbst herstellen, was schon deshalb nicht einfach war, weil es bereits eine das Grundstück verbindende Substruktur gab: eine Tiefgarage, deren Stützen als Tragkonstruktion für eine Überbauung vorbereitet waren.

Die vier Baukörper des Neubaus setzen so weit wie möglich auf diesen Raster auf, wirken aber nach außen völlig eigenständig. Sie unterscheiden sich erstens in der Höhe: Der Bibliotheksbau ist mit Abstand der niedrigste, gefolgt vom Hörsaal- und Seminargebäude, dem Labor- und dem Bürobau. Diese Staffelung erhält eine besondere Note durch die Bäume, die auf dem Dach der Bibliothek gepflanzt sind und mit ihren Kronen ein weiteres Niveau im Höhenspiel der Piazza einziehen werden. Geplant war, auf diesem Niveau nicht nur Bäume, sondern einen Kräutergarten mit medizinischen Heilpflanzen anzusiedeln. Dieses Konzept musste aus Kostengründen aufgegeben werden, aber zumindest die Bäume werden, wenn sie in ein paar Jahren ihre geplante Höhe erreicht haben, einen surrealistischen Gegenpol zur baumlosen Piazza im Zentrum bilden.

Zweitens unterscheiden sich die Baukörper in Bezug auf ihre Fassaden, oder besser gesagt: in ihrem Dekor, einem Begriff, der ursprünglich nicht das „Dekorative“ als oberflächliche Ergänzung bezeichnete, sondern das angemessene oder schickliche Verhalten, insbesondere in der öffentlichen Rede. Die antike Rhetorik behandelte das „Decorum“ daher nicht als oberflächliche, sondern als ganzheitliche Qualität. Auch Fassaden des Linzer Med Campus sind keine glatten Oberflächen, sondern Vermittler zwischen Innen und Außen mit einer je eigenen, materialspezifischen Tiefe, die von der Holzverkleidung der Bibliothek über die bewegliche Keramikfassade des Laborbaus bis zur Loggia-artigen Beton-Elementfassade des Hörsaal- und Seminartrakts reicht. Jede dieser Fassaden harmoniert mit den Räumen dahinter, ganz im Sinne der antiken Auffassung von Dekor.

Zwischen diesen Fassaden spannt sich ein Raum auf, der auf Fotos nur ungenügend wiedergegeben werden kann, weil er sich erst aus der Bewegung in seiner ganzen Qualität erschließt. Für diese Bewegung gibt es zwei Arten von Attraktoren: einerseits die öffentlichen Zugänge an den Ecken der Piazza, die in die angrenzenden Straßen- und Grünräume führen, andererseits die Eingänge zu den einzelnen Funktionsbereichen in den Gebäuden, von denen es manchmal auch mehrere gibt. So ist etwa im Erdgeschoß des Bibliotheksbaus eine kleine Cafeteria untergebracht und im Erdgeschoß des Laborbaus ein Lebensmittelmarkt, neben dessen Eingang ein Aufzug zur Tiefgarage auch Letztere an prominenter Stelle mit der Piazza verbindet. Zwischen diesen Attraktoren bilden sich virtuelle Wege, die dann – je nach Jahreszeit – von den Licht- und Schattenmustern beeinflusst werden, wie sie die unterschiedlich hohen Gebäude auf die Piazza werfen.

Im Inneren der Baukörper herrscht eine Großzügigkeit, die unter den heutigen ökonomischen Bedingungen selten geworden ist. Mit einem Anteil an Erschließungsflächen von knapp 30 Prozent liegt das Projekt im oberen Bereich des Üblichen, aber jeder Prozentpunkt ist hier mit architektonischem Anspruch investiert. Vor allem das Hörsaal- und Seminargebäude bietet den Studierenden mehrgeschoßige Treppenhallen mit spektakulären diagonalen Durchblicken. In die Hörsäle dringt großzügig Tageslicht, das über Jalousien nach Bedarf geregelt werden kann. Allein die Option, nach einer medienunterstützten Frontalvorlesung im abgedunkelten Hörsaal für eine Diskussionsphase einen natürlich belichteten Raum zur Verfügung zu haben, ist den Aufwand wert.

Auf der Ebene der Seminarräume befindet sich ein Element, das schon von der Piazza aus irritierend auffällt: ein schmaler Balkon mit einem Boden aus Metallgittern, der in die Piazza hineinragt wie ein Trampolin in einen Swimmingpool. Ist das ein Balkon für Volks- oder Brandreden? Ein baukünstlerischer Hinweis darauf, wie dünn und zerbrechlich der Boden ist, auf dem wir alle stehen? Die Antwort wird jeder Besucher selbst finden müssen. Dieser Balkon ist „dekorativ“ im oben beschriebenen Sinn, ein rhetorisches Element, ohne das der Entwurf ein anderer, banalerer wäre.

Architektur hat dafür zu sorgen, dass die Menschen es in unseren Häusern trocken, warm und sauber haben. Sie ist aber auch die Kunst, das scheinbar Nutzlose notwendig zu machen. Angesichts der drohenden Klimakatastrophe mag diese Behauptung anstößig klingen: Sollten wir nicht den minimalen Ressourcenverbrauch zur obersten Maxime machen? Zwischen Baukunst und Banalität liegen aber oft nur wenige Prozent an Klimawirksamkeit. Späteren Generationen diese Kunst zu erhalten sollte die zusätzliche Anstrengung dafür wert sein.

Spectrum, Fr., 2021.11.05

13. Oktober 2021Christian Kühn
Spectrum

Wie baut man Hochhäuser?

Ein einprägsamer Ort, der nicht nur den Nutzern und Investoren dient, sondern auch der Allgemeinheit: Henke und Schreieck zeigen mit dem Triiiple in Wien, was Architektur und Städtebau an einer unmöglichen Stelle bewirken können.

Ein einprägsamer Ort, der nicht nur den Nutzern und Investoren dient, sondern auch der Allgemeinheit: Henke und Schreieck zeigen mit dem Triiiple in Wien, was Architektur und Städtebau an einer unmöglichen Stelle bewirken können.

Ist Wien eine Hochhausstadt? Diese Frage lässt sich am besten von einem neuen Aussichtspunkt der Stadt aus prüfen, dem Restaurant auf dem Dach des Flakturms im Esterházypark, dessen umlaufender Balkon einen freien Blick in alle Himmelsrichtungen erlaubt. Von hier aus lassen sich einige prominente Hochhauscluster erkennen: im Norden die Donau City mit dem DC Tower; im Süden der Wienerberg mit den beiden dominanten Twin Towers; ein Stück östlich davon der Stadtteil Monte Laa, errichtet auf und neben der Überplattung der Südosttangente; deutlich näher zum Zentrum die Hochhäuser im Viertel um den Hauptbahnhof und in Wien-Mitte. Dazwischen gibt es eine ganze Reihe von vertikalen Entgleisungen, vom Millenniums- bis zum Florido-Tower, die im Stadtgefüge unruhig aufzeigen. Wien gewinnt seine Identität sicher nicht aus diesen Stadtbausteinen, aber sie gehören inzwischen dazu, wie die Windparks nördlich der Stadt, die sich aus der Vogelperspektive vom Flakturm recht dramatisch ins Bild schieben.

Das Hochhaus ist eine teure und wenig effiziente Form des Bauens, die aber hohe Renditen verspricht, wenn das ökonomische Umfeld passt. Hohe Bodenpreise sind dabei weniger die Ursache fürs hohe Bauen, vielmehr die Wirkung entsprechender Widmungen. Für die öffentliche Hand bieten sich daher Steuerungsmöglichkeiten über städtebauliche Verträge, in denen der Widmungsgewinn der Projektentwickler zumindest teilweise in Leistungen für die Öffentlichkeit umgelenkt wird, etwa durch die Mitfinanzierung sozialer Einrichtungen wie Schulen und Kindergärten oder die Überplattung von Autobahnen.

Viel größer sind die Einflussmöglichkeiten dort, wo die öffentliche Hand auch Eigentümerin der Liegenschaften ist. Ein Beispiel dafür ist ein weiterer Cluster mit drei Büro- und drei Wohntürmen in der 100-Meter-Klasse, der sich im dritten Bezirk zwischen den U-Bahnstationen Schlachthausgasse und Erdberg entwickelt hat, auf einem Areal, das fast ausschließlich aus Infrastruktur bestand: einer Schnellstraße entlang des Donaukanals; einer Autobahnauffahrt zur Südosttangente; dem Hauptzollamt, das in mehreren Hochhausscheiben untergebracht war; und schließlich einer Remise der U-Bahnlinie U3, über der bereits vor 20 Jahren unter dem Namen Town-Town ein Ensemble von Bürohäusern errichtet wurde.

In dieses Durcheinander Ordnung zu bringen, ist eine fast hoffnungslose Aufgabe, an der die Stadtplanung bei den drei Bürohochhäusern auch postwendend gescheitert ist. Selbst wenn einer von ihnen, der Austro Tower, eine durchaus interessante Geometrie besitzt, kann er die gnadenlose Banalität der beiden anderen Türme nicht wettmachen, die neben ihm wie zufällig abgestellt wirken. Auch die komplexe Doppelfassade hält im Detail nicht, was sie aus der Ferne verspricht: Technische Spitzenleistungen im Hochhausbau sind nur in Städten möglich, wo die Büromieten astronomisch sind. Wien kann da nicht mitspielen, was für visionäre Hochhausarchitektur bedauerlich, für die Stadt insgesamt aber nicht von Nachteil ist.

Von einer ganz anderen Qualität sind die drei Wohnhochhäuser, die auf dem Areal des ehemaligen Zollamts von den Architekten Dieter Henke und Marta Schreieck entworfen wurden. Als Projektentwickler traten hier die ARE – eine Tochtergesellschaft der BIG, die nach dem Abbruch des Zollamts über die Grundstücke verfügte – und die Soravia-Gruppe auf. Letztere hatte bereits mit der Stadt Wien Town-Town entwickelt. Im Architekturwettbewerb schlugen die Architekten vor, statt der geplanten zwei massiven Wohntürme drei zartere zu errichten, zwischen denen sich auf mehreren Ebenen öffentliche Räume aufspannen: auf Straßenniveau ein öffentlicher Platz, zu dem sich die Lobbys der Hochhäuser und einige Geschäfte orientieren, auf dem Niveau darüber – dessen Höhenlage von acht Metern durch die Überplattung von Remise und Autobahnzufahrt vorgegeben ist – eine ebenfalls öffentliche, großzügige Stadtterrasse, die über eine Brücke mit dem eher tristen inneren Platz von Town-Town verbunden ist. Diese Terrasse reicht auf der anderen Seite zum Donaukanal, wo sich ein kleines Café bis knapp ans Wasser vorschiebt.

Das gestalterische Charakteristikum der drei Türme ist ihre Höhenstaffelung mit dramatischen Überhängen und mehrgeschoßigen Terrassen-Einschnitten. Aus manchen Perspektiven fragt man sich, wie die Türme statisch im Gleichgewicht sein können. Sie wirken wie Turner, die schwierige gymnastische Übungen machen und ihre Muskeln bis zum Äußersten anspannen müssen. Hinter der Fassade sind bei genauerem Hinsehen die diagonalen Zugelemente zu sehen, mit denen die verantwortlichen Tragwerksplaner Gmeiner und Haferl dieses Kunststück zuwege gebracht haben. Den Fassaden sind umlaufende Balkone vorgesetzt, die mit Glasbrüstungen versehen sind; eine aufwendige Lösung, die darauf hindeutet, dass man es hier mit Wohnungen im Luxussegment zu tun hat. Das gilt jedenfalls für zwei der Türme; der dritte beinhaltet 700 Kleinstwohnungen für Studierende. Alle Wohnungen profitieren von der Lage am Wasser, vom Fernblick und davon, dass die drei Türme nicht nur skulptural interessant sind, sondern auch zwischen sich Räume aufspannen, die von den großen gemeinschaftlich nutzbaren Terrassen aus erlebbar sind.

Was hat die öffentliche Hand von diesem Projekt, dessen Bauplatz öffentliches Eigentum war? Einerseits geht ein Teil des Gewinns an die ARE und damit an die Republik. Anderseits finanziert es die Überplattungen und Sozialwohnungen an einem anderen Standort, wo sie rasch benötigt wurden. Dass es mit dem Triiiple gelungen ist, „Millionärswohnungen“ an einem Unort attraktiv zu machen, den man davor selbst für Sozialwohnungen als Zumutung bezeichnet hätte, ist eine Pointe dieses Projekts. Nach dem Viertel 2 mit dem OMV-Hochhaus und dem Erste Campus am Hauptbahnhof haben Henke und Schreieck mit dem Triiiple neuerlich bewiesen, dass sie in der Lage sind, im großen Maßstab einprägsame Orte zu schaffen, die nicht nur den Nutzern dienen, sondern auch der Allgemeinheit. Wien bräuchte mehr von dieser unaufgeregten und uneitlen, vom Städtebau bis zum Detail reichenden Kompetenz.

Spectrum, Mi., 2021.10.13

10. September 2021Christian Kühn
Spectrum

Glück ohne Gras, wie dumm ist das

Zu hohe Dichte und halbherzig durchgeführte Freiraumgestaltung: Mit großen Ambitionen begonnen, bleibt die Biotope City auf dem Wienerberg hinter den Erwartungen zurück.

Zu hohe Dichte und halbherzig durchgeführte Freiraumgestaltung: Mit großen Ambitionen begonnen, bleibt die Biotope City auf dem Wienerberg hinter den Erwartungen zurück.

Eine jede Zeit hat ihr Lieblingsmaterial. In der frühen Moderne schwärmten Architekten wie Bruno Taut vom Glas. In seinem Glashaus auf der Werkbundausstellung in Köln zitierte er 1914 den Schriftsteller Paul Scheerbart mit Sätzen wie: „Das bunte Glas zerstört den Hass“ oder „Glück ohne Glas, wie dumm ist das“, die er über dem Eingang anbringen ließ. Glas blieb eines der zentralen Materialien der Moderne, wenn auch meist in anderer Form: Während Tauts Glashaus vielfarbig in geometrischen Mustern leuchtete, mutierte Glas in der Spätmoderne zur alles neutralisierenden, verspiegelten Rasterfassade.

Was ist das Lieblingsmaterial unserer Zeit? Bis vor Kurzem hätte ich auf diese Frage geantwortet, sie sei überflüssig: Gute Architektur kann mit jedem Material entstehen. Das mag stimmen, aber trotzdem zeichnet sich ein Trend ab, der nicht zu übersehen ist: Unsere neue Liebe gilt dem Stadtgrün auf Dächern und Fassaden. Dieses Grün ist zwar kein Material im engeren Sinn, aber es kann die Erscheinung von Gebäuden prägen. Die Stadt Wien unterstützt den Trend, indem sie nun in Bebauungsplänen vorschreibt, bei Neubauten mindestens 20 Prozent der straßenseitigen Fassadenflächen zu begrünen. Dahinter stehen nicht nur emotionale Überlegungen, sondern auch Aspekte des Klimawandels und der zunehmenden Hitzeproblematik. Schon 2015 hat Wien einen Strategieplan zum Umgang mit „Urban Heat Islands“ herausgebracht, der empfiehlt, das Thema schon bei der städtebaulichen Planung und nicht erst bei der Gebäudeplanung einzubeziehen.

Die Biotope City Wienerberg verdankt ihre Entstehung einer besonderen Konstellation von Interessen. Erstens gab es einen prominenten Standort, das Areal der ehemaligen Coca-Cola-Fabrik, gewissermaßen das Pendant zum Hochhauscluster auf der anderen Seite der Triester Straße, wo das Philips-Haus von Karl Schwanzer und die Twin Towers von Massimiliano Fuksas städtebauliche Akzente setzen. Hier plante die Stadt Wien, das ehemalige Industriegebiet für Bürobauten, ein Hotel und Wohnungen umzuwidmen. Ganz wird die Industrie nicht vom Areal verschwinden: Das Autohaus Liewers mit seinen eleganten, von Rudolf Vorderegger geplanten Werkshallen aus den 1950er-Jahren bleibt bestehen.

Zweitens gab es die Ambition eines Star-Architekten, Harry Glück, an diesem Ort eine Neuauflage seiner Wohnbauten in Alt-Erlaa zu realisieren, und drittens gab es mit dem Begriff der Biotope City eine städtebauliche Vision, die nach einer Umsetzungsmöglichkeit suchte. Hinter der Biotope City steht eine Stiftung der deutsch-niederländischen Stadtplanerin Helga Fassbinder, die der üblichen Vorstellung von Stadt als technische „Hardware“ eine Stadtvision entgegensetzt, in der die Stadt als Biotop konzipiert ist, in dem Menschen zwar dicht gepackt, aber in Symbiose mit der Natur leben. Das heiße, so Fassbinder, das Haus vom Freiraum her zu denken. Im großen Maßstab bedeutet das die Berücksichtigung von Beschattung und Wind, im mittleren die Planung der grünen Zonen im öffentlichen Raum, inklusive Dach- und Fassadenbegrünung, und im kleinen Maßstab das den Wohnungen zugeordnete Grün auf Balkonen und Terrassen, das zum kollektiven Grün werden kann, wenn es die Fassaden hinauf- oder hinunterwuchert.

Ganz neu sind diese Ideen nicht. Die erste grüne Welle erlebte die Architektur in den 1970-Jahren; Alt-Erlaa markiert das utilitaristische Ende dieser Bewegung (Stichwort: das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl), das Hundertwasser-Krawina-Haus das irrationale (Stichwort: Hundertwassers Verschimmelungsmanifest). Zwischen diesen Extremen gibt es, auch international, eine Fülle an gelungenen Beispielen für begrünte Gebäude. Was die Biotope City von diesen Ansätzen abhebt, ist die Behandlung des Themas im städtebaulichen Maßstab. Auf dem Wienerberg war die kritische Größe dafür vorhanden. Der damals schon 90-jährige Harry Glück konnte Helga Fassbinder als Partnerin gewinnen und die Stadt überzeugen, ein Pilotprojekt umzusetzen. Mit ins Team für ein „kooperatives Verfahren“ kamen die Büros Rüdiger Lainer, BKK3 und Vlay/Streeruwitz sowie für die Freiräume Auböck/Kárász. Dazu kamen zahlreiche Konsulenten, etwa aus einer von der FFG geförderten Begleitforschung. Auch im Rahmen der Wiener Internationalen Bauausstellung/IBA 2022 nimmt das Projekt einen prominenten Platz ein.

Angesichts der großen Ambitionen hinterlässt das Ergebnis einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits gibt es geglückte Momente, vor allem dort, wo sich sich die neue City in Struktur und Dimension an die kleinteilige Siedlungsstruktur der nordöstlichen Umgebung anpasst. Wo sie sich aber in den „Fingern“ nach Süden zu 35 Meter hohen Scheiben aufschwingt, wirkt der Stadtraum bedrängend. Das liegt nicht zuletzt daran, dass man auf die Terrassierung der Blöcke verzichtet hat, die für Alt-Erlaa charakteristisch ist. Nun wirkt es, als hätten die Planer die oberen, nicht terrassierten Geschoße von Alt-Erlaa samt Schwimmbad abgebaut, ein wenig auf schick geknickt und auf dem Wienerberg abgesetzt. (Was eine solche Terrassierung mit ihrem leichten Zurückweichen in Kombination mit einer raffinierten Gartenarchitektur leisten kann, lässt sich auch an Carl Auböcks Olof-Palme-Hof in der Hansson-Siedlung studieren.)

Das Konzept für die öffentlichen Freiräume hat mit dem Faktum zu kämpfen, dass die Erdgeschoßzonen weitgehend privatisiert und mit Mietergärten ausgestattet sind. Dem Raum zwischen den Scheiben fehlen dadurch Offenheit, Aneignungsqualität und Eleganz. Letzteres mag auch daran liegen, dass sich Auböck/Kárász aus der Umsetzungsplanung für die Freiräume zurückgezogen haben. Der großzügige Einsatz von betonierten Wegen und der Wegfall der drei geplanten offenen Wasserflächen schmerzen. Da ist es der Biotope City nicht besser gegangen als vielen anderen Projekten, bei denen am Ende dort gespart wird, wo es am leichtesten geht: bei den Freiräumen. Bemerkenswert ist auch, dass in den Publikationen zur Biotope City Wienerberg nicht ein einziger Haus- oder Wohnungsgrundriss enthalten ist. Das mag seine Gründe haben: Die dunklen Innengänge und einseitig ohne Querlüftung orientierten Grundrisse teilen sich die Neubauten mit ihrem Vorbild aus Alt-Erlaa.

Die Biotope City wird noch beweisen müssen, dass sie mehr ist als ein elegantes Instrument zur Erhöhung der Grundstücksausnutzung, die in diesem Fall von den ersten Überlegungen der Stadt bis zum realisierten Projekt 50 Prozent betragen haben soll. Hätte die Stadt Wien statt eines „kooperativen Verfahrens“ einen gut vorbereiteten und anonymen städtebaulichen Wettbewerb durchgeführt, um zu untersuchen, was das Areal an Dichte verträgt, wäre eine solche Steigerung wohl kaum eingetreten. Und die Biotope City hätte Luft zum Atmen.

Spectrum, Fr., 2021.09.10

06. August 2021Christian Kühn
Spectrum

Zu Gast im Club Hybrid

Utopische Architektur im Grazer Stadtteil Gries: ein halbes Haus und ein Haus aus Luft – wo regelmäßig Workshops, Vorträge und Konzerte veranstaltet werden. Ein Club lädt zum Experimentieren ein.

Utopische Architektur im Grazer Stadtteil Gries: ein halbes Haus und ein Haus aus Luft – wo regelmäßig Workshops, Vorträge und Konzerte veranstaltet werden. Ein Club lädt zum Experimentieren ein.

Wer erinnert sich noch an das Jahr 2003? Um als Kulturhauptstadt Europas zu glänzen, stürzte sich die Stadt Graz in ein Abenteuer, zu dessen Hinterlassenschaften ein spektakuläres Kunsthaus, eine Stahlinsel in der Mur und nicht zuletzt beachtliche Löcher in den Budgets von Stadt und Land gehörten. Als die Stadt für 2020 ein „Kulturjahr“ ausrief, mag diese Erinnerung zu einer Klarstellung in dessen Titel beigetragen haben: „Graz. Unser Kulturjahr 2020“ sollte kein von oben geplantes, auf internationale Resonanz hin konzipiertes Kulturspektakel werden, sondern ein Jahr der kulturellen Reflexion über die urbane Zukunft mit Blick auf „Umwelt und Klima, digitale Lebenswelten, soziales Miteinander und die Arbeit von morgen“.

Mit einem Budget von fünf Millionen Euro Fördergeld sollten vor allem lokale Initiativen in allen 17 Bezirken gefördert werden. Eine offene Ausschreibung ergab 600 Einreichungen, von denen rund 90 eine Förderung erhielten. Das Spektrum reicht von Aktionen im öffentlichen Raum über Theaterarbeit und Themenworkshops bis zu Ausstellungen und landwirtschaftlichen Versuchsflächen.

So wie die Fußball-Europameisterschaft konnte auch das Kulturjahr 2020 bei gleichem Titel erst mit einem Jahr Verspätung stattfinden. An Intensität hat es dadurch nichts eingebüßt, sondern in manchen Fällen sogar von der aufgestauten Sehnsucht nach Kulturveranstaltungen profitiert. Das gilt jedenfalls für ein Projekt, das Heidi Pretterhofer und Michael Rieper für den Stadtteil Gries im Grazer Südwesten entwickelt haben, einen „Demonstrativbau“ mit der Adresse „Herrgottwiesgasse 161“, die erahnen lässt, dass man sich hier in der Nähe des Grazer Zentralfriedhofs befindet. In unmittelbarer Nachbarschaft des Grundstücks befinden sich vor allem Gewerbebauten und Handelsflächen, aber auch die größte Moschee der Stadt, Teil eines islamischen Kulturzentrums, das 2014 eröffnet wurde. Der Entwurf stammt vom Grazer Büro GSP und geht auf einen Wettbewerb aus dem Jahr 2011 zurück.
Demonstrativbau als kulturelles Herz

In der mentalen Hierarchie der Stadtteile, die es in Graz wie in jeder anderen Stadt gibt, rangiert der Süden von Gries am unteren Ende. Nebel hält sich hier länger, Emissionen von Industriebetrieben und dem Schlachthof machen sich bemerkbar. Trotzdem wohnen und arbeiten hier Menschen, es gibt eine Schule und ein Fitnesscenter, Außenstellen des Berufsförderungsinstituts und des Hilfswerks Steiermark. Der „Club Hybrid“, wie Pretterhofer und Rieper ihren Demonstrativbau genannt haben, versteht sich als kulturelles Herz dieser hybriden Umgebung. Der Club Hybrid ist dreigeschoßig: Im Erdgeschoß liegen eine Küche, Toiletten und viel überdachter, aber nach außen hin nicht abgeschlossener Raum, der als Café und Begegnungszone dient. Die Plattform darüber dient zur einen Hälfte als Ausstellungsraum, zur anderen Hälfte als Terrasse. Darüber liegen Wohnkojen für Gäste, die hier ein paar Tage übernachten können.

Wenn von außen der Eindruck entsteht, als sei nur das halbe Haus gebaut und der Rest einfach mit Stahlträgern in die Luft skizziert, ist das durchaus beabsichtigt: Im Budget von 200.000 Euro war kein Vollausbau über dem großzügigen Erdgeschoß möglich. Weitere 200.000 Euro fließen in die Betreuung und Bespielung des Clubs, der seit seiner Eröffnung im Juni 2021 Vorträge und Konzerte veranstaltet und Künstler zu Workshops einlädt. Den Namen „Club“ würden die Betreiber inzwischen gerne loshaben: Für die beabsichtigte Offenheit klingt er zu exklusiv.

Zu den als Partnern geladenen Gästen gehört auch das Wiener Kollektiv AKT, das zum Großteil aus jungen Architektinnen und Architekten besteht, die sich neben ihrer „normalen“ Architekturpraxis mit Formen von Raumproduktion befassen, die weder im vordergründigen Sinn nützlich noch profitabel sind. Bisher haben AKT Ausstellungen hergestellt, in denen die Mitglieder jeweils individuelle Beiträge zu Themen wie Europa, Nachbar*in oder EinGang lieferten.

Mit „AKT 4“ arbeiteten sie zum Thema „Gast“ erstmals gemeinsam an einem Objekt, das sie als „Gastgeschenk“ für den Club Hybrid verstehen. Was diesem fehle, sei nämlich ein abgeschlossener Hof, und den errichteten AKT aus Gabionenkörben aus verzinktem Stahl, die normalerweise mit Steinen gefüllt zur Hangbefestigung oder als Gartenmauer zum Einsatz kommen. Die gesamte Stahlmenge des Raumgerüsts, das AKT aus diesen Elementen gestalteten, ließe sich komprimiert in zwei größeren Reisekoffern unterbringen. Als Unterbau diente der Aushub, der beim Graben der Fundamente des Club Hybrid anfiel.

Im zentralen, von weißen Vorhängen abgeschirmten Hof schwingt sich dieser Aushub zu einer Miniatur-Bergspitze auf, deren Besteigung dem Besucher einen Ausblick in die Umgebung erlaubt. Für die Ewigkeit sind weder der Club Hybrid noch der Gast-Hof von AKT gedacht. Sie belegen, dass Architektur mit einem Gedanken beginnt, der unabhängig von der gebauten Realität existiert. Ludwig Wittgenstein hat dazu angemerkt: „Erinnere dich an den Eindruck guter Architektur, dass sie einen Gedanken ausdrückt. Man möchte auch ihr mit einer Geste folgen.“
Leichtigkeit und Transparenz

Um welche Gedanken und Gesten könnte es bei den beiden Objekten in Graz gehen? Jedenfalls um Gedanken wie Leichtigkeit und Transparenz, um das Verschließen und Öffnen als Grundgesten der Architektur, um Genauigkeit der Raumbildung ohne den Anspruch auf erstickende Perfektion.

In der heutigen Architektur liegen solche Gedanken zwar in der Luft, aber sie zu bauen gelingt fast nie mehr. Das ist kein Wunder. Tendenziell zerfällt die Architekturwelt heute in einen marktgetriebenen Sektor, in dem in erster Linie Profitmaximierung zählt, und in einen ökologischen Sektor, der sich die Mitverantwortung für alle drohenden Katastrophen auflädt. Dazwischen schrumpft zusehends der Raum für das Utopische, für das Experimentieren mit Lebensstilen und Lebensformen im direkten Sinn des Wortes, oder, wie AKT behaupten: „Die unabhängige und insbesondere utopische Raumproduktion, die jede soziale und kulturelle Wende begleitet, ist praktisch zum Erliegen gekommen.“

Auch Michael Rieper und Heidi Pretterhofer verstehen ihren Club als Einladung zum Experiment. Ursprünglich war geplantgewesen, den Betrieb Mitte August einzustellen. Inzwischen sind neue Nutzer aufgetaucht, teilweise aus dem universitären Bereich, aber auch Nutzer vor Ort wie das islamische Zentrum, womit der Betrieb zumindest bis Herbst gesichert scheint. Der Grund, auf dem der Club steht, gehört der Stadt, und eine der Intentionen des Clubs ist es, diesen Grund als öffentlichen und zugänglichen zu bewahren. Die Stadt der Zukunft braucht solche Orte, um neue Gesten einzustudieren, die sich dann auch im Alltag bewähren.

Spectrum, Fr., 2021.08.06

02. Juli 2021Christian Kühn
Spectrum

Da stöhnt der Geist des Wien Museums

Denkmalschutz führt sich ad absurdum, wenn er nicht nur pragmatisch, sondern prinzipienlos vorgeht. Was passieren kann, wenn die nötige Einfühlung fehlt, zeigt sich aktuell am Umbau des Wien Museums am Karlsplatz.

Denkmalschutz führt sich ad absurdum, wenn er nicht nur pragmatisch, sondern prinzipienlos vorgeht. Was passieren kann, wenn die nötige Einfühlung fehlt, zeigt sich aktuell am Umbau des Wien Museums am Karlsplatz.

Die Passanten am Wiener Karlsplatz kamen aus dem Staunen nicht heraus. Was passierte da vor ihren Augen mit dem Wien Museum? Im Laufe weniger Wochen verwandelte es sich in eine Ruine, die ohne Dach, Fensterrahmen und Natursteinfassade dastand und das rohe Tragwerk aus Stahlbeton und Ziegelmauerwerk zum Vorschein kommen ließ. Wie konnte man mit einem Haus, das doch unter Denkmalschutz steht, so umgehen? Auch der ORF griff das Thema auf und berichtete im „Kulturjournal“ über die Hintergründe. Der Bericht gab einerseits Entwarnung: Der ruinöse Anblick sei nur temporär, alle Maßnahmen seien mit dem Denkmalamt abgestimmt. Andererseits vermittelte der Bericht in den Kurzinterviews diverser Experten den Eindruck, dass es zwei Arten von Denkmalschutz gibt: eine fundamentalistische, die keinerlei Änderung an einem Baudenkmal akzeptiert, und eine pragmatische, die davon ausgeht, dass ein Denkmal „lebendig“ bleiben und sich daher an veränderte Nutzungsansprüche und Normen anpassen muss.

Das Wien Museum ist exemplarisch für das angesprochene Dilemma. Es zeigt aber auch, dass sich der Denkmalschutz ad absurdum führt, wenn er nicht nur pragmatisch, sondern prinzipienlos vorgeht. Im konkreten Fall beginnt das Problem schon damit, dass der Denkmalschutz in der Ausschreibung des Wettbewerbs im Jahr 2015 explizit festgehalten hat, dass „sowohl eine Aufstockung als auch ein weiterer Anbau an das Bestandsgebäude aus Sicht des Bundesdenkmalamtes als nicht möglich erachtet werden“. Dem Siegerprojekt gelang es, gegen beide Vorgaben zu verstoßen: Es schlug die Aufstockung des Hauses um zwei Geschoße und einen Zubau ans Foyer an der Hauptfassade vor. Das Denkmalamt hatte zwar keine Stimme in der Jury, aber man darf annehmen, dass seine Meinung vor der Juryentscheidung sondiert wurde. Offensichtlich gab es grünes Licht. Hätte das Denkmalamt auf seinen Positionen beharrt, wäre die Politik am Zug gewesen: Der zuständige Minister hätte den Denkmalschutz aufheben müssen, so wie es die damalige Bildungsministerin Elisabeth Gehrer im Fall eines anderen Museums, der Albertina, entschieden hatte, bei dem eine historische Deckenkonstruktion dem Expansionstrieb des Hausherren im Weg stand.

Wäre es fundamentalistisch gewesen, es auf ein solches politisches Urteil ankommen zu lassen? Nein: Fundiert und fundamentalistisch sind nicht dasselbe. Auch ein pragmatischer Zugang zum Denkmalschutz, der seinen Schutzgegenstand „lebendig“ halten möchte, braucht Prinzipien und muss sich diesen Gegenstand durch Forschung und Bewertung erarbeiten, bevor er dem „Leben“ seine Bahn lässt. Diese Arbeit ist nicht nur analytisch, sondern auch kreativ. Sie schließt eine emotionale Beziehung zu ihrem Gegenstand ein, zu dem, was „Genius Loci“ oder im Fall eines Baudenkmals der „Geist des Hauses“ genannt werden kann, mit dem so respektvoll wie möglich umzugehen ist. Um ein analoges Beispiel aus einem weniger hoch kulturellen Bereich zu wählen: Wer ein Automobil aus den 1950er-Jahren kauft und instand setzt, kann es mit neuem Motor, Metallic-Lackierung, besseren Scheinwerfern und einem Rolls-Royce-Kühlergrill ausstatten, um dann mit 220 Kilometern pro Stunde über die Autobahn zu brettern. Das Ergebnis mag spektakulär sein, aber es steht für eine Haltung, die mit Denkmalschutz völlig unverträglich ist, selbst wenn wesentliche Elemente des Alten erhalten bleiben.

Denkmalschutz muss ein Sensorium dafür haben, was einem Denkmal zugemutet werden kann, bevor es seine Integrität verliert. Wenn die Nutzungsansprüche oder der Wunsch nach „zeitgenössischem“ Ausdruck über das vertretbare Maß hinausgehen, muss der Denkmalschutz diesen Ansprüchen fundiert eine Absage erteilen, oder – in Fällen, in denen die Unterschutzstellung disputabel erscheint – auf den Denkmalschutz verzichten. Wäre es nicht wirksamer, weniger Objekte unter Schutz zu stellen, diese aber konsequent und kompromisslos zu schützen. Dass man ausgerechnet in Wien, wo im frühen 20. Jahrhundert die theoretischen Grundlagen der modernen Denkmalpflege von Größen wie Alois Riegl und Max Dvořzák entwickelt wurden, an solche Prinzipien erinnern muss, ist besonders schmerzlich. Für das Wien Museum hätte es mehrere Wege gegeben: einerseits der lange Zeit diskutierte andere Standort für einen Neubau, der es erlaubt hätte, für das Bestandsgebäude eine adäquate Nutzung im Rahmen des Denkmalschutzes zu finden; oder dessen Aufhebung, die einen radikalen Neubau am Karlsplatz zugelassen hätte, oder auch einen, der Elemente des Bestandes integriert, wie es im Wettbewerb einige Projekte vorgeschlagen hatten. Im Unterschied zu diesen Projekten, die offensichtlich nicht mit dem Denkmalschutz kompatibel waren, gelang es dem Siegerprojekt den Eindruck zu vermitteln, den Bestand fast unangetastet zu lassen.

Dieses Versprechen kann das Projekt in der Umsetzung nicht einlösen. Von der alten Substanz bleibt wenig übrig, Baukörperproportion und Raumabfolgen sind bestenfalls fragmentarisch erhalten, explizit geschützte Elemente wie der alte Lift werden funktionslos an eine andere Stelle versetzt, weil sie mit dem neuen Tragsystem kollidieren. Vom „Geist des Hauses“ wird trotz beachtlichen Aufwands nicht viel überleben. Ob unter diesen Umständen eine Kombination von Alt und Neu erreicht werden kann, die den angekündigten höchsten museologischen Ansprüchen genügt, wird man spätestens bei der Wiedereröffnung des Museums beurteilen können.

Überraschenderweise findet das Wien Museum auch prominente Erwähnung in der Stellungnahme der Unesco zum Stand des Welterbes Wien Innere Stadt, die gerade als Entwurf für die ab dem 16. Juli in Fuzhou in China geplante Sitzung des Welterbe-Komitees publiziert wurde. Neben dem Heumarkt-Areal wird dort die Entwicklung am Karlsplatz thematisiert und eine Neuplanung entsprechend den Empfehlungen der Unesco aus dem Jahr 2018 gefordert. Diese Forderung bezieht sich auf das benachbarte Gebäude der Zurich-Versicherung, das über zwei „Brücken“ direkt mit dem Museum verbunden ist. Im Ausgleich für den Abbruch dieser Brücken, der das Museum wieder als eigenständigen Baukörper freistellen würde, erhielt die Versicherung im Flächenwidmungsplan das Recht auf Aufstockung ihres Gebäudes um drei Etagen. Die Unesco kritisiert deren Auswirkung auf die Karlskirche, immerhin eine der wichtigsten Barockkirchen der Welt.

Wie die Stadt Wien auf die Idee kommt, den Beschluss-Entwurf der Unesco in einer Presseaussendung als „so positiv formuliert“ zu bezeichnen, dass mit einer Streichung von der „Roten Liste“ 2022 gerechnet werden darf, ist ein Rätsel, da alle bisherigen Forderungen der Unesco aufrechtbleiben und um methodische Vorgaben ergänzt wurden. Die Illusion, Stadt und Unesco würden sich in ihren Verhandlungen „auf halber Höhe“ treffen, wird sich nicht mehr lange aufrechterhalten lassen. Aber was passiert dann? Bisher ist das Projekt mit jedem Schritt der Weiterbearbeitung nur schlechter geworden. So schmerzlich das nach rund zehn Jahren auch sein mag: Nur ein Neustart, der von der Frage ausgeht, wie viel zusätzliches Bauvolumen diesem Ort zuzumuten ist, kann hier noch zu einem guten Ergebnis führe.

Spectrum, Fr., 2021.07.02

14. Juni 2021Christian Kühn
Spectrum

Achtsam in den Untergang

Zwei Biennalen, ein Thema: Wie geht es weiter mit der Welt? In Venedig und im Wiener MAK bleibt es beim Problemaufriss und disparaten Antworten. Mehr Utopie ist in Zeiten der Pandemie wohl nicht zu erwarten.

Zwei Biennalen, ein Thema: Wie geht es weiter mit der Welt? In Venedig und im Wiener MAK bleibt es beim Problemaufriss und disparaten Antworten. Mehr Utopie ist in Zeiten der Pandemie wohl nicht zu erwarten.

Es hätte ein Wettbewerb der Utopien werden können: „How will we live together?“, lautete die Frage, die Hashim Sarkis der für 2020 geplanten Architekturbiennale als Leitthema voranstellte. Sarkis ist libanesisch-amerikanischer Architekt und Dekan der Architekturschule am MIT. Man durfte gespannt sein, ob es ihm gelingen würde, an das Niveau der jüngsten Biennalen anzuschließen: Rem Koolhaas' „Elements“ von 2014, Alejandro Avarrenas „Reporting from the Front“ von 2016 und „Freespace“ von 2018, geleitet von den irischen Architektinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara.

Jede seriöse Antwort auf die Frage, wie wir in Zukunft zusammenleben werden, muss mit der Frage nach dem „Wir“ beginnen. Wer ist gemeint: unsere Familie? Unsere Nachbarn? Unsere Landsleute? Alle mit ähnlichen Anschauungen? Zählen auch Tiere dazu? Alle Lebewesen im Kosmos? Die Reibung zwischen identitätspolitischen Aspekten der Fragestellung und der konkreten architektonischen und stadtplanerischen Antwort ließ eine spannende Biennale erwarten, mit Platz für Utopien und Dystopien. Dass bereits bei den Biennalen 2016 und 2018 ähnliche Themen angesprochen waren, hätte kein Hindernis sein müssen, hier nochmals in die Tiefe zu gehen.

Doch dann kam die Pandemie. Neben praktischen Problemen transportierte sie eine Botschaft, die für eine Veranstaltung, in der es im Kern um das Soziale in der Architektur gehen sollte, nicht kontraproduktiver sein könnte: Am sozialsten verhält sich, wer Social Distancing praktiziert. In diesem Umfeld Co-Housing-Projekte und partizipative Planungsprozesse zu debattieren bekommt leicht einen zynischen Unterton.

Man darf die aktuelle Biennale angesichts der Produktionsbedingungen nicht mit bisherigen vergleichen. Die Verschiebungen, zuerst auf Herbst 2020, dann auf Mai 2021, haben viel Energie gekostet und manches unmöglich gemacht. Nur ein sehr erfahrener Kurator hätte aus den außergewöhnlichen Umständen etwas Außergewöhnliches machen können. So bleibt es in den von Sarkis kuratierten Bereichen in den Giardini und im Arsenale bei einer losen Ansammlung von Installationen, von denen nur die wenigsten für sich überzeugen können. Und dann sind es oft wenig überraschende Beispiele wie die Präsentation des Raumlabor.Berlin oder eine Studie zum sozialen Wohnbau in Zürich von Anna Kockelkorn und Susanne Schindler und ihren Studierenden von der ETH Zürich.

In den Länderpavillons macht sich die Pandemie deutlich bemerkbar. Manche bleiben überhaupt geschlossen; an der Tür des australischen Pavillons klebt ein Zettel mit einem Hinweis auf die Website, die die Ausstellung ersetzt. Der Deutsche Pavillon bleibt leer, abgesehen von QR-Codes, die auf Filme verlinken, in denen aus der Perspektive des Jahres 2018 auf die Gegenwart geblickt wird. Der von Olaf Grawert und Arno Brandlhuber kuratierte Pavillon ist nicht der einzige, der auf aktive Teilnahme durch Besucher im Internet hofft, aber in dieser Hinsicht sicher der konsequenteste.

Im Österreichischen Pavillon geht es um neue Formen des Zusammenlebens im virtuellen Raum, die von den Kuratoren Helge Mooshammer und Peter Mörtenböck unter dem Begriff „Platform Urbanism“ zusammengefasst werden. Die digitalen Plattformen, um die es geht, sind jung, in der Regel nicht viel älter als 15 Jahre, bestimmen unser Leben aber in einem beachtlichen, durch die Pandemie weiter gesteigerten Ausmaß. Mooshammer und Mörtenböck interessieren sich nicht nur für die freundliche Vorderseite von Amazon, Google, Facebook oder Tinder, die mit ihren Headquarters eine neue Welt repräsentieren und ganze Stadtteile entwickeln wollen, in denen sie Zugriff auf die von den Bewohnern erzeugten Bewegungsdaten bekommen. Zusätzlich geht es den Kuratoren um die stadträumlichen Seiteneffekte: Leerstand von Verkaufsflächen, Arbeitsbedingungen von Zustellern, Serverfarmen im Nirgendwo. Aus Tausenden Bildern, die in Summe eine Ahnung geben, wohin sich die Stadt als Idee entwickeln könnte, haben die Kuratoren ein Diptychon gestaltet, das die Vorder- und Rückseite der Plattformen illustriert.

In der Ausstellung kombinieren Mooshammer und Mörtenböck die Ergebnisse ihrer langjährigen Forschungsarbeit zum Thema mit Beiträgen von rund 50 geladenen Respondenten, deren Beiträge aus jeweils einem einprägsamen Foto und einer kurzen Videosequenz bestehen. Diese konventionelle Vermittlung steht in einem gewissen Widerspruch zum Thema; sie ist aber im Interesse der Besucher, die mit 3-D-Brillen oder interaktiven Projektionen auch nicht mehr Erkenntnisgewinn verbuchen könnten. Der Österreichische Pavillon hat eine Außenstelle bei der „Vienna Biennale for Change“ des MAK, deren Hauptausstellung unter dem Titel „Planet Love. Klimafürsorge im digitalen Zeitalter“ noch bis Anfang Oktober zu sehen ist. Sie besteht aus drei Teilen, von denen zwei jedenfalls empfehlenswert sind: ein Problemaufriss, der anschaulich zeigt, dass wir seit 50 Jahren alles Nötige über die ökologische Katastrophe wissen, ohne ausreichend zu reagieren, sowie eine gut recherchierte, dichte Sammlung aktueller Lösungsansätze. Der dritte Teil ist purer Kitsch: ein Wald verkohlter Bäume mit einer Oase im Zentrum, das Werk einer Künstlergruppe mit Namen Superflux.

Solche Pseudokunst durchsetzt auch die Biennale in Venedig, etwa in Form von dröhnenden Riesenkanistern, die auf den Rückgang des Polareises hinweisen sollen, oder eines aus Japan importierten Schneehaufens, der im Hauptpavillon unter einer Schutzdecke vor sich hinschmilzt. Wer in Venedig wirklich bewegende Kunst sehen will, sollte die Videoinstallation „Contrapposto Studies“ von Bruce Nauman im Pinault-Museum in der Punta della Dogana besuchen: Das Problem ist nicht irgendwo draußen, sondern in uns, immer zerrisseneren Gestalten, die auf der Stelle treten.

Zum Trost kann man aus dem Österreichischen Pavillon einen Slogan mitnehmen, der Mark Zuckerbergs berüchtigtes Motto „Move fast and break things“ ins Gegenteil verkehrt: „Move slowly and fix things“ – eine Aufforderung zu Achtsamkeit und einer gewissen Skepsis gegenüber der rasenden, technologiegetriebenen Ökologisierung, die uns bevorstehen könnte.

Spectrum, Mo., 2021.06.14

13. Mai 2021Christian Kühn
Spectrum

Bauen in Poesie – auch in Wien

Wer die Erderwärmung bis 2050 beschränken will, muss das Bauen revolutionieren. Eine hohe Baukultur heißt, Häuser so zu entwerfen, dass sie von ihren Nutzern über Jahrzehnte geliebt und gepflegt werden. Die gute Nachricht: Solche Häuser finden sich etwa im Sonnwendviertel hinter dem Hauptbahnhof.

Wer die Erderwärmung bis 2050 beschränken will, muss das Bauen revolutionieren. Eine hohe Baukultur heißt, Häuser so zu entwerfen, dass sie von ihren Nutzern über Jahrzehnte geliebt und gepflegt werden. Die gute Nachricht: Solche Häuser finden sich etwa im Sonnwendviertel hinter dem Hauptbahnhof.

Muss, wer ein Haus baut, über die Erde nachdenken? Nicht über den Baugrund, wohlgemerkt, sondern über die Erde als Ganzes. Es hat 50 Jahre gedauert, bis sich Bauherren und Architekten zu einem zögerlichen „Ja“ durchgerungen haben. Die Fakten sind inzwischen bekannt. Wer die Erderwärmung bis 2050 auf das vereinbarte Ziel beschränken will, muss das Bauen revolutionieren, damit die Erde eine gute Wohnung bleiben kann. Bauen ist für ein Drittel der treibhausrelevanten Emissionen verantwortlich und für fast zwei Drittel des Abfalls. Vermeidbarer Verkehr, der durch schlechte Siedlungsstrukturen entsteht, noch nicht eingerechnet. In welche Richtung die Entwicklung geht, wissen wir seit Anfang der 1970er-Jahre, als erstmals über die „Grenzen des Wachstums“ geschrieben wurde. Dass E. F. Schumachers Buch „Small is beautiful“ auch einen Untertitel hatte, der auf den Kern des Problems verweist, wird oft übersehen: „A study of economics as if people mattered“.

Der Gedanke, die „Erde als eine gute Wohnung“ zu verstehen, stammt vom Architekten Bruno Taut, der 1920 ein gleichnamiges Buch publizierte, dessen andere Titel „Die Auflösung der Städte“ und „Der Weg zur alpinen Architektur“ waren. Taut, kein Fantast, sondern der Architekt einiger der besten sozialen Wohnbauten und Siedlungen seiner Zeit, ließ in diesem Buch seiner Fantasie freien Lauf. In dreißig Zeichnungen skizzierte er Stadtkronen und Blumenstädte, die sich über die Erde ausbreiten, aber auch kristallin gefaltete Typenhäuser, die Individualität garantieren sollen. In diesen Skizzen imaginierte Taut eine neue Lebens- und Bauweise für das zweite Jahrtausend. Konsequenterweise folgen im Buch auf die 30 Bildtafeln über hundert Seiten mit nachgedruckten revolutionären Texten von Engels bis zu Tolstoi und Kropotkin.

Taut war nicht der Einzige, der in dieser Zeit mit der Idee Aufmerksamkeit erregte, Kunst als Mittel zur Revolutionierung der Gesellschaft zu verstehen. Zu seinen Freunden zählte Walter Gropius, 1918 Mitgründer des Arbeitsrats für Kunst und ab 1919 Direktor des Bauhauses, einer Kunsthochschule, die zuerst in Weimar und ab 1926 in Dessau angesiedelt war. Das von ihm entworfene Bauhausgebäude in Dessau ist ein Schlüsselwerk des funktionalistischen internationalen Stils. Mit anarchisch aufgelösten Städten und fantastischen neuen Wohnwelten hat es freilich nichts zu tun: Ab den frühen 1920er-Jahren träumte Gropius von Wohnmaschinen für das Existenzminimum, hergestellt in Fertigteilbauweise.

Dass in der Europäischen Union die Idee eines „Neuen Bauhauses für Europa“ umgeht, ist daher etwas überraschend. Niemand geringerer als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat die Idee in einer Rede Anfang des Jahres lanciert, gewissermaßen als das Gesicht des Green New Deal, der nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein kulturelles Projekt werden müsse, um Erfolg zu haben. Als treibende Kraft im Hintergrund gilt der deutsche Umweltforscher Hans Joachim Schellnhuber. Ob das Neue Bauhaus ein konkreter Ort, ein Netzwerk von Orten oder eine abstrakte Idee sein wird, muss erst geklärt werden; die Kommission stellt dafür über einen laufenden Call rund 30 Millionen Euro zur Verfügung. Dass die EU das Bauen endlich als kulturelles und nicht mehr nur als technisches, ökologisches und ökonomisches Thema anerkennt, ist trotzdem ein wichtiger Schritt. Eine hohe Baukultur bedeutet, Häuser so schön und zugleich so anpassungsfähig zu entwerfen, dass sie von ihren Bewohnern, Nutzern und Nachbarn über viele Jahrzehnte geliebt und gepflegt werden.

Ein Ort in Wien, an dem sich viele neue Häuser finden, die dieses Potenzial haben, ist das Sonnwendviertel Ost hinter dem Wiener Hauptbahnhof. An der zentralen Straße des Quartiers, der Bloch-Bauer-Promenade, haben die Architekten Anna Popelka und Georg Poduschka (PPAG) für den Bauträger 6b47 ein bemerkenswertes Haus entworfen. Auf seine Lage zwischen Hauptstraße und Park reagiert es mit zwei unterschiedlichen Gesichtern, einem städtisch-kompakten auf der einen und einem zur Sonne hin aufgelösten auf der anderen Seite. Die Wohnungen sind im Grundriss so angelegt, dass Wohn- und Schlafzimmer einen großen Balkon L-förmig umfassen, der sich bei Bedarf durch Vorhänge in ein „Außenzimmer“ verwandelt. Die Staffelung der Wohnungen sorgt dafür, dass alle einen freien Blick zum Park haben, und gibt der Fassade eine Leichtigkeit, die durch zarte Rundsäulen verstärkt wird, die nicht tragend sind, sondern für die Balkonentwässerung sorgen. Auf dieses banale Problem, an dem in Wien nicht wenige Planer scheitern, eine so poetische Antwort zu finden ist eine Leistung.

Die konsequente Ausrichtung der gestaffelten Wohnungen zum Park führt im Grundriss zu einer Innengang-Erschließung mit einem Treppenhaus, das über zwei Lichthöfe belichtet wird. Ursprünglich waren entlang des Innengangs weitere Schächte geplant, von denen aber nur einer realisiert wurde. Die Gänge hätten weniger lang ausfallen können, hätte man an ihren Enden größere Wohnungen angelegt. Dem stand das Anliegen des Bauträgers und des Investors entgegen, das Vermietungsrisiko zu minimieren. Zweizimmerwohnungen mit 30 bis 60 Quadratmeter finden meist Abnehmer, und so liegt die Durchschnittsgröße der Wohnungen in diesem Haus bei rund 50 Quadratmetern. Die Grenzen der Ökonomie zeigten sich auch bei der Konstruktion. Ursprünglich als Kombination aus Stahl und Holz geplant, kam schließlich eine konventionelle Konstruktion aus Stahlbeton zum Zug.

Trotzdem lebt in diesem Projekt noch einiges von der Poesie weiter, die Bruno Taut vor 100 Jahren für das „zweite Jahrtausend“ imaginiert hat. In den nächsten Jahren werden wir sehen, ob sich die Architektur weiter an die Grenzen von Ökonomie und Technik anpassen muss, oder ob sich neue ökonomische Modelle und Technologien finden, die so etwas wie Baukunst im 21. Jahrhundert erlauben. Das „Neue Bauhaus für Europa“ wird ein ganz anderes sein müssen als sein historischer Vorgänger: Das funktionalistische Denken, dem sich das Bauhaus unter Gropius verschrieb, hat viel zu dem Schlamassel beigetragen, in dem wir uns heute befinden.

Spectrum, Do., 2021.05.13

17. April 2021Christian Kühn
Spectrum

Wo geht’s zur Zukunft des Bauens?

So wie das Recht und die Gesundheit darf auch der Raum nicht der völligen Kommerzialisierung überlassen werden. Eine Novelle des Ziviltechnikergesetzes und ihre Folgen.

So wie das Recht und die Gesundheit darf auch der Raum nicht der völligen Kommerzialisierung überlassen werden. Eine Novelle des Ziviltechnikergesetzes und ihre Folgen.

Eine der schönsten Beschreibungen städtischen Lebens stammt von Robert Musil: Alle großen Städte bestünden aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander und glichen im Ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht. Häuser und Gesetze sind tatsächlich träge, aber auch sie ändern sich, und wenn man ihre Entwicklung im Zeitraffer betrachtet, sind diese Änderungen nicht weniger sprunghaft und von Verschiebungen und Verstimmungen geprägt als das Leben selbst. Ihre Wirkung ist nicht sofort spürbar. Gesetze werden beschlossen, Häuser gebaut, und oft dauert es Jahrzehnte, bis Fehlkonstruktionen Wirkung zeigen und als Bauschäden oder gesellschaftliche Verwerfungen zum Vorschein kommen.Vergangene Woche beschloss der Nationalrat eine Novellierung des österreichischen Ziviltechnikergesetzes, die nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs nötig geworden war. Im Kern geht es um die Frage, wie sich Ziviltechniker, zu denen als Untergruppen Architekten und Ingenieurkonsulenten zählen, mit anderen wirtschaftlichen Akteuren zusammenschließen dürfen. Die EU fährt in dieser Frage eine liberale Linie: Was spricht dagegen, dass Architekten mit ausführenden Unternehmen eine GmbH gründen, um ihre Dienste aus einer Hand anbieten zu können?

Ziviltechnikerinnen und Ziviltechniker sind allerdings keine gewerblichen Unternehmer, sondern zählen zu den in Österreich sogenannten „Freien Berufen“, zu denen auch Ärzte, Notare und Rechtsanwälte gehören. Sie erbringen ihre Leistungen persönlich, eigenverantwortlich und fachlich unabhängig im Interesse ihrer Auftraggeber und der Allgemeinheit. „Frei“ sind sie insofern, als sie nicht der Gewerbeordnung unterstehen; abgesehen davon sind sie gerade nicht frei, sondern gebunden an hohe Ausbildungsstandards und an die Mitgliedschaft in einer berufsständischen Vertretung, die diese Standards durch zusätzliche Prüfungen absichert. Ziviltechniker sind berechtigt, öffentliche Urkunden auszustellen, womit sie gewissermaßen als „technische Notare“ agieren, die ausgelagerte Behördentätigkeiten übernehmen. Schon bisher konnten sich Ziviltechniker zu GmbHs zusammenschließen. Das neue Gesetz erlaubt nun eine neue Kategorie von sogenannten „Interdisziplinären Gesellschaften“, an denen Ziviltechniker nur noch mindestens 50 Prozent der Anteile halten müssen. Die anderen 50 Prozent können von einem ausführenden Unternehmen,beispielsweise einem Baukonzern, gehalten werden. Die Ziviltechniker in solchen Gesellschaften werden sich kaum verweigern können, Beurkundungen für Projekte durchzuführen, die von ihren Gesellschaftern errichtet wurden, ein klassischer Fall eines Interessenkonflikts. Zum Selbstbild von Ziviltechnikern gehört außerdem, die Interessen von Bauherren, Nutzern und Öffentlichkeit an erste Stelle zu setzen, während Unternehmen grundsätzlich profitorientiert agieren. Als Bollwerk gegen die Kommerzialisierung des Bauens sind Interdisziplinäre Gesellschaften wohl kaum geeignet. Im Vorfeld der Beschlussfassung der Gesetzesnovelle versuchte die Berufsvertretung, „Gold-Plating“, also die Übererfüllung der EU-Vorgaben, zu korrigieren. Eine Beteiligungsmöglichkeit von Interdisziplinären Gesellschaften an „normalen“ ZT-Gesellschaften, die durch Verschachtelung eine völlige Verwässerung des „ZT-Anteils“ ermöglicht hätte, konnte abgewendet werden; die Beurkundungsfähigkeit blieb den Interdisziplinären allerdings erhalten. Bedeutet diese Entwicklung den Anfang vom Ende der Architektur? Natürlich nicht. Der Witz, dass das Architekturbüro der Zukunft eine Rechtsanwaltskanzlei mit angeschlossenem Zeichenraum sei, kursiert schon seit einem Vierteljahrhundert. Aber es geht hier um für sich genommen kleine Verschiebungen, die in Summe und auf lange Sicht betrachtet die Machtverhältnisse zugunsten eines rein wirtschaftlichen Denkens verändern.

In diese Richtung geht auch der Versuch, Bauprojekte durch sogenannte Totalunternehmer abwickeln zu lassen, die Planung und Ausführung zu einem Fixpreis übernehmen und für die Planung Architekten als Subunternehmer heranziehen. In dieser Konstellation ist die Idee eines „Freien Berufs“, der nicht nur die Interessen des unmittelbaren Auftraggebers, sondern auch jene der Öffentlichkeit beachtet, obsolet. Ein Experiment in diese Richtung läuft derzeit in Tirol beim Projekt eines neuen Universitätsgebäudes für das Management Center Innsbruck. Nachdem ein in einem Architekturwettbewerb ausgewähltes Projekt aus zweifelhaft argumentierten Kostengründen verworfen worden war, kam nun als Totalunternehmer ein Baukonzern zum Zug, der vorerst nicht mehr garantiert als ein Stück Universität mit 16.000 Quadratmeter Nutzfläche zum Preis von 103 Millionen Euro. Das Projekt wird im Rahmen eines „wettbewerblichen Dialogs“ gesucht, einem Typ von Verfahren, der im Vergaberecht eigentlich nur für technisch hoch komplexe Infrastrukturprojekte vorgesehen ist. Im konkreten Fall sollen nach einer offenen Ausschreibung 30 Teilnehmer geladen werden, aus denen eine Jury acht auswählt, die nach Aufhebung der Anonymität mit der Jury in einen Dialog treten, an dem der Totalunternehmer als Berater mitwirkt. In diesem Dialog werden die Projekte so lange weiterentwickelt, bis – idealerweise – ein Gleichgewicht von Qualität und Kosten hergestellt ist. Praktisch sieht das anders aus: Wer die Kosten garantiert, bestimmt die Qualität – und den eigenen Profit. Verstärkt werden diese Trends durch die Digitalisierung des Bauwesens, die mit immer anspruchsvolleren Datenmodellen versucht, die Planung, das Bauen und den Betrieb von Gebäuden in einen kontinuierlichen Prozess zu integrieren. In den falschen Händen führt das zu einem seriellen Bauen auf dem Niveau des alten Plattenbaus. Das Potenzial, Bauteile und bald ganze Häuser im 3-D-Druck herzustellen, ist aber nicht zu unterschätzen. In diesem Bereich mag es sinnvoll sein, Planung und Ausführung zu verschmelzen. „Interdisziplinäre Gesellschaften“ könnten hier einen Beitrag dazu leisten, das Bauen zu revolutionieren.
Selbst mittelfristig wird das aber nur für ein paar Prozent des Bauvolumens relevant sein. Der große Rest ist weiterhin besser in den Händen eines „Freien Berufs“ aufgehoben. So wie Recht und Gesundheit ist auch der Raum zu wichtig, um ihn der völligen Kommerzialisierung zu überlassen.

Spectrum, Sa., 2021.04.17

17. März 2021Christian Kühn
Spectrum

Was die Stadt Wien gegen ihre Überhitzung tun will

Neue Bäume, Nebelduschen: Die Stadt Wien rüstet sich gegen die Überhitzung ihrer Straßenräume. Leben mit der großen Hitze.

Neue Bäume, Nebelduschen: Die Stadt Wien rüstet sich gegen die Überhitzung ihrer Straßenräume. Leben mit der großen Hitze.

Unter normalen Umständen hätte die Nachricht mehr Aufmerksamkeit erregt: Seit 100 Tagen war die Wiener „Fortschrittskoalition“ aus SPÖ und Neos vergangene Woche im Amt. Für die Wiener Stadtplanung bedeutet diese Koalition zumindest personell eine Zäsur: Nach zehn Jahren grüner Leitung – von 2010 bis 2019 durch Maria Vassilakou und danach durch Birgit Hebein – ist das Planungsressort an die SPÖ zurückgefallen. Ulli Sima, ausgewiesene Umweltpolitikerin und bisher Umweltstadträtin, durfte ein Ressort mit dem klingenden Namen „Innovation, Stadtplanung und Mobilität“ übernehmen.

Hat damit eine neue Ära in der Stadtplanung begonnen? Nimmt man die Presseaussendungen der Stadtplanung der vergangenen 100 Tage als Maßstab, zeigt sich zumindest ein eindeutiger Fokus: mehr Bäume und weniger Asphalt für die Stadt. Die meisten der Projekte, zu denen die Renaturierung des Liesingbachs oder die Oberflächengestaltung des Neuen Markts, der Zollergasse und des Pratersterns gehören, gehen zwar auf ihre Vorgängerinnen zurück, aber Sima hat in laufende Planungen eingegriffen und ihnen mehr Grün verordnet.

In manchen Fällen entbehrt das nicht einer gewissen Ironie. Anlass für die bevorstehende Oberflächengestaltung des Neuen Markts im ersten Bezirk ist das Projekt einer Tiefgarage mit rund 350 Stellplätzen. Das Auto hatte den Platz schon in den 1950er-Jahren für sich erobert und in eine Abstellfläche verwandelt, die sich um den barocken Providentia-Brunnen von Raphael Donner im Zentrum ausbreitete. Im Jahr 1959 platzierte sich eine von Karl Schwanzer entworfene Hochgarage ausgesprochen selbstbewusst an der Ecke zur Tegetthoffstraße, schräg gegenüber dem Eingang zur Kapuzinergruft. Die Hochgarage – mit dem ersten Autolift der Stadt – bewährte sich nicht und wurde Anfang der 1980er-Jahre durch ein Bürohaus ersetzt, das ästhetisch einen Absturz vom kühlen Rationalismus der Nachkriegszeit in eine ungelenke Postmoderne bedeutete.

Die Autos fluteten weiterhin den Platz; eine Tiefgarage sollte Abhilfe schaffen. Von Baumpflanzungen war vorerst keine Rede. Bäume hatte es auf diesem Platz auch nie gegeben. Alte Stiche zeigen einen wuselnden Marktplatz mit Verkaufsständen ohne städtisches Grün. Auch im Architekturwettbewerb für die Oberflächengestaltung, den Paul Katzberger, der für die Stadt Wien unter anderem die Stationen der U-Bahnlinie U2 entworfen hat, 2003 für sich entscheiden konnte, sind Bäume kein Thema. Immerhin gibt es große Grünskulpturen, mit Pflanzen bewachsene Gerüste – die allerdings bald aus dem Programm gestrichen werden, da sich niemand findet, der ihre Pflege übernehmen möchte. Katzbergers Entwurf funktioniert auch ohne Grün: Er lebt von der richtigen Platzierung der Beleuchtung und von feinen Details der Stadtmöblierung. Dass Bäume hier überhaupt möglich sind, liegt an der hohen Erdüberschüttung der Garage von bis zu 1,8 Metern. Ein Blick in die spektakuläre Baugrube auf dem Neuen Markt macht klar, was mit dem Begriff „unterbautes Grün“ gemeint ist: Wie fast überall in der Stadt müssen die Wurzeln der Bäume mit zahlreichen technischen Einbauten koexistieren, die eine freie Platzierung von Pflanzen oft unmöglich machen. Und auch die Bäume brauchen heute technischen Support: Ohne eigenes Bewässerungssystem könnten sie dem Stress des Klimawandels nicht mehr standhalten. Dass die sechs Platanen, die für den Platz vorgesehen sind, mit einer Höhe von bereits zehn Metern gepflanzt werden sollen, ist nicht die technische Sensation, als die es den Medien gegenüber dargestellt wurde, sondern eine politische: Bisher war die Stadt nicht bereit, die relativ bescheidenen Mehrkosten für ältere Bäume zu bezahlen.

Mit sechs Platanen wird man bei der Neugestaltung des Pratersterns, dem größten unter den aktuellen Projekten, nicht auskommen. Auch hier lag bereits vergangenes Jahr eine Planung vor, Ergebnis eines Ideenwettbewerbs, den DnD Landschaftsplanung und die Architektengruppe KENH für sich entscheiden konnte. Der Praterstern ist Umsteigestation für Zigtausende Fahrgäste der ÖBB und der Wiener Linien, zugleich das touristische Eintrittstor zum Riesenrad und schließlich ein sozialer Brennpunkt, den man durch Alkoholverbote und Polizeipräsenz nur mühsam einhegen konnte. Gestalterisch hat der Platz ein schlechtes Karma: Seine ursprüngliche Sternfunktion ist dahin, seit die Bahnlinie, die einst halbkreisförmig um ihn herumführte, quer durch den Platz gelegt ist.

Die Straßenführung der 1950er-Jahre, die aus der Kreisform eine zeittypisch gequetschte Nierentischkurve machte, hat den Platz schließlich in einen Durchgangsort ohne jede Aufenthaltsqualität verwandelt. Mit der Neugestaltung des Bahnhofs durch Albert Wimmer verbesserte sich die Innenraumqualität des Bahnhofs deutlich, der Platz rundherum blieb gestalterisches Kampfgebiet. Boris Podrecca, der im Wettbewerb für das Bahnhofsgebäude eine monumentale Gesamtüberdachung des Pratersterns vorgeschlagen hatte, durfte die Kontur des Platzes mit einer fünf Meter hohen Stahlpergola nachzeichnen, die wenig zur Klärung der Situation beitragen konnte. Ihre Entfernung Ende des Jahres war eine Erleichterung.

Der neue Plan nimmt den Praterstern als das, was er ist: eine vom Verkehr umspülte und durchzogene Fläche, die in absehbarer Zeit, wenn hier nur noch elektrisch betriebene Vehikel unterwegs sein werden, auch eine akzeptable Luftqualität aufweisen wird. Der aktuelle Plan sieht vor, die Kontur des Platzes – soweit verkehrstechnisch möglich – mit einem 2,5 Meter breiten, erhöhten Pflanzstreifen nachzuzeichnen und innerhalb dieser Kontur ein Archipel von grünen Inseln anzulegen. Vor dem Tegetthoff-Denkmal wird es Wasserspiele und die obligatorischen Nebelduschen geben.

Angesichts der Bedrohung unserer Lebensgrundlagen, die wir uns gerne als Klimawandel schönreden, sind diese Maßnahmen Kosmetik. Es ist trotzdem richtig, sie zu setzen und den Stadtbewohnern fühlbare, wenn auch nur punktuelle Erleichterung zu bringen. Wie sie das komplexe ökologische, soziale, technische und nicht zuletzt ästhetische System Stadt in die Zukunft retten möchte, muss uns die Wiener Stadtplanung aber noch erklären. Die nächsten 100 Tage sind bald vorbei.

Spectrum, Mi., 2021.03.17

12. Februar 2021Christian Kühn
Spectrum

Wer schreit lauter?

Im Lockdown meist geschlossen, aber zugleich so zugänglich wie noch nie: Architekturmuseen in ganz Europa. Ein Spaziergang – vom Schreibtischsessel aus.

Im Lockdown meist geschlossen, aber zugleich so zugänglich wie noch nie: Architekturmuseen in ganz Europa. Ein Spaziergang – vom Schreibtischsessel aus.

Nennen wir es das „Lockdown-Paradoxon“. Einerseits stehen wir vor verschlossenen Türen. Die meisten Kulturinstitutionen sind gesperrt, und selbst wenn sie ihre Hallen wieder öffnen, dürfen die Besucher nicht zum Publikum werden: Abstandsregeln und Masken zwingen sie, distanziert, also quasi privat zu bleiben. An Ausstellungseröffnungen oder Vorträge vor Ort ist sowieso nicht zu denken.

Andererseits stehen uns dieselben Institutionen digital in einem bisher unbekannten Ausmaß offen. Einen Webauftritt zur Ankündigung des Programms hatte jede von ihnen schon bisher. Unter Corona-Bedingungen versuchen sie nun, den Besuchern ein digitales Erlebnis zu bieten, das sich einem realen Besuch annähert. Das gilt für die unzähligen Vorträge, die auf ein Online-Angebot umgestellt wurden, aber auch für Ausstellungen, die auf unterschiedliche Art digital vermittelt werden. Da es für diese Angebote keine geografischen Grenzen mehr gibt, explodiert durch den Lockdown – paradoxerweise – das weltweit zugängliche Angebot.

Am weitesten entwickelt sind diese Angebote dort, wo man schon vor der Corona-Krise systematisch auf digitale Medien setzte, beispielsweise im Pavillon d'Arsenale, dem Pariser Zentrum für Architektur und Urbanismus. Hier werden seit über zehn Jahren unter dem Titel „Arsenal TV“ kurze, nicht länger als ein paar Minuten dauernde Videos präsentiert, in denen Architektinnen und Architekten ihre Projekte vorstellen. Zu zwei Ausstellungen des Jahres 2020, eine über die Champs Élysées und eine über Artificial Intelligence in der Architektur, gibt es virtuelle Rundgänge mit der Möglichkeit, in einzelne Exponate zu zoomen. Beide wirken leider steril und bieten im Vergleich zu einem gut gemachten Katalog keinerlei zusätzlichen Wert. Ein kreativer Einsatz der Technologie müsste zumindest das Niveau guter Computerspiele erreichen.

Zur aktuellen Ausstellung des Schweizer Architekten Philippe Rahm über die „Naturgeschichte der Architektur“ finden sich nur eine Broschüre zum Download und einige Fotos, die neugierig machen. Eine Auswahl von Videos, in denen Rahm über seine architektonische Grundlagenforschung zur Beziehung von Energie, Umwelt und Architektur berichtet, ist allerdings nur ein paar Klicks entfernt auf YouTube zu finden.

Dass es sich lohnt, eine Ausstellung online zu präsentieren, beweist das Architekturzentrum Wien. „Boden für alle“ heißt die aktuelle, hervorragend aufbereitete Schau zu einem nur auf den ersten Blick spröden Thema, nämlich unseren Umgang mit der nicht vermehrbaren Ressource Boden. Der Katalog übersetzt seriös recherchierte Fakten in eine leicht verständliche Darstellung, die sich auch nicht scheut, Widmungsabläufe in einer Landgemeinde als Foto-Roman darzustellen. Zusätzlich bietet das AzW auch eine 20 Minuten dauernde Videoführung durch die Ausstellung an, in der die Direktorin Angelika Fitz abwechselnd mit den Kuratorinnen Karoline Mayer und Katharina Ritter durch die Stationen der Ausstellung führt. Diese Triple-Conference ist ausgesprochen kurzweilig und weit mehr als nur ein „Teaser“ für die Ausstellung.

Ein ähnliches Angebot findet sich im Aut, dem Tiroler Architekturhaus in Innsbruck, dessen Ausstellung über die 1970er-Jahre, „Widerstand und Wandel“, Mitte März 2020 nach nur drei Wochen schließen musste. In einer Serie von Videos, die während des ersten Lockdowns entstanden sind, führt der Leiter des Aut, Arno Ritter, durch die Ausstellung, teilweise im Gespräch mit Zeitzeugen. Begleitend werden Teile des Katalogs zum Download angeboten. Als Präsentator zwischen den zahlreichen Ausstellungsobjekten lässt Ritter seine virtuellen Besucher deutlich sein Bedauern spüren, dass sie etwas versäumen. Für die laufende Ausstellung der Künstlerin Carmen Müller, „Von Gärten, Pflanzen und Menschen“, verzichtet das Aut auf solche Untertöne. Zwei schöne Videoarbeiten begleiten die Ausstellung, eine von Valerie Messini zum Werk der Künstlerin und eine Dokumentation der Ausstellungsinstallation, gefilmt von Günter Richard Wett.

Auch das DAM, das deutsche Architekturmuseum in Frankfurt, setzt auf den Garten, allerdings aus technischer Sicht. „Einfach Grün“ heißt die Ende Jänner virtuell eröffnete Ausstellung über die Welt der Fassaden- und Dachbegrünung. Neben einem Video der Eröffnung finden sich zahlreiche aufgezeichnete „Zoom“-Sessions mit Experteninterviews – ein ermüdendes Format, das wohl nur den interessiertesten unter den Besuchern zumutbar ist.

Die zweite aktuelle Ausstellung präsentiert mit eigener Website die Gewinner des DAM-Preises, mit dem jährlich aus rund 100 Nominierungen das beste deutsche Projekt des Jahres gekürt wird. Während die nominierten Projekte teilweise von zweifelhafter Qualität sind, hat die Jury bei den vier Finalisten tatsächlich hervorragende ausgewählt: ein öffentliches Haus für die Stadtverwaltung von Oberhausen mit integriertem Dachgewächshaus von Kuehn Malvezzi, die Hochschule für Schauspielkunst in Berlin von O&O Baukunst, das Wohnregal von FAR in Berlin und schließlich den Preisträger, das „Werk 12“ im Münchner Werksviertel Mitte von den niederländischen Architekten MVRDV, ein gemischt genutztes Betonregal mit tiefen umlaufenden Balkonen und 5,5 Meter hohen Räumen, in die teilweise eine zweite Ebene eingezogen ist. Als Kunst am Bau haben Beate Engl und Christian Engelmann die Fassade mit geschoßhohen, nachts leuchtenden Buchstaben garniert, die Ausrufe aus Comics zitieren: HMPF, AAHHH, WOW und PUH.

Ein Video der Ausstellung zeigt dieses Projekt, präsentiert wie einen Schatz im Mittelpunkt der weiß verputzten Urhütte, die Oswald Matthias Ungers 1984 ins Zentrum der zum Architekturmuseum umgebauten Villa gesetzt hat. Ungers' absolute Architektur mit ihrem Hang zum schweigend Erhabenen trifft auf eine Architektur der rohen Infrastruktur, die gar nicht laut genug schreien kann.

MVRDV haben mit diesem ironischen Projekt den Zeitgeist karikiert: Im globalen Wettbewerb der Bilder nimmt die Versuchung zu, mit allen Mitteln aufzufallen. Architekturmuseen und -zentren sollten die Orte sein, an denen hinter die Kulissen geblickt und nach den Bedingungen gesucht wird, die gute Architektur erst möglich machen.

Spectrum, Fr., 2021.02.12

16. Januar 2021Christian Kühn
Spectrum

Schweres Holz mit leichter Hülle

Was ist das beste Baumaterial für eine Universität für Bodenkultur? Ziegel und Stahl hat man schon probiert, jetzt ist Holz am Zug. Und das ist gelungen – wie das Ilse-Wallentin-Haus in Wien-Döbling beweist.

Was ist das beste Baumaterial für eine Universität für Bodenkultur? Ziegel und Stahl hat man schon probiert, jetzt ist Holz am Zug. Und das ist gelungen – wie das Ilse-Wallentin-Haus in Wien-Döbling beweist.

Die Wiener Universität für Bodenkultur hat ihren Sitz im 19. Bezirk in unmittelbarer Nachbarschaft des Türkenschanzparks. Ihre Gebäude stammen zum Großteil aus dem späten 19. Jahrhundert und sind typische Beispiele für die Architektur des Historismus. Könnte man sie wie Spielsteine von ihrem Standort lösen, ließen sie sich zu einem beeindruckenden Universitätscampus arrangieren. Im Wiener Stadtgrundriss der Gründerzeit ist eine solche Anordnung aber nicht vorgesehen, und so stehen die beiden Hauptgebäude, das Gregor-Mendel- und das Wilhelm-Exner-Haus, in beträchtlicher Distanz voneinander wie kleine Paläste auf ihren Parzellen, ohne miteinander in Dialog zu treten. Weitere Universitätsbauten mischen sich dezent unter die Stadtvillen der Umgebung.

Bis heute prägen diese Paläste das Image der Universität, auch wenn es bereits mit dem von Anton Schweighofer 1967 entworfenen und 1972 fertiggestellten Erweiterungsbau des Wilhelm-Exner-Hauses ein bedeutendes Signal für eine Erneuerung gab. Dieser Bau war zwar von der Straße aus unsichtbar, verstand sich aber als erstes Element eines weit in die Umgebung reichenden Netzwerks von Erweiterungen. Im Material für Konstruktion und Fassade suchte man den maximalen Kontrast zum Bestand: Stahl, allerdings in einer speziellen Legierung, die zwar oberflächlich rostet, sich dann aber selbst durch diese erste Schicht vor weiterer Korrosion schützt. Das bekannteste derartige Produkt wurde unter dem Namen Cortenstahl vermarktet. Architekten waren fasziniert von der Ästhetik dieses „alternden“ Materials, das nie wieder einen Anstrich zu benötigen versprach. Eines der ersten mit Cortenstahl ausgeführten Projekte war die Freie Universität Berlin, eine Neugründung der 1960er-Jahre, entworfen von den Architekten Candilis, Josic und Woods, die zu den Erfindern des „Strukturalismus“ in der Architektur gehörten.

Anton Schweighofers Erweiterungsbau brachte diese Materialwahl wenig Glück. Die von der Voest produzierte Variante des Cortenstahls hörte nicht auf zu rosten. Die schlechte Wärmedämmung führte in Kombination mit der dunklen Oberfläche dazu, dass es im Haus im Winter zu kalt und im Sommer zu heiß war. Als schließlich der Verdacht aufkam, dass der zum Brandschutz verwendete Asbest die Nutzer gefährden könnte, wurde das Haus geschlossen und stand weniger als 25 Jahre nach seiner Eröffnung leer. Heute ist von ihm nach einer radikalen Sanierung nicht mehr übrig als ein paar Stahlträger, um die herum ein Neubau aus Stahlbeton errichtet wurde.

Unmittelbar neben diesem Gebäude war allerdings noch Platz für einen Zubau, ein leicht geböschtes Areal, umgeben von alten Bäumen. Hier sollten zusätzliche Flächen für Institutsräume sowie ein Seminarzentrum und eine Erweiterung der Bibliothek errichtet werden. In der Ausschreibung für den Architekturwettbewerb im Jahr 2017 war explizit ein konstruktiver Holzbau gefordert. Dass eine Universität, die der Land- und Forstwirtschaft ihre Gründung verdankt, aus diesem Material auch bauen möchte, ist naheliegend. Bereits 2014 hatte sie sich beim Wettbewerb für eine neues, 200 Meter stadteinwärts gelegenes Institutsgebäude für einen Entwurf des Büros Baumschlager-Hutter entschieden, bei dem immerhin die Fassade aus vertikalen Holzlamellen besteht. Dass man diesmal einen Schritt weiter gehen und auch das Tragsystem aus Holz errichten wollte, hing nicht zuletzt mit den guten Erfahrungen zusammen, die man bei einer Außenstelle der Universität in Tulln gemacht hatte. Dort hatte das Architekturbüro SWAP in Kooperation mit Delta Projektconsult ein Laborgebäude in Holzkonstruktion errichtet, der 2018 in der Kategorie „Öffentlicher Bau“ den österreichischen Holzbaupreis erhielt.

Beim Wettbewerb für den Neubau am zentralen Standort – benannt nach der ersten Dissertantin der Universität Ilse-Wallentin-Haus – konnte sich dasselbe Team gegen eine Konkurrenz von 60 Teilnehmern durchsetzen. Das Projekt ist perfekt auf die geforderte Nutzung zugeschnitten: ein teilweise ins Gelände eingegrabenes Sockelgeschoß mit Seminarräumen, darüber ein Eingangsgeschoß mit Foyer und zwei großen Vortragsräumen, dann die Bibliotheksräume und in den beiden obersten Geschoßen die Institutsräume. Ein kleines Atrium, das die Sozialräume der beiden Institutsgeschoße verbindet, bringt zusätzliches Licht in die Mitte des Baukörpers. An der Fassade ist diese Gliederung klar ablesbar: Foyer und Bibliothek haben Fenster im beachtlichen Format von 3,4 mal 3,4 Metern, die den Benutzern das Gefühl vermitteln, zwischen den Bäumen der Umgebung zu sitzen. Dass die Fensterbänke genau auf Sitzhöhe liegen, ist ein Angebot, das von den Nutzern gerne angenommen wird. Konstruktiv sind die Geschoße unterschiedlich aufgebaut: das Untergeschoß und alle erdberührenden Teile aus Stahlbeton, die beiden ersten Geschoße als Holzskelettkonstruktion und die Bürogeschoße aus verleimten KLH-Massivholzplatten. Ein Kern aus Stahlbeton, der Treppen, Lift und Sanitärräume aufnimmt, gibt der Konstruktion Stabilität.

Wer beim Begriff „Skelettkonstruktion“ an etwas Filigranes denkt, wird beim Betreten des Foyers überrascht sein. Die Stützen und Unterzüge, die in den ersten beiden Holzgeschoßen die großen Spannweiten für die Vortragsräume überwinden, haben beachtliche Querschnitte – das liegt zu einem guten Teil am Brandschutz. Wenn tragende Holzbauteile unverkleidet bleiben sollen, müssen sie im Brandfall eine schützende verkohlte Schicht aufbauen können, um deren Dicke sich die Bauteile über das statisch notwendige Maß hinaus verstärken. Dieser ästhetisch „schwere“ Holzbau hat eine eigene Qualität, mit der die Architekten in diesem Fall souverän umgehen.

Dass die Konstruktion „leicht“ wirkt, liegt an einem einfachen Kunstgriff. Was an der Fassade als zarte vertikale und horizontale Tragkonstruktion erscheint, ist nur Dekor. Das ist besonders auffällig in der überdeckten Kolonnade vor dem Eingang: Die Stützenreihe trägt nicht, sondern hält sich gewissermaßen am auskragenden Deckentragwerk des ersten Geschoßes an. Ist diese „Scheinfassade“ deshalb überflüssig? Nein. Sie zu entfernen hätte denselben verstörenden Effekt wie aus einem Gesicht die Augenbrauen zu rasieren. Mit ihrer Erfahrung im Holzbau sind SWAP Architekten inzwischen auch international erfolgreich. Gerade haben sie einen Wettbewerb für ein Innovationslabor für „Grüne Chemie“ an der TU Berlin gewonnen, ein massives Gerüst mit viel Transparenz, das durch Vorfertigung und kurze Bauzeit punktet.

Spectrum, Sa., 2021.01.16



verknüpfte Bauwerke
BOKU Bibliothek und Seminarzentrum

19. Dezember 2020Christian Kühn
Spectrum

Ganz oben sind die Klaviere

Ein Labor für viele Künste: Die Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien (MDW) erhält einen präzise konzipierten, schönen und zukunftsfähigen Schlussstein für ihren Campus.

Ein Labor für viele Künste: Die Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien (MDW) erhält einen präzise konzipierten, schönen und zukunftsfähigen Schlussstein für ihren Campus.

Manchmal braucht es eben zwei Anläufe. Als die Bundesimmobiliengesellschaft 2012 einen Architekturwettbewerb für den Neubau eines Institutsgebäudes auf dem Campus der MDW, der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, ausschrieb, ahnte niemand, welche Odyssee den Beteiligten bevorstand. Eingereicht wurden 86 Projekte, aus denen die Jury den Beitrag der Architekten Christoph Pichler und Hannes Traupmann als besten auswählte. Die Aufgabe war äußerst komplex, nicht zuletzt wegen der heterogenen Nutzergruppen aus unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen. Die MDW als Institution ist weniger bekannt als einige ihrer Institute, zu denen das Reinhardt-Seminar, die Filmakademie und das Institut für Komposition, Elektroakustik und Tonmeisterausbildung (ELAK) gehören. Im internationalen QS-Universitätsranking mischt die MDW im Bereich „Performing Arts“ seit Jahren auf den Spitzenrängen mit; 2019 belegte sie gemeinsam mit der Juilliard School in New York den ersten Platz.

Der Campus der MDW befindet sich im dritten Bezirk auf dem Gelände der ehemaligen Veterinärmedizinischen Universität, deren Gebäude die MDW in mehreren Etappen in Besitz nahm und erweiterte. Der Architekt dieser Adaptierung ist Reinhardt Gallister, der den Bestand mit großer Sensibilität umgebaut, teilweise aufgestockt und um leichte, verglaste Pavillons erweitert hat, die eine Mensa, eine Bibliothek und Institutsräume aufnehmen. Wenn es in Wien eine Universität gibt, die einen echten „Campus“ besitzt, dann ist es die MDW, die von ihrer veterinärmedizinischen Vorgängerin eine zentrale Rasenfläche im Zentrum geerbt hat, um die sich die Gebäude locker gruppieren. Der Bauplatz für das neue Institutsgebäude befindet sich an der Südseite dieses Rasenteppichs, dessen Saum mit alten Bäumen bepflanzt ist. Der Neubau definiert den südlichen Abschluss dieser grünen Mitte und ist gleichzeitig ein Passstück zwischen zwei der neuen Pavillons.

Pichler und Traupmann gewannen den Wettbewerb nicht zuletzt wegen der präzisen städtebaulichen Antwort auf diese Situation. Im Gegensatz zu den meisten anderen Beiträgen kam ihr Projekt mit drei oberirdischen Geschoßen aus, die so geschickt ineinander verschachtelt sind, dass jeder Raum das nötige Maß an Höhe bekommt, vom Seminarraum bis zum kleinen Konzertsaal im obersten Geschoß. Dieser markiert den Hochpunkt des Gebäudes, von dem aus sich ein Einschnitt in einer eleganten Sinuskurve ins Gebäude gräbt. Er bringt Licht in die Tiefe des Hauses und erzeugt zugleich eine Terrasse, die den Institutsräumen vorgelagert ist. Tief ist der Baukörper nicht zuletzt wegen seiner kompakten Anlage: Im Kern liegen große, über zwei Normalgeschoße reichende Aufführungs- und Aufnahmeräumen, um die sich kleinere, natürlich belichtete Räume anlagern. Als die Architekten ihr Projekt zum ersten Mal vor den zukünftigen Nutzern vorstellten, gab es einen Eklat. Es stellte sich heraus, dass zwar das Rektorat das Raumprogramm abgesegnet hatte, nicht aber die betroffenen Institutsvorstände. Die Abweichungen zwischen Planung und individuellen Wünschen hätte man noch in den Griff gebracht; als echter Stolperstein erwies sich allerdings die Form der großen Räume für das ELAK; hier hatten die Architekten ihre raumbildende Leitkurve zum Einsatz gebracht, was die Nutzer ablehnten. Weder die Trapezform des kleineren Saals noch die Parabelform des größeren kam für sie infrage. Die Bundesimmobiliengesellschaft zog die Notbremse und erklärte den Wettbewerb „wegen eines überholten Raumprogramms“ für gescheitert.

Nach einer Nachdenkpause wurde 2014 ein neuerlicher Wettbewerb ausgeschrieben, zu dem zwölf Teilnehmer geladen wurden – und wieder überzeugten Pichler und Traupmann mit einer Modifikation ihres ursprünglichen Projekts. Diesmal gehörten der Jury Rektor und Vizerektorin und alle betroffenen Institutsleiter an. Auch Pichler und Traupmann hatten akustisch dazugelernt und rechtwinkelige Säle geplant, in der Proportion des Goldenen Schnitts, den die Akustiker für die Aufgabe empfohlen hatten. Das Grundkonzept mit akustisch getrenntem Kern und umgebenden Institutsräumen blieb, wie es war, ebenso die Aufteilung mit viel Licht von oben, um eine gute Orientierung zu sichern. Neu im Raumprogramm war ein Filmvorführungssaal im Erdgeschoß an der Haupttreppe, die alle Säle für öffentliche Veranstaltungen verbindet.

Und die Sinuskurve? Die gibt es nach wie vor, und sie erzeugt nicht nur eine Terrasse wie im ersten Projekt, sondern deren zwei, die jeweils dem ersten und dem zweiten Stock zugeordnet sind. Im Detail zeigen sich hier aber doch geometrische Probleme zwischen orthogonalem Kern und gekurvter Hülle, die sich nicht auflösen lassen und in der handwerklichen Umsetzung von Verkleidungen unbarmherzig sichtbar werden. Das betrifft zwar nur einige wenige Stellen, von denen die meisten einem flüchtigen Betrachter nicht auffallen werden; es berührt aber einen prinzipiellen Punkt: Ist es wirklich sinnvoll, ein Bauwerk als organischen Körper zu verstehen, mit Skelett, Organen und Haut, die zusammen eine klare Figur ergeben? Wäre es nicht ausreichend, die nötigen Räume perfekt zu organisieren und zu gestalten, aber die äußere Hülle abschnittsweise zu definieren, ohne alles wieder in ein großes Ganzes zusammenzufassen?

Zum Verständnis lohnt es sich, zwei Fotografien des Hauses zu vergleichen, eines von Toni Rappersperger, das jeden Kontext ausblendet und das Haus als autonomes Objekt darstellt; nur am oberen Rand ragt ein Ast ins Bild. Dass dieser Ast Teil einer Baumgruppe ist, hinter der das Haus nie als Ganzes sichtbar wird, erkennt man auf einem vom zentralen Grünraum aus aufgenommenen Foto von Hertha Hurnaus, das vom Haus nur Bruchstücke erkennen lässt. Das Foto erklärt den Unterschied zwischen einem Haus als Gegenstand und einem Haus als Zustand: Letzteres braucht keine bemühten Rahmungen mehr, um ein organisches Ganzes zu imaginieren; statt sich als klare Figur abzugrenzen, ist es anschlussfähig in alle Richtungen.

Für die Nutzer machen solche Fragen kaum einen Unterschied. Sie haben einen präzise konzipierten, schönen und zukunftsfähigen Schlussstein für ihren Campus erhalten. Zumindest hier hat eine Universitätsleitung erkannt, wie wichtig ein gutes Habitat für den Erfolg ist.

Spectrum, Sa., 2020.12.19



verknüpfte Bauwerke
Future Art Lab

20. November 2020Christian Kühn
Spectrum

Mit Anergie in die Zukunft

Die Weichen für die „Grüne Revolution“ sind gestellt. Auch in Wien wird die Energiewende durch den Umstieg auf alternative Energieformenerfolgen: durch „Grünes Gas“ und durch die Nutzung von Geothermie, Solarkollektoren und Fotovoltaik in Anergienetzen.

Die Weichen für die „Grüne Revolution“ sind gestellt. Auch in Wien wird die Energiewende durch den Umstieg auf alternative Energieformenerfolgen: durch „Grünes Gas“ und durch die Nutzung von Geothermie, Solarkollektoren und Fotovoltaik in Anergienetzen.

Es wird ernst. Überall in Europa werden die Weichen für die „Grüne Industrielle Revolution“ gestellt. Großbritannien, das bereits Anfang des Jahres angekündigt hatte, den Verkauf von neuen Pkw mit Verbrennungsmotoren ab 2035 zu verbieten, hat soeben angekündigt, diese Frist auf 2030 vorzuverlegen. Die Nutzung alter Fahrzeuge soll zwar weiterhin möglich sein; allerdings werden zusätzliche, für die Einfahrt in die Stadtzentren anfallende Mautgebühren die Lust aufs „Gasgeben“ deutlich verringern. Dass Rechtspopulisten mit neoliberalem Kern wie Boris Johnson auf sich aufmerksam machen, indem sie kaum erreichbare Ziele nochmals verschärfen, ist nicht überraschend. Dominic Cummings, der seit Kurzem geschasste Chefberater des Premiers, verkörperte die Ideologie dahinter: massive staatliche Investitionen in die Grundlagenforschung, Freisetzung der Innovationskräfte, technische Durchbrüche, entfesselte Wirtschaft.

In der Praxis dürfte die „Grüne Revolution“ wohl weniger spektakulär sein und am ehesten im Rahmen einer neuen Infrastrukturpolitik gelingen, die das Zusammenspiel staatlicher und privatwirtschaftlicher Aktivitäten optimiert. Das gilt auch fürs Bauen, das für rund ein Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich ist, wenn man nicht nur den Energiebedarf fürs Heizen und Kühlen von Gebäuden berücksichtigt, sondern auch jenen für die Herstellung und den Transport von Baumaterialien. Zur Erreichung der Klimaziele braucht es auch keine technologischen Durchbrüche, sondern die intelligente Kombination bestehender Technologien zu einem effizient vernetzten System.

Die Stadt Wien hat der Energieraumplanung bereits 2014 ein Kapitel im Stadtentwicklungsprogramm 2025 (StEP 2025) gewidmet, das die zuständige Magistratsabteilung für Energieplanung zum Anlass nahm, ein Fachkonzept zum StEP zu entwickeln, das 2019 fertiggestellt und vom Gemeinderat beschlossen wurde. Energieraumplanung ist die Verbindung von Stadt- und Energieplanung, indem sie die räumliche Dimension von Energieverbrauch und Energiegewinnung verknüpft. Sie befasst sich mit der Festlegung des geeigneten Maßes an baulicher Dichte, den Potenzialen der Nutzungsmischung (die von der Nutzung von Überschüssen aus der Industrieproduktion bis zur Verkehrsreduktion in der 15-Minuten-Stadt reichen) sowie der Ressourcensicherung für erneuerbare Energieträgern, die im bereits dicht bebauten Stadtgebiet neue Flächenansprüche für Energie-Infrastruktur stellen.

Seit der jüngsten Novelle erlaubt die Wiener Bauordnung auch die Festlegung von spezifischen Energieraumplänen, die für Neubauten die Nutzung von Fernwärme oder alternativen Systemen, wie der Nutzung von Erdwärme, vorschreiben. Derzeit hat die Stadt solche Pläne für den 8., 9., 18. und 19. Bezirk verordnet, nicht unbedingt Bezirke, in denen es massive Neubauaktivitäten gibt. Wenn Österreich das EU-Ziel einer Dekarbonisierung bis 2050 erreichen möchte, wird auch der Bestand verändert werden müssen. Die Jahreszahl 2050 klingt nach ferner Zukunft; die EU hat die Mitgliedstaaten allerdings aufgefordert, sich Zwischenziele für die Jahre 2040 und 2030 zu setzen, womit wir praktisch in der Gegenwart angekommen sind. Grob geschätzt ginge es für Wien unter anderem darum, einen substanziellen Anteil der derzeit 416.000 mit Erdgas versorgten Haushalte auf andere Energiequellen umzupolen, etwa indem bis 2030 in Summe 260.000 Gasthermen auf alternative Energieformen umgestellt oder ersetzt werden. Das könnte einerseits durch „Grünes Gas“ erfolgen, also ein neues biogenes „Stadtgas“, andererseits durch die Nutzung von Geothermie, Solarkollektoren und Fotovoltaik in sogenannten „Anergienetzen“. In solchen Netzen zirkuliert ein Wärmeträgermedium, meist Wasser, bei Temperaturen von fünf bis 18 Grad; die für die Heizung nötigen Temperaturen werden über Wärmepumpen und Erdsondenspeicher erreicht, wobei Flächenheizsysteme wie etwa Fußbodenheizungen aufgrund der nötigen niedrigen Temperaturen zu bevorzugen sind. In der Sanierung auf diesem Weg reicht es also nicht, Gasthermen durch ein anderes Gerät zu ersetzen; es geht um das System Haus in seiner Gesamtheit.

Dass dezentrale, karbonfreie Energieversorgung auch in der für Wien typischen gründerzeitlichen Stadt möglich ist, beweist das Pilotprojekt „Smart Block Geblergasse“ im 17. Bezirk. Die Architekten Angelika und Johannes Zeininger haben hier ein baufälliges Gründerzeithaus erworben und mit dem Nachbarhaus als gemeinsame Startzelle saniert und jeweils um zwei Geschoße aufgestockt. Die Energieversorgung erfolgt komplett über ein System von Erdwärmesonden, Wärmepumpen und hybriden Solar- und Fotovoltaikanlagen. Das Besondere an der Lösung ist, liegenschaftsübergreifend und schrittweise im Zuge anstehender Haussanierungen einen ganzen Baublock energetisch als Anergienetz zu betreiben. Eine zweite Besonderheit besteht darin, dass die 18 rund 100 Meter tief in die Mergelschichte gebohrten Erdsonden nicht nur zur Heizung im Winter, sondern auch zur Kühlung im Sommer ohne CO2-Emissionen zum Einsatz kommen. Durch die sommerliche solare Nachladung der Bohrungen entsteht über den Jahresverlauf ein energetischer Kreislauf. Die Begleitforschung hat gezeigt: Das Konzept hält, was es verspricht. Auch unter beengten Platzverhältnissen ist ein Anergienetz realisierbar. Bei der Umstellung gründerzeitlicher dicht bebauter Stadtteile müssten allerdings Erdsonden zur Vollversorgung auch in den Erdkörpern unter den Straßen ermöglicht werden.

Das Projekt beweist, dass „umfassende Sanierung“ nicht nur Technik, sondern auch ein neues Lebensgefühl in der dicht bebauten Stadt bedeutet. Balkone, Pawlatschen und Terrassen erzeugen in einem Gründerzeitblock eine soziale Dichte, aus der echte Nachbarschaften entstehen können, wenn die Architektur sie fördert. Das schließt Sentimentalitäten ein: Trotz der Hightech-Ausstattung haben die Architekten in den Bestandsgeschoßen eine modernisierte Form der traditionellen Kastenfenster beibehalten. Die Technik in diesem Haus integriert sich wie selbstverständlich ins Ganze. Dass die Stadt Wien dezentrale Anergienetze mit Zuschüssen von bis zu 30 Prozent der Gestehungskosten fördert, ist wichtig. Eines sollte sie aber nie vergessen: Häuser sind keine Maschinen, sondern Lebensräume.

Spectrum, Fr., 2020.11.20

28. Oktober 2020Christian Kühn
Spectrum

Wiener Stadtgestaltung: Mittelmaß ist nicht genug

Die planerischen Instrumente, denen Wien seinen Ruf als lebenswerteste Stadt der Welt verdankt, haben dringenden Reformbedarf. Nun, nach der Wahl, wäre Gelegenheit, diese Herkulesaufgabe anzugehen.

Die planerischen Instrumente, denen Wien seinen Ruf als lebenswerteste Stadt der Welt verdankt, haben dringenden Reformbedarf. Nun, nach der Wahl, wäre Gelegenheit, diese Herkulesaufgabe anzugehen.

Die Wiener Wahl ist geschlagen. Ganz ist der „natürliche Zustand“ einer roten absoluten Mehrheit nicht wiederhergestellt, wie es Altbürgermeister Leopold Graz 2001 in einem legendären Statement ausdrückte: Damals hatte die SPÖ nach fünf Jahren Koalition mit der ÖVP wieder die „Absolute“ erreicht.

Das aktuelle Ergebnis lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, in wessen „beste Hände“ eine deutliche Mehrheit der Wienerinnen und Wiener die Zukunft ihrer Stadt legen möchte. Ein entscheidender Faktor für dieses Ergebnis war die Tatsache, dass Wien dem Problem des leistbaren Wohnens trotz stark wachsender Bevölkerung erfolgreicher begegnen konnte als viele vergleichbare Städte. Dieses Problem im Zaum zu halten ist Voraussetzung für eine durchmischte Stadt mit geringen sozialen Spannungen, ein Umstand, der mit dazu beiträgt, dass Wien in den wichtigsten Rankings zur Lebensqualität seit Jahren in den Spitzenplätzen auftaucht.

Es wäre aber gefährlich, sich auf diesen Lorbeeren auszuruhen. Sie sind der Erfolg lange zurückliegender Entscheidungen. Der Beginn einer neuen Legislaturperiode muss Anlass sein, Ziele und Instrumente der Stadtplanung, der Stadtgestaltung und des Wohnbaus kritisch zu hinterfragen und nötigenfalls zu erneuern. Eines der wichtigsten Instrumente ist der „Fonds für Wohnbau und Stadterneuerung“, kurz „Wohnfonds“, hervorgegangen aus dem „Wiener Bodenbereitstellungsfonds“. Der Fonds ist für die Vergabe städtischer Wohnbau-Grundstücke als auch für die Qualitätsprüfung jener Projekte zuständig, die Bauträger mit Wohnbauförderungsmitteln errichten wollen.

Seit 25 Jahren kommt dafür das Instrument des „Bauträgerwettbewerbs“ zum Einsatz. Die zeitliche Koinzidenz mit Österreichs EU-Beitritt 1995 ist kein Zufall: Transparenz bei der Vergabe öffentlicher Mittel ist eines der zentralen Prinzipien der EU, und Österreich hatte in der Hinsicht durchaus Nachholbedarf.

Der Wiener Bauträgerwettbewerb ist ein kompliziertes Konstrukt. In der Regel dreht sich der Wettbewerb um ein Grundstück im städtischen Besitz, für das mehrere Bauträger eingeladen werden, ein Angebot zu machen, das in Bezug auf seine ökonomische, soziale, ökologische und architektonische Qualität – die sogenannten „vier Säulen“ – bewertet wird. Integraler Teil des Angebots ist ein architektonisches Projekt, mit dessen Ausarbeitung Bauträger Architekten ihrer Wahl beauftragen. Am Ende des Prozesses gibt es einen Sieger, der das Grundstück und die Wohnbauförderung erhält.

Etwas anders sieht die Sache aus, wenn das Grundstück nicht in städtischer Hand ist, sondern bereits im Besitz eines Bauträgers, der vom Fonds nur noch die Zusage einer Wohnbauförderung braucht. Bis zu einer Anzahl von 500 Wohneinheiten beurteilt der Wohnfonds die Qualität eines vom Bauträger in der Regel ohne Wettbewerb entwickelten Projekts nach den oben genannten vier Säulen. Ab 500 Wohneinheiten ist ein Wettbewerb durchzuführen. Allerdings wird bei Projekten dieser Dimension mit dem Bauträger meist eine Teilung des Projekts vorgenommen, bei der es nur in Teilbereichen zu einem echten Wettbewerb unter Architekten kommt, andere Bauteile aber bereits fix an ein Architekturbüro nach Wahl des Bauträgers vergeben sind. Auch diese müssen am Wettbewerb teilnehmen und werden als „Fixstarter“ bezeichnet. De facto sind sie „Fixgewinner“, was man der Architektur in den meisten Fällen ansieht. Der Wohnfonds kann diese Fixgewinner zwar zur Überarbeitung auffordern, hat aber keine Handhabe, eine Projektverbesserung zu erzwingen.

Für die Entscheidungen des Wohnfonds ist ein Beirat verantwortlich, der den irreführenden Namen „Grundstücksbeirat“ trägt. Tatsächlich ist dieser Beirat das zentrale Instrument der Qualitätssicherung im Wiener Wohnbau. Er entscheidet nicht über Grundstücke, sondern über Architekturprojekte, wobei er bei allen Bauträgerwettbewerben als Jury fungiert. Bisher waren die Vorsitzenden des Beirats ausgebildete Architekten, etwa Kunibert Wachten, Wolf Prix, Dietmar Steiner oder Kurt Puchinger. Mit dem Jahreswechsel wird mit Rudolf Scheuvens erstmals ein Raumplaner zum Vorsitzenden des Gremiums bestellt.

Das 25-Jahr-Jubiläum des Bauträgerwettbewerbs wäre ein Anlass, dieses Instrument kritisch auf seine Innovationskraft zu überprüfen. Es ist offensichtlich, dass sich in den vergangenen Jahren eine Routine eingeschlichen hat, bei der die architektonische Qualität als eine der vier Säulen geschwächt wurde. Selbst die Internationale Bauausstellung (IBA) zum Thema „Neues Soziales Wohnen“, die Wien gerade mit Zeithorizont 2022 ausrichtet, ist davon betroffen. Sie soll Wien als Welthauptstadt des sozialen Wohnbaus positionieren; die Ausstellung zum Zwischenstand der IBA unter dem Titel „Wie wohnen wir morgen?“ zeigte aber mehr Mittelmaß als Innovation.

Eine Ursache für diese Entwicklung ist der Trend zu immer größerer Verdichtung. Ein Beispiel dafür findet sich auf dem Areal, das die IBA für ihre Ausstellung genutzt hat, dem ehemaligen Sophienspital am Neubaugürtel. Hier wird das Ergebnis eines Bauträgerwettbewerbs mit 180 geförderten Wohnungen umgesetzt. In der Empfehlung der Stadtplanung war im Oktober 2019 noch von Bauklasse V, also maximal 26 Metern die Rede, mit „Akzentuierungen bis 35 Meter“. Das Projekt von Martin Kohlbauer ist fast durchgängig „akzentuiert“. Dass es nicht noch höher wird, liegt in erster Linie daran, dass nach der Wiener Bauordnung ab 35 Metern schärfere Hochhausregeln greifen, die den Bau verteuern.

Dass die 35 Meter in Wien zum neuen Standard werden, legen aktuelle Projekte nahe, etwa die Biotope-City auf dem Wienerberg oder die Bebauung an der Kreuzung Eichenstraße/Gaudenzdorfer Gürtel, die an den Erste Campus im Faschingskostüm erinnert. Für das Konzept der Biotope-City sind 35 Meter deutlich zu hoch; an der Eichenstraße wären dagegen Hochhäuser vorstellbar. Wenn eine Höhengrenze, die sich aus Fragen des Brandschutzes ableitet, den Städtebau dominiert, hat die Architektur wenig Chancen. Es überrascht nicht, dass sich auch Architekten mit langjähriger Erfahrung im geförderten Wiener Wohnbau aus dem Bereich zurückziehen.

Die nächste Wiener Stadtregierung sollte die Gelegenheit nutzen, die zahlreichen gewachsenen Instrumente der Architektur- und Stadtplanungspolitik zu reformieren. Das beginnt bei der Schaffung eines eigenen Raumordnungsgesetzes und reicht bis zur Reform des Fachbeirats für Stadtplanung und Stadtgestaltung und des Grundstücksbeirats. In beide sollten endlich auch Experten aus dem Ausland berufen werden. Für das Welterbe Innere Stadt braucht es einen seriösen Managementplan und dann einen Neustart des Projekts am Eislaufverein. Eine 100 Meter lange und 55 Meter hohe Scheibe, wie sie uns die Stadtregierung als Lösung verkaufen will, ist mindestens so skandalös wie der ursprünglich geplante Turm.

Spectrum, Mi., 2020.10.28

28. September 2020Christian Kühn
Spectrum

Wien-Wahl und Baukultur: Beim Grün sind alle einig

Heute haben alle Parteien Politiker, die sich für Baukultur zuständig fühlen. Das war nicht immer so. Bei einer Podiumsdiskussion im Architekturzentrum Wien schwebten die Themen Architektur, Stadtentwicklung und Verkehr über dem Hickhack der Tagespolitik.

Heute haben alle Parteien Politiker, die sich für Baukultur zuständig fühlen. Das war nicht immer so. Bei einer Podiumsdiskussion im Architekturzentrum Wien schwebten die Themen Architektur, Stadtentwicklung und Verkehr über dem Hickhack der Tagespolitik.

Der Auftritt hat Tradition: Seit den Nationalratswahlen 2002 lädt ein Verein namens „Plattform Baukulturpolitik“ die wahlwerbenden Parteien bei wichtigen Urnengängen auf Landes- und Bundesebene zu einem Streitgespräch. Vergangene Woche war es im Vorfeld der Wahlen in Wien wieder so weit. Das Architekturzentrum stellte seine Räume zur Verfügung und kompensierte die arg dezimierte zulässige Teilnehmerzahl durch eine Übertragung der Diskussion, die nun auf YouTube für die digitale Ewigkeit erhalten ist.

Alle derzeit im Gemeinderat vertretenen Parteien sandten ihre zuständigen Fachpolitiker, Omar Al-Rawi von der SP, Stefan Gara von den Neos, Peter Kraus von den Grünen, Elisabeth Olischar von der VP und Alexander Pawkowicz von der FP. Dass es bei allen Parteien Politiker gibt, die sich für Baukultur zuständig fühlen, ist ein Fortschritt. Bei früheren Anlässen entsandten manche Parteien weitgehend ahnungslose oder gleich gar keine Vertreter. Diesmal schienen die Themen Architektur, Stadtentwicklung und Verkehr ein paar Ebenen über dem Hickhack der Tagespolitik zu schweben. Untergriffe wie der von Blau in Richtung Grün, dass deren Planungshorizont am Gürtel ende, waren selten. Beim Thema Stellplatzregulativ ging es eher darum herauszustellen, wer sich bereits am längsten für eine Reduktion stark gemacht hatte. Dass in diesem Bereich inzwischen Leerstände produziert werden, die sich auf die Wohnkosten schlagen, und dass es klug wäre, die Anzahl der Pflichtstellplätze umgekehrt proportional zum Anschluss an hochrangige öffentliche Verkehrsmittel festzulegen, ist unumstritten. Überhaupt waren alle Diskutanten sich erstaunlich einig, Mobilität zu fairen Kosten als politisches Ziel zu sehen. Konsens herrschte selbst darüber, dass erst eine CO2-Bepreisung das Mobilitätsverhalten nachhaltig zum Besseren verändern werde.

Bezeichnend war die Reaktion der Diskutanten, als die Moderatoren Renate Hammer und Robert Temel die Behauptung in den Raum stellten, dass es in Wien zwar einiges an guter Architektur, aber wenig baukulturelles Bewusstsein gäbe. Elisabeth Olischar reagierte mit Schlagworten von mangelnder Vision, Qualität und Transparenz; Omar Al-Rawi mit dem Hinweis, dass eh alles gut sei und immerhin Jean Nouvel und Zaha Hadid in Wien gebaut hätten; Stefan Gara sah Hoffnung in der Fassadenbegrünung in Kombination mit Solartechnologie – ein weiteres Thema, bei dem sich alle Diskutanten einig waren. Für Alexander Pawkowicz sei es mit der Architektur in Wien seit Helmut Zilks Zeiten bergab gegangen; „topmoderne“ Architektur entstehe heute in echten Weltstädten wie Berlin: vom Vertreter einer Partei, die einmal davor warnte, dass Wien nicht Chicago werden dürfe, eine überraschende Aussage. Peter Kraus, dessen Partei seit zehn Jahren dem Planungs- und Stadtgestaltungsressort vorsteht, sprach vom Ziel, Stadtentwicklung als ganzheitlichen Prozess von den ersten Ideen bis zur Besiedlung eines Stadtgebiets zu ordnen und damit Qualität zu sichern.

Tatsächlich ist Wien von diesem Ziel noch weit entfernt. Dass die Bauordnung inklusive aller Kommentare von knappen 80 Seiten in den 1920er-Jahren auf 1500 Seiten angeschwollen ist, ist weniger problematisch als ihre Struktur, in der das Raumordnungsrecht mit technischen Fragen zu Standsicherheit, Hygiene oder Abwasserthemen vermischt ist. Eine radikale Reform des Raumordnungsteils ist schon deshalb angezeigt, weil wichtige Instrumente der Stadtplanung in der Bauordnung nicht vorkommen. Dazu zählt insbesondere der Stadtentwicklungsplan (StEP), der alle zehn Jahre neu erstellt wird. Er ist eine Art Panzerkreuzer der Stadtplanung, den Fachkonzepte als Fregatten begleiten. So imposant dieses Arsenal anzusehen ist, leidet es am Mangel an scharfer Munition: Weder StEP noch Fachkonzepte sind rechtlich verbindlich. Als Qualitätssicherungsinstrument findet sich zwar in der Bauordnung ein Fachbeirat für Stadtplanung und Stadtgestaltung, dem wesentliche Änderungen von Flächenwidmungs- und Bebauungspläne vorgelegt werden müssen. Neben diesem Beirat hat sich seit Mitte der 1980er-Jahre mit der aus Stadtpolitikern und Beamten gebildeten Stadtentwicklungskommission ein weiteres Gremium etabliert, das weitreichende Entscheidungen zur Stadtentwicklung trifft, oft ohne den Fachbeirat damit zu befassen.

Die Grundstimmung unter den Politikern berechtigt zur vorsichtigen Hoffnung, dass die Instrumente der Stadtplanung in der nächsten Legislaturperiode geschärft werden könnten. Anlass sollte der nächste StEP sein, der 2024 fällig ist und bis 2035 gelten wird, also mehr als ein Jahrzehnt, in dem sich die Stadt in Bezug auf Verkehr, Energie, Wohnen und öffentlichen Raum radikal verändern muss, um die gesetzten Entwicklungsziele inklusive Energiewende zu erreichen. Dem StEP mehr Verbindlichkeit zu geben und ihn dann über weitere Planungsverfahren auf die Ebene von Stadtteilkonzepten herunterzubrechen könnte diese Transformation beschleunigen.

Nicht einig waren sich die Diskutanten bezüglich der Widmungskategorie „geförderter Wohnbau“, die von der Stadtregierung als einer ihren größten Erfolge der vergangenen Legislaturperiode angesehen wird. Bei Neuwidmungen kann damit festgelegt werden, dass auf einem Grundstück geförderte Wohnungen zu errichten sind, wobei in begleitenden Planungsrichtlinien deren Anteil mit bis zu 66 Prozent festgelegt werden kann. Das drosselt die Grundstückpreise und macht leistbaren Wohnbau möglich. SP und Grüne wollen diese Kategorie bei Neuwidmungen immer anwenden, die Grünen wollen bei der Prozentzahl flexibel bleiben. Dient es der Qualität, sollen es in Sonderfällen 50 Prozent sein dürfen. Die VP hält die Widmungskategorie für kontraproduktiv, da dadurch nicht geförderte Wohnungen noch teurer würden. Die Neos und die FP halten zwar die Kategorie für sinnvoll, würden sie aber nicht flächendeckend nutzen, was die Frage aufwirft, nach welchen Kriterien sie dabei vorgehen wollen.

Ein Schönheitsfehler der neuen Widmungskategorie liegt woanders: Es gibt Zweifel, ob sie sie in höchstgerichtlichen Entscheidungen halten würden. Das teilt sie mit einem anderen jüngeren Instrument der Wiener Stadtplanung, den städtebaulichen Verträgen, privatrechtlichen Vereinbarungen zwischen Projektentwicklern und Stadt, in denen sich Erstere verpflichten, finanziell zur sozialen oder technischen Infrastruktur im Umfeld ihres Projekts beizutragen. Hier könnte eine Ankündigung aus dem Regierungsprogramm der türkis-grünen Bundesregierung greifen: diese Vertragsraumordnung aus dem zivilen ins öffentliche Recht zu überführen, sie damit verfassungsrechtlich abzusichern und transparent zu regeln.

Dass sich die öffentliche Meinung für solche Themen weniger erwärmt als etwa für neue Vorschriften zur Fassadenbegrünung, ist klar. Politiker dürfen sich davon nicht abschrecken lassen. Die anstehenden Veränderungen werden am System ansetzen müssen und nicht an der Oberfläche.

Spectrum, Mo., 2020.09.28

28. August 2020Christian Kühn
Spectrum

Zu Hause bei den Freuds

Nicht nur Touristenmagnet, sondern auch Ort der Forschung: Nach 18 Monaten Umbau und Erweiterung eröffnet das Sigmund Freud Museum mit neu gestalteter Ausstellung in der Berggasse in Wien-Alsergrund.

Nicht nur Touristenmagnet, sondern auch Ort der Forschung: Nach 18 Monaten Umbau und Erweiterung eröffnet das Sigmund Freud Museum mit neu gestalteter Ausstellung in der Berggasse in Wien-Alsergrund.

Berggasse 19, ein Gründerzeithaus. Wir läuten bei Dr. Freud, der natürlich nicht da ist. Fast 50 Jahre lang hat er hier mit seiner Familie gewohnt, von 1891 bis 1938. Freud ist nicht da, weil er 1938 aus Wien vertrieben wurde. Die Möbel, die berühmte Couch, die Bilder: Soweit noch erhalten, befinden sie sich in London, ein großer Teil seines Schriftnachlasses ist in den USA.

Wer etwa nach der Lektüre von Carl E. Schorskes „Fin-de-Siècle Vienna“ in die Berggasse pilgert, um dort nach Spuren dieser Zeit zu suchen, wird nicht viele entdecken. Das Gründerzeithaus hat den Krieg zwar gut überstanden, auch das Treppenhaus befindet sich praktisch im Originalzustand. Die Freud'sche Wohnung im Mezzanin ist aber nur im Grundriss erhalten; die Bewohner und Nutzer der vergangenen 80 Jahre haben sie vom historistischen Ambiente gründlich gesäubert. Seit dem Jahr 1971 ist hier ein Museum eingerichtet. Freuds Tochter Anna war bei der Eröffnung anwesend, und sie schenkte dem Museum einige originale Möbelstücke, einen Teil von Freuds Sammlung antiker Figuren sowie signierte Ausgaben und Erstausgaben aus seiner Bibliothek.

Das Museum konnte sich über die Jahre im Haus ausbreiten: Im ersten Stock über der Freud'schen Wohnung sind eine Bibliothek, ein Veranstaltungsraum und Büros untergebracht. Eine umfassende Neugestaltung erfolgte schrittweise zwischen 1989 und 1996 nach Plänen von Wolfgang Tschappeller, der dem gründerzeitlichen Bestand seine eigene, dekonstruktivistische Formensprache entgegensetzte, während in einigen Räumen versucht wurde, den früheren Zustand nach alten Fotografien zu rekonstruieren.

Das leicht surrealistische Ergebnis hätte Freud vermutlich sogar interessiert. Nachdem ihn Salvador Dalí im Londoner Exil besucht hatte, notierte Freud, dass er die Surrealisten bisher für absolute Narren gehalten hätte, die unleugbare formale Meisterschaft des jungen Spaniers mit den treuherzig fanatischen Augen hätte ihm aber doch „eine andere Schätzung nahegelegt“. An Problemen wie der mangelnden Barrierefreiheit konnten Tschappellers Interventionen aber nichts ändern.

Unter der 2014 neu bestellten Direktorin Monika Pessler wurde 2017 ein Wettbewerb für eine umfassende Neugestaltung des Museums ausgeschrieben. Zur Aufgabe gehörten Café, Shop und Garderoben, die Herstellung von Barrierefreiheit und ausreichenden Fluchtwegen, aber vor allem die Frage, wie sich die Adresse Berggasse 19 als „Ursprungsort der Psychoanalyse“ vermitteln ließe. Im Wettbewerb schlossen sich drei der geladenen Architekturbüros zu einem Team zusammen: Hermann Czech, Bettina Götz und Richard Manahl – die zusammen als ARTEC firmieren – und der Südtiroler Architekt Walter Angonese. Gemeinsam entwickelten sie das Grundkonzept; in der weiteren Planung zogen sich Angonese ganz und ARTEC weitgehend zurück. Ihren Wettbewerbserfolg verdankten sie der Idee, das Museum als zwei Sphären zu denken, die zwar getrennt, aber ineinander geschachtelt sind: einerseits die räumliche Präsenz des authentischen Orts, andererseits die immaterielle Präsenz der Freud'schen Gedankenwelt. Letztere wird ausschließlich in Vitrinen präsentiert, die frei im Raum stehen; an den Wänden findet sich dagegen nur Information zur früheren Nutzung und zur Gestalt der jeweiligen Orte.

Obwohl die Räume auf den ersten Blick „leer“ wirken, haben sie einiges zu erzählen, auch Aspekte, die im Enthusiasmus für das Wien um 1900 oft unter den Tisch fallen. So gibt es einen winzigen Raum zwischen Wohnung und Ordination, in dem das Stubenmädchen der Freuds jeden Abend auf einer Bank ihr Bettzeug ausbreitete. Nach einem eigenen Zimmer zu fragen hätte sie sich, wie sie später berichtete, „nicht getraut“. Auch der Schlafraum der Freuds könnte aus einer Traumsequenz stammen: Er hat nicht weniger als vier Türen in angrenzende Räume, zu denen auch der Schlafraum von Freuds Schwägerin Minna Bernays gehörte, die das Freud'sche Schlafzimmer durchqueren musste, um ihr eigenes zu erreichen. Spekulationen über dieses familiäre Binnenverhältnis gab es schon zu Freuds Zeit. Die räumliche Konstellation ist aber eher ein Indiz für andere Vorstellungen von Privatheit und Intimität.

Die einzige, seit den 1980er-Jahren bestehende Rekonstruktion – das Wartezimmer – wurde als Teil der neuen Ausstellung belassen. In den anderen Räumen wird die Vergangenheit über Fotos in Erinnerung gerufen, vor allem solche, die Edmund Engelman 1938 in der Wohnung aufgenommen hat. Am authentischen Ort betrachtet, aktivieren diese Bilder die Einbildungskraft. Da reichen ein paar freigelegte Nagel- oder Farbspuren an der Wand, um eine Bespannung oder eine farbige Fläche lebendig werden zu lassen.

Im Behandlungsraum erfährt man, dass die Couch verschoben wurde, als Freud auf einem Ohr ertaubte und seine Sitzposition wechselte. Dass die Patienten von beiden Standorten aus Blick in einen grünen Hof mit großen Bäumen hatten, lässt sich vor Ort überprüfen. Die Flügeltüren zu Freuds unmittelbar anschließendem Arbeitszimmer waren immer geöffnet, was auf die Verbindung von psychoanalytischer Theorie und Praxis schließen lässt, aber auch an der fehlenden Heizung im Arbeitszimmer gelegen haben mag. Die kleine Armee antiker Figuren auf Freuds Schreibtisch, die auf den Schreibenden zumarschieren, muss man sich anhand von Fotos vorstellen. Der am Fenster aufgehängte Spiegel, der den Blick in den Hof zum Blick auf sich selbst macht, ist dagegen in natura erlebbar.

Wo in diesem Museum der Rundgang beginnt, ist nicht festgelegt. Der Werdegang Freuds wird eher im privaten Teil der Wohnung vermittelt, die ausgereifte Theorie der Psychoanalyse in der Ordination. Im Weg von Vitrine zu Vitrine entsteht eine mentale Landkarte, die eher eine Seekarte ist: jede Vitrine eine Insel, die zum Landen einlädt. Czech hat dafür gesorgt, dass man sich an diese robusten Vitrinen gerne anlehnt und aufstützt und auf dem Rundgang auch zum Weiterlesen wiederkommt.

Verschwunden ist glücklicherweise die bisherige Totemstele in der Berggasse, die mit dem Schriftzug „Freud“ Besucher anlocken sollte. Die Nummer 19 muss man finden – der Hauseingang ist der Haupteingang ins Museum. Der barrierefrei erreichbare Shop mit Café daneben tarnt sich mit einer großen Markise als Wiener Gasthaus und ist mit glänzend rot gestrichener Kappendecke nach allen Regeln der Czech'schen Raumkunst gestaltet. Hier landet auch die neue, interne Treppe, der die ehemalige Küche der Freud'schen Wohnung weichen musste. Diese Treppe verbindet alle Geschoße und lässt das Freud-Museum als jene Institution erscheinen, die es mit seinen 20 Mitarbeitern ja längst sein sollte: nicht nur Magnet für Touristen, sondern auch ein Ort der Forschung mit internationaler Strahlkraft.

Spectrum, Fr., 2020.08.28

06. Juni 2020Christian Kühn
Spectrum

Auf der Schule spielen

Klassen mit viel Durchblick, flexible Räume und Bezug zur Natur. Eine kunterbunte Schule bekommt eine kontrapunktische Ergänzung: Welches Denken lernt man hier?

Klassen mit viel Durchblick, flexible Räume und Bezug zur Natur. Eine kunterbunte Schule bekommt eine kontrapunktische Ergänzung: Welches Denken lernt man hier?

Dreißig Minuten, das ist für österreichische Pendler eine mittlere Distanz. So lange braucht die U2 von der Seestadt Aspern zum Karlsplatz; so lange dauert es mit dem Pkw von Preding in der Steiermark ins Zentrum von Graz. Man merkt Preding diese Nähe an. Die Gemeinde mit heute knapp 1800 Einwohnern ist seit 1990 um 200 Personen gewachsen. Preding hat zwei Zentren: eines mit Kirche, Kindergarten und Gemeindeamt und ein zweites mit Billa, Kreisverkehr, Raiffeisenbank und Admiral Sportsbar. Industrie- und Gewerbebauten entstehen, wo es sich gerade ergibt. Wer wissen will, warum Österreich zu den Ländern mit dem stärksten Schwund von Grünland zugunsten von Bauland gehört, findet hier zumindest einen Teil der Erklärung.

Das Schulzentrum von Preding besteht aus Volksschule, Mittelschule und Musikschule, Ende der 1970-Jahre zehn Gehminuten außerhalb des Ortskerns errichtet. Die Mittel- und Volksschule waren typisch für den Schulbau ihrer Zeit: eine Aneinanderreihung identischer Klassenzimmer, ein schlichter Baukörper mit flachem Satteldach. Vor rund zehn Jahren wurde sie renoviert, mit steileren Dächern versehen und in allen Nuancen des Regenbogens gefärbelt. Gäbe es einen Wettbewerb für die bunteste Schule Österreichs, wäre die Mittelschule Preding klare Favoritin.

Bei der Volksschule entschied sich die Gemeinde ein paar Jahre später für Abriss und Neubau, nicht nur aus bautechnischen Gründen, sondern vor allem um sich von der pädagogischen Zwangsjacke des Bestands zu befreien. Die Schule sollte weiterhin vierklassig bleiben, in zwei Einheiten zu je zwei miteinander enger verbundener Klassen. In einer dieser Doppeleinheiten sollte ganztägig „verschränkt“ unterrichtet werden, das heißt, dass die Kinder auch nachmittags an der Schule lernen und nicht „nur“ Freizeit haben. Dieses Angebot richtet sich an berufstätige Eltern; wer sein Kind lieber zu Mittag aus der Schule holt, kann es in der anderen Doppeleinheit anmelden.

Ganztägige Schulformen erhöhen die Anforderungen an den Schulraum, den der italienische Bildungsreformer Loris Malaguzzi als den „dritten Pädagogen“ – neben Mitschülern und Lehrern – bezeichnet hat. Um diese Idee zum Leben zu erwecken, reicht es nicht, das Schulhaus bunt einzufärben. Die Schule muss ein „Instrument“ werden, auf dem die Lehrer, aber auch die Schüler gemeinsam spielen können. Es braucht dafür flexibel nutzbare Räume für unterschiedliche Lernarrangements.

In Preding war eine offene Lernzone gefordert, mit eigenen Bereichen für das Werken und die Nachmittagsbetreuung und einem frei bespielbaren „Projektraum“. Ebenso wichtig war im pädagogischen Konzept der Schule der Bezug zur Natur, als Blickbeziehung, aber auch als Option, im Freien mit den Kindern zu arbeiten. Im Jahr 2016 schrieb die Gemeinde in Kooperation mit der Architektenkammer einen geladenen Wettbewerb mit acht Teilnehmern aus. Die meisten Beiträge schlugen eine zweigeschoßige Lösung vor; das Siegerprojekt der Grazer Architekten Harald Kloiber und Christian Tabernig, die gemeinsam als ProjektCC firmieren, beschränkt sich auf ein Geschoß, das im Westen der Kontur des Grundstücks folgt und im Südosten gemeinsam mit der Mittelschule einen großzügigen Vorplatz schafft. Von hier aus erreicht man in separaten Eingängen Volks- und Musikschule. Die Orientierung der Klassenräume ist unorthodox: Sie blicken nach Nordwesten, aber in einen schönen Nachbargarten. Licht erhalten sie trotzdem mehr als ausreichend, da die Außenwände der Schule zum größten Teil aus Glas bestehen. Viele zarte Stahlstützen und einige wenige Stahlbetonwände tragen ein Dachtragwerk aus weit gespannten, im Innenraum sichtbaren Holzunterzügen, auf denen eine massive Decke aus Brettsperrholzplatten aufliegt. Nach außen wird diese Konstruktion von einer Verblechung geschützt, die als breites, horizontal gelagertes Band um das gesamte Gebäude läuft. Hinter dieser Verblechung ist Platz für den Sonnenschutz, der bei Bedarf herunterfährt und das Haus vor Überwärmung schützt. Eine komplizierte Haustechnik konnte und wollte man sich nicht leisten; die Querlüftung hat sich im Betrieb auch im Sommer als ausreichend erwiesen.

Farbig versucht der Neubau einen Kontrapunkt zur grellbunten Bestandsschule zu setzen: Das Blechband ist in leuchtendem Magenta lackiert, an das sich viele in der Gemeinde erst gewöhnen mussten. Dass „kunterbunt“ sich etymologisch aus dem Begriff „Kontrapunkt“ ableitet, wird hier deutlich. Vielleicht hängt die Neigung der Gemeinde zu solchen Kontrasten auch mit der Musikalität zusammen, die hier Tradition hat. Der Musiksaal schwebt als Abschluss des Neubaus im Süden über dem Gelände. Hier könnte auch ein kleines Symphonieorchester proben, mit schönem Blick in die Landschaft. Vom Vorraum der Musikschule aus erreicht man über eine Wendeltreppe den Sportbereich im Untergeschoß, der zum Altbestand der Mittelschule gehört.

Die Architekten haben hier eine vom Volumen her kleine, aber sehr anspruchsvolle Aufgabe mit Bravour gelöst, was angesichts des niedrigen Budgets von 2,6 Millionen Euro eine besondere Leistung ist. Die Erfahrung im industriellen Holzbau, etwa bei Projekten wie dem Sportpark Graz, wo sie einen 50 Meter weit gespannten Trägerrost aus Holz zum Einsatz brachten, ist ihnen dabei sicher zugute gekommen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie in Preding Glas, Holz, Beton und Stahl mischen, je nachdem, welches Material sich gerade am besten eignet, hat aber eine eigene Qualität. Ob das Ergebnis auch zum experimentellen und wilden Denken anregt? Die vergleichbare, zehn Jahre ältere Volksschule in Bad Blumau von Feyferlik/Fritzer ist bei ähnlichem Materialmix im Detail deutlich experimenteller. Ein Vergleich der beiden Schulen aus der pädagogischen Praxis wäre eine Untersuchung wert.

Erfreulich ist, dass eine kleine Gemeinde so viel Wert auf ihre Schulräume legt und daraus die Konsequenz zieht, das beste Projekt über einen anonymen Architekturwettbewerb zu suchen. Gut vorbereitet, ist das immer noch der Königsweg zur Qualität. Auch der Bund hat sich in seinem jüngst neu aufgelegten Schulentwicklungsplan, der bis 2030 eine Investition von 2,4 Milliarden Euro in den Bundesschulbau vorsieht, zu diesem Weg bekannt. Für die Gemeinden sollte er eine Selbstverständlichkeit sein.

Spectrum, Sa., 2020.06.06



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Volksschule Preding

13. Mai 2020Christian Kühn
Spectrum

Das Holzhochhaus in der Seestadt Aspern: Höhenwachstum auf dem Holzweg?

Die Vorarlberger wissen: In Holz bauen heißt, diszipliniert zu bauen. Den Versuch, diesem Material mit Wiener Schmäh mehr abzuverlangen, als es freiwillig hergibt, kann man in der Seestadt Aspern bewundern: das HoHo, ein Hochhaus in Holzbauweise.

Die Vorarlberger wissen: In Holz bauen heißt, diszipliniert zu bauen. Den Versuch, diesem Material mit Wiener Schmäh mehr abzuverlangen, als es freiwillig hergibt, kann man in der Seestadt Aspern bewundern: das HoHo, ein Hochhaus in Holzbauweise.

Der Baustoff Holz erobert das Bauwesen. Gemessen an den Nutzflächen, erhöhte sich in Österreich der Anteil von Bauprojekten, bei denen mindestens die Hälfte der Konstruktion aus Holz besteht, von 14 Prozent im Jahr 1998 auf 24 Prozent im Jahr 2018. Voraussetzung dafür war nicht zuletzt die Veränderung der Bauordnungen, in denen sich eine tiefe Skepsis dem brennbaren Baustoff gegenüber manifestierte. Mit Projekten für Hochhäuser aus Holz versuchte die immer selbstbewusster auftretende Holzlobby schon früh, das Image ihres Baustoffs auf ein Niveau mit Stahl und Beton anzuheben. Bereits 2008 förderte die FFG im Rahmen der Förderungsschiene „Haus der Zukunft“ ein Forschungsprojekt mit dem Titel „8plus“, das unter Federführung des Architekten Michael Schluder die Voraussetzungen für Holzhäuser mit damals in Wien unvorstellbaren 20 Geschoßen auslotete. Wer heute mit einem Hochhausprojekt aus Holz in die Medien kommen will, muss höher zielen: Der Londoner Oakwood Tower wirbt mit 300 Metern, der Plyscraper in Tokio mit 350, wobei das Errichtungsdatum einigermaßen ehrlich mit 2041 angegeben wird. Die weltweit knapp 50 in Holz geplanten Hochhausprojekte, die derzeit fertiggestellt oder gerade in Bau sind, bewegen sich dagegen in der Größenordnung von 80 Meter Höhe und 20 Geschoßen.

Das nach der Geschoßanzahl mit 24 weltweit höchste und nach Metern mit 84 zweithöchste Projekt wird gerade in der Wiener Seestadt in Aspern fertiggestellt. Bauherr des „HoHo“ getauften Projekts ist die Cetus Projektentwicklung, die hier Büros, ein Hotel und Serviced Apartments errichtet. Die Architektur stammt von RLP Rüdiger Lainer und Partner, den mit dem Areal der Seestadt eine lange Geschichte verbindet. Von Lainer stammte der erste Entwurf für die Seestadt von 1993, und er war nach dessen Scheitern Teil der Jury, die 2005 den Ringstraßen-Plan von Erskine und Tovatt auswählte, nach dem sich die Seestadt bis heute entwickelt. Im Jahr 2012 gewann Lainer den städtebaulichen Wettbewerb für das „Seeparkquartier“, ein Filetstück des Projekts im Bereich der U2-Endstation. Der Entwurf sah vier in regelmäßigem Abstand gesetzte Punkthäuser an der Kante zum Seepark vor, dahinter einen dicht gewobenen Stadtraum mit weiteren Hochpunkten und einer Kette öffentlicher Plätze. Nicht nur die Geometrie erinnert an das Projekt von 1992, sondern auch die gleichmäßig verteilten Hochgaragen als Ausdruck eines Mobilitätskonzeptes, das selbst 25 Jahre später noch als fortschrittlich gelten darf.

Schon im Wettbewerb für das „Seeparkquartier“ hatte Lainer die Hochhäuser als Bündel unterschiedlich hoher Bauteile konzipiert. Das HoHo folgt diesem Schema mit drei gestaffelten Baukörpern, die sich aneinanderlehnen, nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auch statisch, indem sich die schmalen Stahlbetonkerne im rechten Winkel zur effizienten Lastabtragung verbinden. Alle Nutzflächen rundherum sind in massiver Holzkonstruktion mit dicken Stützen aus laminiertem Brettschichtholz ausgeführt. Hier führen Statik und Brandschutz zu Dimensionen, die ungewohnt sind, wenn man sie mit klassischen Pfosten-Riegel-Systemen vergleicht. Wer sich mit dieser „fat architecture“ anfreunden möchte, sollte seine Erwartungen an der Kartonarchitektur des japanischen Architekten Shigeru Ban justieren, der für Projekte berühmt wurde, in denen er Kartonröhren tragend einsetzte. Mit dem Tamedia-Haus in Zürich hat Ban schon 2013 die Prinzipien einer solchen Architektur in Holz durchdekliniert.

Im Unterschied zu Bans Projekt kommt das HoHo aber nicht ganz ohne Beton aus: Randträger und Decken sind als Verbundelemente ausgebildet. Im Innenraum dominieren dennoch Stützen, Decken und Wände aus massivem Holz, das wegen der üppigen Dimensionierung unverkleidet bleiben darf: Im Brandfall bildet sich eine mehrere Zentimeter dicke verkohlte Schicht, die das Holz vor weiterem Abbrand schützt. Dieses Brandverhalten für alle relevanten Bauteile nachzuweisen war eine besondere Herausforderung an die Planer.

Auch von außen hätten man gerne Holz als Verkleidung verwendet, aber es fanden sich keine Holzwerkstoffe, die für diese Höhe zugelassen sind. So kamen schließlich Faserzementplatten zum Einsatz, die in abgestuften Beige- und Brauntönen ein Muster erzeugen, das an eine Rindenstruktur erinnert, die nach oben immer heller wird. Warum die Fensteröffnungen minimal variieren, bleibt rätselhaft. An mehreren Stellen wird die Fassade schließlich durch Verglasungen aufgebrochen, hinter denen das Tragsystem zum Vorschein kommt, eine etwas lepröse Ästhetik. Ähnlich überraschend sind auf den ersten Blick Vordächer mit unterschiedlichen Tiefen, ausgeführt in massiver Stahlkonstruktion, die dem Baukörper auf Höhe des ersten Stockwerks an mehreren Seiten vorgesetzt sind. Diese Elemente halten die Fallwinde ab, die sich bei Sturm an der glatten Fassade bilden und Passanten gefährden könnten. Dass es diese Windbrecher braucht, liegt nicht zuletzt am städtebaulichen Konzept der Kombination von Hochhäusern mit kleinmaßstäblichen Stadträumen.

Ob das Hochhaus aus Holz wirklich Zukunft hat? Holz sollte dort eingesetzt werden, wo es seine ästhetischen und ökologischen Stärken am besten ausspielen kann, aus der Perspektive des Klimaschutzes also dort, wo es jene Materialien ersetzt, die mit dem höchsten CO2-Ausstoß verbunden sind. Schlanke Stahlstützen in Hochhäusern durch massive Holzkonstruktionen zu ersetzen, die in Verbundbauweise errichtet sind und sich nicht rezyklieren lassen, zählt nicht dazu. Das spricht nicht gegen eine weitere Erhöhung des Holzanteils im Bauwesen. Das Bauen mit nachwachsenden Rohstoffen kauft uns vor allem Zeit: In einem Kubikmeter Holz, das in Bauholz verwandelt wird, steckt eine Tonne CO2, die erst in 80 oder 100 Jahren entsorgt, also verbrannt werden oder verrotten muss, während in derselben Zeit im Wald Ersatz nachwachsen kann, der CO2 speichert. Wie groß der Einfluss der Klimaveränderung auf dieses Gleichgewicht sein wird, ist noch unklar. Eine neue Bauweise allein wird nicht viel nützen. Klar ist, was Bernard Rudofsky schon vor 50 Jahren sagte: Eine neue Lebensweise tut not.

Spectrum, Mi., 2020.05.13



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HoHo Wien

14. April 2020Christian Kühn
Spectrum

Ein Dialog schaut anders aus

Darf man in Zeiten der Pandemie über Ästhetik schreiben? Eines ist sicher: Wir werden danach eine architektonische Sprache brauchen und nicht nur formale Routine. Über die schreiende Sprachlosigkeit in der Architektur der Gegenwart.

Darf man in Zeiten der Pandemie über Ästhetik schreiben? Eines ist sicher: Wir werden danach eine architektonische Sprache brauchen und nicht nur formale Routine. Über die schreiende Sprachlosigkeit in der Architektur der Gegenwart.

Das Gebaute hat immer recht. Es setzt Maßstäbe durch seine bloße Existenz, während die Kritik in den Archiven verschwindet. Die normative Kraft des Faktischen verschiebt auch im Reich der Ästhetik die Grenzen: Was lange unvorstellbar war, ist plötzlich neue Normalität. In den vergangenen Jahren habe ich im „Spectrum“ einige Projekte besprochen, die man als Vorboten einer neuen Normalität in der Architektur verstehen könnte, gerade weil sie unter unterschiedlichen Bedingungen zu ähnlichen Resultaten führen. Zwei Projekte sind bereits in Betrieb: der Zubau zur Wotrubakirche in Wien-Mauer und das Belvedere-Stöckl im Schwarzenberggarten; der Flakturm im Esterházypark, der für das Haus des Meeres erweitert wird, steht kurz vor der Fertigstellung. Gemeinsam ist den Projekten ein anspruchsvoller Kontext, der höchste Sensibilität im Dialog mit dem Bestand verlangt hätte. Daran sind die Projekte auf unterschiedlichem Niveau gescheitert. Ein Besuch bei den ausgeführten Bauten bestätigt die Vermutung, dass es dafür einen gemeinsamen Grund gibt. Sie sind formal und technisch routiniert gemacht, aber es mangelt ihnen an einer architektonischen Sprache, die nicht nur Formen produziert, sondern auch einen Gedanken ausdrückt.

Die höchsten Ansprüche an sich stellt von den drei Projekten jenes für einen halb in den Hang gegrabenen Zubau zur Wotrubakirche, entworfen vom Architektenteam f2p. Jahrelang wogte ein Streit zwischen der Kirchengemeinde, die einen barrierefreien Zugang zu der auf einer Anhöhe gelegenen Kirche verlangte, und dem Bundesdenkmalamt und kritischen Architekten, die forderten, den monumentalen Bau und sein Umfeld unangetastet zu lassen. Die Entscheidung fiel schließlich vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die Richterin urteilte für die Erfüllung der Alltagsbedürfnisse der Gemeinde in der geplanten Form. Die auch von mir geäußerte Befürchtung, die Kirche könnte von der Glashaube des Liftes bedrängt werden, bestätigt sich in der Realität nicht. Wer den bisherigen Weg bergauf zum Eingang einschlägt, nimmt höchstens eine ins Gelände gefaltete Zierleiste aus Beton wahr, die zuerst die Dachkante des im Hang versenkten Zubaus bildet und dann in eine Sitzbank ausläuft. Vom Ende der Zufahrtsstraße her bietet sich aber ein anderer Eindruck, der auch prominent auf der Webseite der Architekten gezeigt wird und den Kritikern recht gibt. Der um über eine Million Euro errichtete Bau übernimmt hier die Formensprache eines hochklassigen Wellnessresorts. Darüber schweben wie auf einem Präsentierteller die Betonquader der Kirche. Ein Dialog sähe anders aus.

Auch beim „Stöckl im Park“ im Schwarzenberggarten geht es um Dialog, nicht mit einem anderen Bauwerk, sondern mit einem barocken Garten, in den ein Großrestaurant mit 270 Plätzen im Inneren und 610 Plätzen im Freien zu integrieren war. Errichter und Betreiber ist derselbe Unternehmer, der mit dem Salm-Bräu bereits das andere Ende des Belvedere-Areals gastronomisch besetzt hat. Das „Stöckl im Park“ besteht aus einem Bestandsbau aus den 1920er-Jahren, der in eine Kleinbrauerei verwandelt wurde, und einem Neubau für das Restaurant. Die Architektur gehorcht hier der einfachen Formel, ein Maximum an Restaurantplätzen in jenem Maximum an Kubatur herzustellen, das widmungsgemäß an diesem Ort zulässig ist. Dass dieses Projekt in dieser Form realisiert werden konnte, ist ein Multiorganversagen, nicht zuletzt der öffentlichen Hand, aber auch der Eigentümer des Gartens. An diesem Standort hätte bei entsprechender Koordination und Planung ein einzigartiger gastronomischer Ort entstehen können. Jetzt müssen wir uns mit einem Lokal zufriedengeben, das in einem der schönsten Gärten Wiens den Charme einer Autobahnraststätte verströmt.

Der Flakturm im Esterházypark war – mit fünf weiteren ähnlichen Türmen – Teil eines NS-Festungssystems und seit Kriegsende eines der eindringlichsten Mahnmale gegen den faschistischen Terror in Wien. Obwohl mehrfach für das „Haus des Meeres“ adaptiert, das den Turm seit Jahrzehnten nutzt, blieb die Wirkung bisher erhalten. Erst seit der jüngsten Sanierung nach Plänen der Pumar-Architekten ist es damit vorbei. Ein monströser, mit Glas und Metallpaneelen verkleideter Körper schiebt sich so massiv vor den Bestand, dass man glauben könnte, der Flakturm hätte sich in Luft aufgelöst, wären da nicht die runden Plattformen, die der Faschingsmaske der neuen Glasfassade als Ohren dienen. So viel unfreiwilligen Humor bei einem Haus sehen zu müssen tut weh, mehr noch, wenn es sich mit 570.000 Besuchern jährlich um eine der großen Attraktionen Wiens handelt.

Die drei angesprochenen Projekte haben eine auffällige Gemeinsamkeit. Sie überfordern sich massiv, indem sie versuchen, eigentlich unlösbare Aufgaben zu bewältigen. Würde man das „Haus des Meeres“ neu denken, wäre ein Flakturm wohl kaum der Standort erster Wahl. In diesem Korsett immer weiter zu expandieren musste schließlich zu einem Monster führen. Das „Stöckl im Park“ hätte einen neuen Bebauungsplan und die Einsicht gebraucht, dass dieser Ort für ein permanentes Oktoberfest nicht geeignet ist. Und bei der Wotrubakirche bleibt zumindest die Frage im Raum, ob Aufwand und Ergebnis noch in einem angemessenen Verhältnis zueinanderstehen.

Nach der Pandemie wird die Architektur gefordert sein, Probleme aus größerer Distanz zu betrachten und nach radikalen Alternativen zu suchen, statt viel zu rasch vor Sachzwängen einzuknicken. Wenn meine Vermutung stimmt, dass die diskutierten Beispiele für eine neue Normalität stehen, ist die Architektur darauf nicht gut vorbereitet. Sie ist mehr und mehr geprägt von marktgängiger Routine, der es nicht an Formen oder an Technologie fehlt, aber sehr wohl an architektonischen Gedanken, die anschlussfähig in die Vergangenheit und in die Zukunft sind. Es passt gut ins Bild, dass der österreichische Kunstsenat Laurids und Manfred Ortner als Preisträger des heurigen Großen Österreichischen Staatspreises für künstlerische Leistungen gekürt hat. So viele Verdienste sie sich vor 50 Jahren als Haus-Rucker-Company erworben haben, stehen Ortner & Ortner inzwischen für erfolgsträchtigen Pragmatismus. Der Preis sei ihnen gegönnt. Vorbilder, Leitbilder für morgen sehen heute anders aus.

Spectrum, Di., 2020.04.14

13. März 2020Christian Kühn
Spectrum

Drei Höfe zum Heilen

Ein Krankenhaus ist ein besonderer Ort, an dem Menschen in Ausnahmesituationen aufeinandertreffen. Genauso speziell ist auch die Errichtung eines Spitals, da es bestimmte Bedingungen erfüllen muss. Ein gelungenes Beispiel: das Landesklinikum Thermenregion Mödling.

Ein Krankenhaus ist ein besonderer Ort, an dem Menschen in Ausnahmesituationen aufeinandertreffen. Genauso speziell ist auch die Errichtung eines Spitals, da es bestimmte Bedingungen erfüllen muss. Ein gelungenes Beispiel: das Landesklinikum Thermenregion Mödling.

Der Entwurf von Krankenhäusern ist die Königsdisziplin der Architektur; zumindest treffen bei keiner anderen Bauaufgabe derart unterschiedliche Herausforderungen zusammen. Ein modernes Krankenhaus ist technisch anspruchsvoll wie ein Hightech-Industriebau; es muss den Komfort eines gehobenen Hotels mit Gastronomie und entsprechender Logistik bieten; und es ist ein atmosphärisch besonderer Ort, an dem Menschen in Ausnahmesituationen zusammentreffen – kurzzeitiger Lebensraum für Patienten und dauerhafter Arbeitsplatz für Spezialisten, vom Pflegepersonal über die Ärzte bis zu den Haustechnikern, deren gutes Zusammenspiel im Ernstfall über Leben und Tod entscheidet.

Das Krankenhaus in Mödling ist ein mittelgroßes Haus mit 351 Betten in 150 Zimmern, realisiert um Errichtungskosten von 158 Millionen Euro. Zum Vergleich: Die Klinik Floridsdorf in Wien – ehemals Krankenhaus Nord – bietet etwas mehr als doppelt so viele Betten, ist aber mindestens achtmal so teuer. Mit dem Krankenhaus Nord hat das Krankenhaus Mödling nicht nur einen Namenswechsel zum Schickeren gemeinsam – es heißt heute Landesklinikum Thermenregion Mödling –, sondern auch ein ähnliches Geburtsjahr: Der Wettbewerb für das Landesklinikum wurde 2007 entschieden, jener für die Klinik Floridsdorf im Jahr 2008. Beide gingen vergangenes Jahr, also nach rund zwölf Jahren Bauzeit, in Betrieb.

Die Ursachen für die lange Bauzeit könnten aber nicht unterschiedlicher sein. Bei der Klinik Floridsdorf liegen sie in der gefürchteten Grauzone zwischen Inkompetenz und Korruption, die auch für die Kostenüberschreitung verantwortlich war. In Mödling ergab sich die Bauzeit aus der Tatsache, dass es sich zwar um einen kompletten Neubau handelt, dieser aber auf dem Areal des bestehenden Krankenhauses errichtet wurde, das während des Baus in Betrieb bleiben musste. Der Bau entstand daher in mehreren Etappen, zwischen denen bestehende Bauteile abgebrochen wurden – eine logistisch enorme Herausforderung an die Planer wie das Team des Hauses.

Dass dieses Haus heute dasteht wie aus einem Guss, ist auf das klare funktionelle und gestalterische Konzept seiner Architekten zurückzuführen. Hier war ein Team am Werk, das schon früher im Krankenhausbau zusammengearbeitet hatte. Paul Katzberger und Mike Loudon errichteten 2001 mit dem Medizinzentrum Anichstraße in Innsbruck einen richtungsweisenden Krankenhausbau, einen großen städtischen Block mit einem teilweise überdachten, teilweise begrünten Innenhof, der mit einem „Stadtfenster“ aufwartet, einer über zwei Geschoße reichenden Öffnung des Hofs zur umgebenden Altstadt von Innsbruck. Ein ähnlich hoher Anspruch vom Städtebau bis zum Detail ist charakteristisch für die Projekte der beiden Architekten, zu denen in Mödling Josef Habeler und Anton Kirchweger als Partner im Büro Loudon hinzukamen. Die örtliche Bauaufsicht erfolgte durch die Arge Moser/Pfeil. Das Konzept für das Krankenhaus Mödling nimmt den Innsbrucker Hoftyp auf und addiert ihn zu einem Ensemble dreier Hofhäuser, die in den Obergeschoßen über kurze Brücken verbunden sind. Das Projekt hat sich seit dem Wettbewerb 2007 deutlich weiterentwickelt. Waren damals drei identische vierstöckige Hofhäuser mit einem verbindenden, in die Fläche greifenden Sockelgeschoß geplant, so reduzierte sich die Anlage im ausgeführten Projekt auf drei leicht differenzierte Hofhäuser und eine eingeschoßige, großzügig belichtete Verbindungshalle. Die Halle hat einen angenehmen Maßstab und bietet vom Empfang aus direkten Blick auf die drei Liftgruppen, die zu den Stationen führen. Die Liftgruppen wirken in der Eingangshalle im Erdgeschoß wie frei stehende Körper; in den Obergeschoßen nehmen sie dagegen einen für den Typus des Hofhauses ungewöhnlichen Ort ein, nämlich die Ecke. So etwas wie einen Erschließungskern aus Liften und Treppe kann es in diesem Konzept nicht geben, denn der läge mittig im Haus. Stattdessen erlaubt es die Ecklage, die Lifte und eine einläufige Treppe als großzügige, natürlich belichtete Vorzone zu den Stationen mit Blick ins Freie auszubilden.

Diese Stationen sind konventionell angelegt. Auffällig sind etwas breitere Korridore als üblich und viel Holz an den Oberflächen. Die Stützpunkte der Stationen sind als frei stehende Pulte ausgeführt. Im größten der drei Blocks, bei dem diese Stützpunkte in einer Dunkelzone liegen würden, sichern zwei kleine begrünte Lichthöfe den Kontakt zur Außenwelt. Alle Patientenzimmer haben Blick in die Umgebung. Zum Hof hin liegen Nebenräume und Aufenthaltsräume für Personal und gehfähige Patienten. Der Blick in den Hof ist aber alles andere als langweilig, wenn man etwas genauer hinsieht. Die Architektur von Paul Katzberger und Mike Loudon ist eine Architektur der leisen Töne, eine „fade“ Architektur, wobei „fade“ in dem Sinn zu verstehen ist, wie es François Jullien in seinem Buch „Über das Fade – eine Eloge“ in Bezug auf Denken und Ästhetik in China beschrieben hat: das „Fade“ als der Moment, in dem noch fast alles möglich ist, einen letzten, minimalen Schritt entfernt vom intensiven Ausdruck, der in diesen Moment des „Faden“ zurückleuchtet. Dieser Haltung verdankt sich unter anderem die Materialwahl der Außenfassade, eine Kombination aus Klinkerziegeln und Kunststeinelementen. Letztere sind wie Notenlinien über die Fassade gezogen, über denen die minimal unterschiedlich gebrannten Ziegel ihre Melodie spielen. Diese ruhige, aber alles andere als eintönige Ziegeloberfläche findet sich auch an wichtigen Punkten im Innenraum, zum Beispiel als Ummauerung der Lifte. Für den Einsatz eines derart porösen und daher haptisch ansprechenden Materials im Krankenhaus war ein zeitgemäßes Hygienekonzept Voraussetzung.

In jedem der drei Hofhäuser ist ein Raum pro Geschoß für die Haustechnik bestimmt, die einen Schacht im Ausmaß eines Doppelzimmers in Beschlag nimmt. Dieses Krankenhaus ist auch eine gigantische Maschine, für deren Wartung fünf Haustechniker nötig sind. Sie füllt die Kellergeschoße aus, von wo sich Kilometer an Leitungen mit zigtausenden Ventilen nach oben verzweigen – technische Blutgefäße und Luftröhren in wunderbar klaren, gut proportionierten Baukörpern.

Spectrum, Fr., 2020.03.13



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Landesklinikum Mödling

14. Februar 2020Christian Kühn
Spectrum

Vernunft über dem Eselsweg

Die geglückte Sanierung eines Bürohauses aus den 1970er-Jahren in Wien-Landstraße. Wie eine architektonische Bruchlandung zur Bereicherung der gründerzeitlichen Stadt wurde.

Die geglückte Sanierung eines Bürohauses aus den 1970er-Jahren in Wien-Landstraße. Wie eine architektonische Bruchlandung zur Bereicherung der gründerzeitlichen Stadt wurde.

Der Esel, behauptete Le Corbusier, hat alle Städte des Kontinents gezeichnet. „In den Landstrichen, die sich nur nach und nach bevölkerten, zottelte der Karren hin und her, wie es Erdbuckel und Löcher, Steine oder Sumpf geboten. Ein Bach war ein gewaltiges Hindernis. So sind Wege und Straßen entstanden. An den Kreuzungen der Straßen errichtete man die ersten Häuser entlang dem Wege des Esels.“ Le Corbusier meinte das nicht als Kompliment. Seine Idealvorstellung von Stadt war die gerasterte Stadt des Ingenieurs, auf Stützen schwebend, vom Terrain losgelöst und einer rationalen Ordnung folgend.

An kaum einem anderen Ort in Wien treffen diese zwei Prinzipien so hart aufeinander wie im dritten Wiener Gemeindebezirk im Bereich nördlich des Rochusmarkts zwischen Rasumofskygasse und Kundmanngasse. Im Zentrum des Areals liegt das Palais Rasumofsky, dessen Garten im frühen 19. Jahrhundert bis zum Donaukanal reichte, der damals noch Flusslandschaft mit unscharfen Konturen war. Die Landstraßer Hauptstraße, die Erdbergstraße und die Rasumofskygasse sind typische, gekurvt dem Geländeverlauf folgende „Eselswege“.

Als der Garten des Palais Rasumofsky im 19. Jahrhundert verkauft wurde, kamen die Ingenieure zum Zug. Sie zogen einen Blockraster über das Areal, der Richtung Donau mit Zinshäusern gefüllt wurde. Da eine Straßenbahn quer durch das Gelände zur Rotundenbrücke geführt werden musste, schnitten die Ingenieure die Kundmanngasse ins Gelände ein und trennten damit einen Teil des Rasumofskygartens ab, der wie eine kleine Insel im Stadtgefüge zurückblieb. Es war dieses Grundstück, das Ludwig Wittgenstein seiner Schwester Margarethe als Standort für den Bau einer Villa empfahl. Er hatte es Anfang der 1920er-Jahre entdeckt, als er seine Ausbildung zum Volksschullehrer machte. Aus den Fenstern der Lehrerbildungsanstalt in der Kundmanngasse hatte man Einblick in das mit großen Bäumen dicht bepflanzte Grundstück. Es war ein unmöglicher Platz für eine Millionärsvilla, umgeben von proletarischen Zinshäusern, 200 Meter vom Industriegebiet an der Donau entfernt. Gerade das dürfte Wittgenstein und seine Schwester gereizt haben.

Ab 1925 plante Ludwig Wittgenstein mit dem Architekten Paul Engelmann das berühmte Haus, das die Schwester 1928 bezog. Ihr Sohn verkaufte es 1971 an einen Bauunternehmer, der eine Widmung des Areals für zwei Hochhäuser anstrebte, denen das Haus Wittgenstein zum Opfer fallen sollte. Nach heftigen Protesten wurde die Villa unter Denkmalschutz gestellt. Die prachtvollen Bäume des Gartens waren zu diesem Zeitpunkt aber schon gefällt, und gegen das Hochhaus neben der Villa half kein Denkmalschutz. Dieses Haus, in das 1978 der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungen einzog, war ein spätes und besonders missratenes Kind jenes Rationalismus, den Le Corbusier in den 1920er-Jahren gefordert hatte. Es bestand aus einer 14 Geschoße hohen Scheibe mit einem geknickten Dachaufbau, an die quer eine kleinere Scheibe andockte, die als Unterkunft für Seminarteilnehmer diente. Städtebaulich war diese Kombination fatal, da sie weder das Hochhaus zur Wirkung kommen ließ noch den Straßenraum brauchbar strukturierte. Die Ignoranz gegenüber der Umgebung gipfelte in einer Fassade aus braun eloxiertem Aluminium und ins Orange changierenden Spiegelfenstern. Dass dieses Haus eine Runderneuerung brauchte, war klar. Der Hauptverband – inzwischen Dachverband der Sozialversicherungsträger – baute für das Sanierungsprojekt seine Bauherrnkompetenz aus, indem er ein kleines Team unter der Leitung eines in der Projektentwicklung erfahrenen Architekten anstellte, das 2015 einen Architekturwettbewerb ausrichtete und das Projekt bis zur Eröffnung begleitete. Zu den Vorgaben im Wettbewerb gehörten die Erhaltung der Büroscheibe, das Abtragen des Quertrakts und die Errichtung eines neuen Seminarzentrums mit Restaurant und starker Orientierung zum öffentlichen Raum.

Das siegreiche Projektteam, die Pariser Architekten Chaix & Morel et Associés und ihr Wiener Partner Christian Anton Pichler, verwandelte den braunen Koloss in ein strahlend weißes Haus mit hinterlüfteter Doppelfassade. Der geknickte Dachaufbau wurde durch ein Staffelgeschoß ersetzt und die gläserne Außenhülle über das Volumen hinausgeführt, um der Scheibe eine bessere Proportion zu geben. Im Inneren entstanden anstelle der Zellenbüros offenere Räume, die durch die niedrigen, auf Sitzhöhe angeordneten Parapete großzügiger wirken. Die deutlichste Veränderung zum Bestand erfuhr das Haus im Sockelbereich. Die untersten vier Geschoße, in denen das Seminarzentrum untergebracht ist, sind als transparenter Bereich Richtung Haus Wittgenstein konzipiert. Dessen Dimension wird zum Maßstab für eine locker gesetzte Gruppe von zwei- bis dreigeschoßigen Quadern, die einen öffentlichen Vorbereich schaffen. Im größten Quader, der nach der Erdbergstraße ausgerichtet ist, liegen im Obergeschoß drei große Vortragssäle und im Erdgeschoß die Mensa des Hauses. Wo früher ein wilder und grüner, aber nicht öffentlich zugänglicher Garten lag, befindet sich nun ein harter Platz mit großen Pflanzkreisen und Bäumen, die noch ein paar Jahre brauchen werden, bis sie Schatten spenden. Kunstwerke von Peter Kogler, Michael Kienzer und Esther Stocker sind auf diesem Platz und in den umliegenden Räumen geschickt zueinander in Beziehung gesetzt.

Von Ludwig Wittgenstein ist eine Bemerkung erhalten, mit der sich dieses Projekt gut charakterisieren lässt: „Erinnere Dich an den Eindruck guter Architektur, dass sie einen Gedanken ausdrückt. Man möchte auch ihr mit einer Geste folgen.“ Chaix & Morel et Associés und ihr Wiener Partner reagieren mit ihrer eigenen Geste auf den Entwurfsgedanken des Hauses Wittgenstein – indem sie ihn gerade nicht kopieren: Sie setzen auf Tiefe und Vielschichtigkeit der Oberfläche, auf die Auflösung der Volumina, und sie tun das mit der gleichen Meisterschaft, mit der Wittgenstein und Engelmann bei ihrem Haus das genaue Gegenteil anstrebten: dichte Oberflächen, klare Volumetrie. In diesen Dialog passt die neu gestaltete Hochhausscheibe als Vermittlerin. Sie vereint klare Geometrie mit einer mehrschichtigen Hülle, deren Bild je nach Lichtstimmung changiert. Auch rationale Architektur kann magisch wirken.

Spectrum, Fr., 2020.02.14



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UNH2.0 Generalsanierung und Zubau

21. Januar 2020Christian Kühn
Spectrum

Zurück gibt es keines: das Regierungsprogramm und die Architektur

Ein neues Jahrzehnt, eine neue EU-Kommission, eine neue Regierung. Wie kann die Vision einer Architektur aussehen, die dieser neuen Ära angemessen ist? Und kommt jetzt der radikale Umbau, den nicht nur die Fridays-for-Future-Generation erwartet?

Ein neues Jahrzehnt, eine neue EU-Kommission, eine neue Regierung. Wie kann die Vision einer Architektur aussehen, die dieser neuen Ära angemessen ist? Und kommt jetzt der radikale Umbau, den nicht nur die Fridays-for-Future-Generation erwartet?

Manche Jahrhunderte brauchen etwas länger. Der Historiker Eric Hobsbawm sprach vom langen 19. Jahrhundert, das von 1789 bis 1914 gedauert hätte, eine Verkettung von Ereignissen von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg. Auch das 20. Jahrhundert scheint ein langes gewesen zu sein, eines, das seine Problemlagen und Ideologien noch weit ins 21. Jahrhundert hineintragen konnte. Obwohl die Grenzen des Wachstums schon in den frühen 1970er-Jahren Thema waren, hat die Welt weitergelebt, als gäbe es diese Grenzen nur in der Theorie.

Im Moment verdichten sich die Anzeichen, dass wir wirklich in einem neuen Jahrhundert angekommen sind: Die Klimakatastrophe ist kein abstraktes Szenario mehr, sondern harte Realität. Selbst wenn die Erderwärmung für die australischen Flächenbrände nur Brandbeschleuniger und nicht Ursache war, werden sich die Bilder eines brennenden Kontinents als Auftakt eines neuen Zeitalters ins kollektive Gedächtnis einprägen. Sie suggerieren eine Dringlichkeit, die alle Lebensbereiche erfasst. Architektur, Städtebau und Raumplanung sind dabei gleich mehrfach betroffen. Sie sind wesentliche Mitverursacher der Erderwärmung: Beim Bauen kommen Materialien zum Einsatz, die mit hohem Energieaufwand hergestellt werden. Häuser müssen geheizt und – immer öfter – gekühlt werden. Ihre Haltbarkeit ist begrenzt, und statt recycelt zu werden, landet Bauschutt zum überwiegenden Teil auf der Deponie. Auch der Verkehr ist ein indirekter Effekt von Stadt- und Raumplanung. Je disperser die Siedlungsräume, desto größer die Abhängigkeit vom Individualverkehr.

Die neue Regierung verdankt ihre Existenz zu einem guten Teil den Folgen dieser Entwicklung. Ihre Ankündigung, ab 2030 Strom ausschließlich aus erneuerbaren Quellen zu erzeugen und Österreich bereits im Jahr 2040 „klimaneutral“ zu machen, zehn Jahre früher als die EU in ihrem „Green Deal“, ist nur mit radikalen Maßnahmen umzusetzen. Um diese Versprechen einzulösen, müsste die Regierung – zugespitzt formuliert – fünf Jahre lang konsequent an ihrer Nicht-Wiederwahl arbeiten und dabei Fakten schaffen, die nicht mehr reversibel sind. Es ist daher kein Wunder, dass das Regierungsprogramm bei den Maßnahmen unschärfer ist als bei den Zielen. Was das Programm als „Phase-out-Plan für fossile Energieträger in der Raumwärme“ beschreibt, läuft auf den stufenweisen Verzicht auf Öl- und Gasheizsysteme hinaus, der spätestens 2035 abgeschlossen sein soll. Für den ländlichen Raum soll ein „weitgehend stündliches Angebot“ an Mobilitätsservices geschaffen werden, das klassische ÖV-Komponenten mit Sammeltaxis und Sharing-Plattformen verbindet.

Ein weiteres raumbezogenes Kernthema sind die Biodiversität und ihre Bedrohung durch immer stärkere Bodenversiegelung. Im Kapitel Umwelt- und Naturschutz findet sich ein Abschnitt über „Zukunftsfähige Raumordnung“, der einen Zielpfad zur Reduktion des Flächenverbrauchs auf 2,5 Hektar pro Tag bis 2030 inkludiert, ein Viertel des aktuellen. Erreicht werden soll das durch eine aktive Bodenpolitik und Stärkung der Ortszentren, wie sie die Österreichische Raumordnungskonferenz seit Jahren empfiehlt, sowie durch eine generelle Förderung der Baukultur, entsprechend den Baukulturellen Leitlinien des Bundes und den Empfehlungen des dritten österreichischen Baukulturreports.

Dort, wo die öffentliche Hand als Bauherrin auftritt, soll sie Vorbildwirkung entfalten: Die Regierung verspricht im Neubau verpflichtende PV-Anlagen und einen „Niedrigstenergiestandard“, dazu eine Sanierungsrate von drei Prozent und verbindliche Leitlinien für ökologisch vorbildhafte Sanierung. Für den Bereich des Bildungsbaus soll ein neuer Schulentwicklungsplan in Abstimmung mit Ländern und Gemeinden entstehen, unter Berücksichtigung pädagogischer und ökologischer Ziele. Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern soll generell auf die Erreichung der Klimaziele hin orientiert werden, etwa in der Wohnbauförderung. Dazu heißt es im Abschnitt zum Thema Wohnen: „Vergabe von Wohnbaufördermitteln nur noch unter der Voraussetzung, dass umweltschonend gebaut wird“. Nachverdichtung soll Vorrang vor dem Neubau auf der „grünen Wiese“ erhalten, eine neue Wohnraumpolitik Wohnraum leistbarer machen, die Bildung von Eigentum erleichtern und Mieten günstiger gestalten, wofür eine umfassende Reform des Wohnrechts versprochen wird. Dass ein leistbarer genossenschaftlicher Mietwohnungsbau und nicht die private Eigentumsbildung der Kern des erfolgreichen österreichischen Modells der Wohnbauförderung ist, sollte bei dieser Reform nicht vergessen werden.

So richtig es ist, die Politik des nächsten Jahrzehnts konsequent auf Entkarbonisierung auszurichten, so wenig lassen sich Architektur und Städtebau auf ihren Beitrag zur Reduktion des CO2-Ausstoßes in die Atmosphäre reduzieren. Als künstlerische Disziplinen müssen sie auf eine neue Ära auch formal reagieren und nach räumlichen Antworten auf die Fragen der Zeit suchen. Jedes Bau- oder Planungsprojekt stellt implizit die Frage nach dem „guten Leben in einer gerechten Gesellschaft“. Diese Frage ist heute besonders brisant, weil die Mechanismen des Klimawandels unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit herausfordern. Wenn man die Verantwortung für die Klimakatastrophe an der Gesamtmenge CO2 misst, die seit Beginn der industriellen Revolution vor 250 Jahren in einer Region durch Verbrennung in die Atmosphäre gelangt ist, und diese Menge auf die heute dort lebenden Menschen aufteilt, zeigt sich ein beschämendes Bild: Hätte ein Bewohner Äthiopiens ein „Kilogramm Verantwortung“ zu tragen, kämen auf einen Inder 23, auf einen Chinesen 95, auf einen Österreicher 400 und auf einen Bewohner der USA 816 Kilogramm (ourworldindata.org). „Climate Justice. Now“ lautet folgerichtig der Slogan der Fridays-for-Future-Bewegung.

Wie kann die Vision einer Architektur aussehen, die dieser neuen Ära angemessen ist? Sie wird den Charakter des Vorläufigen, Suspendierten haben müssen, geplant von Menschen, die gelernt haben, die Präzision von Raumfahrtingenieuren mit der Geduld von Gärtnern zu kombinieren. Mit den angekündigten radikalen Schritten bewegt sich die EU bezüglich „Climate Justice“ zumindest in richtige Richtung. Dabei geht es nicht einfach um Vorbildwirkung. Es geht um die moralische Legitimation für die nächsten Schritte: Schaffung eines „Climate Club“, wie ihn der Nobelpreisträger William D. Nordhaus vorgeschlagen hat, der den gesamten Handel mit Volkswirtschaften, die sich keine oder weniger ambitionierte Klimaschutzziele setzen, moderaten Zöllen unterwirft. Nach den vielen „letzten“ Chancen, die scheinbar ungestraft verpasst wurden, könnte mit solchen Lösungen eine geregelte Transformation gelingen. Das Alternativszenario wäre eine Welt, in der die wichtigsten Gebäude Mauern, Bunker und Festungen sind.

Spectrum, Di., 2020.01.21

21. Dezember 2019Christian Kühn
Spectrum

Der Impuls macht die Figur

Das neue Schulzentrum in Neustift im Stubaital ist ein Raumwunder – und beweist, dass Architektur am besten im Wettbewerb gedeiht. Über ein nicht nur in Tirol bedrohtes Erfolgsmodell.

Das neue Schulzentrum in Neustift im Stubaital ist ein Raumwunder – und beweist, dass Architektur am besten im Wettbewerb gedeiht. Über ein nicht nur in Tirol bedrohtes Erfolgsmodell.

Wie entsteht gute Architektur? Das Grundrezept ist einfach: Man nehme einen guten Bauherrn, der weiß, was er will, und in der Lage ist, dieses Wollen in ein Programm zu übersetzen. Für dieses Programm lässt man in einem anonymen Architekturwettbewerb Projekte entwickeln, aus denen eine gute Jury das beste auswählt. Damit die gebaute Wirklichkeit dem Wettbewerbsprojekt entspricht oder dieses sogar übertrifft, empfiehlt es sich, die Architekten als Generalplaner zu installieren und ihnen damit die künstlerische und technische Verantwortung für das Projekt zu übertragen. Dieses Rezept hat sich in Österreich seit vielen Jahrzehnten bewährt. Es ist keine Garantie für den Erfolg, aber es ist das geeignetste, weil es die Beteiligten an der richtigen Stelle fordert: Vom Bauherren verlangt es eine ehrliche Auseinandersetzung mit seinen Bedürfnissen und seinen finanziellen Mitteln. Von den Architekten verlangt es, im Wettbewerb ihr Bestes zu geben. Als Generalplaner schließlich sind die Architekten Anwälte des Bauherrn, die Termine und Kosten durch sinnvolle Eingriffe ins Projekt, also ohne Qualitätsverlust, unter Kontrolle halten.

Das neue Schulzentrum in Neustift im Tiroler Stubaital ist ein Beleg für die Qualität dieses Rezepts. Die Gemeinde Neustift ist ein Hotspot des Tourismus mit knapp 5000 Einwohnern – und über einer Million Nächtigungen pro Jahr. Das Schulzentrum besteht aus mehreren Institutionen: der üblichen Kombination von Volksschule, Mittelschule und Polytechnischer Schule, ergänzt um eine Ski-Mittelschule mit angeschlossenem Internat. Ein ausreichend großes Grundstück, um die diversen Institutionen an einem Standort zu verbinden, fand sich am Rande des Ortsteils Kampl, 12.000 Quadratmeter in Hanglage, auf denen die gleich große Geschoßfläche unterzubringen war.

In der ersten Stufe des Wettbewerbsverfahrens wählte die Jury aus 96 Bewerbern 32 Teilnehmer für die zweite, anonyme Stufe aus. Die Kriterien für die Auswahl sind bemerkenswert: Verlangt waren ein Kurztext zum Thema „Schule von morgen“ sowie Darstellungen von zwei Referenzprojekten, die nach den Kriterien „maßstäbliches und landschaftsbezogenes Bauen“, „innenräumliche Qualität“ und „Eignung der Referenzprojekte für die Aufgabenstellung des Wettbewerbs“ beurteilt wurden. Mit dieser Formulierung waren auch Bewerber, die noch keine Schule gebaut hatten, zur Teilnahme zugelassen. Das Siegerprojekt von Fasch & Fuchs Architekten ragte aus dem Bewerberfeld so weit heraus, dass die Jury keinen zweiten, sondern nur zwei dritte Preise vergab. Diese Drittgereihten waren durchaus respektable Entwürfe, die allerdings mit einem Aspekt der Aufgabe nicht zurechtkamen: dem „maßstäblichen und landschaftsbezogenen Bauen“. Denn jeder Versuch, das geforderte Volumen in einzelnen Baukörpern auf das knappe Grundstück zu platzieren, führt an diesem Ort zu einem Maßstabssprung, der den Dialog mit der Landschaft und der bestehenden Bebauung unmöglich macht. Fasch & Fuchs wählten dagegen einen radikal anderen Weg: Sie überbauen das gesamte Grundstück mit einer eingeschoßigen Struktur mit eingeschnittenen Höfen und nur zwei größeren Baukörpern ganz an den Enden des Grundstücks, der schwebenden Box der Volksschule oben an der Hauptstraße und dem Internatsgebäude am unteren Ende, wo es als kleiner Turm selbstbewusst in der Landschaft steht. Verbunden wird das alles durch eine innere Straße, eine Art Rückgrat der Anlage, das der Falllinie des Hangs folgt und die Niveaus mit Rampen und Treppen verbindet.

Die Schule ist ein Raumwunder mit vielen einprägsamen Orten: einer Außentreppe, die vor der Volksschule breit beginnt und über die Dächer nach unten führt; offenen Lernzonen, die an der richtigen Stelle noch eine Extraportion Licht von oben erhalten; einer zentrale Halle im Internatsturm, die den Bewohnern hilft, Gemeinschaft zu bilden; und vielen Orten mehr. Basis für das alles ist ein raffiniertes geometrisches Konzept: streng parallele Baukörper, die durch einen seitlichen, aus dem Grundstückszuschnitt abgeleiteten Impuls gegeneinander verschoben werden. Diese Verschiebung nimmt dem Grundriss alles Schematische und lässt das Haus mit seinen begrünten Dächern und Höfen tatsächlich wie ein Stück Natur wirken.

Das Projekt wurde im Zeitplan und zu den geplanten Baukosten von 24,6 Millionen Euro errichtet. Zufriedenheit auf allen Seiten: Die Nutzer lieben das Haus; das Land Tirol, dessen Abteilungen für Dorferneuerung und für Hochbau das Projekt begleitet haben, kann ein neues Vorzeigeprojekt vorweisen. Hätte man sich in einem Direktauftrag an eine so radikale Lösung gewagt? Wohl kaum. Erst der Wettbewerb mit seinem Vergleich zu anderen Lösungen, evaluiert von einer Fachjury, gab dem Bürgermeister die nötige Sicherheit. Dass es derzeit ausgerechnet in Tirol Tendenzen gibt, dieses Erfolgsmodell zu desavouieren, ist bedauerlich. Der Unternehmer Klaus Ortner, größter Aktionär der Baufirma Porr und Miteigentümer des Gemeinde-Beraters Communalp, lässt sich in der „Tiroler Tageszeitung“ mit der Aussage zitieren: „Dem Totalunternehmer von der Planung bis zur Ausführung gehört die Zukunft.“ Berater wie die Communalp bieten zu hohen Kosten das an, was das Land in Neustift als Amtshilfe geleistet hat. Wenn Gemeinden sich einreden lassen, nicht einmal zur Programmentwicklung für ein Gemeindezentrum fähig zu sein, sind sie leichte Beute für Totalunternehmer.

In Innsbruck hat das Land mit den Vorgängen um das Management Center Innsbruck (MCI) eine rote Linie überschritten. Um das von einer Fachjury gekürte Wettbewerbsergebnis abzuschießen und als Totalunternehmerverfahren neu ausschreiben zu können, erweckte der zuständige Landesrat Johannes Tratter den Eindruck, im letzten Moment bei einer Kostenexplosion auf knapp 130 Millionen Euro die Notbremse ziehen zu müssen. Dass jetzt bei der Neuausschreibung trotz reduzierter Fläche immer noch ein Preisrahmen von 130 Millionen Euro genannt wird, beweist, dass die Explosion nicht am Entwurf gelegen haben kann. Dass Privatunternehmer ihren Einfluss auf den Markt ausdehnen wollen, mag man nachvollziehen können. Die Politiker fast aller Couleurs, die bei dem Spiel mitgemacht haben, werden sich in ein paar Jahren aber eine Frage gefallen lassen müssen: Wart ihr nur inkompetent oder auch korrupt?

Spectrum, Sa., 2019.12.21

23. November 2019Christian Kühn
Spectrum

Gemeindebau neu: Wie viel weniger ist mehr?

Das sollte der 2015 angekündigte „Gemeindebau neu“ jedenfalls sein. Und wo bleibt die Qualität? Jetzt ist das erste Projekt fertig, und es überzeugt: Zumindest in diesem Fall hat man am richtigen Platz gespart.

Das sollte der 2015 angekündigte „Gemeindebau neu“ jedenfalls sein. Und wo bleibt die Qualität? Jetzt ist das erste Projekt fertig, und es überzeugt: Zumindest in diesem Fall hat man am richtigen Platz gespart.

Selten hat ein Wohnbau in den vergangenen Jahren so viel gute Presse gehabt wie dieser. Das liegt nicht an der Architektur, zumindest nicht in erster Linie, sondern daran, dass er der erste neu errichtete Gemeindebau der Stadt Wien seit 15 Jahren ist. 2004 hatte die Stadt beschlossen, zusätzlichen geförderten Wohnbau nur noch über Genossenschaften zu errichten. Am Status der 220.000 bestehenden Wiener Gemeindewohnungen, in denen 500.000 Menschen leben, änderte das nichts. Mit Bruttomieten von durchschnittlich 6,28 Euro pro Quadratmeter liegen sie preislich deutlich unter den Mieten im privaten Sektor und helfen damit, die Preissteigerung zu dämpfen.

Der Gemeindebau wurde durch die Entscheidung des Jahres 2004 zwar nicht abgeschafft, aber zu einem historischen Modell erklärt, zu einem wichtigen, aber etwas verstaubten Symbol des „Roten Wien“. Tatsächlich kann man sich Projekte wie die Umnutzung der Gasometer in Simmering kaum als Gemeindebauten vorstellen, genauso wenig die autofreien oder gendergerechten „Themensiedlungen“ – nicht weil sie im Gemeindebau keinen Platz gehabt hätten, sondern weil der Gemeindebau stets dem utilitaristischen Prinzip des „größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl“ gefolgt war und so eher dem Durchschnittlichen als dem Besonderen zuneigte.

Die Verlagerung der Wohnbautätigkeit zu den gemeinnützigen Bauträgern erlaubte es der Stadt auch, mehr Konkurrenz zwischen diesen herzustellen. Seit 1995 gibt es Bauträgerwettbewerbe, bei denen Genossenschaften gemeinsam mit Architekten Projekte einreichen. Da die Baukosten im geförderten Wohnbau gedeckelt sind, geht es in diesen Wettbewerben vor allem um Qualität. Unabhängige Jurys bewerten die Einreichungen nach den Kriterien Architektur, Ökonomie, Ökologie sowie soziale Nachhaltigkeit. Vorgeschaltet sind diesen Wettbewerben meist städtebauliche Ideenwettbewerbe, wobei die Teilnehmer an Letzteren oft als sogenannte „Fixstarter“ zu den nachfolgenden Projektwettbewerben eingeladen werden. Der Begriff ist irreführend: „Fixstarter“ dürfen nicht nur teilnehmen, sondern haben bereits den Auftrag zugesichert, ganz gleich, wie gut oder schlecht das Projekt ist, das sie in dieser Phase abliefern.

In den vergangenen Jahren wurden kaum mehr städtebauliche Ideenwettbewerbe, sondern sogenannte „kooperative“ oder „dialogorientierte“ Verfahren zur Schaffung von städtebaulichen Leitprojekten eingesetzt. Diese Verfahren behaupten, durch Dialog zwischen den Beteiligten Qualität zu fördern, führen aber oft zu Kompromissen und zu schwachen Lösungen, für die am Ende niemand verantwortlich sein will. Insgesamt hat sich das System des geförderten, genossenschaftlichen Wohnbaus in Wien in den vergangenen 25 Jahren aber kontinuierlich entwickelt und eine hohe Qualität erzielt. Dass diese Qualität Seiteneffekte hat, ist aber klar. Der geförderte Wohnbau ist heute eine Mittelstandsförderung: Die Obergrenze des Jahreseinkommens für eine Anspruchsberechtigung liegt für Einzelpersonen bei 46.450 Euro, bei einem Zweipersonenhaushalt bei 69.200. Mit diesen Einkommen kann man sich auch in guten Lagen den bei gemeinnützigen Bauträgern geforderten Eigenmittelanteil und Monatsmieten leisten, die spürbar über denen in den 220.000 Gemeindewohnungen liegen. Gleichzeitig steigt die Nachfrage am unteren Ende der Einkommensskala, nicht zuletzt, weil das Angebot an sehr günstigen Substandardwohnungen durch Sanierung zurückgeht. Die Antwort der Stadt war vorerst das „Smart Wohnen“-Modell, das günstigere Mieten durch Reduktion der Fläche pro Wohnung erreichen sollte. Es war daher eine Überraschung, als der damalige Bürgermeister Michael Häupl im Jahr 2015 den „Gemeindebau neu“ ankündigte. War damit eine Rückkehr zum Massenwohnbau der 1950er- bis 1970er-Jahre gemeint, der standardisierte Typengrundrisse übereinandergestapelt hatte?

Der erste fertiggestellte „Gemeindebau neu“ in der Fontanastraße, in alter Gemeindebautradition Barbara-Prammer-Hof genannt, weist in eine andere Richtung. Sein Entwurf ist Ergebnis eines zweistufigen Architekturwettbewerbs, in dem dieselben Kriterien galten wie im geförderten Wohnbau, also Architektur, Ökonomie, Ökologie und soziale Nachhaltigkeit, allerdings gebunden an Errichtungskosten von 1850 Euro pro Quadratmeter Wohnnutzfläche und unter Wegfall des Eigenmittelbeitrags, der im geförderten Wohnbau von den Nutzern verlangt wird. Das Resultat beweist, dass das möglich ist, aber zeigt auch, wo Abstriche gemacht werden müssen.

Die in einem dialogischen Verfahren ermittelte städtebauliche Vorgabe bestand darin, drei unterschiedlich hohe Baukörper auf einem Sockel zu platzieren. Der Entwurf aus dem Büro NMPB, verantwortet vom „B“ dieses Akronyms, Sascha Bradic, deutet diese Vorgabe um. Er stellt einen massiven Block auf seinen Bauplatz und nimmt dann wie ein Bildhauer Masse weg. Durch dieses umgekehrte Verfahren – Subtraktion statt Addition – entstehen drei unterschiedliche, schön proportionierte Innenhöfe und Terrassen, die gemeinsam das Herz der Anlage bilden. Die Wohnungen sind kompakt und gut nutzbar, verfügen über Balkon oder Loggia und bieten eine Vielfalt von Typen, fünf Maisonetten eingeschlossen. Das Haus hat eine repräsentative Eingangshalle mit tanzenden Säulen, die nicht nur den Kindern gefallen. Die Zugänge zu den Wohnungen sind großzügig, Lufträume verbinden die Geschoße und bringen Licht von oben. (Unter dem aktuellen Regime des Brandschutzes in Wien braucht es dafür einen besonderen Kampfgeist; an der Vorgabe, die Lufträume im Brandfall alle zwei Geschoße horizontal abzuschotten, hätten die meisten Planer resigniert.)

Und wo sind die Abstriche? Mehr als Stahlbeton, in Wärmedämmung verpackt, ist konstruktiv zu diesem Preis nicht zu haben; Sanitärbereiche und Küchen sind minimalistisch ausgestattet; die Balkone und Loggien entwässern über kleine Wasserspeier, die sich in der Fassade wichtigmachen, und die Details der Geländer sind mit „schlicht“ nur unzureichend beschrieben. Zumindest bei den Fenstern aus Holz und Aluminium wurde nicht gespart. Trotzdem: Für dieses Segment des geförderten Wohnbaus ist hier eine hervorragende Lösung entstanden, an der sich der „Gemeindebau neu“ zu messen haben wird.

Spectrum, Sa., 2019.11.23



verknüpfte Bauwerke
Barbara-Prammer-Hof

26. Oktober 2019Christian Kühn
Spectrum

Salzburg: Wasserwelt auf hohem Niveau

Zum Preis einer Kinokarte baden wie ein König: ein scheinbar sehr leichtes und luftiges Haus, dem man den technischen Aufwand nicht ansieht – das neu erbaute Paracelsusbad in der Salzburger Innenstadt.

Zum Preis einer Kinokarte baden wie ein König: ein scheinbar sehr leichtes und luftiges Haus, dem man den technischen Aufwand nicht ansieht – das neu erbaute Paracelsusbad in der Salzburger Innenstadt.

Einen schöneren Ort für ein Schwimmbad in der Stadt kann es kaum geben. Am nördlichen Rand des Salzburger Mirabellgartens gelegen, bietet er auf Straßenniveau die Nachbarschaft wunderbarer alter Bäume und von der Dachebene aus einen spektakulären Blick auf die umliegenden Kirchtürme und auf die Salzburger Festung. Im Jahr 1956 entstand hier das Paracelsusbad, eine nüchterne Konstruktion aus Stahlbetonrahmen, die den Park über große Glasflächen in die Schwimmhalle einbezog. Neben dem Sport bot das Paracelsusbad als Kurhaus zahlreiche medizinische Behandlungen, unter anderem mit Heilschlamm.

Dass dieses Haus atmosphärisch und technisch nicht mehr den heutigen Anforderungen genügte, war offensichtlich. Ob ein Neubau am selben Standort oder besser außerhalb des Zentrums errichtet werden sollte, blieb lange umstritten. Eine Übersiedlung an die Peripherie wurde diskutiert, aber letztlich beschloss die Stadtregierung unter Bürgermeister Heinz Schaden im Jahr 2010, am innerstädtischen Bauplatz festzuhalten.

Im Architekturwettbewerb, der 2012 ausgeschrieben wurde, entschied sich die Jury für ein Projekt von HMGB Architekten aus Berlin, das eine spektakuläre Glashalle zum Park vorsah, in der die Wasserbecken auf gegeneinander versetzten Ebenen schweben sollten. Dass dieses Projekt nicht leicht zu realisieren sein würde, war von Anfang an klar. Das Juryprotokoll vermerkte, dass es sich beim Projekt um „eine gute Grundlage für eine erfolgreiche Weiterentwicklung“ handle, die „noch intensiv zu leisten“ sei. Die folgenden Empfehlungen erstrecken sich über mehrere Seiten mit technischen Details.

Zwei Jahre später war klar, dass das Projekt nicht realisierbar war, zumindest nicht zu den geplanten Kosten. Nun kam das zweitgereihte Projekt der Wiener Architekten Alfred Berger und Tiina Parkkinen zum Zug. Berger und Parkkinen haben bei Timo Penttilä an der Wiener Akademie der bildenden Künste studiert und wurden kurz nach ihrer Bürogründung 1995 mit dem Botschaftskomplex für die nordischen Botschaften in Berlin bekannt, deren Witz in einer elegant gekurvten Wand aus Kupferlamellen besteht, hinter der eng stehende Baukörper eine kleine Stadt formen, in der sich die Botschaften der einzelnen Länder ihre Vertretungen einrichten konnten.

Die Kurven, die Berger und Parkkinen dort verwenden, sind in der Geschichte der modernen Architektur mit Architekten wie Alvar Aalto, Jørn Utzon oder Viljo Revell assoziiert. Dass im neuen Paracelsusbad eine ähnlich elegante Kurve das Erscheinungsbild bestimmt, hat daher weniger mit der Idee einer Wasserbewegung zu tun als vielmehr mit einem bestimmten ästhetischen Umfeld, das man als „nordisch“ bezeichnen darf, ohne gleich in ein Klischee zu kippen. Die Architekten streiten diese Beziehung gar nicht ab, ergänzen sie aber um eine Referenz, die aus einer ganz anderen Richtung kommt, nämlich den Arbeiten des baskischen Bildhauers Eduardo Chillida. Das ins Räumliche übertragene Verhältnis von Figur und Grund ist eines der Kernthemen in dessen Werk. Zu seinen schönsten Arbeiten gehören Alabasterskulpturen, die mit ihren tiefen Raumeinschnitten an Architekturmodelle erinnern. Berger und Parkkinen behandeln ihren Baukörper ähnlich wie Chillida seine Skulpturen, wobei sie zwei wesentliche Schnitte setzen: einerseits einen horizontalen, der aus dem geschlossenen Block die Schwimmhalle mit ihrer gekurvten Decke schneidet, anderseits einen vertikalen, der schräg vom Eingang aus durch das ganze Gebäude ins Licht führt. In diesem Vertikalraum liegt eine Erschließungstreppe, die den Besucher nach oben führt, zuerst in ein Behandlungsgeschoß mit vielen kleinen Räumen an der Fassade und einer großzügigen Innenzone mit Warteräumen, und dann weiter nach oben zu den Garderoben und zur Schwimmhalle mit ihren Ruheplätzen.

Die gekurvte Decke dieser Halle erreicht ihren höchsten Punkt über dem Sprungturm, wo ein kreisförmiges Oberlicht nochmals Licht ins Zentrum des 35 mal 65 Meter tiefen Baukörpers bringt. Die Halle bietet einen wunderbaren Blick in alle Richtungen über die Stadt und den Mirabellgarten und ist in mehrere, durch Glastüren akustisch getrennte Bereiche gegliedert: Das Sportbecken und das Sprungbecken bilden gemeinsam mit einem Kleinkinderbecken die „laute“ Zone, an die ein „ruhiger“ Bereich mit einer Wasserlandschaft anschließt. Im obersten Geschoß befindet sich ein Saunabereich mit verschiedenen Angeboten und einer Terrasse mit Außenbecken.

Die Decke der Schwimmhalle besteht aus zahlreichen kastenförmigen Elementen aus weiß beschichtetem Aluminiumblech, in deren Unterseite dünne Keramikplatten integriert sind. Ähnliche Elemente kommen auch an der Fassade zum Einsatz, dort allerdings in massiverer Ausführung in Form von handglasierten Keramikkörpern; ein weiteres Motiv, das oft mit der finnischen Architektur der Moderne assoziiert wird. Diese Elemente umhüllen den Baukörper wie ein schützendes Kleid, wobei eine leichte Verdrehung der Elemente zueinander die Oberfläche lebendig wirken lässt: Auch Weiß kennte viele Nuancen.

Was für den normalen Besucher im Verborgenen bleibt, ist die Haustechnik, die über ein Drittel der Gesamtfläche des Projekts einnimmt. Ein Blick hinter die Kulissen zeigt eine kleine Fabrik zur Luft- und Wasseraufbereitung, die den höchsten aktuellen Standards genügt. Ein solches Ausmaß an Technik lässt sich architektonisch nur beherrschen, wenn es von Anfang an mitgedacht wird. Berger und Parkkinen hatten bereits in ihrem Wettbewerbsprojekt ausreichend Raum dafür vorgesehen, und so gelang ihnen danach als verantwortlichen Generalplanern das Kunststück, ein scheinbar sehr leichtes und luftiges Haus zu entwerfen, dem man den technischen Aufwand nicht ansieht. Dass im obersten Geschoß an einigen Stellen die Träger der mächtigen Stahlkonstruktion deutlich präsent sind, hat etwas sympathisch Surrealistisches.

Was hat sich Salzburg dieses Haus kosten lassen? Die Errichtungskosten inklusive Planung, aber ohne Mehrwertsteuer lagen bei 59 Millionen Euro. Eine Vierstundenkarte für den Besuch des Bades kostet sieben Euro, eine Tageskarte neun. Zum Preis einer Kinokarte baden wie ein König: Was gibt es Besseres, als Steuergeld in die Schönheit der Stadt und das Wohlbefinden ihrer Bewohner zu investieren.

Spectrum, Sa., 2019.10.26



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Paracelsus Bad & Kurhaus

28. September 2019Christian Kühn
Spectrum

Slogan und Substanz

Fünf frei stehende „Stadtvillen“, die Twist zu tanzen scheinen. Und ein lang gestreckter Baukörper, dessen Fassade als Skulptur beeindruckt, statt Wohnlichkeit freilich derzeit nur Bewohnbarkeit signalisiert. Florasdorf: Nachrichten aus Wiens Transdanubien.

Fünf frei stehende „Stadtvillen“, die Twist zu tanzen scheinen. Und ein lang gestreckter Baukörper, dessen Fassade als Skulptur beeindruckt, statt Wohnlichkeit freilich derzeit nur Bewohnbarkeit signalisiert. Florasdorf: Nachrichten aus Wiens Transdanubien.

Am Anfang war die Eisenbahn. Dort, wo heute die Nordbrücke die Donau quert, befand sich einst eine Trasse, die zum Bahnhof Jedlesee führte. Die Einstellung dieser Bahnlinie hinterließ eine Stadtbrache, einen dreieckigen Zwickel zwischen dem Autobahnzubringer zur Nordbrücke und der Prager Straße, der von beiden Verkehrsträgern intensiv beschallt wird.

Wenn die Stadt wächst und der Boden knapp wird, verwandeln sich auch solche Lagen in wertvolles Bauland. Eigentümer waren die ÖBB, die – wie es heute üblich ist – ihrer Stadtbrache einen klingenden Namen gaben: „Florasdorf – Stadt trifft Dorf“ lautete der Slogan, der mit dem Namen des Bezirks Floridsdorf spielte. Weil an diesem Ort aber so gar nichts „dörflich“ war, ergänzte man die Assoziationskette um die Begriffe „Anger“ und „Generationenwohnen“.

Der Bauträgerwettbewerb, der 2014 für das Areal ausgeschrieben wurde, baute auf diesen Ideen und einem städtebaulichen Konzept von Otto Häuselmayer auf. Vorgesehen war – als Schallschutz zur Autobahn – ein lang gestreckter, Nord-Süd gerichteter Baukörper, den einige Zeilenbauten im Westen zu einem aufgelockerten Superblock ergänzen sollten. Das Siegerprojekt im Bauträgerwettbewerb behielt den Nord-Süd gerichteten Baukörper bei, verdichtete das restliche Gebiet aber mit fünf frei stehenden „Stadtvillen“, die so angeordnet sind, dass sie einer zukünftigen Schließung des Superblocks Richtung Pragerstraße nicht im Weg stehen.

Diese Stadtvillen, geplant von Regina Freimüller-Söllinger, bieten gut brauchbare Wohnungen und großzügige Treppenhäuser mit viel Licht und Aufenthaltsqualität. Wenn Häuser tanzen könnten, wäre es hier der Twist: Einzelne Geschoße scheren aus dem rechten Winkel aus und drehen sich quasi aus der Fassade. Markant sind die holzverkleideten Loggien, von denen jeder Wohnung zumindest eine zugeordnet ist.

Der Entwurf für den lang gestreckten Baukörper stammt von Bernd Vlay und Lina Streeruwitz (StudioVlayStreeruwitz), die ihre Aufgabe vom Slogan der ÖBB her definierten: „Wie können wir innerstädtische Dichte an einem Ort zwischen Stadtautobahn und Einfahrtsstraße so entwerfen, dass der Slogan ,Stadt trifft Dorf‘ zur Substanz wird?“ Ihre Antwort besteht darin, den langen Riegel nicht als Stapelung identischer Geschoße zu entwickeln, sondern als Schichtung sehr unterschiedlicher Wohnformen. Im Erdgeschoß gibt es Kindergärten und andere Sozialeinrichtungen wie das Neunerhaus und den Verein GIN, in den beiden Stockwerken darüber kombinierbare Wohnungen für mehrere Generationen. In den Stockwerken drei bis fünf werden die Wohnungen durch einen Mittelgang erschlossen, der über Lichtschächte mit Tageslicht versorgt wird. Im Geschoß darüber wechselt das System: Hier gibt es ostseitig, also zur Autobahn hin, eine halböffentliche Ebene mit Gartenbeeten, die von den Architekten als „Anger“ bezeichnet wird.

Neben den Privatwohnungen liegen hier auch Wohngemeinschaften, die sich diesen Freiraum teilen. Die drei Ebenen darüber sind über Laubengänge erreichbar, von denen aus die Wohnungen mit Brücken erschlossen werden, die die Wohnfläche als vorgelagerte Terrassen erweitern. Aus der Kombination von Laubengängen und Erschließungsbrücken bilden sich dreigeschoßige Höfe, in die Pflanzen aus den Gartenbeeten emporranken.

Die gesamte Ostfassade interpretieren Vlay/Streeruwitz als vertikalen Garten, der quasi aus dem Umfeld nach oben geklappt wird. Dieses Umfeld war zu Planungsbeginn noch von einer dichten, wenn auch nicht hochwertigen Vegetation auf der Ostseite des Areals Richtung Autobahn geprägt, die die Architekten gern erhalten hätten. Die ausführende Baufirma entfernte aber nicht nur das Gebüsch, sondern auch die Bäume, was aus der Brache ein Brachland machte, das jetzt wieder aufgeforstet werden muss.

Dieser Verlust macht sich vor allem für die Bewohner bemerkbar, deren Wohnungen ostseitig liegen. Der Bebauungsplan hatte hier vorgesehen, dass sich keine Aufenthaltsräume in diese Richtung orientieren dürfen. Wenn man bedenkt, dass Verkehrsemissionen in den nächsten Jahren durch elektrische Antriebe drastisch zurückgehen werden und gute Häuser 100 und mehr Jahre überleben sollten, ist diese Vorgabe zumindest fragwürdig. Die Architekten entwickelten daher eine Fassade, die den Bebauungsplan sehr elastisch interpretiert: eine über zwei Meter tiefe Schichte aus Betonfertigteilen, die vor den ostseitigen Wohnungen so arrangiert sind, dass der direkte Blick auf die Autobahn weitgehend versperrt ist. Für die Maisonetten in den unteren Geschoßen entstehen dadurch abgeschirmte Höfe mit einer Terrasse auf dem unteren Niveau und kleinen Balkonen für die Schlafräume auf dem oberen.

Das Ergebnis dieser Anordnung ist eine leicht gekrümmte, sehr skulpturale Betonfassade, die wie ein Stück technische Infrastruktur aussieht. Ein horizontales, schmales Band aus Stahlblech, in dem sich Blumentröge befinden, markiert die Ebene des „Angers“. In den scheinbar darüber schwebenden massiven Betonquadern befinden sich Abstellräume für die Wohnungen der obersten Geschoße. Als Skulptur ist diese Fassade beeindruckend. Wohnlich ist sie bisher nicht, sondern bestenfalls „wohnbar“. Die Pflanztröge auf dem Anger sind aus Kostengründen mit Kies statt Erde gefüllt; hier wird nicht so bald etwas emporranken und das üppige Grün herzaubern, das sich auf den Zeichnungen der Architekten findet. Auch die Pflanzen in der Ostfassade haben den Sommer nicht gut überstanden. (Dass „Beton Brut“ in Kombination mit Farbe auch ohne Pflanzen lebendig wirkt, hätte man sich bei Le Corbusier abschauen können.) Immerhin konnten die Freiräume der Gesamtanlage nach einem Entwurf von Carla Lo ohne Abstriche realisiert werden, inklusive einem Glashaus, das der Verein GIN mit seinen Klienten bespielt. In der Aktivierung der Bewohner – nicht zuletzt beim Begrünen ihres Hauses – liegt der Schlüssel für den Erfolg des Projekts. Noch ein Jahr werden sie vom Büro Realitylab in dieser Hinsicht betreut. Dann bleibt zu hoffen, dass die Bewohner das Potenzial ihres Hauses erkannt haben und nutzen.

Eine erste Auszeichnung hat das Projekt kürzlich erhalten: Neben dem Gymnasium von Fasch & Fuchs in der Seestadt Aspern und dem Haus der Musik in Innsbruck von Strolz und Dietrich∣Untertrifaller ist es eines von drei österreichischen Projekten auf der Shortlist des renommierten Mies-van-der- Rohe-Preises.

Spectrum, Sa., 2019.09.28



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Florasdorf am Anger

31. August 2019Christian Kühn
Spectrum

Der Traum vom Grün

Muss Architektur zum Pflegeberuf werden, um den Planeten aus der ökologischen Krise zu retten? Wenn Baukultur- und Umweltpolitik gut zusammenwirkten, könnten sie zumindest einen Beitrag leisten.

Muss Architektur zum Pflegeberuf werden, um den Planeten aus der ökologischen Krise zu retten? Wenn Baukultur- und Umweltpolitik gut zusammenwirkten, könnten sie zumindest einen Beitrag leisten.

Critical Care – Architektur für einen Planeten in der Krise: So nennt sich eine aktuelle, sehenswerte Ausstellung im Architekturzentrum Wien. Der Titel spielt mit der Vorstellung, dass sich die Welt auf der Intensivstation befindet und gepflegt werden muss. Im Untertitel des nur auf Englisch erhältlichen Katalogs klingt die Einschätzung noch drastischer: „Architecture and Urbanism for a Broken Planet“. Die von Angelika Fitz und Elke Krasny kuratierte Ausstellung will die Ursachen für die Krise aufdecken und findet sie unter anderem in der Architektur, die sich bisher viel zu sehr damit beschäftigt hätte, der Welt ihren Stempel aufzudrücken, statt pfleglich mit ihr umzugehen. Nach der Ausstellung „Care + Repair“ im Jahr 2017 ist die aktuelle Ausstellung der nächste Anlauf des AzW, den Sorgeaspekt der Architektur als ihr zentrales Thema festzustellen. Indem sie Architektur als Pflegeberuf deutet, verfolgt die Ausstellung auch eine feministische Agenda, die gezielt am Selbstverständnis der Disziplin rüttelt. Der Genie-Architekt, der sich – um seine Visionen realisieren zu können – den Kräften ausliefert, die über Macht und Geld verfügen, ist aus dieser Perspektive Teil des Problems und nicht der Lösung.

Diese Zuspitzung relativiert sich in den gezeigten Beispielen zwangsläufig: Nur zu pflegen und keinen Fußabdruck zu hinterlassen ist selbst für zurückhaltende Gestalter nur in Ausnahmefällen möglich. Der berühmte Wettbewerbsbeitrag des Architektenteams Lacaton Vassal aus dem Jahr 1996 für eine Platzgestaltung in Bordeaux, der sich mehr oder weniger darauf beschränkte, den Kies zu tauschen und den Platz öfter zu säubern, ist ein seltenes Extrembeispiel. In der Ausstellung ist ein aktuelles Projekt von Lacaton Vassal zu sehen, die Sanierung eines Wohnbaus aus den 1960er-Jahren mit 530 Wohnungen. Statt dieses „Betonmonster“ abzureißen, ersetzten die Architekten die Fassade und erweiterten das Gebäude um eine zusätzliche Schicht von Wintergärten, mit der sich die Nutzfläche bei gleichbleibender Miete verdoppelte. Durch ein raffiniertes Konstruktionssystem konnten die Bewohner während des Umbaus in ihren Wohnungen bleiben.

Bei aller Zurückhaltung ist dieses Haus ein ästhetisch anspruchsvolles Werk, so wie die meisten in der Ausstellung gezeigten Case Studies. Dass der Begriff des „Werks“ dabei weit gedehnt werden muss und auch städtebauliche Projekte und Strategien umfasst, ist offensichtlich. Die „Superblocks“ in Barcelona sind ein Beispiel dafür: Im Blockraster der Stadt werden mehrere Blöcke zusammengefasst und zu einer weitgehend autofreien Zone erklärt. Die Straßen im Inneren des Superblocks gehören den Fußgängern und werden für deren Zwecke gestaltet. Zwei solcher Zonen wurden bereits realisiert; für eine flächendeckende Einführung muss der Kfz-Verkehr in der Stadt um 21 Prozent gesenkt werden. Eine Gemeinsamkeit haben alle ausgestellten Projekte: Sie sind öffentlich finanziert und gemeinwohlorientiert. Dass in den nächsten, für den kranken Planeten kritischen Jahren ein Weltwirtschaftssystem entstehen wird, das kein privates Kapital mehr benötigt, darf man jedoch als illusorisch einstufen. Um im Rahmen des bestehenden Systems zu einer ökologischen Wende zu kommen, wird es viele, lokal angepasste Lösungen brauchen, die sich nicht auf die Haltung von „Care + Repair“ beschränken können: Wenn Millionen Menschen in Ballungsräumen zusammenleben sollen, braucht es entsprechende technische und soziale Infrastruktur. Paris, das seit 2001 von sozialistischen Bürgermeistern regiert wird, ist dafür eine interessante Case Study im großen Maßstab. Das 2010 ins Leben gerufene Projekt „Grand Paris“ mit einem Zeithorizont 2030 umfasst neue Forschungs- und Wirtschaftscluster im Großraum der Stadt, die mit sechs neuen U-Bahnlinien verbunden werden, und vor allem eine komplette Restrukturierung der Regionalverwaltung im Großraum Paris. Der multizentrische Planungsansatz hat dazu beigetragen, die Anzahl der neu gebauten Wohnungen 2017 im Großraum Paris von 40.000 auf über 80.000 zu verdoppeln.

Im Zentrum der Stadt ist eher „Care“ angesagt: Die großen Sternplätze wurden neu und fußgängerfreundlich gestaltet, zahlreiche neue Radwege angelegt, oft auf Kosten des Kfz-Verkehrs, dem dafür sogar einzelne Tunnelabschnitte entlang der Seine entzogen wurden. Seit 2014 läuft unter dem Titel „Reinventer Paris“ eine Folge von Bauträgerwettbewerben, bei denen öffentliche Grundstücke zur Entwicklung durch private Developer ausgeschrieben werden. Das spektakulärste Projekt mit dem Titel „Milles Arbres“ stammt von Sou Fujimoto und Manal Rachdi und soll noch vor den Olympischen Spielen 2024 realisiert werden. Als Konglomerat von Büros, Geschäften, Sozialeinrichtungen und Wohnungen schwebt es wie eine mit 1000 Bäumen begrünte Arche Noah über dem Boulevard Périphérique. In die bukolischen Häuschen auf der obersten Ebene werden wohl nur Millionäre einziehen, in den Etagen darunter sind auch Sozialwohnungen geplant. Ökologisch ist an diesem Projekt angesichts der Beton- und Stahlmengen, die hier zum Einsatz kommen, bestenfalls das Image. Im Gesamtkontext der Pariser Entwicklungsstrategie ist diese „Verschwendung“ aber vielleicht anders zu bewerten: als optimistisches Signal, das für andere, weniger übers Ziel schießende Ideen ansteckend wirkt.

In Österreich werden nach den kommenden Wahlen die Weichen für die zukünftige Baukulturpolitik gestellt. Deren Basis muss eine Vorstellung vom „guten Leben“ sein, die ökologische, soziale und ökonomische Aspekte umfasst und in entsprechende Strategien integriert. Am 3. September um 19 Uhr lädt die „Plattform für Baukulturpolitik“ ins Architekturzentrum Wien zu einer Podiumsdiskussion, bei der Vertreter aller Parteien ihre Positionen erläutern werden. Wer sorgt sich ums Große: die Ostregion, inklusive der Verbindung von Wien und Bratislava; das Rheintal; die Raumplanung als Bundessache? Das Mittlere: den „Westpark“ auf dem ÖBB-Gelände vom Westbahnhof bis Hütteldorf; Schulen, die Inklusion fördern; leistbares Wohnen; wirksame Architekturvermittlung? Das Kleine: das Grün im Grätzl; das Problem des außen liegenden Sonnenschutzes in einer gründerzeitlichen Stadt? Und wer hat Visionen für die gebaute Umwelt, die über das Begrünen von Wartehäuschen hinausgehen?

Spectrum, Sa., 2019.08.31

03. August 2019Christian Kühn
Spectrum

Drei Schiffe auf einem Hang

Ein Haus, wo Gesunde gesünder werden: Der Josefhof in Graz-Mariatrost steht für Entschleunigung und Achtsamkeit. Seine Architektur ist die perfekte Übersetzung dieser Ideen in die dritte Dimension.

Ein Haus, wo Gesunde gesünder werden: Der Josefhof in Graz-Mariatrost steht für Entschleunigung und Achtsamkeit. Seine Architektur ist die perfekte Übersetzung dieser Ideen in die dritte Dimension.

Zwölf Fußballfelder: So viel Boden wird in Österreich täglich der Kulturlandschaft entzogen, um Verkehrsflächen und Bauland zu schaffen. Aufs Jahr hochgerechnet, entspricht das einem Zehntel der Fläche Wiens. Die Österreicher sind Meister im Asphaltieren und Zersiedeln: Im Verhältnis zur Einwohnerzahl besitzt das Land das umfangreichste Straßennetz Europas, und knapp 80 Prozent aller Gebäude sind Einfamilienhäuser. Der grassierende Bodenfraß ist nicht nur ein ästhetisches, sondern ökologisches Problem, da unter diesen Bedingungen die Biodiversität leidet und Ökosysteme ihre Widerstandskraft verlieren. Wer heute ein großes Gebäude in die Landschaft stellt, darf sich daher auf Fragen nach seinem ökologischen Gewissen gefasst machen.

Das Zentrum für stationäre Gesundheitsförderung und Prävention, das Dietger Wissounig in Graz für die Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau geplant hat, bietet dafür einigen Anlass. Es ist ein sehr großes Gebäude in einer sehr schönen, freien Landschaft, von der man kaum annehmen würde, dass sie noch im Grazer Stadtgebiet liegt.

Die Versicherung betrieb hier unter dem Namen „Josefhof“ eine Gesundheitseinrichtung mit 71 Zimmern, die nicht mehr sanierbar war und abgebrochen wurde. Der Neubau mit 120 Zimmern besteht aus drei lang gestreckten parallelen Baukörpern, die sich in einen leicht nach Süden abfallenden Hang schmiegen. Teils scheinen sie über dem Boden zu schweben, an den Rändern verschwinden sie im Gelände. Das oberste Schiff ist das breiteste und enthält im Erdgeschoß die Eingangshalle, Speisesäle und die Verwaltung, im Obergeschoß an einem Mittelgang aufgereihte 50 Zimmer, die teilweise nach Süden hangabwärts orientiert sind, teilweise nach Norden zum Schöckl, dem Grazer Hausberg. Das mittlere und das untere Schiff sind schmaler, da sie je nur eine Reihe von südseitig orientierten Zimmern enthalten.

Die Schiffe liegen so im Gelände, dass sie jeweils um eineinhalb Geschoße versetzt angeordnet sind, wodurch sich vom oberen Geschoß aus ein freier Blick über das Dach des unteren ergibt. Ein entsprechend gestaffeltes Treppenhaus, annähernd in der Mittelachse der Anlage gelegen, verbindet diese Niveaus. Was dem Hang an Fläche entzogen wird, bekommt er auf den Dächern der Schiffe zurück: Auf den unteren beiden, die von oben einsehbar und daher als fünfte Fassade gestaltet sind, befindet sich eine üppige Bepflanzung, auf dem Dach des obersten Schiffs ein Rasendach.

Um seinen ökologischen Fußabdruck zu reduzieren, ist das Haus zu einem überwiegenden Teil in Holz konstruiert, in einem Modulsystem der Firma Kaufmann Bausysteme, bei dem selbsttragende Boxen aus Brettsperrholz im Werk gefertigt und an der Baustelle montiert werden. Bis auf den Fernseher und die Vorhänge sind diese stapelbaren Einheiten inklusive der Sanitärbereiche fertig installiert. Serielle Fertigung kann leicht dazu führen, dass die Ergebnisse schematisch und barackenartig aussehen. Der „Josefhof“ ist der Beweis, dass es auch anders geht. Das liegt einerseits daran, dass nicht die gesamte Konstruktion aus präfabrizierten Boxen besteht. Die erdberührenden Bauteile im Hang sind aus Stahlbeton, was größere Stützweiten und unterschiedliche Raumhöhen erlaubt, wie sie für Gymnastik- und Speisesäle benötigt werden. Am spannendsten werden die Räume, wenn sich Konstruktionssysteme überlagern, etwa dort, wo das große Schwimmbecken im untersten Geschoß von einem raumhohen Träger überspannt wird, der die Hotelboxen trägt, aber zugleich ein Oberlicht ermöglicht, durch das Licht von oben auf das Becken fällt. Ein besonders raffiniertes Detail mit einem eigenen Rhythmus sind die Balkonbrüstungen, die aus horizontalen Aluminium-Lamellen gebildet werden und die Beschattung übernehmen: Ihre Breite verhindert direkte Sonneneinstrahlung im Sommer und erlaubt sie im Winter. Auf eine Klimatisierung der Zimmer konnte so verzichtet werden. Allerdings brauchen die Lamellen, um als Absturzsicherung zugelassen zu werden, eine Ergänzung: Damit Kinder die Brüstungen nicht mit einer Leiter zum Hochklettern verwechseln, sind diese zusätzlich mit Glasplatten abgedeckt – was zu einem weiteren Detail führt, einem Mechanismus, mit dem die Gläser zur Reinigung heruntergeklappt werden können. Auch das gehört zu guter Architektur.

Ein wichtiges Gestaltungselement der Anlage sind fünf Atrien, die an strategischen Punkten in die Baukörper geschnitten sind. Diese Atrien dienen nicht zum Aufenthalt von Nutzern. Sie sind als kleine Landschaftsausschnitte angelegt, mit dichter Bepflanzung auf einem Miniaturhügel in der Mitte. Ihre Aufgabe ist es, gewissermaßen als Akkumulatoren von Achtsamkeit, die umliegenden Räume atmosphärisch zu beruhigen. Das mag seltsam klingen, passt aber sehr gut zur Aufgabe, der sich diese Gesundheitseinrichtung verschrieben hat. Hierher kommt man nämlich nicht, wenn man krank ist, sondern aus Gründen der Prophylaxe. Es geht um „stationäre Gesundheitsförderung“, bei der Versicherte eine Woche lang lernen, gesünder zu leben, vom Essen über die Bewegung bis zur Rauchentwöhnung. Deshalb gibt es hinter dem Speisesaal eine Lehrküche, in der die Gäste in die Welt abseits von Stelze und Schnitzel eingeführt werden. Die Gäste gehören zum größten Teil zur Altersgruppe jenseits der 50, wobei es eigene Angebote für die Zeit unmittelbar nach der Pensionierung gibt sowie für Pensionisten zwischen 65 und 75 Jahren. Die Kosten übernimmt die Versicherung, berufstätige Gäste müssen für die Zeit im „Josefhof“ ihren Urlaub konsumieren.

Die Atmosphäre des Hauses passt perfekt zu den Themen Entschleunigung und Achtsamkeit, die hier vermittelt werden sollen. Die Architektur der Moderne hatte einen ihrer Ursprünge in ähnlichen Ideen, man denke an Josef Hoffmanns Sanatorium Purkersdorf, dessen reduzierte Ornamentik sich als Psychotherapie verstand, oder an die kalifornischen „Case Study Houses“. Diesen Geist mithilfe der Versicherungen für Eisenbahnen und Bergbau in die Gegenwart zu tragen ist keine geringe Leistung.

In einem Punkt ist der Anlage eine Nachbesserung aber dringend anzuraten. Der Pkw-Parkplatz, der auf dem ebenen Areal des abgebrochenen Altbaus angelegt wurde, ist ein einziger Affront gegen den Geist des Hauses. Gelände wäre genug da, ihn unter ein grünes Dach zu verlagern.

Spectrum, Sa., 2019.08.03



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Gesundheitseinrichtung Josefhof

06. Juli 2019Christian Kühn
Spectrum

Stadt aus freien Stücken

Das Sonnwendviertel Ost ist das eigentliche Vermächtnis der Ära Vassilakou/Chorherr in der Wiener Stadtplanung. Ein Besuch in einem Viertel mit vielen Gesichtern: Bobo-Town? Stadt der Zukunft? Oder beides?

Das Sonnwendviertel Ost ist das eigentliche Vermächtnis der Ära Vassilakou/Chorherr in der Wiener Stadtplanung. Ein Besuch in einem Viertel mit vielen Gesichtern: Bobo-Town? Stadt der Zukunft? Oder beides?

Das Sonnwendviertel ist der jüngste Stadtteil von Favoriten, dem zehnten Wiener Gemeindebezirk, und verdankt sein Entstehen dem neuen Hauptbahnhof. Mit dem Beschluss zu dessen Errichtung im Jahr 2003 war klar: Aus einer Barriere zwischen dem dritten, vierten und zehnten Bezirk werden 50 Hektar Bauland in Bestlage.

Nun schlug die Stunde der Stadtplanung. Eine Stadt zu planen ist an sich ganz einfach. Wer die Schemata von Block, Zeile und Turm zu variieren weiß, kann nicht falschliegen, solange er darauf achtet, dass die Straßen so breit sind, dass es keine Staus gibt, und genug Fläche für Parkplätze zur Verfügung steht. Der ursprüngliche Masterplan für das Quartier aus dem Jahr 2004 hielt sich an diese ewigen Prinzipien und sah im unmittelbaren Umfeld des Bahnhofs Hochhäuser vor (Quartier Belvedere) und im Anschluss nach Süden eine Wohnbebauung mit Superblocks, die dem Raster der gründerzeitlichen Blockrandbebauung folgen (Sonnwendviertel West). Ein lang gestreckter, nach Helmut Zilk benannter Park begleitet diese Bebauung parallel zu der in Hochlage geführten Bahntrasse. Als Abschirmung zur Bahn war eine rund 600 Meter lange Struktur mit zentralem Erschließungsboulevard vorgesehen (Sonnwendviertel Ost). Entlang dieses Boulevards sollte an beiden Seiten eine geschlossene Bebauung mit kammartigen Erweiterungen liegen, zum Park hin für Wohnungen und zur Bahn hin für Gewerbebetriebe.

Dieser Plan sah auf den ersten Blick schlüssig aus. Woher die Nachfrage nach so viel Gewerbefläche kommen sollte, konnte er aber nicht beantworten. Die ÖBB und die Stadt Wien beauftragten daher einen neuen Masterplan, der in einem „kooperativen Verfahren“ entwickelt wurde. Knapp 50 Architekturbüros bewarben sich mit einem Konzept um die Teilnahme; sechs wurden ausgewählt, um gemeinsam einen Plan für die Bebauung zu entwickeln. Ein Konsens war rasch erzielt: den Boulevard in eine verkehrsfreie Zone zu verwandeln und die Kfz-Erschließung an die Bahn zu verlegen. Für die Bebauung konnten sich die Teilnehmer aber auch nach drei Workshops nicht auf einen gemeinsamen Plan einigen, bis Max Rieder, einer der Teilnehmer, vorschlug, die sechs Konzepte zu überlagern. Das ergab einen mehrdeutigen Plan, in dessen Rahmen die beteiligten Büros Testplanungen für jeweils zwei Baufelder entwickelten.

Ein Städtebau nach dem Schema von Block, Scheibe und Turm entsteht so nicht. Im Unterschied zum alten Masterplan ist der neue weniger schematisch und gleicht städtebaulichen Strukturen, wie sie sonst in „gewachsenen“ Städten zu finden sind. Dieses Ergebnis verdankt sich aber keinem „malerischen“ Ansatz, bei dem die Stadt auf ein Bild hin komponiert wird, sondern einer Vorgehensweise, die ohne ein bestimmtes formales Ziel zwischen Kontrolle und Zufall vermittelt. Eine andere Form liefert allerdings noch keinen neuen Inhalt. Städtisches Leben braucht Dichte, Diversität und Theatralik, und diese Mischung stellt sich nur ein, wenn an einem Ort nicht bloß gewohnt, sondern auch gearbeitet und Handel betrieben wird. In „normalen“ Neubaugebieten gelingt es so gut wie nie, die Erdgeschoßzonen zu beleben und eine gesunde Mischung von Wohnen und Arbeiten herzustellen. In diesem Fall setzten die Projektentwickler an dem Punkt an, der diese Frage entscheidet: nämlich beim Verkauf der Grundstücke. Sie legten unterschiedliche „Verwertungstypen“ fest: Baufelder für Bauträgerwettbewerbe; Baufelder für „Quartiershäuser“, in denen sich Interessenten mit einem Konzept für die Mischung von Wohnen und Arbeiten bewerben mussten; Baufelder für Baugruppenprojekte; und schließlich Baufelder, die ausschließlich über den Preis vergeben wurden.

Eine der Besonderheiten ist die Vorgabe einer sehr geringen Miete von vier Euro netto pro Quadratmeter im Erdgeschoß für öffentliche und kommerzielle Nutzungen, die den Projektwerbern über einen geringeren Grundpreis abgegolten wird. Wesentlich für das Projekt ist auch das Mobilitätskonzept. Ziel war einerseits, das Areal von motorisiertem Durchgangsverkehr freizuhalten, andererseits den ruhenden Verkehr nicht in Tiefgaragen unter den Wohnhäusern, sondern in Hochgaragen unterzubringen. Das ist unbequem, aber wirksam: Der öffentliche Raum wird belebt, wenn die Bewohner nicht direkt aus der Garage mit dem Lift in ihre Wohnung gelangen; und wenn der Weg zum Auto gleich lang ist wie der zum öffentlichen Verkehrsmittel, bleibt das Auto öfter in der Garage. Für den Transport von Waren von der Hochgarage in die Wohnungen sieht das Mobilitätskonzept ein Angebot von Transporthilfen vor, die wie Einkaufswägen im Supermarkt geliehen werden können. Diese planerische Bevormundung wird nicht jedem gefallen. Dass Verhaltensänderungen nötig sind, wissen wir; durch marktwirtschaftliche Selbststeuerung werden sie offensichtlich nicht gelingen. (Auch im Sonnwendviertel Ost hat rund ein Drittel der Bauflächen noch eine eigene Tiefgarage, im Sonnwendviertel West gilt das für alle Flächen.)

Etwa die Hälfte des neuen Stadtteils ist bis auf Feinarbeiten im öffentlichen Raum bereits fertiggestellt. Wie immer bei städtebaulichen Projekten wird es Jahre dauern, bis man beurteilen kann, ob das Konzept aufgegangen ist. Eine vorläufige Bilanz fällt jedenfalls gut aus. Die Quartiershäuser sind errichtet, und auch wenn sich die versprochenen Nutzungsmischungen nicht immer eingestellt haben, ist der Anteil an Nutzungen jenseits des Wohnens signifikant größer als in anderen Neubaugebieten. Die Bloch-Bauer-Promenade (wie der zentrale Boulevard jetzt heißt) wird tatsächlich als Fußgängerzone ausgewiesen und nicht, wie es die Verkehrsplaner der Stadt Wien vorgeschlagen haben, als Wohnstraße. Eine Bürgerinitiative hat gerade mit 1500 Unterschriften durchgesetzt, unbequemer leben zu dürfen. (In einer Fußgängerzone herrscht außerhalb eines Zeitfensters striktes Fahrverbot, in einer Wohnstraße darf auch zwischendurch Dringendes mit dem Pkw angeliefert werden.)

Wer sich für die Details der Stadtentwicklung und die einzelnen realisierten Projekte interessiert, dem sei das Buch „Ein Stück Stadt bauen“ empfohlen, das Robert Temel gerade für die Stadt Wien und die ÖBB herausbrachte. Das Buch enthält neben einer Beschreibung der Ziele und Verfahren Kurzdarstellungen der Einzelprojekte und mehrere aufschlussreiche Interviews.

Das Sonnwendviertel Ost ist das eigentliche Vermächtnis der Ära Vassilakou/Chorherr in der Wiener Stadtplanung. Es ist keine „Themenstadt“, wie sie die Stadt Wien so oft (für Frauen, Fahrradfahrer) errichtet hat. Hier geht es ums Ganze, mit allen Widersprüchen – dem Wunsch nach Dorf in der Stadt versus das Bewusstsein, dass man in der Großstadt seine Nachbarn nicht unbedingt lieben muss. Architektonisch steht diese Stadt in ihrer formalen Mischung für den Übergang von der Big Band zum Free Jazz: klingt zuerst furchtbar, aber am Ende passt es doch.

Spectrum, Sa., 2019.07.06

08. Juni 2019Christian Kühn
Spectrum

Vom Gefängnishof zum öffentlichen Raum

Zeitgleich errichtet mit Otto Wagners Postsparkasse, aber mehr als eine architektonische Epoche hinterher: Das Salzburger Justizzentrum, 2018 von Grund auf erneuert durch das Büro Franz & Sue.

Zeitgleich errichtet mit Otto Wagners Postsparkasse, aber mehr als eine architektonische Epoche hinterher: Das Salzburger Justizzentrum, 2018 von Grund auf erneuert durch das Büro Franz & Sue.

Der Bautyp des Justizpalastes stammt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstanden damals in ganz Europa Monumentalbauten für den Gerichtsbetrieb, die es mit Adelspalästen aufnehmen konnten und sie oft übertrafen. Beispiele finden sich in Rom und München, Bukarest und Straßburg, Lausanne und Wien. Der Gigant unter ihnen ist der Justizpalast in Brüssel, ein ins Bizarre übersteigerter Tempel der Gerechtigkeit, der ironischerweise aus Einnahmen finanziert wurde, die aus der Ausbeutung des Kongo, eines der größten Verbrechen des Kolonialismus, stammten. Man kann die zahlreichen Justizpaläste dieser Zeit als Beschwörungen interpretieren: Wer der Rechtsprechung einen Palast baut, hofft offenbar, dass dort Weisheit und Wahrheit einziehen werden, um der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen.

Der stilistisch der Neorenaissance zuzurechnende Entwurf für den Wiener Justizpalast stammt von Alexander Wielemans von Monteforte, der in den 1860er-Jahren mit Otto Wagner an der Akademie der Bildenden Künste bei Sicardsburg und van der Nüll sowie bei Friedrich Schmidt studierte. Wielemans gewann den Wettbewerb für den Wiener Justizpalast 1874 im Alter von 32 Jahren und legte damit den Grundstein zu einer erfolgreichen Karriere als Architekt des Historismus. Zu seinen Werken zählen zahlreiche Kirchen und Kapellen, das Grazer Rathaus und zwei weitere Justizpaläste: in Olmütz und in Salzburg.

Der Salzburger Bau datiert aus dem 20. Jahrhundert. Er wurde 1903 begonnen, im selben Jahr wie Otto Wagners Postsparkasse, und es lohnt sich, die beiden Projekte zu vergleichen. Beide sind nach außen Monumentalbauten mit symmetrischen Repräsentationsfassaden, im Inneren aber auf maximale Effizienz ausgelegte Zweckbauten. Wagner gelingt es, diese Effizienz wie selbstverständlich in ein baukünstlerisches Konzept zu integrieren, das vom Gebäudelayout über die Konstruktion bis zu den Fassadendetails schlüssig ist. In Salzburg zerrinnt Wielemans der Entwurf zwischen den Fingern: eine barock geschwungene Fassade zur Salzach, eine Renaissancefassade seitlich zum Kajetanerplatz; von der Rückseite drängt sich der Berg ans Gebäude, das hier in eine 130 Meter lange, symmetrische Rückfront mit zurückspringendem Ehrenhof gezwungen wird. Im Grundriss zeigt sich ein eher konfuses Bild: Die Treppenhäuser sind aus den Eingangsachsen weggerückt, der Hof mit Einbauten für ein Gefängnis zerteilt. Von einer großen Eingangshalle wie im Wiener Justizpalast kann dieses Haus nicht einmal träumen: Man wüsste nicht, wo man sie im funktionellen Gewirr platzieren möchte.

Kritisiert wurde der Bau schon zu seiner Entstehungszeit, wenn auch aus den falschen Gründen: Er sei zu groß und zu monumental für diesen Ort. Das geht am Kern des Problems vorbei: Der Historismus war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage, die Forderungen seiner Zeit nach „peinlicher Erfüllung des Zwecks“, wie sie Otto Wagner postulierte, baukünstlerisch angemessen zu beantworten. Da konnte auch der Figurenschmuck an der Fassade – Allegorien der Weisheit, Wahrheit und Gerechtigkeit – nicht mehr viel helfen.

Die lange Einleitung zum Projekt, um das es hier geht – die Sanierung dieses Komplexes durch das Architekturbüro Franz & Sue –, hat einen Grund: Wer heute das Justizzentrum Salzburg besucht, findet ein gut organisiertes, von allen vier Seiten öffentlich durchlässiges Gebäude vor, mit einer über alle Geschoße reichenden Eingangshalle, die eine perfekte Orientierung und direkte Wege zu den Verhandlungssälen erlaubt. Die Erschließung ist so geschickt entflochten, dass sogar ein öffentlich zugängliches Café auf dem Dachgeschoß Platz fand. Alles sieht unaufgeregt und fast selbstverständlich aus. Von der ehemaligen Misere ist nichts mehr zu spüren, ebenso wenig wie vom Hochseilakt, den die Sanierung dieses Bestandes bedeutete.

Voraussetzung dafür war die Entscheidung, das Gefängnis aus dem Komplex abzusiedeln und damit Platz für eine Neuordnung zu schaffen. Den dafür 2012 von der Bundesimmobiliengesellschaft europaweit offen ausgeschriebenen Architekturwettbewerb entschieden Franz & Sue für sich. Sie schlugen einen Abriss sämtlicher Einbauten im Hof vor, sowohl der jüngeren aus den 1980er-Jahren als auch der historischen des Wielemans'schen Projekts. Als neues Implantat im Hof entstand ein Y-förmiger Bauteil, der das Herz des Hauses wird und einen Großteil der Verhandlungssäle enthält, die über die zentrale Halle mit Oberlicht erreicht werden.

Dieser zentrale Zugang ließ sich realisieren, weil der bisher wegen des Gefängnisses für die Öffentlichkeit unzugängliche Innenhof zu einem öffentlichen Raum erklärt wurde, der von sieben Uhr früh bis abends geöffnet ist. Wo sich im Hof Quer- und Längsverbindung kreuzen, liegt der Eingang in die zentrale Halle. Das Y-förmige Gebäude ist teilweise als Brückenkonstruktion ausgebildet und überspannt eine breite, einladende Freitreppe, die Teil der Hofdurchwegung ist. Die hängende Konstruktion hilft, die Fassade dieses Bauteils sehr leicht und transparent zu halten: Alle Verhandlungssäle bieten über große Glasflächen Blick nach außen. In der Praxis hat sich diese Offenheit als zu weitgehend erwiesen. Auf Wunsch der Richter wurde sie zwar nicht völlig geschlossen, aber durch Rasterfolien reduziert.

Zum Projekt wird im Herbst bei Park Books eine Publikation erscheinen, die den Prozess von drei Jahren Planung und drei Jahren Bauzeit dokumentiert und auch Partner und Nutzer zu Wort kommen lässt. Franz & Sue haben mit diesem Projekt Allrounderqualitäten bewiesen, die sie bei vielen laufenden Projekten unter Beweis stellen: den Stationsgebäuden der U5 in Wien, zahlreichen Wohnbauten, Schulen und Universitätsgebäuden, zuletzt einem Wohnhochhaus in Wien am Nordbahnhof. Die Fusion der beiden kleinen Büros Franz und Sue in ein „kleines Großbüro“ vor zwei Jahren hat sich offenbar gelohnt. Ob ihnen im Erfolg Spielraum genug bleibt, bei der Gratwanderung zwischen „Banalität und intelligenter Einfachheit“ (so das Juryprotokoll zu einem ihrer Wettbewerbsgewinne) auf der richtigen Seite zu bleiben, wird sich zeigen.

Spectrum, Sa., 2019.06.08



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Justizgebäude Salzburg

11. Mai 2019Christian Kühn
Spectrum

Wie „ornamental“ darf eine Fassade sein?

Was eine gute Fassade alles kann: Sie dient dem Ausblick und der Belichtung, sie bereichert den Straßenraum und generiert gut nutzbare Freiräume für die Wohnungen – exemplarisch umgesetzt in einem Wohnbau in Wien Simmering.

Was eine gute Fassade alles kann: Sie dient dem Ausblick und der Belichtung, sie bereichert den Straßenraum und generiert gut nutzbare Freiräume für die Wohnungen – exemplarisch umgesetzt in einem Wohnbau in Wien Simmering.

Während der Funktionalist das Haus zum Werkzeug machen will, sieht es der Rationalist (was nur zunächst überrascht) mit gleicher Bestimmtheit als Spielzeug“. Dieses Zitat aus Adolf Behnes „Der moderne Zweckbau“ stammt aus dem Jahr 1923. Ausgerechnet den Begriff des Rationalismus mit dem Spiel in Verbindung zu bringen und ihn gegen eine Architektur, die sich auf das rein Nützliche beschränkt, in Stellung zu bringen, war ein raffinierter Schachzug. Spiele sind nicht nützlich im engeren Sinn, aber sie enthalten immer einen „vernünftigen“ Teil, Spielregeln, denen sich die Spieler freiwillig unterwerfen, die sie aber auch ändern und weiterentwickeln können.

Um ein gutes Gebäude zu realisieren, braucht es viele tausend Entscheidungen, von denen nur ein Teil funktionell oder technisch begründbar ist. Die anderen Entscheidungen müssen deshalb aber nicht willkürlich getroffen werden, sondern aufgrund von eigenen Regeln, mit denen sich Architektinnen und Architekten das Haus „zum Spielzeug machen“. Dass in der Anwendung der Regeln wie bei jedem guten Spiel auch Intuition und Zufall Platz haben, zeichnet diesen Rationalismus gegen die reine Zweckdienlichkeit aus.

Die Fassade ist ein wichtiger Austragungsort des Matches zwischen strenger Funktion und freiem Spiel. Funktionell dient sie dem Ausblick und der Belichtung. Strukturell ist sie entweder eine Massivwand mit Fensterlöchern wie in der klassischen Architektur oder eine vom Tragsystem entkoppelte vorgehängte Schicht aus Metall und Glas in der modernen. Die klassische Architektur hat rund um das Prinzip „Wand mit Löchern“ einen Kosmos an Zierelementen und Ornamentik erfunden, die den Straßenraum nach bestimmten Regeln „auskleiden“ und damit bereichern. Die Moderne hat in ihren städtebaulichen Prinzipien die Straße als Raum abgeschafft und durch eine Landschaft mit frei platzierten Baukörpern mit transparenten Fassaden ersetzt. Durchsichtig waren diese Fassaden allerdings nie: Mit „Transparenz“ ist in der Moderne eher eine „Vielschichtigkeit“ gemeint, die der Fassade Tiefe gibt.

Als die Postmoderne den Straßenraum wieder als urbanen Wohnraum entdeckte, der von Fassaden begrenzt wird, warf das neue Fragen auf, die bis heute gültig sind: Wie „ornamental“ darf eine Fassade sein? Wie transparent? Welche Nutzungen kann sie in den Schichten aufnehmen, mit denen sie das Innen vom Außen trennt?

Der neue, für den Bauträger EGW Heimstätte errichtete Wohnbau von Kinayeh und Markus Geiswinkler in der Braunhubergasse in Wien Simmering bietet klare Antworten auf diese Fragen. Seine Fassade bereichert den Straßenraum durch ein geometrisch-ornamentales Spiel im rationalistischen Sinne Adolf Behnes; sie bietet durch unterschiedliche Materialien eine fein abgestufte Transparenz; und sie macht aus der Fassade einen gut nutzbaren Außenraum, der die Wohnungen erweitert.

Dieses Projekt beweist, dass eine gute Fassade im Grundriss beginnt: Die Aufgabe, einen gründerzeitlichen Block mit einem Wohnbau abzuschließen, beantworten die Architekten mit einer U-förmigen Verbauung des Blockrands mit kleineren Wohnungen, die über Laubengänge erschlossen werden. Ein Großteil dieser Gänge liegt nicht im Freien, sondern in einer großzügigen Halle mit einer Kaskadentreppe, die alle Geschoße verbindet. Eine Druckbelüftung, die sich im Brandfall einschaltet und verhindert, dass Rauch aus einer Wohnung in die Halle dringt, macht es möglich, mit dieser einzigen Erschließung für das Haus auszukommen.

In der Halle führen Brücken zu hofseitig liegenden Maisonetten, die wie eine Spange in das große U der Kleinwohnungen eingepasst sind. Für diese zweigeschoßigen Sondertypen gibt es durchaus Nachfrage, sie werden aber immer seltener realisiert. Das Gros der Wohnungen folgt auch in diesem Projekt dem Smart-Wohnen-Prinzip, also knapp bemessenem, aber damit günstigerem Wohnraum. Ein zusätzlicher Faktor für die zunehmende Standardisierung ist der Wunsch nach Barrierefreiheit, nicht zuletzt, um das Wohnen in der eigenen Wohnung bis ins hohe Alter zu erlauben. Ob die generelle Ausrichtung des Wohnungsangebots auf die Bedürfnisse alter Menschen oder von Menschen mit Behinderungen klug ist, sei dahingestellt. Im Wohnbau in der Braunhubergasse findet sich die Alternative dazu, nämlich ein integriertes Heim mit betreutem Wohnen, das neben einer Wohngemeinschaft auch einige kleine, im Haus verteilte Wohneinheiten versorgt.

Ab dem zweiten Obergeschoß verfügt jede Wohnung über einen Balkon und jede Maisonette über eine Loggia oder einen Garten. Der Freiraum zur Straße hin besteht aus zwei Schichten: einer Art umlaufender Laube, aus der als zweite Schicht Balkone hervorragen, die es in mehreren Tiefen und Breiten gibt. Um aus diesen Elementen ein ästhetisch befriedigendes Spiel zu machen, braucht es ein Regelwerk für die Abstimmung zwischen Grundriss und Fassade. Das Thema setzt sich bis ins Detail fort, etwa zum Gerüst aus verzinkten Stahlprofilen, das der Fassade einen Rhythmus gibt, aber auch als Unterkonstruktion für die Geländer und teilweise als Rankgerüst dienen. An manchen Punkten hat es auch gar keinen Zweck, etwa an der Attika, wo es den Übergang von der niedrigeren Bebauung zur höheren spielerisch begleitet.

Womit wir beim Städtebau wären: Die Dichte des Projekts liegt gerade noch an der Grenze des Vertretbaren. Bei den Nachbarbauten, fünf Punkthochhäusern, scheint mir diese Grenze überschritten zu sein. Den Städtebau gab an diesem Ort nicht die Wiener Stadtplanung vor, sondern das Wirtschaftsressort. Es ließ einem Industrieunternehmen, das hier seinen Standort hatte und überlegte, ins Ausland abzuwandern, eine „stille“ Förderung durch Aufzonung zukommen. Das Unternehmen übersiedelte auf einen neuen Standort in Wien und lukrierte die Wertsteigerung beim Verkauf des alten. Im Rahmen eines kooperativen Verfahrens musste dann das Beste aus dieser Dichtevorgabe gemacht werden.

Die elegante Leichtigkeit der Architektur von Geiswinkler & Geiswinkler hebt sich von dieser Nachbarschaft spürbar ab. Sie ist das Ergebnis jahrelanger Übung und äußerster Disziplin. Was das Thema Fassade betrifft, besteht sie die Probe aufs Exempel: Nach ihren Regeln gestaltet kann man sich auch ganze Straßenzüge vorstellen.

Spectrum, Sa., 2019.05.11



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Hörbiger-Areal Bauteil Süd

13. April 2019Christian Kühn
Spectrum

Papiere mit Wirkung?

Alle fünf Jahre erscheint der Österreichische Baukulturreport, seit zwei Jahren ergänzt um „Baukulturelle Leitlinien des Bundes“. Hat das viele Papier auch Konsequenzen?

Alle fünf Jahre erscheint der Österreichische Baukulturreport, seit zwei Jahren ergänzt um „Baukulturelle Leitlinien des Bundes“. Hat das viele Papier auch Konsequenzen?

Es hat einige Jahre gedauert, bis der Begriff der „Baukultur“ im allgemeinen Sprachgebrauch angekommen ist. Für manche in der Architekturszene glitzert er nach wie vor zu wenig, aber er sollte den Begriff der Architektur auch nicht ersetzen, sondern erweitern. Architektur bezeichnet das Ergebnis der architektonischen Arbeit, Baukultur die Rahmenbedingungen, unter denen Architektur entsteht, ihre Diskurse, Normen, Werte und Prozesse.

Seit 2006 gibt es in Österreich einen Baukulturreport, der im Abstand von fünf Jahren von der Regierung beauftragt und dem Nationalrat zur Diskussion zuzuleiten ist. Der erste, vom Jahr 2006 datierende Report lieferte einen umfassenden Überblick über die Lage der Baukultur in Österreich. Er ist ein bis heute lesenswerter Grundlagentext, der Begriffe klärt und die Frage der Baukultur als Querschnittsmaterie diskutiert. Die Themen umfassten die Verantwortung öffentlicher und privater Auftraggeber, Ökologie und Nachhaltigkeit, Bauen und Baukultur als Wirtschaftsfaktoren sowie ihre rechtlichen und wirtschaftlichen Produktionsbedingungen, Fragen von Bildung und Ausbildung als auch die Vermittlung von Baukultur an eine größere Öffentlichkeit. Der Report enthielt eine abschließende Sammlung von 46 Empfehlungen in sechs Politikfeldern.

Der zweite, aus dem Jahr 2011 datierende Report konzentrierte sich auf drei Kernthemen: die Kommunen und ihre zentrale Rolle für die Baukultur in Österreich, nachhaltiges Denken und Handeln als Voraussetzung für eine zeitgemäße Baukultur sowie den Bildungsbau und die Baukulturvermittlung für junge Menschen als Basis für eine erfolgreiche Zukunft. In jedem dieser Themenfelder lieferte dieser Report neben der allgemeinen Übersicht konkrete, vorbildliche Fallbeispiele, die vom Einzelgebäude bis zur Orts- und Regionalplanung reichten. Auch dieser Report enthielt aus diesen drei Bereichen zusammengefasste Empfehlungen, die sich auf 45 summierten. Sie sollten auf Chancen für Österreich aufmerksam machen, mit dem Ziel, durch bessere Baukultur mehr Lebensqualität, Innovation und Gerechtigkeit in der Nutzung räumlicher Ressourcen zu gewinnen.

Der aktuelle dritte Baukulturreport, der 2018 präsentiert wurde, unterscheidet sich von den beiden ersten, indem er nicht aus der Vergangenheit berichtet, sondern aus der Zukunft. Er skizziert drei unterschiedliche Szenarien für die Baukultur in Österreich im Jahr 2050. Zuspitzung ist dabei Programm: In einem Szenario hat Österreich die EU verlassen und stützt sich bei stark sinkender Bevölkerungszahl vor allem auf Tourismus und Landwirtschaft. Im zweiten übernehmen private, global agierende Unternehmen die meisten öffentlichen Aufgaben vom Gesundheits- bis zum Bildungswesen. Im dritten stehen Gemeinwohl und soziale Innovation im Vordergrund. Keines der Szenarien, die in einem aufwendigen Prozess unter Einbindung zahlreicher Fachleute entwickelt wurden, wird in reiner Form Realität werden. Es sind Fantasieprodukte, die aber auf Fakten aufbauen, auf Sachverhalte und Trends, die wir heute identifizieren können. Um ein Beispiel zu nennen: In Österreich gab es 1997 in 320 von 2354 Gemeinden keinen Nahversorger; 2011 waren es 690 von 2100 Gemeinden. Korrespondierend damit stieg die Verkaufsfläche von Einkaufs- und Fachmarktzentren im Zeitraum 2000 bis 2016 von zwei Millionen auf vier Millionen Quadratmeter. Viele davon liegen an den Ortsrändern, während die Ortskerne etlicher Gemeinden veröden. Wird der Megatrend des digitalen Wandels diese Situation verändern? Werden wir im Jahr 2050 in virtuellen Gemeinderäten darüber diskutieren, was mit den Ruinen der Supermärkte am Ortsrand geschehen soll, während Transportdrohnen uns das Mittagessen liefern? Je nach Szenario fallen die Antworten sehr unterschiedlich aus.

Wer die Szenarien in ihren Auswirkungen nicht nur darstellen, sondern bewerten will, muss deklarieren, was er unter „guter“ Baukultur verstehen möchte. Im aktuellen Baukulturreport wurde diese Deklaration aus einem anderen Projekt übernommen, den „Baukulturellen Leitlinien des Bundes“, die parallel zum Report in einem breit angelegten Beteiligungsprozess entwickelt wurden. Diese Leitlinien wurden im August 2017 von der damaligen Bundesregierung beschlossen und im Dezember 2017 ins Programm der neuen übernommen.

In den Leitlinien bekennt sich der Bund zu einem umfassenden Verständnis von Baukultur und legt einleitend Qualitätskriterien für gute Baukultur fest. Die 20 Leitlinien sind in sechs Politikfeldern organisiert, die von Orts-, Stadt- und Landschaftsentwicklung über Bauen, Erneuern und Betreiben, Prozesse und Verfahren, Bewusstseinsbildung und Beteiligung, Wissenschaft und Kompetenzvermittlung bis zu Lenkung, Koordination und Kooperation reichen. Direkt in die Leitlinien eingewoben ist ein Impulsprogramm, das konkrete Maßnahmen benennt, an denen man den Erfolg der Leitlinien messen kann.

Bleibt die Frage: Helfen diese vielen Seiten Papier wirklich? Haben sie Konsequenzen? Eines ist klar: Seit Jahrzehnten kritisieren Fachleute, dass etliche Ortskerne in Österreich veröden, weil sich der Handel an die Ortsränder verlagert. Sie weisen auf die Folgen der grassierenden Zersiedelung auf Boden- und Energieverbrauch, Infrastrukturkosten und Biodiversität hin. Sie mahnen verbindliche regionale Entwicklungskonzepte und die Besteuerung von Leerständen ein, um der Spekulation entgegenzuwirken. Und sie weisen darauf hin, dass die gesetzlichen Grundlagen für viele wichtige Fragen der Raumentwicklung und der Architekturqualität längst vorhanden sind. Es fehle aber am Mut, diese konsequent und gegen mächtige Partikularinteressen umzusetzen.

Der Baukulturreport und die Leitlinien des Bundes bieten zumindest einen Referenzrahmen, auf den sich Verantwortliche bei ihren Entscheidungen berufen können. Es ist ein gutes Zeichen, dass derzeit auch auf Landes- und Gemeindeebene begonnen wird, die Leitlinien des Bundes für den eigenen Bedarf zu adaptieren und zu erweitern. In Kärnten fand diese Woche die Auftaktveranstaltung für einen Prozess statt, an dessen Ende Leitlinien für eine innovative und konsequente Baukulturpolitik stehen sollen. Die anwesende LH-Stellvertreterin Gaby Schaunig und der Landesrat für Orts- und Regionalentwicklung, Daniel Fellner, gaben sich jedenfalls visionär. Auf Gemeindeebene versuchen in NÖ die 28 Gemeinden des Verbands „Römerland Carnuntum“ Leitlinien auf Basis jener des Bundes zu entwickeln. Wenn diese Beispiele Schule machen und Gemeinden über ihre baukulturellen Werte, Normen und Prozesse nachdenken und sie bewusst gestalten, wäre das ein großer Schritt zu einer besseren Baukultur.

Spectrum, Sa., 2019.04.13

02. März 2019Christian Kühn
Spectrum

Dieses Haus hüpft

Ein Gebäude mit Pyramidenstumpf als Ausgangsgeometrie und ein räumlicher Gedanke, der nicht verlustfrei in Worte übertragbar ist: die neue Landesgalerie Niederösterreich in Krems, von Marte Marte Architekten.

Ein Gebäude mit Pyramidenstumpf als Ausgangsgeometrie und ein räumlicher Gedanke, der nicht verlustfrei in Worte übertragbar ist: die neue Landesgalerie Niederösterreich in Krems, von Marte Marte Architekten.

Was ist trauriger als eine Stadt ohne Kulturbezirk? Sankt Pölten weiß es: ein Kulturbezirk ohne Stadt. Als Sankt Pölten in den 1990er-Jahren zur Landeshauptstadt ausgebaut wurde, entstand am Ufer der Traisen nicht nur ein Regierungsviertel, sondern auch eine ganze Reihe von Kulturbauten: das Festspielhaus von Klaus Kada, die Landesbibliothek und das Landesarchiv von Katzberger und Loudon und schließlich das Landesmuseum von Hans Hollein mit seinem geschwungenen Vordach.

Diese durchaus ambitionierte Architektur konnte nichts an der Tatsache ändern, dass dieser Kulturbezirk bis heute den Anschluss an die Stadt nicht finden konnte. Der Fußweg ins dicht bebaute Zentrum ist weit und quert vierspurige Zubringerstraßen; es fehlt an Gastronomie und urbaner Atmosphäre. Dass sich die Landesregierung entschloss, einen Teil ihre Sammlung von hier abzusiedeln, ist daher nachvollziehbar. Die Themen Natur und Geschichte, die im Ruf stehen, vor allem Schulklassen anzuziehen, bleiben in Sankt Pölten, die Kunst wandert nach Krems, wo mit der „Kunstmeile“ bereits eine Adresse existiert, an die man mit der neuen „Landesgalerie Niederösterreich“ andocken kann. Diese Meile liegt im Kremser Stadtteil Stein und umfasst die zu einem Ausstellungsraum umfunktionierte Dominikanerkirche, das Forum Frohner, die Kunsthalle Krems in der ehemaligen Tabakfabrik, das Karikaturmuseum sowie Räume für selbstständige Kulturinitiativen.

Gewachsene Strukturen gibt es hier im Unterschied zum Standort in Sankt Pölten genug. Die Nachbarn sind vielfältig: Neben den Kulturinstitutionen prägt vor allem die Justizanstalt Stein, das zweitgrößte Gefängnis Österreichs, den Ort. Die Kunsthalle, ein schlichter, klassizistischer Industriebau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, liegt unmittelbar neben dem Gefängnis und wurde vor 25 Jahren von Adolf Krischanitz für Kunstausstellungen adaptiert. Um den Ort zu markieren, setzte Krischanitz vor den liegenden Baukörper des Bestandsgebäudes einen 20 Meter hohen Betonobelisken und daneben einen schmalen Glaspavillon für das Restaurant.

Für den Neubau der Landesgalerie stand ein als Parkplatz genutztes Grundstück zur Verfügung, die Nachbarparzelle des Karikaturmuseums, genau vis-à-vis vom Eingang zur Kunsthalle. Zur Schiffsanlegestelle an der Donau, an der pro Jahr immerhin 450.000 Passagiere aussteigen, beträgt die Distanz rund 200 Meter; eine Strecke, auf der Fußgänger zwei Kreisverkehre passieren müssen. Im Anforderungskatalog des Architekturwettbewerbs, der 2015 ausgeschrieben wurde, war ursprünglich ein witterungsgeschützter Steg vorgesehen, um die Besucher von der Schiffsanlegestelle kreuzungsfrei ins Museum zu bringen. Glücklicherweise ließen sich die Auftraggeber rechtzeitig davon überzeugen, dass ein solcher Steg nicht nur viel zu teuer, sondern auch formal derart dominant gewesen wäre, dass man besser nicht auf ihn bestehen sollte. Die Wettbewerbsergebnisse zeigten, dass man an diesem Ort sehr gut ohne einen baulichen Zeigefinger Richtung Donau auskommt. Das Siegerprojekt von Marte Marte Architekten steht als beeindruckender Solitär auf dem Grundstück, ein Haus mit einer silbrig glänzenden Schuppenhaut aus Titanzinkblech. Die Haut wirkt leicht, fast wie eine Zeltmembran. Aber dieser Eindruck täuscht: Was auf den ersten Blick aussieht wie eine unter Spannung stehende Membran, ist die Verkleidung einer doppelt gekrümmten Betonwand, des eigentlichen Tragwerks des Gebäudes. Die Geschoßdecken sind zwischen dieser Wand und zwei Kernen im Inneren gespannt, von denen einer die Lifte und der andere zwei raffiniert ineinandergeschachtelte Treppen aufnimmt.

Wer sich die Geometrie dieses Hauses veranschaulichen möchte, kann das im Gasthaus seiner Wahl mit einem dicken Stapel quadratischer Bierdeckel tun. Wenn man eine vertikale Kante eines solchen Stapels fixiert und die Bierdeckel dann der Reihe nach ganz leicht verdreht, bis die Verschwenkung circa 30 Grad ergibt, hat man eine gute Annäherung an die Geometrie der Landesgalerie vor sich. In Wahrheit ist diese noch einen Tick dramatischer: Die Seitenlänge der Quadrate nimmt nämlich nach oben zu kontinuierlich ab, von 33 Meter im Erdgeschoß auf 30 Meter beim obersten Deckenabschluss. Die Ausgangsgeometrie der Verdrehung ist daher kein Würfel, sondern eine Art Pyramidenstumpf.

Die aus der Verdrehung entstandene Grundform ist einerseits völlig rational erklärbar, andererseits ist sie eine reizvolle Überforderung unserer Wahrnehmung, die auf doppelt gekrümmte Flächen dieser Art nicht eingestellt ist. Die Architekten erhöhen diesen Effekt noch durch eine geometrische Operation auf der obersten Ebene, wo sie vom verdrehten Volumen einen virtuellen Quader abziehen, dessen Ausrichtung wieder jener des Erdgeschoßes entspricht. Dieser Quader durchdringt den Baukörper und schneidet dabei eine Terrasse aus dem Volumen. Zugleich entstehen durch diese Operation zwei Einschnitte in die Fassade, ein kleines Dreieck mit Durchblick zur Steiner Altstadt und eine größere Öffnung, die von der Terrasse einen Blick auf das auf der anderen Seite der Donau liegende Stift Göttweig erlaubt. Die leicht gekurvten Anschnitte dieses Stadtfensters sind nicht willkürlich, sondern exakt aus den geometrischen Verschneidungen abgeleitet.

Ähnlich gehen die Architekten im Erdgeschoß vor, indem sie das große Volumen nicht einfach auf dem Boden abstellen, sondern die Berührung mit dem Boden scheinbar auf die vier Eckpunkte des quadratischen Grundrisses beschränken, zwischen denen sehr flache Bogenfenster ausgeschnitten sind. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Haus zu einem Luftsprung ansetzt und mit seinen Füßen gerade noch den Boden berührt. Durch diesen Sprung öffnet sich das Haus nach allen Seiten und erlaubt eine Sichtverbindung zwischen dem Kunstraum und der profanen und ein bisschen chaotischen Welt rundherum.

Dieses Haus hüpft, und man möchte mithüpfen. „Erinnere Dich“, hat Ludwig Wittgenstein einmal notiert, „an den Eindruck guter Architektur, dass sie einen Gedanken ausdrückt. Man möchte auch ihr mit einer Geste folgen.“ Tatsächlich drückt sich hier ein räumlicher Gedanke aus, der nicht verlustfrei in Worte übertragbar ist. Er hat etwas mit äußerster Präzision zu tun, nicht nur in der Geometrie, sondern auch in der Ausführung, bei der komplexe Geometrien oft schwächeln. Was geometrisch auf einen Punkt ohne Ausdehnung zusammenläuft, muss ja im Bau in Details übersetzt werden, die Beton, Bleche und Dichtungen mit ihren jeweiligen Maßtoleranzen in Einklang bringen. Das ist den Architekten hier zu einem erstaunlichen Grad gelungen.

Über das Innenleben des Hauses sollte man erst ab dem 25. Mai Aussagen treffen, wenn die Ausstellung eröffnet ist. Die gekrümmten Innenwände sind eine Herausforderung, die aber auch zu außerordentlichen Lösungen führen könnte. Das Kunsthaus in Bregenz von Peter Zumthor galt seinerzeit als unbenutzbar – heute ist es als Meisterwerk anerkannt.

Spectrum, Sa., 2019.03.02



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Landesgalerie Niederösterreich

16. Februar 2019Christian Kühn
Spectrum

Farce ums Palais Schwarzenberg

Ein Multiorganversagen, gegen das kein Mittel mehr hilft: Das Palais Schwarzenberg und sein Park werden gnadenlos „in Ertrag gesetzt“. Was diese Farce uns über die Bau- und Gartenkultur in Wien erzählt.

Ein Multiorganversagen, gegen das kein Mittel mehr hilft: Das Palais Schwarzenberg und sein Park werden gnadenlos „in Ertrag gesetzt“. Was diese Farce uns über die Bau- und Gartenkultur in Wien erzählt.

Seit Jahren geht es bergab. Das Palais Schwarzenberg und sein Park waren einmal ein besonderer Ort: ein Restaurant mit gepflegter Gartenanlage und dem Ruf, eines der besten der Stadt zu sein; eine Bar, die seit ihrer Ausstattung durch Hermann Czech in den 1980er-Jahren Kultstatus genoss; ein leicht angemoostes Luxushotel in einem Seitentrakt, das seinen Gästen immerhin den exklusiven Spaziergang in einem Teil des Parks bieten konnte. Zu besonderen Anlässen veranstaltete man hier bombastische Feuerwerke vor der Fassade des Palais, das Lukas von Hildebrandt 1697 für den Grafen Mansfeld entwarf. Hildebrandts Rivale, Johann Bernhard Fischer von Erlach, adaptierte den Entwurf, nachdem das noch nicht vollendete Palais 1716 in den Besitz der Schwarzenbergs übergegangen war.

Die Existenz des Areals ist vielen Wienern gar nicht bewusst, vermuten sie doch hinter der langen Mauer entlang der Prinz-Eugen-Straße den Barockgarten des Belvedere und nicht einen weiteren, quasi eingeschobenen Park, der beim Palais Schwarzenberg mit einer Breite von rund 130 Metern etwas breiter ist als jener des Belvedere und sich stadtauswärts auf 40 Meter verjüngt. An der schmalsten Stelle befand sich früher das große Becken für die Wasserspiele, in dem heute Tennisplätze untergebracht sind. Der Park fällt von hier in mehreren Stufen stadteinwärts ab. Vor dem größten Niveausprung liegt auf der Symmetrieachse der Anlage ein barockes Wasserbecken mit einer in die Stützmauer eingebauten Grottenanlage. Auf der Ebene darüber befindet sich unmittelbar an der Mauer zur Prinz-Eugen-Straße das erst 1929 errichtete sogenannte Belvederestöckl. Es nutzte eine kleine Fläche des Parks für einen Gastgarten, der zu Recht damit werben durfte, der schönste Wiens zu sein. Dieses Lokal verkam zusehends, baulich und kulinarisch. Bevor es Ende der 1990er-Jahr geschlossen wurde, war es im Ruf gestanden, nur noch von Spionen und der russischen Mafia frequentiert zu werden.

Seit über zehn Jahren sind das Palais und das Stöckl nun außer Betrieb. Die Versuche, sie wiederzubeleben, waren zahlreich. Das Palais sollte wieder Luxushotel werden, kombiniert mit einer Tiefgarage unter dem großzügigen Vorplatz. Schon Ende 2004 hatte die Schwarzenberg'sche Familienstiftung ein ehrgeiziges Sanierungs- und Erweiterungsprojekt vorgestellt, dem ein Architekturwettbewerb zugrunde lag, den Wolfgang Tschappeller gegen die Konkurrenz von Zaha Hadid, Günther Domenig und Hermann Czech gewonnen hatte. Zu den vorhandenen 44 Zimmern sollten 33 neue im Altbau entstehen, dazu 25 neue Suiten im Garten an der Stelle eines bestehenden Glashauses. Die Arbeiten sollten bis zum Jahr 2007 abgeschlossen sein und ein Hotel in einer Dimension schaffen, das sich im Luxussegment rechnet.

Allein mit der Finanzierung haperte es. Bewegung in das Projekt kam erst wieder 2009, als der saudische Investor Mohamed Al Jaber ankündigte, sich mit 100 Millionen Euro zu engagieren. Zwei Jahre später, 2011, stellte sich heraus, dass dieses Versprechen substanzlos war. Die nächste Hoffnung lag in der für 2014 geplanten Umwandlung des Palais in ein Spielkasino, für das ein deutsch-schweizerisches Konsortium den Zuschlag erhalten hatte und immerhin 50 Millionen Euro zu investieren ankündigte. Das Projekt scheiterte 2017 am Einspruch der Casinos Austria gegen die Lizenzerteilung an die Konkurrenz.

Die Schwarzenberg'sche Familienstiftung verabschiedete sich ab diesem Zeitpunkt offensichtlich von jeder Hoffnung auf einen großen Wurf. Auch für eine der reichsten Familien Österreichs ist ein leer stehendes Palais mit großem Park auf Dauer eine Belastung und muss daher – wie es aus der Familienstiftung heißt – „in Ertrag gesetzt“ werden. Der Weg dorthin erfolgt nun in kleinen Schritten: die Tiefgarage vor dem Palais wurde gerade fertiggestellt, der Ausbau des Belvederestöckl zu einem Bierlokal mit Brauereianlage und 880 Sitzplätzen hat begonnen. Für das barocke Palais hat sich ein Hotelbetreiber gefunden, ein anderer für den Neubau im Garten, der dort einen Bau zu errichten plant, dessen Umrisse sich an Wolfgang Tschapellers Projekt orientieren.

Reicht das? Offensichtlich nicht. Die ersten Ergebnisse dieser Planung ohne großen Plan zeigen, wie tief die Ambitionen der Bauherrschaft gesunken sind. Die Tiefgarageneinfahrt am Schwarzenbergplatz ruiniert das, was immer noch der Hauptzugang zum Palais ist, auf eine geradezu groteske Weise. Hier spürt man, dass alle Beteiligten jede Hoffnung haben fahren lassen. Ernst Bloch hat diese Haltung einmal als „ins Scheitern verliebt sein“ bezeichnet. Alle Beteiligten, von den verantwortlichen Planern, Hoppe Architekten, bis zum Denkmalamt und zur MA 19, der Magistratsabteilung für Stadtplanung und Stadtgestaltung, wissen, welches Machwerk sie hier geplant oder bewilligt haben. Aber eine Tiefgarageneinfahrt ist halt eine Tiefgarageneinfahrt, da ist nichts zu retten. Über Alternativen, konzeptionell und formal, die es natürlich gibt, hat hier niemand mehr nachdenken wollen.

Der nächste Nadelstich im Ensemble ist die bereits laufende Erweiterung des Belvederestöckl, geplant vom selben Architekturbüro. Der Zubau muss sich in den Rahmen eines bestehenden Bebauungsplans hineinwinden, den der Pächter, die Firma Salm Bräu, bis aufs Letzte ausnutzen möchte. So entsteht an einem der schönsten Plätze der Stadt eine traurige Sachzwangarchitektur. Auch hier hat man irgendwann aufgegeben, nach einer angemessenen Lösung zu suchen: Hauptsache, 880 Sitzplätze für die Gastronomie.

Genauso schmerzlich wie diese baulichen Verwerfungen ist der Unverstand im Umgang mit dem Park des Palais, auf den die Österreichische Gesellschaft für historische Gärten seit Jahren hinweist. Private Gärten dürfen in Österreich nur mit Zustimmung des Eigentümers unter Denkmalschutz gestellt werden, und so sind im Schwarzenberggarten zwar die baulichen Elemente wie Wasserbecken, Stützmauern und Skulpturen geschützt, aber nicht das Gartenkunstwerk, dessen Teil sie sind. Die Entwicklungsgeschichte dieses Kunstwerks ist über die Jahrhunderte gut dokumentiert, von der barocken Grundanlage bis zur romantischen Überformung in Richtung eines Landschaftsgartens.

Der Park scheint heute verwildert, aber das war er schon 1932, als der Kritiker der „Neuen Freien Presse“ schrieb: „Der Park hält nicht mehr auf sich, wie das bei alten Leuten zuweilen vorkommt. Aber ein alter, feudaler Park kann sich nicht recht in einen Wald zurückverwandeln. Statt eines Stückchens befreiter, anmutig wilder Natur ist er doch nur ein Park im Negligé.“ Jede Maßnahme in diesem Park müsste von dieser Perspektive her gedacht werden und sich die Herstellung eines Gartenkunstwerks zum Ziel setzen, sei es als Rekonstruktion oder zeitgenössische Weiterentwicklung. Diese könnte eine direkte Verbindung vom Schwarzenbergpark zum Garten des Belvedere und weiter in den Botanischen Garten umfassen, um erlebbar zu machen, über welch einzigartiges Ensemble Wien hier verfügt.

Mit der Errichtung des Biergartens ergibt diese Verbindung keinen Sinn mehr. Man darf froh sein, dass sich das neue Etablissement hinter einer Mauer verbirgt. Für die Zukunft wäre zu überlegen, das vor Jahren aufgelassene Referat für Historische Gärten im Bundesdenkmalamt wiedereinzurichten und die Benachteiligung der Gartenkunst im Denkmalschutzgesetz zu korrigieren.

Spectrum, Sa., 2019.02.16

19. Januar 2019Christian Kühn
Spectrum

Palast der Hoffnung

Ein Schulgebäude, das auch als Headquarter eines internationalen Unternehmens gute Figur machen würde – eine unmögliche Gleichung, mit Erfolg gelöst in Hard am Bodensee.

Ein Schulgebäude, das auch als Headquarter eines internationalen Unternehmens gute Figur machen würde – eine unmögliche Gleichung, mit Erfolg gelöst in Hard am Bodensee.

Die Headquarter großer Unternehmen sind die Paläste von heute. In Vorarlberg, das schon früher in der postindustriellen Gesellschaft angekommen ist als der Rest Österreichs, finden sich einige schöne Exemplare dieser Gattung. Sie sind nicht nur Nutzbauten, sondern auch Monumente, mit denen die Auftraggeber ihrer unternehmerischen Leistung ein Denkmal setzen wollen. Das gilt für kleinere Unternehmen wie SIE-Solutions, das sich von Marte/Marte einen Turm in Lustenau planen ließ, für Großunternehmen wie Doppelmayr, dem das Wiener Büro AwG ein Stück Skyline nach Wolfurt in die Ebene des Rheintals verpflanzte, oder für mittelgroße Unternehmen wie die Elektronikfirma Omicron, die sich im Ort Klaus von Dietrich/Untertrifaller eine Hofstruktur für 200 Arbeitsplätze planen ließ.

Das neue Gebäude am Ortsrand von Hard könnte sich problemlos als Headquarter eines mittelgroßen Unternehmens verkaufen. Einige Ähnlichkeiten mit dem Omicron-Gebäude sind frappant, etwa die u-förmigen, an drei Seiten gefassten Höfe, deren vierte Seite von einer großzügigen, überdeckten Terrasse gebildet wird, die es den Nutzern erlaubt, ihren Aufenthalt jederzeit ins Freie zu verlegen. Verwandt sind auch die umlaufenden Balkone und die weitgehend verglaste Außenhaut, in der sich fixe Verglasungen und Öffnungsflügel abwechseln. In beiden Fällen sind viele der Innenwände in Glas aufgelöst und erlauben so den Sichtkontakt zwischen den Nutzern.

Dass es sich bei dem vom Büro Baumschlager Hutter entworfenen Gebäude in Hard nicht um einen Unternehmenspalast, sondern um ein Schulgebäude handelt, eine Volksschule für 350 Kinder und eine Neue Mittelschule für 300, würde man auf den ersten Blick nicht vermuten. Die Assoziation zwischen Palast und Schule muss freilich nichts Negatives sein: „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder“, hat schon Julius Tandler, Wohlfahrtsstadtrat des Roten Wien, Ende der 1930er-Jahre postuliert. Aber sollte ein Haus für Kinder nicht kindgerechter aussehen, bunt und ein bisschen wie ein Spielzeug? Ist die Monumentalität dieses Gebäudes, in dessen Grundriss es keinen schiefen Winkel gibt, nicht ein Schritt zurück ins 19. Jahrhundert?

Wer das Haus während des Schulbetriebs besucht, wird einen anderen Eindruck gewinnen. Diese Schule mag ein Palast des 21. Jahrhunderts sein, aber sie ist zugleich ein offenes Gerüst, das es jeder Altersgruppe ermöglicht, sich den Raum bestmöglich anzueignen. Farben und Bewegung werden von den Kindern selbst in die Räume gebracht, Möbel und Einrichtung sind an die Bedürfnisse der jeweiligen Altersgruppe angepasst. Kindgerecht ist diese Architektur: in den angenehmen Materialien und Oberflächen und vielfältigen Lichtstimmungen. Alle Details sind mit großer Sorgfalt geplant und ausgeführt; die Haustechnik ist bewusst „lowtech“ gehalten. Eine Besonderheit der Schule ist der gemeinsame Unterricht von mehreren Jahrgängen in einem sogenannten „Cluster“, also einer Raumgruppe mit einer gemeinsamen Mitte. Jeder Cluster verfügt über einen Teamraum für die Lehrer, drei Klassenzimmer mit Glaswänden und drei kleinere Räume für Sonderunterricht oder Projekte. Die gemeinsame Mitte kann flexibel bespielt werden. Die Schule ist in neun solche Cluster organisiert, von denen jeweils drei übereinandergestapelt und einem Hof oder einer Terrasse zugeordnet sind: Auf der untersten Ebene werden die Sechs- bis Achtjährigen zusammengefasst, auf der mittleren die Neun- bis Elfjährigen und auf der obersten die Zwölf- bis 14-Jährigen. Der jahrgangsübergreifende Unterricht erlaubt es den Lehrerinnen und Lehrern, besser auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen, und bietet allen Kindern Erfolgserlebnisse, wenn sie einmal als älteste in einem Cluster den jüngeren beim Lernen zur Seite stehen können.

Diese Aufteilung der Schüler bedingt, dass im mittleren Cluster ein Drittel der Schüler noch der Volksschule zugeordnet ist und zwei Drittel bereits der NMS. Die pädagogischen Leiter der beiden Schulen, Karin Dorner in der Volksschule und Christian Grabher von der NMS, haben diese Form bereits am alten Standort sehr erfolgreich mit einem Teil der Schüler getestet und zur Grundlage des Raumkonzepts für den Neubau gemacht. Der Gemeinderat hat sich von der Begeisterung der Pädagogen für dieses Modell anstecken lassen, das die österreichische Lösung einer Bildungsselektion im Alter von zehn Jahren unterläuft. In einem Bundesland, das sowieso eine gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen anstrebt, ist das freilich keine Überraschung.

Dass im Wettbewerb für die Schule ein Projekt mit einer gewissen Monumentalität gewonnen hat, liegt nicht zuletzt am Standort der Schule unmittelbar neben dem großen Volumen eines Sportzentrums, das Hard für seine bekannte Handballmannschaft errichtet hat. Die Schule ergänzt dieses Zentrum um eine Dreifachturnhalle, die von den Architekten vom Boden abgehoben und auf Stützen gestellt wurde. Unter der Halle befinden sich Pkw-Abstellplätze und eine öffentliche Durchfahrt für einen Radweg, der gewissermaßen direkt durch die Schule führt, vorbei am ersten der drei Höfe, der mit großen Findlingen als Steingarten angelegt ist. Hier können die Kinder ihre Kletterkünste erproben.

Zwischen der Sporthalle und der Schule entsteht ein fast urbaner Straßenraum, der einen schönen Ausblick auf den See im Hintergrund bietet. In der Weite der Landschaft wirkt die Schule hier wie ein Schiff, das nur Segel setzen müsste, um zu einer Reise aufzubrechen. Mit etwas Fantasie kann man diese Segel in den Markisen aus weißem Stoff sehen, mit denen die Beschattung der Schule hergestellt wird. Aus Sicht der Bauphysik sind diese Markisen nicht mehr als eine technische Notwendigkeit, um die Überhitzung des Gebäudes zu verhindern. Aus Sicht der Kinder sind sie viel mehr: Sie machen das Haus zu einem Organismus, der auf die Umgebung reagiert, seine Sonnensegel ausfährt und dabei über den umlaufenden Balkonen noch einen eigenen, besonders geschützten Raum erzeugt.

Den Bauherren und ihren Architekten ist mit diesem Projekt etwas Besonderes gelungen: Kindern und Jugendlichen und ihren Lehrerinnen und Lehrern einen ebenso einprägsamen wie wandlungsfähigen Ort zu schenken, einen Palast der Hoffnung auf ein besseres Leben. Viel mehr kann man von einer Schule heute nicht verlangen.

Spectrum, Sa., 2019.01.19



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22. Dezember 2018Christian Kühn
Spectrum

Management Center Innsbruck: Chronik eines Skandals

Wer pfuscht hier? Architekten, die nicht rechnen können? Oder Politiker, die sich bei Bauprojekten lieber auf ihr Bauchgefühl verlassen als auf Fakten?

Wer pfuscht hier? Architekten, die nicht rechnen können? Oder Politiker, die sich bei Bauprojekten lieber auf ihr Bauchgefühl verlassen als auf Fakten?

Die Freude war groß, als im Jahr 2016 der Wettbewerbssieger für das neue Gebäude des MCI, des Management Center Innsbruck, vorgestellt wurde. In einem zweistufigen, offenen und anonymen Verfahren hatte die Jury einstimmig einen Sieger gekürt, das Projekt der Architekten Loudon, Habeler und Kirchweger. Die Aufgabe war schwierig: ein knappes Grundstück, städtebaulich an einer wichtigen Schnittstelle am Rand der Altstadt gelegen; ein dichtes Raumprogramm mit Räumen für die Lehre, Büros und zentrale Gemeinschaftsflächen, dazu eine Tiefgarage für 40 Busse und 200 Pkw.

Das MCI ist eine Hochschule für Wirtschaft, Gesellschaft, Technologie und Life Sciences, die derzeit auf mehrere Standorte verteilt ist und 3400 Studierende betreut. Der Neubau ist daher eine praktische Notwendigkeit. Er ist aber auch eine Imagefrage: Das MCI konkurriert mit Business-Universitäten wie jener in St. Gallen, die sich gerade ein neues „Learning Center“ von Su Fujimoto errichten lässt. Kommunikation wird hier als zentrale Ressource gesehen, die entsprechend gestaltete Räume braucht. Seminar- und Büroräume an einem Gang aufzufädeln genügt diesen Ansprüchen längst nicht mehr.

Das Siegerprojekt fand für diese Aufgabe eine überzeugende Lösung, fünf in der Mitte durch eine Halle verbundene Türme, die bis zu neun Geschoße hoch sind. Als unregelmäßiges Fünfeck ist der Bau trotz großer Masse geschickt in den heterogenen Kontext zwischen dem Hofgarten im Westen und dem lang gestreckten SoWi-Gebäude der Leopold-Franzens-Universität im Süden eingefügt. Ob dieses Ensemble jemals Wirklichkeit wird, steht momentan allerdings in den Sternen. Das MCI-Projekt wurde Anfang August dieses Jahres gestoppt, da es sich nach Ansicht des Geldgebers, also des Landes Tirol, nicht im vorgegebenen Kostenrahmen umsetzen lässt. Am 13. November ging die Landesregierung mit ihrer finalen Entscheidung an die Öffentlichkeit. Eine „detaillierte rechtliche Prüfung“ hätte ergeben, dass „eine Neuausschreibung die einzige rechtliche Möglichkeit darstellt, das Projekt unter Beibehaltung der vorausgesetzten Qualitätsstandards auf Schiene zu bringen“. Die genauen Beträge, um die es geht, finden sich in der Presseaussendung nicht. In Medienberichten war davor zu lesen gewesen, dass das Land von über 100 Millionen Euro ausging, in manchen Medien war von 132 Millionen Euro die Rede gewesen – statt der geplanten 80 Millionen. Diese Steigerung sei nicht nur unfinanzierbar, sie mache auch zwingend eine Neuausschreibung erforderlich, hätten doch die anderen Teilnehmer am Wettbewerb im Wissen um diesen höheren Kostenrahmen andere Entwürfe liefern können.

132 statt 80 Millionen, „vorausgesetzte Qualitätsstandards“ nicht eingehalten? Was sind das für Architekten? Welche Pfuscher hat die Jury da ausgesucht? Anfänger sind die Architekten jedenfalls nicht. Sie haben eine Fachhochschule in Salzburg, die Landeskliniken in Mödling und Tulln sowie in Innsbruck das Medizinzentrum in der Anichstraße, allesamt komplexe Millionenprojekte, als Generalplaner im Zeit- und Kostenrahmen erstellt. Woher kommen die Kostenüberschreitungen beim MCI? Oder gibt es sie vielleicht gar nicht?

Die maßgeblichen Kennzahlen finden sich in der Wettbewerbsausschreibung. Dort ist für das MCI eine Nutzfläche von 16.695 Quadratmetern angegeben, die zu einem Preis von netto 45 Millionen Euro zu realisieren sei. Diese 45 Millionen beziehen sich auf die Errichtungskosten des Bauwerks, die laut Ö-Norm drei von insgesamt neun Kostengruppen umfassen, nämlich Rohbau, Haustechnik und Ausbau. Nicht berücksichtigt sind Aufschließungskosten, Einrichtung, Außenanlagen sowie Honorare, Nebenkosten und Reserven. Eine weitere Kennzahl war die Gesamtkubatur, die über einen sehr groben Schlüssel ermittelt wurde: Nutzfläche mal 1,54 (ein von einem Gutachter festgelegter Faktor, mit dem Erschließung, Sanitär-, Konstruktions- und Technikflächen berücksichtigt werden) mal vier Meter durchschnittliche Geschoßhöhe.

Das Siegerprojekt lag in der Nutzfläche ein Prozent über der Vorgabe, bei der Kubatur mit einer Überschreitung von 30 Prozent im oberen Mittelfeld, was vor allem auf großzügige Lufträume zurückzuführen war. Die Jury, in der so erfahrene Architekten mitwirkten wie Dietmar Feichtinger, Kjetil Thorsen und Yvonne Farrell, die Direktorin der heurigen Architekturbiennale in Venedig, war überzeugt, dass sich das Projekt mit Anpassungen im Kostenrahmen realisieren ließe.

Im März 2017 wurden die Architekten mit der Ausarbeitung eines Vorentwurfs und einer Kostenschätzung beauftragt, die 56 Millionen Euro ergab. Das Land verlangte eine Reduktion auf 51 Millionen. Die sechs Millionen Differenz zu den 45 in der Ausschreibung genannten sind überwiegend einer Indexanpassung geschuldet. Den 45 Millionen lag eine Preisbasis von Jänner 2015 zugrunde. Laut Statistik Austria sind die Baukosten seither um zehn Prozent gestiegen.

Bis März 2018 erarbeiteten die Architekten in Zusammenarbeit mit dem MCI eine Variante mit einer Kostenschätzung von 51 Millionen. Anfang Juli schlossen sie den Vorentwurf und eine vertiefte Kostenschätzung ab, die 51,3 Millionen Euro ergab. Vonseiten der Nutzer waren in einigen Bereichen optionale Sonderpositionen gewünscht worden, die von den Planern außerhalb dieses Budgets dargestellt wurden.

Für den neuen, nach der Wahl vom Februar 2018 eingesetzten zuständigen Landesrat Johannes Tratter war das offenbar Grund genug, dem Projekt nicht mehr zu trauen. Er ging mit Kosten an die Öffentlichkeit, die alle Sonderpositionen und Kostengruppen einschlossen, mit einer Erhöhung der Reserven auf acht Prozent, einer Valorisierung von 20 Prozent – hochgerechnet auf den Fertigstellungstermin 2020 – und einer Unschärfe von zehn Prozent. Zusätzlich wurden die Kosten inklusive Mehrwertsteuer dargestellt.

Dass Politiker, Beamte und Rechtsgutachter bei diesem offensichtlich faulen Spiel mitmachen, ist ein Skandal. Entsprechend groß war die Entrüstung in der Fachöffentlichkeit. Über 200 namhafte Architekten unterzeichneten ein Protestschreiben, das von der Landesregierung nicht einmal beantwortet wurde. Mit dieser Strategie werden die Akteure noch gehörig auf die Nase fallen. Eine Neuausschreibung kann, auch angesichts massiv steigender Preise am Bau, nur teurer werden als die rasche Umsetzung des vorliegenden Projekts. Verlierer sind die Nutzer und die Steuerzahler, die ein teureres und schlechteres, im schlimmsten Fall über ein Totalübernehmerverfahren abgewickeltes MCI bekommen werden.

Spectrum, Sa., 2018.12.22

24. November 2018Christian Kühn
Spectrum

Viel Drama im engen Korsett

Dieses Haus muss nicht nur besser werden als das alte: Das Wien Museum Neu ist die kulturelle Visitenkarte der Stadt Wien im 21. Jahrhundert. Die aktuellen Pläne zeigen viel formale und konstruktive Akrobatik und wenig Dialog mit dem denkmalgeschützten Bestand.

Dieses Haus muss nicht nur besser werden als das alte: Das Wien Museum Neu ist die kulturelle Visitenkarte der Stadt Wien im 21. Jahrhundert. Die aktuellen Pläne zeigen viel formale und konstruktive Akrobatik und wenig Dialog mit dem denkmalgeschützten Bestand.

Drei Jahre ist es her, dass der Wettbewerb für die Sanierung und Erweiterung des Wien Museums am Karlsplatz entschieden wurde. Seit einem halben Jahr steht auch die Finanzierung: 108 Millionen Euro gab der Wiener Gemeinderat im April für die Errichtung inklusive Nebenkosten frei. Das ist kein geringer Betrag für eine Sanierung von 6900 Quadratmeter Bestand und eine Aufstockung von 5100 Quadratmetern. Zieht man von den genannten 108 Millionen Euro Mehrwertsteuer und Nebenkosten ab, bleiben Baukosten von knapp 70 Millionen und damit ein Durchschnittspreis pro Quadratmeter Nutzfläche von rund 5800 Euro. Dafür darf sich der Steuerzahler ein Museum erwarten, das auch im internationalen Vergleich zur Spitzenklasse zählt.

Umso erstaunlicher war die Zurückhaltung, mit der das Projekt der Öffentlichkeit präsentiert wird. Eine Schautafel in der Halle des Museums zeigt seit dem Sommer großformatige Visualisierungen und schematische Axonometrien der Geschoße, aber keine exakten Grundrisse und kein Modell, das von allen Formen der Architekturdarstellung wohl jenes ist, das dem Laien ein Projekt am direktesten vermittelt. Auf Anfrage teilte das Museum mit, dass es im Herbst eine detaillierte Ausstellung über das Projekt geben werde. Das gab Grund zur Hoffnung, dass einiges an den damals gezeigten Darstellungen nicht ganz ernst zu nehmen sei, etwa die Idee, die schwebende Kiste auf dem Bestandsbau von Oswald Haerdtl als Sichtbetonbox in bester Tradition des Betonbrutalismus zu konzipieren, gegossen in einer rauen Bretterschalung.

Nun ist der Herbst da, aber die versprochene Ausstellung gibt es nur dem Titel nach: „Gemma, Gemma!“ suggeriert Aufbruch. Wohin, scheint aber noch nicht ganz klar zu sein: Statt einer vollständigen Präsentation des Projekts mit Plänen und Modellen wird dem Besucher eine weitere großformatige Visualisierung präsentiert, ergänzt um einen Animationsfilm zur Projektgeschichte. Eine kleine Sitzgruppe lädt zum Gespräch über das Projekt ein, für das Matti Bunzl, der Direktor, jeden Freitag von 15 bis 17 Uhr zur Verfügung zu stehen verspricht. Der Kritik bleibt also nichts anderes übrig, als sich an die bekannten Fakten zu halten und das Projekt so zu analysieren, wie es präsentiert wird. Die Idee einer Aufstockung um zwei Geschoße war bereits in einer Vorstudie zum Wettbewerb, die der Ausschreibung beilag, als Option angeführt. Unter dem Titel „Haerdtl hoch 2“ war dort zu lesen: „Ein echter Neubau über dem Haerdtl, keine Dachaufstockung. Eigenständig in Form und Ausdruck, zeichenhaft und zeitgenössisch. Durch seine Architektur kann der Neubau den Haerdtl stärken und vitalisieren – aus einem Exponat werden zwei.“ Die vom Berliner Büro Kuehn Malvezzi erstellte Studie nannte als Referenzbeispiele die Oper in Lyon von Jean Nouvel und die Elbphilharmonie in Hamburg von Herzog & de Meuron. Sie erwähnte aber auch, dass das Denkmalamt einer Aufstockung sehr reserviert gegenüberstehe.

Die Architekten Roland Winkler, Klaudia Ruck und Ferdinand Certov nahmen diesen Gedanken auf und übersetzten ihn in ihrem siegreichen Wettbewerbsprojekt in eine über einem „Fugengeschoß“ schwebende Box, einen schlichten schwarzen Quader mit zwei kleinen Lichtbrunnen nach unten in die bestehende Halle. Den Bedenken des Denkmalamts hielten sie entgegen, dass der vertikale Zubau den Bestand nicht berühre, sondern – über eigene Fundamente – nur seinen Fuß in die Halle setze und dann über den Bestand auskrage, ohne sich auf ihm aufzustützen.

In der Weiterplanung haben Winkler, Ruck und Certov diese akrobatische Übung zwar durchgehalten, unter Einsatz von sehr viel Stahlbeton in der Halle und sehr viel Stahl in der Box; aber je länger man das Projekt betrachtet, desto illusorischer erscheint der Ansatz, den Bestand nicht zu stören, indem man ihn nicht berührt. Wenn man den Haerdtl-Bau als Baudenkmal betrachtet, müsste man mit ihm in Dialog treten, so wie man einem alten Menschen die Hand reicht, um ihn zu stützen. Das Projekt scheitert in dieser Hinsicht schon beim Eingang: Dem Bestand wird ein Pavillon vorgestülpt, der keinerlei Bezug zu Haerdtls Fassade herstellt. Dass diese auch ihr Kranzgesims verliert, ist nur damit erklärbar, dass eine starke horizontale Schattenlinie unter dem „Fugengeschoß“ stören würde. Denkmalpflegerisch ist das indiskutabel.

Ähnliches gilt für die zentrale Halle, zu Haerdtls Zeit ein begrünter Hof, der 1996 von Dimitris Manikas und Wolfdietrich Ziesel überdacht wurde, mit einem Glasdach, das als Ingenieurleistung genauso denkmalwürdig wäre wie der Haerdtl-Bau selbst. Auch in diesem Raum wird viel Sichtbeton vergossen: Ein dreiecksförmiger Betonkörper schließt ihn nach oben ab, eine Treppe schiebt sich als Betonskulptur in den Raum, Licht fällt über seitliche Schlitze bewusst spärlich und dramatisch ins Innere. Was diese Inszenierung bringt, und wie sie zur Feingliedrigkeit der Haerdtl'schen Hoffassaden passt, bleibt ein Rätsel. Funktionell bringt das Projekt durch die sehr kompakte Anordnung der Nutzflächen einen effizienten Betrieb mit kurzen Wegen. Allerdings ist das auch ein Korsett: Reserven für Wachstum gibt es nicht, und bei den Fluchtwegen liegt man ebenfalls am Minimum. Wer das strenge Wiener Veranstaltungsstättengesetz kennt, ahnt, dass im großen Vortragsraum im „Fugengeschoß“ während der normalen Öffnungszeit des Museums, in der das ganze Haus bespielt ist, nur Veranstaltungen im kleinsten Kreis stattfinden können.

Absehbar ist auch ein Kulturkampf über die Materialität des schwebenden Quaders, der ja direkt mit der Kuppel der Karlskirche und indirekt mit der Kuppel der Secession im Dialog steht. Die bisherigen Visualisierungen zeigen viele unterschiedliche Varianten, zu denen sich im Kulturkampf Lager bilden werden: Auf die Schlacht zwischen den Betonbrutalisten, den Freunden des gelochten Cortenstahls, den Betonbedruckern und anderen Fraktionen darf man gespannt sein. Wahrscheinlich sollte das Museum diesen Kulturkampf abwarten, bevor es – wie für Februar 2019 angekündigt – bis zu fünf Jahre lang auszieht und mit seinen 200 Mitarbeitern auf Wanderschaft geht. Dieses neue Haus muss nicht nur besser sein als das alte Wien Museum. Es ist die kulturelle Visitenkarte der Stadt Wien im 21. Jahrhundert – wird es diesem Anspruch gerecht?

Spectrum, Sa., 2018.11.24



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Wien Museum

27. Oktober 2018Christian Kühn
Spectrum

Leicht ist das Schweben

Eine Schulerweiterung als Protest gegen die Schwerkraft: Mit dem Campus Technik Lienz bringen Hemma Fasch und Jakob Fuchsdie Architektur zum Fliegen und erhalten dafür die Auszeichnung des Landes Tirol für Neues Bauen.

Eine Schulerweiterung als Protest gegen die Schwerkraft: Mit dem Campus Technik Lienz bringen Hemma Fasch und Jakob Fuchsdie Architektur zum Fliegen und erhalten dafür die Auszeichnung des Landes Tirol für Neues Bauen.

Manchmal geht es schnell: Im Februar 2016 trat die Jury des Architekturwettbewerbs für den Campus Technik Lienz zu ihrer entscheidenden Sitzung zusammen; exakt zwei Jahre später, im Februar 2018, fand die Eröffnung statt. Der Campus kombiniert verschiedene Bildungseinrichtungen an einem Standort: eine Tiroler Fachberufsschule, eine private Höhere Technische Lehranstalt sowie eine Außenstelle der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck und der Universität für Medizinische Informatik und Technik in Hall in Tirol.

Abgekürzt zierten die Namen dieser Institutionen das Deckblatt der Wettbewerbsausschreibung und vermittelten den Architekten eine Ahnung von der Komplexität ihrer Aufgabe: TFBS, PHTL, LFUI und UMIT sollten so viele Synergien wie möglich entfalten, aber trotzdem als eigene Institutionen sichtbar und funktionsfähig bleiben.

Die Rahmenbedingungen für diese Aufgabe waren ausgesprochen schwierig. Der Standort am Ufer des Flusses Isel ist bereits mit Bestandsbauten besetzt, die über die Jahre gewachsen sind. Den Anfang machte die Fachberufsschule, zu der später die formal private, de facto aber von Bund, Land und Gemeinde getragene HTL kam, die sich auf Mechatronik spezialisiert hat. Diese bestehenden Einrichtungen sollten erweitert und um neue Räume für die Außenstelle von LFUI und UMIT ergänzt werden.

Flächenmäßig waren rund 3000 zusätzliche Quadratmeter Nutzfläche zu schaffen: Seminarräume, Büros und offene Arbeitsplätze für die Universitäten, neue Klassenräume für die PHTL und dazwischen Labors und eine Bibliothek zur gemeinsamen Nutzung. Ein großes Foyer sollte als Treffpunkt für die Studierenden aller Altersgruppen dienen. Als Standort für die Erweiterung war allerdings ein Grundstück vorgesehen, das die Kette von Bestandsbauten entlang der Uferpromenade mit einem weiteren mehrgeschoßigen Solitärbau fortgesetzt hätte. Diese Lösung hätte den Neubau aber isoliert und weit vom Hauptzugang auf den Campus abgerückt, der sich im Osten des Grundstücks befindet, wo die Uferpromenade und eine Brücke über die Isel zusammentreffen.

Die Architekten Hemma Fasch und Jakob Fuchs schlugen ein völlig anderes Konzept vor: einen auf Stützen über der Uferpromenade schwebenden eingeschoßigen Baukörper, der den bestehenden Gebäuden vorgelagert und durch Brücken mit ihnen verbunden ist. Erfahrungen mit dem Thema einer scheinbar schwebenden Architektur haben Fasch und Fuchs bereits mit der Schiffstation für den Twin City Liner Wien–Bratislava am Wiener Donaukanal gesammelt. Das Projekt in Lienz ist mit seinen knapp über 150 Meter Länge deutlich größer und von seiner Funktion her komplexer. Vor der Länge scheuen sich Fasch und Fuchs nicht, im Gegenteil: Die innere Erschließung läuft schnurgerade über diese Länge durch, während sich zuerst auf der einen, dann auf der anderen Seite die Nutzflächen anordnen und dabei elegant den Bäumen ausweichen, die nach Möglichkeit erhalten bleiben sollten. An einigen Stellen kommt der horizontale „Flieger“ den Baumstämmen erstaunlich nahe, was nur möglich ist, weil sein Brückentragwerk auf wenigen Fundamentpunkten ruht und damit die Wurzeln der Bäume nicht beschädigt. Im Inneren des fliegenden Baukörpers dürfen sich die Nutzer wie in einem Raumschiff fühlen, das gerade an seinem Landeplatz an der Isel angedockt hat. Die Böden sind in einem kräftigen Gelb gehalten, die leichten Trennwände in einem Graublau, das an die Farbe der Dolomiten erinnert, und die Vorhänge im wässrigen Grün des vorbeirauschenden Flusses. Die Fachwerkkonstruktion, geplant von Werkraum Ingenieure, besteht aus runden, weiß gestrichenen Stahlrohren und überwindet die großen Spannweiten mit beachtlicher Leichtigkeit. Für Boden und Decke kamen Stahlbeton-Hohldielen mit bis zu 17 Meter Spannweite zum Einsatz, die zwischen den geschoßhohen Fachwerken an den beiden Längsseiten des Baukörpers gespannt sind.

Zu einer eigenen Herausforderung wurde ein kleiner Wildbach, der unter dem aufgeständerten Gebäude durchfließt und in die Isel mündet. Wasserrechtlich ist eine Überbauung des Bachs mit Nutzflächen grundsätzlich untersagt, und es bedurfte einiger juristischer Fantasie, zu einer Lösung zu kommen. Solche scheinbar nebensächlichen Probleme können ein Bauprojekt um Monate zurückwerfen. Dass in diesem Fall die äußerst knappe Bauzeit eingehalten wurde, grenzt an ein Wunder. Nicht nur das Wasserrecht, sondern auch die komplexe Nutzerstruktur, der Hochwasserschutz der Isel und die auch sonst nicht gerade triviale Konstruktion hätten jede Menge Anlass für Verzögerungen geboten. Offensichtlich haben bei diesem Projekt alle Beteiligten an einem Strang gezogen, statt bei jedem Problem nach einem Schuldigen zu suchen.

Das Ergebnis spricht jedenfalls für sich. Es strahlt einen Optimismus aus, der perfekt zur tollkühnen Idee passt, Lienz zur Universitätsstadt zu machen, indem man einige Büros und Hörsäle hierher auslagert und sie per Videokonferenz interaktiv an die Hauptstandorte in Innsbruck und Hall anbindet. Ob das funktioniert, werden die nächsten Jahre zeigen. Die Raumstruktur, die Fasch und Fuchs geschaffen haben, ist flexibel genug für zukünftige Anpassungen.

Man kann diese schwebende Architektur auf zwei Arten lesen: als raffinierte Antwort auf eine höchst spezifische Situation – keine andere Lösung hätte alle Institutionen so elegant verflochten und gleichzeitig so wunderbare Außenräume entlang der Uferpromenade geschaffen. Man kann sie aber auch als Erinnerung an den alten Traum der Moderne lesen, Ausdruck einer besseren Welt zu sein, in der die Gesetze der Schwerkraft suspendiert sind. Architektur kann diese Utopie konkret machen, braucht dafür aber die nötigen Ressourcen und Fürsprecher. Dass gerade dieses Bauwerk vergangene Woche die Auszeichnung des Landes Tirol für Neues Bauen erhalten hat, ist daher besonders erfreulich.

Die Schülerinnen und Schüler in der HTL in Lienz sind von den neuen Räumen jedenfalls begeistert und inspiriert. Ob die Tatsache, dass es heuer erstmals kein „Nicht genügend“ bei der Mathematikmatura gab, wirklich darauf zurückzuführen ist, dass die Prüfung im neuen Gebäude stattfand, wird sich nur schwer beweisen lassen. Dass diese Vermutung überhaupt kursiert, ist aber ein gutes Zeichen.

Spectrum, Sa., 2018.10.27



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Campus Technik Lienz

29. September 2018Christian Kühn
Spectrum

Alles? Wirklich alles?

Für die heutige Architekturproduktion ist die Frage, ob Architektur Kunst ist, nach wie vor brisant: Steckt in jedem architektonischen Vorhaben das Potenzial, ein Werk der Baukunst zu werden? Der Salzburger Landesarchitekturpreis gab eine Antwort.

Für die heutige Architekturproduktion ist die Frage, ob Architektur Kunst ist, nach wie vor brisant: Steckt in jedem architektonischen Vorhaben das Potenzial, ein Werk der Baukunst zu werden? Der Salzburger Landesarchitekturpreis gab eine Antwort.

Alles ist Architektur“: Mit dieser Behauptung hat Hans Hollein in der Architekturwelt für nachhaltige Verwirrung gesorgt. Einerseits passt sie gut zur Forderung nach einer Demokratisierung der Kultur, wie sie für die 1960er-Jahre charakteristisch war. Architektur sollte sich als „Umweltgestaltung“ nicht mehr auf elitäre Aufgaben wie Kirchen und Museen beschränken, sondern die gesamte Umwelt erfassen und diese im Interesse breiter Bevölkerungsschichten besser designen. Dazu müsse sie sich aus der Blase ihrer elitären ästhetischen Vorlieben befreien und ihre architektonische Inspiration auch aus anderen Quellen schöpfen, etwa den historischen oder anonymen Architekturen des Alltags. „Mainstreet is almost alright“ konstatierten Robert Venturi und Denise Scott-Brown etwa zeitgleich mit Hollein und empfahlen ihren Kollegen „Learning from Las Vegas“.

Andererseits steht Holleins Behauptung auch für das genaue Gegenteil, nämlich den höchsten elitären Anspruch an die Gestaltung aller Lebensbereiche. Vom Schrank bis zum Hochhaus, überall brauche es Architektur als angewandte Kunst. Die meisten Architekten, so formulierte es Hollein an anderer Stelle, kämen vor lauter „Häuserbauen“ gar nicht mehr dazu, an Architektur im Sinne von Baukunst zu denken. Für Hollein bedeutete das auch eine klare Absage an den Funktionalismus und ein Bekenntnis zum Primat der Form – eine Position, mit der er nicht allein stand: So gab etwa Karl Schwanzer dem Buch, das er 1973 über sein BMW-Hochhaus in München publizierte, den Titel „Entscheidung zur Form“.

Hollein hat es zeitlebens geschickt verstanden, sich nicht auf eine dieser Interpretationen festzulegen. Er wollte Teil der Populärkultur werden, bürdete seinen Projekten aber den ganzen Überbau einer Baukunst auf, die primär auf die Form hin orientiert ist.

Für die heutige Architekturproduktion ist die Frage, ob Architektur als Kunst verstanden werden soll, nach wie vor relevant. Die Antwort, die Adolf Loos vor 100 Jahren gab, war unmissverständlich: Nur die Architektur von Denkmal und Grabmal gehöre zur Kunst, alle andere Architektur sei dezidiert nicht Kunst. Dahinter steht der Gedanke, dass Kunst keinem Zweck zu dienen hat. Völlig zweckfrei ist Kunst aber auch für Loos nicht: Sie hätte den Menschen aus seiner Bequemlichkeit herauszureißen, während Architektur in erster Linie der Bequemlichkeit, also dem Komfort, zu dienen habe. Loos relativierte diese Aussage allerdings, wenn er betonte, für Menschen mit „modernen Nerven“ zu gestalten. Für Zeitgenossen, die solche Nerven noch nicht entwickelt hatten, war Loos‘ Architektur eine massive Provokation.

Die klare Grenze zwischen Kunst und Architektur, die Loos behauptet, lässt sich heute deshalb nicht mehr ziehen, weil sich das Verständnis von Kunst verändert hat. Kunst wird heute weniger als ästhetisches Objekt verstanden, das bestimmten Kriterien genügt, sondern als eine ästhetische Praxis der Selbstverständigung, zu der sowohl Produzenten als auch Konsumenten beitragen. Architektur und Städtebau unterscheiden sich aber von anderen Künsten dadurch, dass sie so gut wie immer unter den Augen der Öffentlichkeit stattfinden, während andere Bereiche der Kunst sich über Jahrhunderte Institutionen geschaffen haben, in die sie sich quasi zurückziehen können. Was in der Kunstgalerie oder im Konzerthaus passiert, muss nicht von allen rezipiert werden. Architektur und Stadtgestaltung schaffen dagegen Situationen, die dauerhaft in der öffentlichen Wahrnehmung präsent bleiben.

Ist damit gemeint, dass wirklich jedes architektonische oder städtebauliche Projekt ein Kunstwerk sein soll? Das wäre naiv. Es reicht, jedem architektonischen Vorhaben das Potenzial zuzusprechen, ein Werk der Baukunst zu werden. Das ist keine Selbstverständlichkeit. „Ein Fahrradschuppen ist ein Bauwerk. Die Kathedrale von Lincoln ist Architektur“ – so formulierte der Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner Mitte des 20. Jahrhunderts die nach wie vor verbreitete Haltung in dieser Frage. Hohe Baukultur bedeutet dagegen, jeder Bauaufgabe, auch der technischen Infrastruktur wie Kraftwerken und Brücken, das Potenzial zuzugestehen, Baukunst zu werden.

Einen Beleg für diese These bietet die heurige Auswahl der Nominierungen zum Architekturpreis des Landes Salzburg. Dieser mit 10.000 Euro für den Verfasser des Siegerprojekts dotierte Preis wird alle zwei Jahre für Projekte im Land Salzburg verliehen. Seit einigen Jahren umfasst er zusätzlich ein Förderstipendium in der Höhe von 5000 Euro für junge Architektinnen und Architekten, das heuer an Horst Lechner und Lukas Ployer für ein Forschungsprojekt über den Flussraum der Salzach vergeben wurde.

Ziel des Preises ist laut Statuten die Bewusstseinsbildung für qualitätsvolles Bauen in der Öffentlichkeit. Kriterien sind „die Erfüllung der Aufgabe unter Bedachtnahme auf die Umgebung, hoher architektonisch-künstlerischer Wert, die Übereinstimmung von Form und Funktion sowie sorgfältige technische und künstlerische Durchbildung“. Die Jury unter dem Vorsitz der Architektin Laura Spinadel hatte bewusst sechs Nominierungen ausgewählt, die ein breites Spektrum an Bauaufgaben abdecken: eine Kapelle in Kendlbruck von Hannes Sampl, ein Wohnhaus auf der Postalm von Maximilian Eisenköck, einen sozialen Wohnbau von Artec, die Probebühnen für die Salzburger Landestheater von der Architekturwerkstatt Zopf und den Umbau einer Industriehalle zu einem Boulderzentrum von Wolfgang Maul, alle drei in der Stadt Salzburg, und schließlich ein reines Stück Infrastruktur mit großer Wirkung auf die Landschaft: ein privates Flusskraftwerk in Saalbach-Hinterglemm.

Alle nominierten Projekte erfüllen ihren Zweck. Sie sind aber gleichzeitig Werke der Baukunst. Was an ihnen Kunst ist, kann man nicht abmontieren; es ist kein Dekor, sondern ein Prinzip. Nachahmung ist daher auch nur über diesen Weg möglich: Gute Architektur entsteht, wenn Bauherren mit Anspruch sich Architektinnen oder Architekten mit Prinzipien suchen und mit ihnen ein Projekt entwickeln. Die Nominierungen beweisen, dass in Salzburg genug Potenzial dafür vorhanden ist.

Den ersten Preis erhielt schließlich das Projekt, das am wenigsten nach Architektur aussieht: die Boulderhalle mit Bar in der Stadt Salzburg. Bouldern ist ein Sport, der besonders raumbezogen ist: Kletterern bietet die Halle eine künstliche, wild gefaltete Landschaft mit zahlreichen Parcours und Trainingsplätzen. Eine Boulderhalle ist gleichzeitig ein kleines Theater, in dem die Akteure und die Beobachter dauernd ihre Rollen wechseln. Hier setzt die architektonische Planung an, schafft Blickpunkte und kleine Inszenierungen wie in einem „echten“ Theater. Im Zentrum der Halle liegt die Bar mit großen Glasfenstern, einer Theke aus feinem Beton, eleganten Deckenleuchten und einer sorgfältig ausgewählten Sperrmülleinrichtung. Alles ist Architektur.

Spectrum, Sa., 2018.09.29



verknüpfte Auszeichnungen
Architekturpreis Land Salzburg 2018

01. September 2018Christian Kühn
Spectrum

Die letzten Tage der Baukultur

Die Generali-Versicherung vermietet die denkmalgeschützten Räume ihrer ehemaligen Kunstsammlung an eine Supermarktkette. Ein besonders infamer Fall von Kindesweglegung, der gut ins Gesamtbild der baukulturellen Entwicklung passt.

Die Generali-Versicherung vermietet die denkmalgeschützten Räume ihrer ehemaligen Kunstsammlung an eine Supermarktkette. Ein besonders infamer Fall von Kindesweglegung, der gut ins Gesamtbild der baukulturellen Entwicklung passt.

Der Optimist und der Nörgler sind zwei Figuren aus der Sammlung von Charakteren, die Karl Kraus für sein Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ geschaffen hat. Sie kommentieren die Ereignisse des Ersten Weltkriegs, wobei der Optimist als Stichwortgeber auftritt, dessen phrasenreiches Gerede der Nörgler mit seinen Antworten entlarvt.

Leihen wir uns dieses Dramenpersonal für einen Spaziergang durch Wien, und lassen wir den Optimisten beginnen: „Wien ist die lebenswerteste Stadt der Welt! Nicht nur die Mercer-Studie, auch der renommierte Economist reihen uns auf Platz eins. Melbourne haben wir geschlagen, weil die Terrorismusgefahr in Wien gering und die Schönheit der Stadt umwerfend ist.“

Der Nörgler: „Berittene Polizei und Weltkulturerbe – das soll unsere Zukunft sein? Studien wie die beiden zitierten würdigen Leistungen der Vergangenheit. Wie gut es sich in fünfzehn Jahren in Wien leben lässt, entscheidet sich heute.“

„Aber wir sind doch einfach Weltklasse!“, entgegnet der Optimist. „Der Denkmalschutz erfasst in Wien schon Bauten, die erst ein Vierteljahrhundert alt sind. Sehen Sie nur, hier, in der Wiedner Hauptstraße 15: Die Generali Foundation, erst 1995 als Ausstellungsraum für die Kunstsammlung der Versicherung errichtet, steht bereits unter Denkmalschutz. Und seit hier ein Lidl-Supermarkt eingezogen ist, kann jeder ohne Scheu diesen Kunstraum besuchen. Niederschwelliger kann man große Architektur nicht unters Volk bringen.“

Die beiden Herren betreten den Korridor, der als neuer, straßenseitiger Zugang zur Verkaufshalle angelegt wurde. Überlassen wir sie einen Moment diesem Shoppingerlebnis der besonderen Art und wenden uns kurz den Fakten zu. Die 1988 gegründete, auf Konzeptkunst fokussierte Generali Foundation war eine fixe Größe im Wiener Kulturbetrieb, ihre von Jabornegg und Pálffy gestalteten Räume waren ein Meilenstein der Wiener Architekturentwicklung. Sie stehen daher zu Recht unter Denkmalschutz. Im Rahmen einer „Konzentration auf die Kernaufgaben“ überließ die Generali ihre Sammlung Ende 2015 dem Museum der Moderne Salzburg. Seither stand die Halle leer. Eine Nutzung für kulturelle Zwecke scheiterte nicht zuletzt an der geforderten Miete, die mit Kultur nicht zu verdienen ist. Im jüngsten Geschäftsbericht der Generali-Versicherung kommt Kulturförderung – bis auf ein Sponsoring des Wiener Musikvereins – nicht vor. „Simpler, Smarter. Faster!“ nennt sich die aktuelle Unternehmensstrategie: Kultur ist Ballast, selbst für einen milliardenschweren Konzern.

Der Optimist und der Nörgler treten auf die Straße, vor ihnen eine Bildstele von Heimo Zobernig aus zwei übereinander gesetzten City-Lights, seinerzeit als Kunstwerk bewilligt. Jetzt prangt dort das Lidl-Logo. „Elastizität ist die Substanz der neuen Kunst!“, schwärmt der Optimist. „Alles fließt: In der Bankfiliale von Adolf Loos in der Mariahilferstraße 70 werden heute billige Kleider der Marke Tally Weijl verkauft, und im Loos-Haus, dem ehemaligen Modegeschäft Goldman und Salatsch, residiert heute die Raiffeisenbank. So viel Ironie gibt es nur Wien!“

„Die Unterscheidung zwischen Schein und Substanz hat diese Stadt schon lange verlernt“, entgegnet der Nörgler. „Am Heumarkt üben sich die Verantwortlichen seit Jahren im Schönreden einer stadtgestalterischen Katastrophe. Was die Autosuggestion stört, wird verdrängt, wie zuletzt die drei Gutachten, die von der Stadt selbst in Abstimmung mit der Unesco in Auftrag gegeben wurden.“ – „Die Kleingeister aus Paris werden schon noch flexibel werden“, entgegnet der Optimist. „Jedes Gutachten lässt sich interpretieren.“

Lassen wir die beiden Herren noch ein paar Schritte machen und wenden uns auch hier den Fakten zu. Die drei Gutachten sind unmissverständlich: „Das alte Intercontinental Hotel setzte sich über die städtebauliche Logik des Grundstücks hinweg, um dort einen Neuanfang zu verkünden, wo dieser am deplatziertesten war. Vor dem Hintergrund der damaligen Aufbruchsstimmung (und urbanistischen Verwirrung) ist die alte städtebauliche Sünde verständlich und sogar verzeihbar. Sie heute zu wiederholen, ja zu potenzieren, aber diesmal ohne den entsprechenden sozialhistorischen Hintergrund und seine mildernden Umstände, wäre unverständlich und unverzeihlich. Das Projekt beeinträchtigt seinen städtebaulichen Kontext so stark und negativ, dass die Welterbestätte Wien Innere Stadt in Bestand und Wertigkeit ernsthaft bedroht ist.“ Soweit der Stadtplaner Vittorio Magnago Lampugnani. Die Gutachten von Christa Reicher und Birgitta Ringbeck stehen ihm in nichts nach.

Sie decken sich auch mit einem aktuellen Protestbrief, den vom Kunstsenat angefangen viele wichtige Kulturinstitutionen unterstützt haben. Die Antwort des Wiener Bürgermeisters liest sich wie eine Nachricht aus einer Parallelwelt: „Das Heumarkt-Projekt bedingt weder einen Abbruch historischer Substanz, noch wird der Stadtgrundriss verändert. Auf den historischen – innerhalb der Ringstraße gelegenen – Stadtkern hat das Projekt keine Auswirkungen. Die Integrität und Authentizität der Welterbestätte werden durch das Projekt nicht in Frage gestellt.“

„Wien ist anders!“, schwärmt der Optimist. „Eine Stadt muss mehr sein als nur schön. Wien hat das beste Kanalsystem und die beste U-Bahn der Welt.“ Das ist dem Nörgler zu wenig: „Das eine darf nicht gegen das andere ausgespielt werden. Warum betet diese Stadt ihre Sachzwänge an? Warum schätzt sie Schönheit und Großzügigkeit so gering?“ Noch einmal zu den Fakten: Der U-Bahnbau in Wien ist ein eigener, von den Wiener Linien regierter Kosmos. Wer sich dort anmaßt, Kritik zu üben, nicht an der U-Bahn per se, sondern etwa als besorgter Hausbesitzer an bestimmten technischen Verfahren, wird rasch in seine Schranken verwiesen. So erging es den Besitzern von Otto Wagners „Hosenträgerhaus“ an der Ecke Alserstraße/Garnisongasse, dessen Fundamente für eine neue U5-Station unterfangen werden. Aus dem Antwortschreiben des Anwalts der Wiener Linien: „Das Interesse der Stadtbevölkerung an einem funktionierenden Nahverkehr ist deutlich höher als an rein ästhetischen Befindlichkeiten. Die Mehrheit der Stadtbevölkerung wohnt in den Außenbezirken und hat ein ureigenes Interesse, sich in der Stadt relativ schnell fortzubewegen. Im Übrigen: Die Funktionalität der Stadtarchitektur steht deutlich über den ästhetischen Aspekten.“

Unsere beiden Herren sind inzwischen die Prinz-Eugen-Straße hinaufgezogen und passieren das Belvederestöckl im Schwarzenberggarten. „Endlich“, so der Optimist, „wird dieser Park öffentlich zugänglich – als Bierlokal mit 880 Plätzen.“ – „Auch der Park des privaten Palais Liechtenstein im neunten Bezirk“, antwortet der Nörgler, „ist tagsüber öffentlich zugänglich – gratis und ohne Konsumzwang. Wer gut wirtschaftet, braucht seinen Besitz nicht zu verramschen.“ Der Optimist: „Ich freu' mich auf diesen Hort österreichischer Gastlichkeit und gepflegter Biere. Braukultur statt Baukultur – das wird eine Erleichterung!“

Spectrum, Sa., 2018.09.01

04. August 2018Christian Kühn
Spectrum

Otto Wagners Denkmal hätte sich einen würdigeren Ort verdient

Kein anderer Architekt hat Wien so geprägt wie er: Otto Wagner, ein Weltstar, dessen Ideen bis heute nachwirken. Und dessen Denkmal sich einen würdigeren Platz verdient hätte als den gegenwärtigen. Nachbetrachtungen zu den beiden Wagner-Ausstellungen im MAK und im Wien Museum.

Kein anderer Architekt hat Wien so geprägt wie er: Otto Wagner, ein Weltstar, dessen Ideen bis heute nachwirken. Und dessen Denkmal sich einen würdigeren Platz verdient hätte als den gegenwärtigen. Nachbetrachtungen zu den beiden Wagner-Ausstellungen im MAK und im Wien Museum.

Was macht gute Architektur aus? Für Otto Wagner war die Antwort klar: peinlich genaues Erfassen und vollkommenes Erfüllen des Zwecks, glückliche Wahl des Ausführungsmaterials, einfache und ökonomische Konstruktion, der richtige Standort – und dann die aus diesen Prämissen entstehende Form, die „von selbst in die Feder fließt“.

Das klingt nach purem Funktionalismus, nach einer Architektur, die von der Liebe zum Zweck dominiert wird. Mit dieser Interpretation liegt man bei Wagner allerdings falsch. Die Liebe zum Zweck gibt es, aber neben ihr gibt es auch die Liebe zur Baukunst. „Sine arte, sine amore, non est vita“, lautete ein Prinzip Wagners, gleichwertig neben dem anderen, von Gottfried Semper übernommenen, „Sola artis domina necessitas“: Nur eine Herrin kennt die Kunst, das Bedürfnis. In der Villa in Hütteldorf, die Wagner sich 1886 als Sommerwohnsitz bauen ließ, finden sich beide lateinischen Zitate als Inschriften auf der Fassade, in Marmorplatten eingemeißelt.

Wagner fasziniert bis heute durch die erstaunliche Souveränität, mit der er diese beiden Prinzipien in Einklang zu bringen verstand. In seinem 1896 unter dem Titel „Moderne Architektur“ publizierten theoretischen Hauptwerk – aus dem die eingangs zitierte Definition „guter“ Architektur stammt – legte er das theoretische Fundament einer Praxis, die Poesie und Rationalismus gleichwertig verbindet. In der Vorahnung, dass auch „Moderne Architektur“ zu einem statischen Stilbegriff werden könnte, änderte er in der vierten Auflage 1914 den Titel seines Buchs auf „Die Baukunst unserer Zeit“.

Wagner lässt sich nicht auf einen Vorläufer der „klassischen Moderne“ reduzieren. Er war Vertreter einer eigenständigen Moderne: anti-historistisch, aber geschichtsbewusst, der Funktion verpflichtet, aber souverän im Umgang mit der Form. Als die rebellische Architektengeneration nach dem zweiten Weltkrieg Ende der 1950er-Jahre eine Entwicklung einleitete, die um 1980 als „Postmoderne“ Furore machte, konnte sie in Otto Wagner einen Architekten entdecken, der schon längst dort angekommen war, wo sie die Architektur hinführen wollten.

Als Wagner 1918 im Alter von 76 Jahren verstarb, war er ein Weltstar, dessen Einfluss über seine Publikationen und seine Schüler kaum zu überschätzen ist. Dass zu seinem 100. Todestages eine große Ausstellung zustande kommt, war zu hoffen. Am Ende wurden es zwei, was zu einiger Skepsis Anlass gab. Warum schaffen es die Museen in Wien nicht, ihre Energien zu bündeln, um etwas wirklich Großes zu machen? Um es vorwegzunehmen: Die Skepsis war unbegründet. Einen so faszinierenden Doppelblick auf das Phänomen Wagner, wie er jetzt im Wien Museum und im Museum für Angewandte Kunst (MAK) zu erfahren ist, hätte eine einzelne Ausstellung nie bieten können. Im Wien Museum ordnet das Kuratorenteam Andreas Nierhaus und Eva-Maria Orosz die Ausstellung weitgehend chronologisch und zeigt neben dem Werk auch Exponate zur persönlichen Biografie und zum sozialen Umfeld Wagners. Welchen Stellenwert die Liebe zu seiner Frau Luise für Wagner hatte, wird in Briefen und in Doppelporträts aus unterschiedlichen Lebensabschnitten dokumentiert: Dass der Wagner-Forscher Otto Antonia Graf die Architektur Wagners als „Baukunst des Eros“ beschrieb, hat durchaus Berechtigung.

Ein eigener Raum ist Wagners Stadtregulierungsplan von 1893 und dem Stadtbahnprojekt gewidmet, die Wagner, der bis dahin vor allem ein erfolgreicher Zinshausarchitekt war, zum „modernen“ Architekten machten. Einerseits begann er hier, im Maßstab der Großstadt zu denken. Andererseits entwickelte er eine Ästhetik, die der Technik Leben einhauchte und ihr damit eine Würde verlieh. In der Ausstellung wird das vor allem über Originalzeichnungen vermittelt, deren Exaktheit und Leichtigkeit schon für sich einen Besuch lohnen.

Weitere Stationen sind die Beziehung Wagners zur Secession und der Kampf um ein Stadtmuseum, zuerst am Karlsplatz, dann auf der Schmelz, und schließlich die großen Projekte nach der Jahrhundertwende, die Kirche am Steinhof, die Postsparkasse und nicht zuletzt das Konzept der „unbegrenzten Großstadt“, Wagners Vision für eine Millionenstadt am Beispiel Wiens, verfasst auf Anregung des Dekans der Columbia-Universität in New York. Wagner entwirft für seine Metropole ein Grundmodul für 100.000 Einwohner, eine Rasterstadt mit „Central Park“. Er denkt dabei nicht nur als Künstler: Um die „Macht des Vampyrs Spekulation“ zu brechen, brauche es ein „Expropriationsgesetz“ und einen „Stadtwertzuwachsfonds“.

Nach dem Kauf des hervorragenden Katalogs, der sich zu Recht als neues Standardwerk zum Thema Wagner und seine Zeit bezeichnen darf, wechseln wir zur Ausstellung ins MAK. „Post Otto Wagner. Von der Postsparkasse zur Postmoderne“, kuratiert von Sebastian Hackenschmidt mit Iris Meder und Ákos Moravánszky als wissenschaftlichem Beirat, spannt einen Kosmos aus unterschiedlichen Planeten auf, die lose durch die Person und die Ideen Otto Wagners verknüpft sind. Dabei gibt es – wie es sich für eine Ausstellung gehört, die den Begriff Postmoderne im Titel trägt – wilde Zeitsprünge und Assoziationsketten. Bei der Postsparkasse etwa wird der Fokus auf ein Detail gelegt, das Glasdach über dem Kassensaal, das Wagner ursprünglich als hauchdünne, über Seile abgespannte Glashaut geplant hatte. In der Ausstellung wird das Protokoll der Sitzung präsentiert, in der Wagner wie ein Löwe für diese Lösung kämpft, sich aber schließlich unter Protest pragmatischen Rücksichten beugen muss. Hier springt die Ausstellung 60 Jahre in die Zukunft zu den Olympiadächern von Frey Otto und von dort wieder zurück zu den Festzelten in Wagners Œuvre.

Ähnlich verfahren die Kuratoren mit Arbeiten von Robert Venturi und Denise Scott Brown, deren „Big Apple“-Pavillon für den New Yorker Times Square sich neben einem Modell der Secession und einem Schmuckkästchen von Olbrich findet. So geht es kreuz und quer durch die Architekturgeschichte. Dass man diesem Spiel mit Genuss folgt, liegt nicht zuletzt an der klugen Ausstellungsarchitektur von Claudia Cavallar und Lukas Lederer, die ruhig und mit angemessener Ironie verhindert, dass dieser Kosmos ins Chaotische kippt.

Mit diesen Ausstellungen hat Wien Otto Wagner ein würdiges, wenn auch temporäres Denkmal gesetzt. Sie wären Anlass, auch über das permanente Denkmal nachzudenken, das Josef Hoffmann 1930 für Wagner entworfen hat. Fotos aus der Entstehungszeit zeigen es am Ballhausplatz neben der Hofburg als deutliches Zeichen, dass die Moderne in Österreich angekommen ist. Nach dem Krieg verlagerte man den Standort zur Akademie der bildenden Künste, wo es heute verloren auf einem Grünstreifen steht. Es hätte, als erhobener Zeigefinger einer radikalen Moderne, einen würdigeren Ort verdient.

Spectrum, Sa., 2018.08.04

30. Juni 2018Christian Kühn
Spectrum

Terrassen über Trassen

Nach dem Desaster am Heumarkt hat die Stadt Wien auf den Althangründen einen „Lucky Punch“ gelandet: Aus einem toten Viertel könnte eine durchgrünte Raumstadt werden. Hochhäuser braucht es dafür nicht. Ein Projekt von Artec.

Nach dem Desaster am Heumarkt hat die Stadt Wien auf den Althangründen einen „Lucky Punch“ gelandet: Aus einem toten Viertel könnte eine durchgrünte Raumstadt werden. Hochhäuser braucht es dafür nicht. Ein Projekt von Artec.

Die Stadt über der Stadt: Das war ein Architektentraum, der in den Jahren zwischen 1955 und 1975 gerne geträumt wurde. Alison und Peter Smithson, wichtige Vertreter des derzeit im Architekturzentrum Wien in einer Ausstellung gewürdigten „Brutalismus“ reichten 1957 bei einem Wettbewerb für die Neugestaltung des Zentrums von Berlin einen Entwurf ein, der über dem Raster der gründerzeitlichen Stadt ein Netzwerk von Hochstraßen vorsah, an denen sich kleine Gruppen von Turmhäusern – im Englischen „Cluster“ genannt – anlagern sollten. Den Wettbewerb konnten die Smithsons nicht gewinnen, aber er verhalf ihnen zu einem Auftrag in London, dem „Economist Cluster“, einer Gruppe von drei höhenmäßig abgestuften Bürotürmen mitten in der Altstadt, angeordnet an einer erhöhten, vom motorisierten Verkehr freien Plaza.

Die Überlagerung von Stadtebenen unterschiedlicher Nutzung ist keine neue Idee. Sie findet sich bereits bei Leonardo da Vinci in einer Skizze für die Stadtentwicklung von Mailand und in vielen Stadtvisionen des 20. Jahrhunderts: Antonio de Sant'Elia, Le Corbusier und Ludwig Hilberseimer konzipierten Städte mit sauber getrennten Verkehrsebenen, und der jüngst mit dem Kiesler-Preis ausgezeichnete Yona Friedman konnte eine ganze Karriere auf das Skizzieren von „Raumstädten“ aufbauen, in denen man – über den Metropolen Europas schwebend – die chaotischen Zustände auf dem Boden hinter sich lassen konnte. Ideen wie diese sind ansteckend wie eine Infektionskrankheit. Sie können in Architektinnen und Architekten das kritische Bewusstsein lähmen und sie dazu verleiten, offensichtlich problematische, nur entfernt mit den ursprünglichen Ideen verwandte Lösungen umzusetzen, weil sie von einem Trend legitimiert erscheinen.

Die Ergebnisse sehen dann aus wie das Konglomerat an Baumassen, die sich in den 1970er-Jahren als neue Stadtebene über der Trasse der Franz-Josefs-Bahn aufgetürmt haben. Sie reichen vom Julius-Tandler-Platz am einen Ende bis zum Josef-Holaubek-Platz 800 Meter weiter stadtauswärts, wo das Ensemble im hässlichsten Haus Wiens, dem Bundeskriminalamt, kulminiert. Was dazwischen liegt – größtenteils Bürobauten für universitäre und private Nutzung und eine Hochgarage –, ist teilweise nicht viel besser gelungen. An manchen Punkten merkt man den Versuch, ansprechende öffentliche Räume zu gestalten, aber die Bebauung ist zu dicht, und die Wege sind zu verwirrend; kein Teil passt an den anderen. Die Stadt über der Stadt, das abgehobene Ambiente für den Flaneur, ist hier gründlich gescheitert.

Ein radikaler Umbau des Bestandes wird seit 2010 für den Bereich zwischen Althanstraße und Nordbergstraße geplant, der vom Julius-Tandler-Platz stadtauswärts über eine Länge von rund 250 Metern im Eigentum des Projektentwicklers 6b47 steht. In einer 2010 mit Bürgerbeteiligung durchgeführten Studie wurden Ideen entwickelt, die eine Umwidmung für Wohnbauten sowie einen „Hochpark“ auf der überplatteten Ebene neun Meter über der Bahntrasse vorsahen. Das Bauvolumen sollte reduziert, zum Ausgleich aber mehr Gebäudehöhe erlaubt werden. Grundsätzlich ging man von einem Abriss der bestehenden Bebauung aus. Der Idee, die Bahntrasse gleich in der Spittelau enden zu lassen und damit die Barriere der Bahnlinie komplett zu eliminieren, erteilten die ÖBB eine Absage. Ein 2016 begonnenes und im März 2017 vorgestelltes „dialogorientiertes Verfahren zur Entwicklung eines lokalen städtebaulichen Leitbilds mit Bürgerbeteiligung“ sorgte vor allem deshalb für öffentliche Aufregung, weil es „Höhenfenster“ vorsah, in denen eine Bebauung von bis zu 126 Metern, der Höhe des Verbrennungsturms Spittelau, zulässig sein sollte. Ob diese Höhe an diesem Standort mit dem Wiener Hochhauskonzept vereinbar ist, erscheint fraglich, empfiehlt dieses doch für den Bereich der „Konsolidierten Stadt“ schlicht „Respekt und Zurückhaltung“. Allerdings folgt auf diese einfache Verhaltensregel ein Schwall von Gummiphrasen, die für die richtige Koalition der Willigen alles möglich machen: „Punktuelle Schwerpunktsetzungen, diskrete Vertikalentwicklung in zweiter, dritter Reihe und gezielte, das Umfeld belebende Systembrüche umreißen als Stichworte mögliche städtebauliche Verhaltensweisen für die Implementierung von Hochhäusern im Bereich der Konsolidierten Stadt.“ Die Wiener Stadtplanung zeigte sich daher von jeder Kritik unbeeindruckt und legte das Leitbild der Stadtentwicklungskommission vor, die es wohlwollend zur Kenntnis nahm. Der Weg zu einem Wettbewerb auf dieser Grundlage war frei.

Im Wettbewerb, der im Februar 2018 entschieden wurde, ging es nicht mehr um einen kompletten Neubau. Der Bauteil am Julius-Tandler-Platz, das ehemalige technische Zentrum der Creditanstalt Bankverein mit integrierter, aufs Minimum reduzierter Bahnhofshalle, sollte erhalten bleiben: ein monumentaler Bürobau, geplant von Karl Schwanzer und Kurt Hlaweniczka, mit Spiegelfassade, großen Freitreppen und zahlreichen Terrassierungen und Rücksprüngen. Für die Umnutzung in einen Wohnbau lag bereits eine Planung von Delugan Meissl und Josef Weichenberger vor, die auch am „dialogorientierten Verfahren“ teilgenommen hatten. Sie versahen den Bau mit einer horizontal gebänderten Terrassenfassade und ergänzten ihn zwecks Flächengewinn um einen „Hochpunkt“.

Im Wettbewerb für den Rest des Areals deuteten 29 von 30 Teilnehmern die Ausschreibung als ein klares Bekenntnis des Auslobers und der Stadt zu einem Hochhauscluster an diesem Standort und reichten entsprechende Entwürfe ein. Darunter waren einige wenige skulptural gearbeitete Einzelstücke. Die Mehrheit zeigte Hochhäuser in Zweier-, Dreier- oder Vierergruppen, die sich in den unteren Ebenen mehr oder weniger erfolgreich um gute Beziehungen zur Nachbarschaft bemühten.

Ein einziges Projekt kam ohne vertikale Geste aus. Dass dieses Projekt am Ende gewinnen konnte, verdankt es dem Nachweis, dass ein Hochhauscluster an diesem Ort nicht nötig ist, sondern die Kommunikation mit der heterogenen Umgebung eher behindert. Der Entwurf von Bettina Götz und Richard Manahl (Artec) schließt logisch an die bestehende Bebauung am Julius-Tandler-Platz an und setzt diese beiderseits der Bahntrasse fort, mit großzügigen Durchbrüchen zur Althan- und Nordbergstraße an den genau richtigen Stellen. Der entstehende Park auf neun Meter Höhe hat den Querschnitt dieser Straßen und ist damit in den urbanen Rhythmus des Orts eingebunden. Auf 30 Meter Höhe ist der Raum von zwei Brücken überspannt, die auf dieser Ebene eine halb öffentliche Zone mit Ringerschließung entstehen lassen.

In den Geschoßen darüber erlauben sich Artec, den Traum von der Stadt über der Stadt weiter zu träumen, mit terrassierten Baukörpern, die den Nachbarn möglichst wenig Licht nehmen. Das sieht in der Vogelperspektive ein wenig aus wie ein Kreuzfahrtschiff oder wie einer der Flugzeugträger, die Hans Hollein in den 1960er-Jahren als Zukunftsvision in die Wiener Altstadt collagierte. Artec ist zuzutrauen, auch in diesem monumentalen Maßstab Außerordentliches zu leisten. Mit schwebenden Bauten haben sie, wie ihr Altenheim in Innsbruck beweist, ja Erfahrung.

Dieses herausragende Projekt zeigt, dass Wien seine „Konsolidierte Stadt“ respektvoll weiterbauen kann, ohne in irgendeiner Weise gestrig zu wirken. Jetzt geht es darum, dem Projekt, dessen Nutzfläche deutlich unter dem gewidmeten Maximum liegt, jene Ausführungsqualität zu ermöglichen, die es verdient. Es könnte ein Meilenstein der Wiener Stadtentwicklung werden.

Spectrum, Sa., 2018.06.30

02. Juni 2018Christian Kühn
Spectrum

Aufwärts und davon

Die diesjährige Architekturbiennale in Venedig neigt auffällig zum Ausräumen und Aufsteigen. Transparenz und Weitblick wollen sich trotzdem nicht einstellen. Eine Nachbetrachtung.

Die diesjährige Architekturbiennale in Venedig neigt auffällig zum Ausräumen und Aufsteigen. Transparenz und Weitblick wollen sich trotzdem nicht einstellen. Eine Nachbetrachtung.

Präsident, Direktorinnen, Kommissäre: Als kulturelle Großveranstaltung legt die Biennale in Venedig Wert auf schöne Titel. Paolo Baratta, seit 20 Jahren Präsident des Spektakels, bestimmt – abwechselnd in den Bereichen Kunst und Architektur – Direktoren, die ein Generalthema ausformulieren und dazu Künstler beziehungsweise Architekten ihrer Wahl einladen.

Für deren Präsentation stehen zwei Schauplätze zur Verfügung: der zentrale Pavillon in den Giardini, dem großen Parkgelände der Biennale, sowie Räume im alten Arsenal, insbesondere die Corderie, eine 320 Meter lange, dreischiffige Halle der venezianischen Militärwerft.

Neben dem von den Direktoren kuratierten internationalen Programm gibt es Ausstellungen in den Länderpavillons, die von nationalen Kommissären verantwortet werden, die sich mehr oder weniger am Thema der internationalen Ausstellung orientieren. Im Idealfall verbindet die Biennale einen individuell gefärbten Blick auf den Zustand der Weltarchitektur, gewissermaßen mit den Augen der Direktorinnen, mit einem kollektiven, der sich aus der Summe der einzelnen nationalen Pavillons ergibt.

Das Generalthema der heurigen Biennale, „Freespace“, stammt von den irischen Architektinnen Shelley McNamara und Yvonne Farrell, die zusammen als Grafton Architects firmieren. Der Begriff ist mehrdeutig: Er meint den Freiraum im direkten Sinn, erlaubt im Englischen aber auch die Assoziation zum Raum, der „for free“ zu haben ist, also zum Geschenk. Architektur könne, so schreiben die Direktorinnen in ihrem Manifest zur Ausstellung, selbst unter schwierigsten Umständen zusätzliche und unerwartete Großzügigkeit und Schönheit entwickeln. Die Erde selbst sei ja ein Auftraggeber, der Licht, Sonne, Schatten, Mond, Luft und Schwerkraft als freie Ressourcen zur Verfügung stelle, mit denen Architektur die „Mysterien der Welt“ offenbare.

Der Zug ins quasi Religiöse ist auffällig, vor allem im Vergleich mit den vergangenen Biennalen. David Chipperfield verstand bei der Biennale 2012 Architektur noch als „Common Ground“, als Medium der Kommunikation; Rem Koolhaas suchte 2014 nach den „Fundamentals“ und fand sie nicht in den guten Absichten, sondern in der technisch und formal guten Praxis; Alejandro Aravena gestaltete die Biennale 2016 als „Report from the Front“: Architektur unter extremen Bedingungen.

Bei McNamara und Farrell geht es dagegen vor allem um Offenbarungen, die von einer Architektengeneration zur nächsten weitergegeben werden. Symptomatisch dafür ist der zentrale Raum des Hauptpavillons in den Giardini. Er ist vollgestellt mit Installationen, in denen 16 irische Architekten sich mit je einem, von den Direktorinnen gewählten architektonischen Referenzbeispiel – bezeichnenderweise „Ikone“ genannt – auseinandersetzen. Der Besucher staunt angesichts der Raumcollagen, bleibt jedoch ohne Vorbildung ratlos. Andere Räume wirken, als hätte jemand den Inhalt seines Instagram-Accounts an die Wand gepinnt, Bilderfluten, deren Zusammenhänge man nur ahnen kann. Dazwischen finden sich zum Glück genug interessante Projekte, die auch so präsentiert sind, dass sich der Besuch lohnt, etwa ein Wohnbau für Obdachlose in Los Angeles von Michael Maltzan oder die Sanierung eines Pavillons einer psychiatrischen Klinik in Belgien von de vylder vinck taillieu architecten.

Der zentrale Ort im Hauptpavillon gehört freilich einem architektonischen Hohepriester: Peter Zumthor zeigt auf der Empore eine Sammlung von großteils naturalistischen Modellen, darunter, an prominenter Stelle, zwei Innenraummodelle der Bruder-Klaus-Kapelle in der Eifel, Deutschland. Dass sie einen Hohlraum in einem Prisma aus massivem Stampfbeton abbilden und die Kapelle selbst eine Selbstreferenz zu Zumthors erstem berühmten Werk, der St. Benedikt Kapelle in Sumvigt, ist, muss sich der Besucher mangels weiterer Erklärungen dazudenken. Die Nicht-Eingeweihten stehen vor zwei rätselhaften Ikonen. – In der Ausstellungsgestaltung haben sich McNamara und Farrell sowohl im Hauptpavillon als auch im Arsenale dafür entschieden, die Räume von allen Einbauten zu befreien. Die Türen und Oberlichten sind möglichst offen, es gibt keine Raum-im-Raum-Lösungen. Die Corderie im Arsenal hat man wahrscheinlich noch nie so unverstellt in ihrer vollen Länge erleben können, was allerdings einen Preis hat: Sie waren noch nie einer Fachmesse, in der sich Exponat an Exponat reiht, so ähnlich.

Ausräumen ist ein beliebtes Thema auch in den Länderpavillons. Der britische, von Caruso St. John und Marcus Taylor kuratierte bleibt überhaupt ganz leer. Eine seitliche Treppe führt auf eine über dem Pavillon installierte Plattform, von der man allerdings nicht auf neue Horizonte, sondern in die Baumkronen blickt. Nachmittags wird Tee serviert. Ein Land, das einmal als führende Design-Nation auftrat, präsentiert sich in der Brexit-Starre.

Im österreichischen, von Verena Konrad kuratierten Beitrag haben Kathrin Aste und Frank Ludin (LAAC) die Formulierung von der „Erde als Auftraggeber“ aufgenommen und dem Pavillon eine Weltkugel aus glänzendem Edelstahl im Maßstab 1:50.000 unterschoben, die im Kontrast zu einer von Dieter Henke und Marta Schreieck im Eingangsraum errichteten, besteigbaren Holzkonstruktion steht. Auf der gekrümmten Oberfläche der Weltkugel, die alle Räume und den Hof des Pavillons durchzieht, spazieren die Besucher wie der kleine Prinz aus Antoine de Saint-Exupérys Erzählung über seinen Planeten. Was das für einen Nutzen hat? Keinen. Aber das Gehen auf der Spiegelkugel ist ein wunderbares Erlebnis, an das auch die Videos in den zwei Seitenräumen des Pavillons anschließen: Stefan Sagmeister und Jessica Walsh tun hier nichts anderes, als die Worte „Beauty“ und „Function“ visuell zu gestalten, unterlegt mit einem im Flüsterton vorgetragenen Text. Wohin sich Typografie und Kalligrafie, Medium und Botschaft, unter dem Einfluss digitaler Techniken entwickelt haben, zeigt dieser Beitrag eindrucksvoll.

Umso erstaunlicher ist, dass in der Gesamtbiennale das Thema Digitalisierung, das vor einem Jahrzehnt omnipräsent war, so gut wie keine Rolle mehr spielt. Hat sich das Thema tatsächlich überholt, oder steckt da eine Disziplin gerade den Kopf in den Sand und glaubt dabei, endlich tiefgründig zu werden? Dass die beiden Goldenen Löwen an den Schweizer Pavillon und an den portugiesischen Architekten Eduardo Souto de Moura für Beiträge gegangen sind, die den Minimalismus ins Extrem treiben, deutet auf Letzteres hin.

So bleiben die Dänen und die Spanier die letzten Optimisten: Erstere feiern ihr von Rem Koolhaas geplantes neues Designzentrum in Kopenhagen und zeigen ein Kaleidoskop aktueller Bau- und Forschungsprojekte, Letztere haben ihren Pavillon leer geräumt und mit experimentellen Arbeiten der jüngsten Generation tapeziert. Auf b-e-c-o-m-i-n-g.com findet sich die digitale Version dieser Orgie an Papierarchitektur.

Spectrum, Sa., 2018.06.02

05. Mai 2018Christian Kühn
Spectrum

Das Ding aus einer anderen Welt

Wenn Bürgerproteste ein Projekt an den richtigen Platz rücken: Ursprünglich am Ortsrand geplant, stärkt das Amtshaus von Böheimkirchen als Erweiterung des alten Rathauses nun das Zentrum.

Wenn Bürgerproteste ein Projekt an den richtigen Platz rücken: Ursprünglich am Ortsrand geplant, stärkt das Amtshaus von Böheimkirchen als Erweiterung des alten Rathauses nun das Zentrum.

Eigentlich war alles ganz anders geplant. Die Gemeinde Böheimkirchen in Niederösterreich, zehn Kilometer östlich von St. Pölten gelegen, benötigte ein neues Amtshaus. Weil die Gemeinde mit ihren rund 5000 Einwohnern keinen adäquaten Veranstaltungssaal besaß, wollte man die Gelegenheit nutzen, mit dem Amtshaus auch einen Mehrzweckraum für 500 Besucher zu schaffen. Eine Bibliothek und Räume für eine Polizeistation rundeten das Raumprogramm ab.

Im Jahr 2005 beschloss die Gemeinde ein Budget für die Planung. Als Bauplatz wünschte man sich einen Ort möglichst im Zentrum, in unmittelbarer Nähe des Kirchbergs, an den sich viele öffentliche Institutionen schmiegen: das bestehende Rathaus, der Kindergarten und die Volksschule. Eine Fläche bot sich an: ein längliches, die Hauptstraße begleitendes Grundstück unmittelbar am Eingang zum Ortszentrum, das sich nach Süden in einen bestehenden Park erweitern ließ. Der Bauplatz schien aus mehreren Gründen ideal: Er liegt nur hundert Meter vom derzeitigen Rathaus entfernt, erlaubt eine Fortsetzung der bestehenden Bebauung an der Hauptstraße und bietet schließlich genug Platz für einen Veranstaltungssaal mit vorgelagerten Freiräumen. Dennoch war dieser Ort von Anfang an umstritten. Hier ein größeres Volumen zu platzieren, so argumentierten die Gegner, würde nicht nur ein Stück Parkfläche in Beschlag nehmen, sondern auch den Blick auf den Kirchberg beeinträchtigen. Und außerdem liege das neue Haus zwar nicht weit weg vom bisherigen, aber trotzdem außerhalb des eigentlichen Ortskerns. Eine neue Nutzung für das alte Rathaus lasse sich kaum finden, und so verliere das Zentrum weiter an Attraktivität.

Für den Bürgermeister und seine Partei überwogen die Argumente für den neuen Standort. Die Gemeinde kaufte Grundstücke an und bereitete einen Architekturwettbewerb vor, der im Dezember 2011 ausgeschrieben wurde, international, wie es die EU-Richtlinien verfügen, mit einem vorgeschalteten Bewerbungsverfahren und angeschlossenem Projektwettbewerb. Noch bevor das Bewerbungsverfahren entschieden war, brachte sich eine Bürgerinitiative in Stellung. Sie forderte eine Volksbefragung zum Thema und konnte durchsetzen, dass die sieben Büros, die an der zweiten Stufe des Wettbewerbs teilnahmen, das Projekt in zwei Varianten ausarbeiten mussten: einmal nur als Gemeindeamt mit möglichst geringer Inanspruchnahme des Parks und einmal mit dem vollen Raumprogramm inklusive Veranstaltungssaal und Tiefgarage.

Die Bürgerinitiative berief sich unter anderem auf eine Initiative, die wie das Projekt des Bürgerzentrums ins Jahr 2005 zurückgeht. Damals war ein Projekt zur Untersuchung der Kulturlandschaften der Gemeinde in Auftrag gegeben worden. Das Projekt führte zur Anlage von vier Kulturlandschaftswegen, die sich im zentralen Grünraum von Böheimkirchen treffen, dem Schmidlpark, genau jenem Park, an dem auch das Gemeindezentrum geplant war. Was ursprünglich eher als Tourismusprojekt gedacht war, hatte zu einer Sensibilisierung der Bürger für das Thema Kulturlandschaft geführt. Die Ergebnisse des Wettbewerbs wurden im Juli 2012 der Öffentlichkeit vorgestellt. Der erste Preis ging an das Wiener Büro NMPB. Er erfüllte alle funktionellen Vorgaben und erweckte den Eindruck eines eleganten Raumschiffs, das sich nach Böheimkirchen verflogen und am Ortseingang angedockt hatte. Dass sich die Bürgerinitiative mit dieser milden Moderne anfreunden würde, war nicht zu erwarten. Die Emotionen gingen hoch, die Argumente schossen, wie oft in solchen Situationen, meist an der Sache vorbei. Das Projekt wurde als Tintenburg diffamiert, von Parkzerstörung war die Rede. Schließlich waren die Fronten so verhärtet, dass sich der Bürgermeister die Legitimation für das Projekt direkt beim Volk holen wollte. Für den 7. Oktober 2012 wurde eine Volksbefragung angesetzt.

Nun geschah etwas Erstaunliches: Die Bürgerinitiative startete eine Kampagne gegen die Volksbefragung. Was hätte es für einen Sinn, es in dieser Sache auf eine Entscheidung hinauslaufen zu lassen, bei der die Bürger nur Ja oder Nein sagen könnten? Stattdessen warb die Bürgerinitiative für eine Bürgerbeteiligung mit externer Mediation, also für Mitsprache und Mitgestaltung. Die politischen Parteien stiegen auf diesen Vorschlag ein und sagten die Volksbefragung ab. So begann stattdessen Ende Oktober 2012 ein moderierter Prozess, in dessen Rahmen die Gemeinde zusammenfand und eine Alternative entwickelte.

Die Gemeinde kaufte ein Grundstück direkt neben dem bestehenden Rathaus, auf dem sich ein Haus befand, das man guten Gewissens abtragen konnte. Das Volumen für den Neubau war damit vorgegeben, was eine Reduktion des Raumprogramms nötig machte. Die Polizeistation wurde ausgelagert, im Zentrum der Erweiterung standen das Bürgerservice, die Gemeindebibliothek und der Veranstaltungssaal.

Sascha Bradic, der für das „B“ im Büronamen NMPB steht und für den Projektentwurf verantwortlich zeichnet, hatte mit dem neuen Entwurf vor allem zwei Fragen zu beantworten: Wie lassen sich trotz des beengten Standorts öffentliche Freiflächen schaffen, und in welcher Form soll der Dialog zwischen dem bestehenden Rathaus und dem Neubau inszeniert werden? Die erste Frage beantwortete Bradic mit einer großen Dachterrasse, die direkt über die zentrale Treppe zugänglich ist, aber auch außen über eine Freitreppe, die hinter der Häuserzeile das Straßenniveau mit dem Plateau des Kirchbergs verbindet. Die Beantwortung der zweiten Frage gestaltete sich schwieriger. Bradic schlug zuerst ein Dach aus Glas vor, das Neu- und Altbau unter eine gemeinsame Klammer gesetzt hätte. Diese formal durchaus überzeugende Lösung rief allerdings das Denkmalamt auf den Plan, das auf der Erhaltung der Form und Materialität des alten Rathausdaches bestand. Statt einer großen Figur, die sich klar in der Gegenwart positioniert, entstanden so zwei annähernd gleichgewichtige Baukörper, die miteinander in Konkurrenz stehen.

Dass eine Form zur anderen passt „wie die Faust aufs Aug“, ist immer eine zweideutige Formulierung. In konkreten Fall weicht der anfängliche Schmerz rasch der Erkenntnis, dass Anpassung kein Thema war. Das Neue hat seine eigene Logik. Es könnte ein Stück aus einem urbanen Hochhaus sein, so wie die Rathausfassade aus dem Jahr 1897 ein Stück aus einem Ringstraßenpalais. Da stehen sie nun, zwei starke Charaktere, und reiben die Schultern aneinander.

Die Bürger von Böheimkirchen sind jedenfalls stolz auf das Ergebnis. Dass sie es nicht gegeneinander erkämpft, sondern miteinander entwickelt haben, wird dabei eine Rolle spielen. Einen Architekten, der unverdrossen über die Jahre alle Wendungen dieses Projekts mitgegangen und dabei nie seinen Qualitätsanspruch aufgegeben hat, braucht es dafür aber ebenso. Man merkt diesem Haus an, dass einander der Bauherr und sein Architekt, der in diesem Fall nicht nur für die Planung, sondern auch für die örtliche Bauaufsicht verantwortlich war, in jeder Hinsicht vertraut haben. Der Lohn dafür ist ein Projekt mit hervorragender Detailqualität, das am Ende die veranschlagten Kosten knapp unterschritt. In Zeiten, in denen Totalübernehmer immer offensiver behaupten, nur sie könnten Kosten- und Terminsicherheit garantieren, indem sie Planung und Ausführung in einer Hand vereinen, sollte das Beispiel zu denken geben.

Spectrum, Sa., 2018.05.05



verknüpfte Bauwerke
Bürgerzentrum Böheimkirchen

07. April 2018Christian Kühn
Spectrum

Alles für die Fische?

Seit Jahrzehnten dient der Flakturm im Esterházypark dem „Haus des Meeres“ als Quartier. Vor der Wahl zwischen Mahnmal und Aquarium hat sich Wien nun für Letzteres entschieden. Kann man mit dieser Entscheidung leben?

Seit Jahrzehnten dient der Flakturm im Esterházypark dem „Haus des Meeres“ als Quartier. Vor der Wahl zwischen Mahnmal und Aquarium hat sich Wien nun für Letzteres entschieden. Kann man mit dieser Entscheidung leben?

Was ist das: Es ist grau wie ein Elefant, hat Ohren wie die Mickymaus und meterdicke Wände aus Stahlbeton? Die meisten alteingesessenen Wiener werden erraten, dass einer der sechs Flaktürme gemeint ist, die während des Zweiten Weltkriegs jeweils als Paare von Geschütz- und Leitturm errichtet wurden. Die Standorte – zwei im Arenbergpark, zwei im Augarten und zwei im sechsten Bezirk – sind strategisch so gewählt, dass sie ein Dreieck um die Innere Stadt ergeben. Ursprünglich war das Dreieck weiträumiger geplant; die zentrumsnahe Anordnung erfolgte schließlich weniger aus militärischen Gründen, sondern vor allem, um Präsenz in der Stadt zu zeigen. Nach dem „Endsieg“ sollten die Türme zu Denkmälern werden, verkleidet in schwarzem Marmor, mit eingemeißelten Namen gefallener Soldaten. Die charakteristischen auskragenden Plattformen wären in runden Ecktürmen verschwunden.

Die Flaktürme sind herausragende Mahnmale des Faschismus in Österreich. Sie waren Teil des totalitären Machtapparats des NS-Regimes und sind daher Erinnerungsorte, die mit größter Sensibilität zu behandeln sind. Fünf der Türme stehen unter Denkmalschutz und werden weitgehend im Zustand von 1945 erhalten. Die Ausnahme bildet der Turm im Esterházypark, einer kleinen Grünoase im sechsten Bezirk. Sie geht auf einen Barockgarten zurück, zu dem auch ein 1970 abgerissenes Barockpalais gehörte. Der Turm im Esterházypark ist von allen Flaktürmen jener mit der größten öffentlichen Präsenz und war daher seit 1945 Anlass zahlreicher Vorschläge zu einer Umnutzung oder Erweiterung. Die ersten Projekte aus den frühen 1950er-Jahren laufen auf ein Verstecken des Turms in einer Ummantelung aus Wohnungen hinaus. Die Arbeitsgruppe 4 (Holzbauer, Kurrent und Spalt) projektierte 1958 bis 1962 mehrere Varianten, die vorsahen, alle sechs Türme als Sockel für Hochhäuser zu nutzen. Aus der militärstrategischen Anordnung im Dreieck wäre so eine städtebauliche Großfigur geworden. Hans Hollein skizzierte 1960 skulpturale Aufbauten auf dem Turm im Esterházypark, Christo wollte ihn in den 1970er-Jahren temporär verhüllen.

Unbeeindruckt von diesen Ideen wuchs im Inneren des Turms das Haus des Meeres zum Hauptnutzer heran, der sukzessive das gesamte Gebäude in Anspruch nahm. Bei der Gründung 1956 teilte man sich das Haus noch mit den Wiener Volkshochschulen und richtete auf zwei Geschoßen die ersten Meerwasserbecken ein. Träger des Unternehmens war ein privater Verein, dessen Mitglieder mit großem persönlichem Einsatz am Ausbau ihres Aquariums zu einer Institution arbeiteten, die 2015 mit knapp 570.000 Besuchern den achten Platz unter den touristischen Zielen Wiens einnahm. Sie ist als GmbH und Privatstiftung organisiert und erwarb den Turm, den die Stadt Wien im Jahr 2000 vom Bund übertragen bekam, 2015 um einen Euro im Eigentum.

Das für die heutige Situation wichtigste Projekt für eine Erweiterung stammt von Wilhelm Holzbauer und geht auf das Jahr 1998 zurück. Es sah eine Aufstockung um mehrere Geschoße für eine Mischung aus Hotelnutzung und Kaffeehausmuseum vor. Zur Erschließung sollten dem Turm ein Panoramalift und ein Treppenhaus vorgesetzt werden; an der Rückseite schlug Holzbauer eine Art Rucksack aus Glas vor, ein dreiecksförmiges Tropenhaus für das HdM. Die Aufstockung scheiterte am Widerstand des Bezirks; umgesetzt wurde nur das Tropenhaus, das im Jahr 2000 eröffnet wurde und heute eine zentrale Attraktion des HdM ist, obwohl es dort kaum Fische gibt; dafür Vögel und frei laufende Affen.

Etwa zur selben Zeit, 1997 bis 2002, erfolgte eine Umgestaltung des Parks nach Plänen von Dimitris Manikas und den Landschaftsarchitekten Auböck und Kárász. Der Park wurde besser nutzbar, der Zugang über eine breite Freitreppe und eine Rampe von der Gumpendorferstraße, in die eine Brunnenskulptur integriert ist, erleichtert. Seit vergangenem Jahr ist die Begrenzungsmauer dieser Skulptur knallblau übermalt und mit Fischen verziert, eine ästhetische Verirrung, die offensichtlich mit Unterstützung von Bezirk und Behörden erfolgt ist. Das HdM bezeichnet das Tropenhaus, vor dessen Eröffnung es nur 150.000 Besucher jährlich gab, als Wendepunkt seiner Entwicklung. Seit 2003 darf es sich offiziell als „wissenschaftlicher Zoo“ bezeichnen und ist damit eine von nur sechs solchen Institutionen in Österreich. Im Jahr 2003 entließ das Bundesdenkmalamt den Turm aus dem Denkmalschutz, was vom HdM als klares Signal interpretiert wurde, dass die Bedeutung des Turms als Mahnmal in den Hintergrund treten darf. Zur Erinnerung an die Geschichte wurde ein Gedenkraum im Inneren eingerichtet. Weitere Baumaßnahmen, wie die Anbringung eines zweiten Glashauses für das Krokodilbecken im Jahr 2007, das den Holzbauer'schen Zubau etwas unglücklich spiegelt, sollten in erster Linie die neue Funktion eines städtischen Zoos zum Ausdruck bringen.

Diesem Anliegen stand eine Beschriftung des Turms im Weg, die auf das Jahr 1991 zurückgeht und vom amerikanischen Konzeptkünstler Lawrence Weiner stammt. In riesigen Buchstaben nimmt sie auf die Novemberpogrome des Jahres 1938 Bezug: „SMASHED TO PIECES (IN THE STILL OF THE NIGHT)“. Die Schrift war temporär konzipiert, wurde aber vertraglich in ein dauerhaftes Kunstwerk umgewandelt und spielte daher bei weiteren Überlegungen immer eine Rolle. Unter diesen Voraussetzungen begann ein Prozess, der vom HdM – aus dessen Perspektive verständlich – als Leidensgeschichte gesehen wird. Ausgehend von Holzbauers Idee einer Aufstockung und eines vorgesetzten Liftturms, versuchte der Zoo eine Expansion nach oben. Ein Projekt, das die Aufstockung um ein großes Haifischbecken, ein Restaurant und einen relativ zarten Liftturm vorsah, wurde vom Fachbeirat für Stadtplanung und Stadtgestaltung abgelehnt. Bewilligt und ausgeführt wurde schließlich nur das Restaurant mit umlaufender Terrasse. Im Jahr 2016 kam ein neues Projekt für einen Lift und weitere Anbauten vor den Fachbeirat, eine inakzeptable gestalterische Entgleisung, die vom Beirat zu Recht mit dem Argument einer „Überfrachtung“ abgelehnt wurde.

An dieser Stelle wäre die Magistratsabteilung 19, zuständig für Architektur und Stadtgestaltung, gefordert gewesen, die Dimension des Projekts auf ein Ausmaß zurückzuführen, das die Interessen des Zoos mit jenen des Stadtraums und des Mahnmals verträglich macht. Am Ende hätte ein geladener Wettbewerb auf der Basis eines interdisziplinären Fachgutachtens stehen können. Stattdessen trat die MA19 die Flucht nach vorne an und ließ in einem Prozess, der von den Architekten des HdM als „kooperatives Verfahren mit der MA19“ bezeichnet wird, eine Lösung erarbeiten, die den Flakturm hinter einem teilweise verglasten Volumen verschwinden lässt, das Lift, Treppen und Kubaturen für spätere Erweiterungen integriert. Gekrönt wird es vom aktuellen Symbol ökologischen Fortschrittsbewusstseins: einem Flugdach mit Solarzellen. Auf eine Neuvorlage vor dem Fachbeirat, der vom Projekt aus der Zeitung erfuhr, hat die MA19 verzichtet.

Dieses Projekt ist aus Perspektive der Gedenkkultur eine Schande und aus architektonischer Perspektive eine Banalität. Die Stadt Wien und das HdM hätten Besseres verdient. Sollte es tatsächlich realisiert werden, kann sich die MA19 selbst den „Schorsch“ verleihen, die Trophäe für die 20 besten Bauten eines Jahres, ausgewählt von einer Jury aus eigenen Beamten. Die kleine Skulptur dafür wird jedes Jahr von einem Mitarbeiter der MA19 neu gestaltet. Wenn es so weit ist, sollte man auf den Schorsch des Jahres 2016 zurückgreifen, der die Hände vor dem Gesicht zusammenschlägt.

Spectrum, Sa., 2018.04.07

10. März 2018Christian Kühn
Spectrum

Wer braucht denn schon Details?

Private Public Partnership wird gerne als Königsweg dargestellt, um soziale Infrastruktur zu schaffen – ohne neue Schulden. Erste Realisierungen zeigen die Grenzen dieses Modells.

Private Public Partnership wird gerne als Königsweg dargestellt, um soziale Infrastruktur zu schaffen – ohne neue Schulden. Erste Realisierungen zeigen die Grenzen dieses Modells.

Mit dem Wachstum der Stadt wächst auch der Bedarf an Kindergartenplätzen, Schulklassen und Krankenhausbetten, also an „sozialer Infrastruktur“. Dieser Begriff hat sich in der Sprache der Planer in den 1970er-Jahren etabliert, als in den Vereinigten Staaten von einer „Infrastructure Crisis“ gesprochen wurde, die sich zuerst auf rein technische Systeme bezog, also Transport- und Kommunikationssysteme, aber bald auf die „Hardware“ des Bildungs- und Gesundheitssystems ausgedehnt wurde.

Über Schulen und Kindergärten als Infrastruktur nachzudenken bedeutet, sie als große Systeme mit Lebenszyklen von 50 Jahren zu betrachten, in die enorme Investitionen fließen. Pro Jahr muss die Stadt Wien in ihren Pflichtschulen in Summe zusätzliche 120 Klassen schaffen. Es geht hier nicht um einzelne Gebäude, sondern um „Programme“, aktuell in Wien etwa das für die Periode 2012 bis 2022 laufende Schulbauprogramm mit einem Budget von 700 bis 800 Millionen Euro, in dessen Rahmen zehn neue Bildungseinrichtungen realisiert werden. Dazu kommen weitere, Hunderte Millionen Euro teure Programme für Schulsanierung und -erweiterung.

Wer in solchen Dimensionen denkt, fokussiert beim Bauen auf die ökonomischen Aspekte. Jede Million, die die Stadt in ihre Bildungsinfrastruktur steckt, ist eine Investition in die Zukunft – zumindest wenn man daran glaubt, dass Menschen mit guter Schulbildung später mehr zur Wirtschaft und zum Steueraufkommen beitragen werden. Am Anfang trägt diese Investition aber nur zum Schuldenstand der öffentlichen Hand bei, zu dessen Limitierung sich Österreich innerhalb der EU zur Einhaltung der sogenannten Maastricht-Kriterien verpflichtet hat. Zur legalen Umgehung dieser Kriterien steht der öffentlichen Hand das Instrument des Public-Private-Partnership zur Verfügung, bei dem Infrastruktur von Privaten errichtet und an den Staat vermietet wird, womit nur die jährlichen Mietkosten fürs Budget schlagend werden. Neben der nominellen Budgetentlastung steht hinter dem Modell die Ideologie, dass ein schlanker Staat Aufgaben an Private übertragen sollte, die dieselben Leistungen effizienter und kostengünstiger erbringen würden.

Die Idee von PPP-Modellen stammt nicht zufällig aus Großbritannien, wo Tony Blairs New Labour nach ihrem Wahlsieg 1997 die Idee eines Dritten Wegs propagierte, der eine stärkere Beteiligung privater Investoren an öffentlichen Aufgaben vorsah: als Partnerschaft – im Unterschied zur radikalen Privatisierung der Thatcher-Ära. Bis zu 20 Prozent günstiger sollten Projekte werden, wenn sie der trägen Beamtenschaft entzogen und agilen Privaten übertragen würden. Die Realität sieht freilich anders aus. Ein Untersuchungsausschuss des britischen Parlaments kam 2011 zum Ergebnis, dass Nachforderungen der Investoren die Regel sind. Ähnlich urteilte 2014 der Deutsche Bundesrechnungshof, der mittels PPP errichteten Autobahnprojekten Mehrkosten in Milliardenhöhe attestierte. Befürworter des Modells sprechen von einzelnen Negativbeispielen und sehen den zentralen Vorteil von PPP in der höheren Kostenwahrheit, da der Private einen realistischen Fixpreis zusagen muss. Öffentliche Auftraggeber würden stattdessen oft mit zu niedrigen Budgets in ein Projekt starten. Für den Bildungsbau greift dieses Argument freilich nicht. Eine Gemeinde wie Wien mit Hunderten Schulbauten weiß, welchen Standard sie um welches Geld errichten möchte. Hier geht es einzig und allein um die Maastricht-Kriterien und die Frage, in welchem Bereich man sich für PPP-Modellen entscheiden möchte. Warum ausgerechnet Bauten für die Bildung so realisiert werden müssen, ist nicht leicht zu argumentieren.

Die Entscheidung Wiens, in Zukunft alle großen Neubauten im PPP-Modell zu errichten, hat vor zwei Jahren zu einem massiven Protest der Architektenschaft geführt, der auch von der Kammervertretung mitgetragen wurde. Architekten gaben anstelle von Projekten Protestplakate ab, in denen sie gegen PPP polemisierten. Dabei ging es vor allem um einen prinzipiellen, für die architektonische Qualität wesentlichen Aspekt: Die Stadt wollte PPP so anlegen, dass Architektinnen und Architekten, die einen Wettbewerb gewinnen, nur den Entwurf und Leitdetails planen sollten. Die weitere Planung sollte von anderen Planern im Auftrag des privaten Partners übernommen werden. Die Gründe dafür waren juristisch argumentiert, zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aber mit der Hoffnung, sparen zu können, wenn die Architektur sich nicht mehr mit ihren Flausen einmischen darf.

Inzwischen hat die Stadt dazugelernt: Bei den jüngeren Campusprojekten kamen unterschiedliche Modelle zur Anwendung: In manchen Fällen wurden die Architekten vom privaten Partner übernommen, in anderen werden die Architekten auch in der Ausführungsphase einbezogen, wenn es um letzte Umsetzungsfragen im Detail geht. Zur klaren Regelung, dass der Private die Planer aus dem Wettbewerb übernehmen muss, wollte die Stadt sich aber nicht durchringen. Bei den kleinen und mittelgroßen Schulerweiterungsprojekten verzichtet sie aber inzwischen komplett auf PPP und vergibt nach Architekturwettbewerben Generalplaneraufträge – das klassische Modell, das etwas mehr Zeit kostet, aber im Schnitt die beste Qualität liefert.

Beim PPP-Projekt Campus Attemsgasse, seit Herbst in Betrieb, galten allerdings noch härtere Spielregeln, die den Wettbewerbsgewinnern, Querkraft Architekten, keinen Einfluss auf die Umsetzung erlaubten. Das Grundkonzept eines großen, offenen Regals mit eingestellten Raumboxen wurde zwar ohne Kompromisse realisiert, mit vielen liebevollen Details in der Möblierung. Hätten Querkraft mehr mitbestimmen können, wäre aber manches anders ausgehandelt worden: die Details der verzinkten Metallgeländer, die Dicke der Stahlbetonsäulen des umlaufenden Gerüsts und ganz sicher die massiven gelben Beklebungen an allen Glasflächen als Anprallschutz laut ÖNORM B1600, die hoffentlich sukzessive durch eine intelligentere Lösung ersetzt werden.

Auch wenn es aus der Vogelperspektive der Zuständigen für die „soziale Infrastruktur“ nicht leicht zu erkennen ist: Architektur lebt nicht zuletzt von schönen, gut gemachten Details. Die sind nicht gratis, spielen sich aber durch die Zufriedenheit der Nutzer von selbst wieder herein.

Spectrum, Sa., 2018.03.10

13. Januar 2018Christian Kühn
Spectrum

Nicht alle Schlauen überleben

Eine schlaue Stadt, flotte Architektur und ein insolventer Innovator. Die „Smart City Graz“ wirft die Frage auf, welche Forschung die Stadt der Zukunft wirklich braucht.

Eine schlaue Stadt, flotte Architektur und ein insolventer Innovator. Die „Smart City Graz“ wirft die Frage auf, welche Forschung die Stadt der Zukunft wirklich braucht.

Es war kein glücklicher Tag für die Grazer Stadtplanung, als im Juli 2012 die Ergebnisse einer Volksbefragung bekannt gegeben wurden: 67 Prozent der Teilnehmenden hatten sich gegen den Vorschlag der Stadtregierung ausgesprochen, die Reininghaus-Gründe, ein Entwicklungsgebiet mit 52 Hektar Fläche auf dem Areal einer ehemaligen Brauerei, anzukaufen. Dass Politiker beiwichtigen Stadtentwicklungsfragen lieber zum Plebiszit greifen, als für ihre Entscheidung bei den nächsten Wahlen den Kopf hinzuhalten, ist in Österreich nicht selten. Im konkreten Fall war die Entscheidung tatsächlich nicht einfach zu treffen, da sie von der Einschätzung abhing, wie stark Graz in den nächsten Jahren wachsen würde. Inzwischen gilt es als sicher, dass die Stadtbevölkerung um 4000 bis 6000 Einwohner pro Jahr – und damit prozentuell stärker als Wien – zunimmt, vor allem durch Zuzug aus sogenannten strukturschwachen Regionen.

Was die Stadt 2012 mit einem Kaufvertrag hätte bekommen können, nämlich Gestaltungshoheit, muss sie heute – nach dem zwischenzeitlich erfolgten Filetieren des Areals – über städtebauliche Verträge mit den Eigentümern aushandeln. Solche Verträge sind nach österreichischem Recht immer ein Balanceakt. Die teilweise Abschöpfung widmungsbedingter Wertsteigerungen darf nicht wie eine Steuer erscheinen, sondern muss sachlich begründet sein, etwa als Kostenbeiträge für technische und soziale Infrastruktur, aber auch in Hinblick auf die Qualität öffentlicher Räume oder die Durchführung von qualitätssichernden Prozessen, etwa Architekturwettbewerben.

Graz hat sich 2011 mit dem „Fachbeirat für Baukultur“ eine Institution geschaffen, die eine Qualitätssicherung auf mehreren Ebenen erlaubt, vom Städtebau bis zum Einzelobjekt. Auf der Ebene der Objektplanung kann die Vorlage beim Fachbeirat unterbleiben, wenn ein Architekturwettbewerb durchgeführt wird. In diesen Fällen ist in der Regel ein Mitglied des Beirats Mitglied in der Jury. Auch Wirtschaftsvertreter, die dem Beirat gegenüber anfangs skeptisch waren, akzeptieren ihn heute als wichtiges Instrument, um Planungssicherheit herzustellen.

Inzwischen sind die Reininghausgründe zwar noch immer nicht bebaut, die Planung ist aber weit fortgeschritten. Die Architekturwettbewerbe für die meisten Quartiere sind abgeschlossen, auch für den zentralen Stadtpark und eine verbindende Grünzone. Der lukrative Drang in die Höhe ist bei manchen Wettbewerbsergebnissen nicht zu übersehen. Ob dieser Urbanisierungsschub nach oben zu rechtfertigen ist, wird erst die Qualität der ausgeführten Bauten und Freiräume zeigen.

Schon fertiggestellt ist ein Turm in einemanderen nahe gelegenen Entwicklungsgebiet, dem Waagner-Biro-Areal, das sich als „Smart City Graz“ positioniert. Auch dieses Areal ist ein ehemaliges Industriegebiet, woran die Helmut-List-Halle erinnert, eine vom Architekten Markus Pernthaler 2003 im Kontext des Kulturhauptstadtjahres für Großveranstaltungen adaptierte Industriehalle. Von Pernthaler stammt auch der Turm, der neben der List-Halle stehend an einen Campanile neben einer Basilika erinnert. Ob der Turm zum Symbol einer „Smart City“ taugt, hängt davon ab, was man unter „smart“ versteht. Als Bürohaus ist der Turm jedenfalls alles andere als schlau, nämlich aufgrund seines geringen Durchmessers schlicht unwirtschaftlich. Wenn mit „Smart City“ technologische Innovationen gemeint sind, ist der Turm dagegen ein gut gestalteter und effektiver Werbeträger. Die äußere Schicht der Doppelfassade besteht aus extrem dünnen Glasscheiben, die teilweise mitneuartigen, elektrochemisch arbeitenden Solarzellen kombiniert sind. Im obersten Geschoß, umgeben von einer leichten Stahlkonstruktion, die dem Turm wie eine Krone aufgesetzt ist, befinden sich Stahlbetontröge,in denen mit Nutzpflanzen experimentiert werden soll.

Bauherr des Turms ist der steirische Unternehmer Hans Höllwart, dessen Firma SFL im Anlagen- und Fassadenbau tätig ist und den Turm als Vorzeigeprojekt nutzen möchte. Ende vergangenen Jahres musste die Firma, die unter anderem die Murinsel, die Hülle des Kunsthauses Graz und die Fassadedes Wiener Uniqa-Towers ausgeführt hat, Insolvenz anmelden. Der Turm wird damit auch zu einem Symbol für das – in diesem Fall hoffentlich nicht endgültige – Scheitern, von dem Innovatoren in Übergangszeiten immer bedroht sind.

Die „Smart City Graz“ besteht aber nicht allein aus der List-Halle und dem Turm. Mit dem Bau einer neuen Schule wird nächstes Jahr begonnen, mehrere Wohnblocks und Bauten für gemischte Nutzung kommen dazu. Hier wird sich zeigen, wie „smart“ diese City wirklich ist. In Bezug auf öffentliche Bauten hat Graz zwar in den vergangenen 20 Jahren einen hohen Standard vorzuweisen; der Wohnbau gelangt aber bei Weitem nicht an dieses Niveau heran. (Wer sich für die Zeiten interessiert, als die Steiermark das Nonplusultra des österreichischen Wohnbaus war, sollte die aktuelle Ausstellung „Graz Architecture“ im Grazer Kunsthaus besuchen. Projekte wie die Terrassenhaussiedlung St. Peter und generell Ambition und Resultate des „Modells Steiermark“, das ab den frühen 1970er-Jahren die Entwicklung prägte, sind immer noch inspirierend.)

Grundsätzlich ist die Stadt aber auf dem richtigen Weg. Sie setzt auf die Verdichtung möglichst im Bestand oder auf Brachflächen, auf Nutzungsdurchmischung und attraktive öffentliche Räume. Ziel ist die energieeffiziente, ressourcenschonende und emissionsarme Stadt. Niemand wird etwas gegen diese Ziele einzuwenden haben. Dass ihre Erreichung einen radikalen Wandel unserer Lebensweise und unserer Wohnvorstellungen erfordert, wird aber immer klarer.

Gerade deshalb ist es wichtig, mehr in Forschung zu dieser Frage zu investieren. „Smart City Graz“ hat Förderungen in der Höhe von 4,2 Millionen Euro erhalten, und zwar aus dem größten österreichischen Förderungstopf zum Thema, dem beim Klima- und Energiefonds angesiedelten Programm „Smart Cities Demo“, das zum Zeitpunkt der Förderungszusage 2011 noch „Smart Energy Demo“ hieß. Trotz der Namensänderung ist das Programm nach wie vor technologielastig, obwohl der Fonds selbst betont, dass nur eine ganzheitliche Betrachtung, die auch soziale und kulturelle Aspekte berücksichtigt, die Erreichung der Klimaziele ermöglicht. Seit seiner Gründung 2007 hat der Fonds 1,1 Milliarden Euro an Förderungen vergeben, davon knapp 40 Millionen im „Smart Cities“-Bereich, und davon 16,5 Millionen für in Summe sieben Umsetzungsprojekte, die sich nicht nur mit Technologie, sondern auch mit Lebensräumen beschäftigen. Dazu gehörte neben dem Grazer Turm auch das Montfort-Haus in Feldkirch, das im Rahmen der SmartCityRheintal gefördert wurde. Das ist zu wenig. Die öffentliche Hand sollte sich neue Wege für eine Baukultur- und Städtebauforschung – die es als reine Wohnbauforschung bis 1988 im Rahmen der Wohnbauförderung ja schon gab – überlegen.

Spectrum, Sa., 2018.01.13

15. Dezember 2017Christian Kühn
Spectrum

Wohnen im Gewebe der Stadt

In guter Gesellschaft hält man Distanz und pflegt den Dialog. Das gilt auch für Stadträume: „In der Wiesen Süd“ in Wien-Liesing als gelungenes Beispiel.

In guter Gesellschaft hält man Distanz und pflegt den Dialog. Das gilt auch für Stadträume: „In der Wiesen Süd“ in Wien-Liesing als gelungenes Beispiel.

Wer eine Wohnung kauft, kauft einen Stadtraum mit. Dessen Qualitäten bestehen – neben dem Image, das ein Stadtteil über die Jahre erworben hat – in der Verkehrsanbindung, der Nahversorgung und dem Angebot an Grünflächen. Guter Stadtraum ist aber mehr: Er entsteht, wenn Bauwerke sich freundlich zueinander verhalten und eine Gebäudegesellschaft bilden, in der es respektvolle Distanz ebenso gibt wie intensiven Dialog.

In der traditionellen Stadt hat dieses Spiel von Distanz und Dialog Stadträume geformt, für die wir Namen haben: Straßen und Plätze, Höfe und Parks. Den Stadterweiterungsgebieten der 1960er- und 1970er-Jahre ist es nicht gelungen, auch nur annähernd so starke Begriffe zu prägen. Ihr Ideal war das Ensemble von Baukörpern, die frei in einem möglichst naturnah gestalteten Park stehen. In der Realität ist von dieser Vision in der Regel nur ein Abstandsgrün geblieben, für das sich niemand verantwortlich fühlt.

Die aktuelle Boomphase der Wiener Stadtentwicklung bietet Gelegenheit, nach neuen Formen von Stadtraum zu suchen. Der Trend geht derzeit in Richtung einer Variation des Modells der 1960er- und 1970er-Jahre, wie man es zum Beispiel am Bebauungsplan für das Areal an der neuen Endstelle der U1 in Oberlaa sehen kann, der auf einen Wettbewerb aus dem Jahr 2015 zurückgeht. Es ist eine Art „Zuckerwürfel-Städtebau“ aus eng gestellten, aber voneinander isolierten Baukörpern. Dass wir uns im 21. Jahrhundert befinden und nicht in den 1960er-Jahren, erkennt man bestenfalls daran, dass die Baukörper nicht orthogonal, sondern leicht schräg zugeschnitten sind und nicht im Raster stehen, sondern wie hingewürfelt wirken. Diese Bebauung mit unterschiedlich hohen Punkthäusern, die bis knapp unter die Hochhausgrenze wachsen dürfen, ist ideal für jene Bauträger, die ihre Projekte ohne viel Dialog entwickeln möchten. Dem Aufwand, aus dem Abstandsgrün zwischen diesen Häusernbrauchbare Grünräume zu machen, werden sie sich zu entziehen versuchen. Einen echten Park, den Kurpark Oberlaa, hat man eh gleich nebenan.

Auch wenn der Trend zu punktförmigen Strukturen derzeit dominiert, gäbe es Alternativen, die für Bauträger vielleicht weniger bequem sind, dafür aber besseren Stadtraum liefern. Ein Beispiel für eine solche Alternative, die auf eine ältere Planung zurückgeht, wurde gerade fertiggestellt: „In derWiesen Süd“ baut auf einem städtebaulichen Wettbewerb auf, den das Büro Atelier 4 im Jahr 2009 gewonnen hat. Auch hier gab die Verlängerung einer U-Bahnlinie, der U6 nach Siebenhirten, den Anstoß zur Entwicklung. Harry Glücks Terrassenhäuser in Alt-Erlaa liegen eine Station stadteinwärts.

Am südlichen Rand des Planungsgebiets, wo ein großes Industriegebiet angrenzt, sieht der Plan von Atelier 4 eine geschlossene Bebauung vor, eine Art dreigeschoßige Stadtmauer mit höheren Quertrakten, die auf diese Mauer punktuell weitere drei bis vier Geschoße aufsatteln. Diese Geschoßanzahl gibt auch die Bauhöhe in der nächsten Reihe hinter der Mauer vor, die dann kontinuierlich nach Norden abfällt. Dabei sind zuerst Punkthäuser vorgesehen, die in hofartige, niedrigere Strukturen übergehen. Öffentliche Einrichtungen sind entlang einer grünen Achse im Zentrum auf die Erdgeschoße der Wohnbauten verteilt.

In einem Bauträgerwettbewerb, bei dem die Bauträger sich jeweils mit zwei Architektenteams bewerben mussten, erhielt die Heimbau mit den Architekten Artec und Dietrich∣Untertrifaller den Zuschlag fürrund ein Drittel der im Gebiet vorgesehenen 900 Wohneinheiten. Artec übernahmen den Entwurf für einen Teil der Stadtmauer, Dietrich∣Untertrifaller für die Punkthäuser. Die Gestaltung der Freiräume stammt von Auböck & Karasz.

Die Planer verständigten sich auf einige gemeinsame Prinzipien: Da die Wohnungen „smart“ sein mussten, was im Wiener Wohnbaujargon ein Euphemismus für „kleiner als bisher“ ist, sollten die Außenfassaden voll verglast sein, um die Räume größer wirken zu lassen. Umlaufende, 80 Zentimeter tiefe Loggien, die sich vor den Wohnräumen zu gut nutzbaren Balkonen mit einem Maß von 2,5 Metern im Quadrat erweitern, bieten Sichtschutz: bei Artec mit Brüstungen aus verzinkten Stahlgittern, deren grauer Farbton je nach Lichteinfall variiert, bei Dietrich∣Untertrifaller durch anthrazitgrau gestrichene Stabgeländer mit integrierten Blumentrögen.

Beachtung verdient vor allem die Art, wieArtec die Stadtmauer umgedeutet haben. Sie sehen die Straße zum Industriegebiet als positiv besetzten Stadtraum mit Bäumen und Radwegen, zu dem es zwar eine Kante, aber nicht unbedingt eine Barriere geben muss. Die Mauer ist daher durchlässig ausgebildet, einerseits, indem sie mit einem Spalt durchschnitten wird, der Durchblick ermöglicht und Licht hinter die Mauer fallen lässt, andererseits, indem im Bereich der Mauer erst ab dem ersten Stock gewohnt wird. Das aufgeständerte Erdgeschoß wird damit zu einer Erweiterung des Straßenraums, inklusive Stellplätzen für Pkw, die vorrangig Nahversorgern wie einer Apotheke und einem Supermarkt dienen sollen. Das Lager von Letzterem wurde mit einem künstlichen Hügel überschüttet, über den man von der Gartenseite her bis ins zweite Obergeschoß wandern kann, wo ein Laubengang alle Bauteile miteinander verbindet und eine zusätzliche, halb öffentliche Stadtebene erzeugt. Zu den Nachbarbauten gibt es einige herausfordernde Schnittstellen mit Niveausprüngen, die sich auch in den Wohnungen finden. Diese Sondertypen gehörten zu den ersten, die einen Käufer fanden.

Mit diesem Projekt haben die Architekten bewiesen, dass der geförderte Wohnbau in Wien imstande ist, höchste Wohnqualität und zugleich reichhaltige Stadträume zu schaffen – zumindest bis jetzt. Das Korsett wird aber immer enger, sowohl finanziell als auch durch verschärfte Bestimmungen im Brandschutz und in der Bauphysik, die nicht immer nachvollziehbar sind. Die sorgfältige Weiterarbeit am Gewebe der Stadt muss nicht teurer sein als der Aufmarsch freistehender Objekte im Abstandsgrün. Sie braucht aber deutlich mehr Präzision, Erfahrung und Einsatz, nicht zuletzt an der Schnittstelle zwischen der Stadtplanung auf der einen und der Gebäude- und Freiraumplanung auf der anderen Seite. Die Fördergeber haben es in der Hand, die Richtung vorzugeben.

Spectrum, Fr., 2017.12.15

15. Dezember 2017Christian Kühn
Spectrum

Wohnen im Gewebe der Stadt

In guter Gesellschaft hält man Distanz und pflegt den Dialog. Das gilt auch für Stadträume: „In der Wiesen Süd“ in Wien-Liesing als gelungenes Beispiel.

In guter Gesellschaft hält man Distanz und pflegt den Dialog. Das gilt auch für Stadträume: „In der Wiesen Süd“ in Wien-Liesing als gelungenes Beispiel.

Wer eine Wohnung kauft, kauft einen Stadtraum mit. Dessen Qualitäten bestehen –neben dem Image, das ein Stadtteil über die Jahre erworben hat – in der Verkehrsanbindung, der Nahversorgung und dem Angebot an Grünflächen. Guter Stadtraum ist aber mehr: Er entsteht, wenn Bauwerke sich freundlich zueinander verhalten und eine Gebäudegesellschaft bilden, in der es respektvolle Distanz ebenso gibt wie intensiven Dialog.

In der traditionellen Stadt hat dieses Spiel von Distanz und Dialog Stadträume geformt, für die wir Namen haben: Straßen und Plätze, Höfe und Parks. Den Stadterweiterungsgebieten der 1960er- und 1970er-Jahre ist es nicht gelungen, auch nur annähernd so starke Begriffe zu prägen. Ihr Ideal war das Ensemble von Baukörpern, die frei in einem möglichst naturnah gestalteten Park stehen. In der Realität ist von dieser Vision in der Regel nur ein Abstandsgrün geblieben, für das sich niemand verantwortlich fühlt.

Die aktuelle Boomphase der Wiener Stadtentwicklung bietet Gelegenheit, nach neuen Formen von Stadtraum zu suchen. Der Trend geht derzeit in Richtung einer Variation des Modells der 1960er- und 1970er-Jahre, wie man es zum Beispiel am Bebauungsplan für das Areal an der neuen Endstelle der U1 in Oberlaa sehen kann, der auf einen Wettbewerb aus dem Jahr 2015 zurückgeht. Es ist eine Art „Zuckerwürfel-Städtebau“ aus eng gestellten, aber voneinander isolierten Baukörpern. Dass wir uns im 21. Jahrhundert befinden und nicht in den 1960er-Jahren, erkennt man bestenfalls daran, dass die Baukörper nicht orthogonal, sondern leicht schräg zugeschnitten sind und nicht im Raster stehen, sondern wie hingewürfelt wirken. Diese Bebauung mit unterschiedlich hohen Punkthäusern, die bis knapp unter die Hochhausgrenze wachsen dürfen, ist ideal für jene Bauträger, die ihre Projekte ohne viel Dialog entwickeln möchten. Dem Aufwand, aus dem Abstandsgrün zwischen diesen Häusernbrauchbare Grünräume zu machen, werden sie sich zu entziehen versuchen. Einen echten Park, den Kurpark Oberlaa, hat man eh gleich nebenan.

Auch wenn der Trend zu punktförmigen Strukturen derzeit dominiert, gäbe es Alternativen, die für Bauträger vielleicht weniger bequem sind, dafür aber besseren Stadtraum liefern. Ein Beispiel für eine solche Alternative, die auf eine ältere Planung zurückgeht, wurde gerade fertiggestellt: „In derWiesen Süd“ baut auf einem städtebaulichen Wettbewerb auf, den das Büro Atelier 4 im Jahr 2009 gewonnen hat. Auch hier gab die Verlängerung einer U-Bahnlinie, der U6 nach Siebenhirten, den Anstoß zur Entwicklung. Harry Glücks Terrassenhäuser in Alt-Erlaa liegen eine Station stadteinwärts.

Am südlichen Rand des Planungsgebiets, wo ein großes Industriegebiet angrenzt, sieht der Plan von Atelier 4 eine geschlossene Bebauung vor, eine Art dreigeschoßige Stadtmauer mit höheren Quertrakten, die auf diese Mauer punktuell weitere drei bis vier Geschoße aufsatteln. Diese Geschoßanzahl gibt auch die Bauhöhe in der nächsten Reihe hinter der Mauer vor, die dann kontinuierlich nach Norden abfällt. Dabei sind zuerst Punkthäuser vorgesehen, die in hofartige, niedrigere Strukturen übergehen. Öffentliche Einrichtungen sind entlang einer grünen Achse im Zentrum auf die Erdgeschoße der Wohnbauten verteilt.

In einem Bauträgerwettbewerb, bei dem die Bauträger sich jeweils mit zwei Architektenteams bewerben mussten, erhielt die Heimbau mit den Architekten Artec und Dietrich∣Untertrifaller den Zuschlag fürrund ein Drittel der im Gebiet vorgesehenen 900 Wohneinheiten. Artec übernahmen den Entwurf für einen Teil der Stadtmauer, Dietrich∣Untertrifaller für die Punkthäuser. Die Gestaltung der Freiräume stammt von Auböck & Karasz.

Die Planer verständigten sich auf einige gemeinsame Prinzipien: Da die Wohnungen „smart“ sein mussten, was im Wiener Wohnbaujargon ein Euphemismus für „kleiner als bisher“ ist, sollten die Außenfassaden voll verglast sein, um die Räume größer wirken zu lassen. Umlaufende, 80 Zentimeter tiefe Loggien, die sich vor den Wohnräumen zu gut nutzbaren Balkonen mit einem Maß von 2,5 Metern im Quadrat erweitern, bieten Sichtschutz: bei Artec mit Brüstungen aus verzinkten Stahlgittern, deren grauer Farbton je nach Lichteinfall variiert, bei Dietrich∣Untertrifaller durch anthrazitgrau gestrichene Stabgeländer mit integrierten Blumentrögen.

Beachtung verdient vor allem die Art, wieArtec die Stadtmauer umgedeutet haben. Sie sehen die Straße zum Industriegebiet als positiv besetzten Stadtraum mit Bäumen und Radwegen, zu dem es zwar eine Kante, aber nicht unbedingt eine Barriere geben muss. Die Mauer ist daher durchlässig ausgebildet, einerseits, indem sie mit einem Spalt durchschnitten wird, der Durchblick ermöglicht und Licht hinter die Mauer fallen lässt, andererseits, indem im Bereich der Mauer erst ab dem ersten Stock gewohnt wird. Das aufgeständerte Erdgeschoß wird damit zu einer Erweiterung des Straßenraums, inklusive Stellplätzen für Pkw, die vorrangig Nahversorgern wie einer Apotheke und einem Supermarkt dienen sollen. Das Lager von Letzterem wurde mit einem künstlichen Hügel überschüttet, über den man von der Gartenseite her bis ins zweite Obergeschoß wandern kann, wo ein Laubengang alle Bauteile miteinander verbindet und eine zusätzliche, halb öffentliche Stadtebene erzeugt. Zu den Nachbarbauten gibt es einige herausfordernde Schnittstellen mit Niveausprüngen, die sich auch in den Wohnungen finden. Diese Sondertypen gehörten zu den ersten, die einen Käufer fanden.

Mit diesem Projekt haben die Architekten bewiesen, dass der geförderte Wohnbau in Wien imstande ist, höchste Wohnqualität und zugleich reichhaltige Stadträume zu schaffen – zumindest bis jetzt. Das Korsett wird aber immer enger, sowohl finanziell als auch durch verschärfte Bestimmungen im Brandschutz und in der Bauphysik, die nicht immer nachvollziehbar sind. Die sorgfältige Weiterarbeit am Gewebe der Stadt muss nicht teurer sein als der Aufmarsch freistehender Objekte im Abstandsgrün. Sie braucht aber deutlich mehr Präzision, Erfahrung und Einsatz, nicht zuletzt an der Schnittstelle zwischen der Stadtplanung auf der einen und der Gebäude- und Freiraumplanung auf der anderen Seite. Die Fördergeber haben es in der Hand, die Richtung vorzugeben.

Spectrum, Fr., 2017.12.15



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Wohnbau „In der Wiesen: Îles flottantes“

11. November 2017Christian Kühn
Spectrum

Elefant mit Feinheiten

Nur auf den ersten Blick eine klassische Blockrandbebauung mit Innenhöfen und Rasterfassade: Schenker Salvi Weber und feld72 hüllen ein Glashaus in einen Mantel aus Kunststein, dessen Feinheiten erst bei genauerem Hinsehen zum Vorschein kommen.

Nur auf den ersten Blick eine klassische Blockrandbebauung mit Innenhöfen und Rasterfassade: Schenker Salvi Weber und feld72 hüllen ein Glashaus in einen Mantel aus Kunststein, dessen Feinheiten erst bei genauerem Hinsehen zum Vorschein kommen.

Urbanissima: So nannten die Autoren der Innsbrucker Hochhausstudie des Jahres 2002 einen speziellen Typus von Hochhaus, geeignet für das dicht bebaute Stadtgebiet. Während konventionelle Hochhäuser wie Giraffen in der Stadt herumstehen, ist dieser Typus ein Elefant: Er ragt als kompakte Masse aus seiner Umgebung auf, hoffentlich ohne sie zu erdrücken, und ist in den unteren Geschoßen eng mit ihr verknüpft.

Der neue Hauptsitz der Post AG im dritten Wiener Gemeindebezirk ist ein Exemplar dieser Gattung. Baurechtlich ein Hochhaus, ist er typologisch eine Blockrandbebauung mit Innenhöfen. Das Grundstück liegt am Rochusplatz, einer Erweiterung der Landstraßer Hauptstraße. Wichtigster Anziehungspunkt ist neben der U-Bahnstation der U3 ein kleiner, gut sortierter Markt, der es im Angebot fast mit dem Naschmarkt aufnehmen kann. Das bisher dominanteste Gebäude am Platz ist ein von Harry Glück entworfenes ehemaliges Finanzamt aus den 1960er-Jahren, das vor Kurzem in einen Wohnbau umgewandelt wurde. Der Fassadenrhythmus des Altbaus wurde beibehalten, die Farbgebung aber radikal verändert, indem die grauen Betonelemente der Fassade schwarz verkleidet wurden. Im rechten Winkel zu dieser schwarzen Rasterfassade liegt die mit weißem Kunststein verkleidete der neuen „Post am Rochus“. Das Grundstück befand sich bereits im Besitz der Post und war mit Bestandsbauten besetzt, überwiegend aus den 1950er-Jahren – mit Ausnahme eines Trakts an der Rasumofskygasse aus den 1920er-Jahren, dessen Fassade unter Denkmalschutz steht.

Die Entscheidung, die Konzernzentrale an diesen Ort zu legen und nicht in ein neues Stadtquartier, an dem man sich vielleicht mehr in Szene hätte setzen können, begründet die Post nicht nur mit der guten Verkehrsanbindung, sondern vor allem mit der Qualität des Stadtlebens mit zahlreichen Restaurants und dem Markt vor der Tür. Auf eine Kantine für die 1100 Mitarbeiter wurde verzichtet, allerdings befindet sich im Sockel des Neubaus ein großer öffentlicher Gastronomiebetrieb. Der Entwurf stammt von den Architekten Schenker Salvi Weber in Kooperation mit dem Büro feld72, wobei Letzteres in der zweiten Stufe eines 2013 EU-weit ausgeschriebenen Architekturwettbewerbs als Verstärkung ins Boot geholt wurde.

Dass die Post sich auf einen internationalen Wettbewerb einließ, bei dem auch junge Büros mit wenig Referenzen zugelassen waren, ist ihr hoch anzurechnen. Eine solche Entscheidung kommt nicht von ungefähr: Georg Pölzl, Vorsitzender des Post-Vorstands, hat sich schon in seiner Zeit bei T-Mobile mit dem T-Center in St. Marx, dem Blauwal unter Wiens Corporate Headquarters, als mutiger Bauherr erwiesen. Hinter der Rasterfassade der Post am Rochus liegt ein raffinierter Grundriss, der aus dem komplizierten Grundstück etwas Einzigartiges herausholt. Vom denkmalgeschützten Bereich bleibt nicht nur die Fassade erhalten, sondern der ganze Trakt an der Rasumofskygasse, an den hofseitig ein 35 Meter hohes, lang gestrecktes Atrium mit Oberlicht anschließt, das alle Bürogeschoße verbindet. Die Arbeitsplätze der Mitarbeiter sind um zwei große, präzise in den Baukörper eingeschnittene Höfe angeordnet. Theoretisch könnten die Arbeitsplätze auf diesem Grundriss auch in Zellenbüros mit einem Raster von 2,7 Metern organisiert werden. Die Post AG hat sich jedoch für ein Großraumkonzept entschieden, das sich schon bei anderen Headquarters wie dem Erste Campus bewährt hat. Im Unterschied zum Erste Campus gibt es hier eine Mittelzone mit verglasten Rückzugs- und Besprechungsräumen, die mit Vorhängen abgeschlossen werden können. Innerhalb einer Abteilung herrscht freie Platzwahl, potenziell täglich, was je nach Abteilung unterschiedlich gehandhabt wird. Die Flexibilität im Großraum hilft, Flächen zu sparen, da es für zehn Mitarbeiter nur neun Arbeitsstationen gibt.

Vor allem bietet die weite Sichtverbindung quer über die Höfe eine völlig andere Arbeitsatmosphäre als im Zellenbüro. Wer hier arbeitet, soll wissen: Die Post ist kein Amt mehr, sondern ein innovatives Unternehmen. Parallel zum Atrium, das den Mitarbeitern vorbehalten ist, liegt im Erdgeschoß eine Passage, die den Rochusmarkt mit dem Grete-Jost-Park verbindet, einem begrünten Innenhof, der mit allen benachbarten Straßen verbunden ist. Ein Drittel aller Besucher der Einkaufspassage, die im Untergeschoß einen großen Lebensmittelmarkt bietet, kommt über diesen Weg.

Das Äußere des Hauses löst unterschiedliche Reaktionen aus. Hell und freundlich für die einen, ist es für andere eine Variation von David Chipperfields Kaufhausfassade in der Kärntner Straße. Ein genauer Blick lohnt sich jedenfalls. Während Chipperfields Fassade auch eine tragende Wand ist, sind die Rahmenelemente bei der Post am Rochus vorgehängt, mit tragenden Säulen hinter der Fassade. Im Grunde handelt es sich um ein fast vollständig verglastes Gebäude mit raumhohen Scheiben. Die Fassade ist eine dicke Haut mit eigenen Aufgaben. Alle horizontalen Elemente dienen dem Brandschutz, indem sie den Brandüberschlag zwischen den Geschoßen verhindern. Hinter den vertikalen Elementen befinden sich Lüftungsflügel, mit denen die Nutzer Frischluft ins Haus lassen können. Dafür gibt es im Betonelement kleine, kreisförmige Öffnungen.

Mit diesen Bausteinen inszenieren die Architekten ein Ornament in der Fassade, das erst beim genaueren Hinsehen auffällt. Die kreisförmigen Öffnungen sind jeweils einseitig in die Betonelemente geschnitten, wodurch sich in der Seitenansicht ein Spiel von gelochten und glatten Elementen ergibt. Gleichzeitig ändert sich die Breite der Stirnseiten dieser Elemente, die man in der klassischen Fassadenterminologie als Lisenen bezeichnen würde. Sie sind im obersten Geschoß schmal und im untersten breit, wobei sich dieses Verhältnis an anderen Stellen der Fassade umkehrt und schmale Lisenen im Sockelbereich nach oben breiter werden. Wie oft bei solchen Übungen ist der heikle Punkt die Ecke, die in diesem Fall als sauber gespachtelte Kante ausgebildet ist. Mit etwas mehr Mut zur Irritation hätte man hier deutlicher machen können, dass diese Fassade keine klassizistische ist.

Ob solche Feinheiten beim Passanten ankommen? Vielleicht darf man sich ja ab und zu auf die Position zurückziehen, Architektur sei die Kunst, das Nutzlose notwendig zu machen.

Spectrum, Sa., 2017.11.11



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Post am Rochus

21. Oktober 2017Christian Kühn
Spectrum

Erst denken, dann bauen

Velden am Wörthersee leistet sich eine Bausperre, um seine Ortsentwicklung auf eine neue Basis zu stellen. Zwei Jahre nicht bauen: Auch das kann ein Zeichen von Baukultur sein.

Velden am Wörthersee leistet sich eine Bausperre, um seine Ortsentwicklung auf eine neue Basis zu stellen. Zwei Jahre nicht bauen: Auch das kann ein Zeichen von Baukultur sein.

Die Vorstellung einer unberührten Landschaft ist ein Widerspruch in sich. Im Begriff der Landschaft steckt das Schaffen, weshalb mit diesem Begriff nie eine ursprüngliche Natur gemeint sein kann, sondern immer eine gestaltete. Der alpine Tourismus ist ein Phänomen an der Grenze dieser Sphären: im Vordergrund die gestaltete Landschaft, im Hintergrund die erhabene Welt der Berge.

Kaum eine andere Region entspricht diesem Bild so sehr wie jene um den Wörthersee. Dort hat der Tourismus bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts Wurzeln geschlagen, spätestens mit der Verlängerung der Südbahn bis Villach im Jahr 1864. Um 1900 entwickelte sich hier eine eigene Ausprägung des Heimatstils, eine Form des Späthistorismus, die nach der Jahrhundertwende auch Elemente des Jugendstils in ihr Vokabular aufnahm.

Diese von Städtern für Städter entworfene Landhausarchitektur hat die Ufer des Wörthersees von den 1890er-Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg geprägt. Hier entstanden zahlreiche Villen, von denen die meisten auch gut ins Wiener Cottage-Viertel gepasst hätten, wie etwa jene, die sich Gustav Mahler 1901 hier errichten ließ. Dazu kamen Fantasieschlösser wie in Reifnitz und Seefels, und schließlich Bäder und Hotels unterschiedlicher Größe. Pörtschach, wo gleichzwei Hotelbetriebe, die Etablissements Wahliss und Werzer, miteinander konkurrierten, entwickelte sich ab 1895 zu einem der mondänsten Kurorte Österreichs.

Der produktivste Architekt dieser Epoche in der Wörtherseeregion war der aus Wien stammende Franz Baumgartner, der an der Akademie der Bildenden Künste studiert hatte. 1909 begann er seine Karriere als Architekt in Velden, unter anderem mit dem Entwurf des Hotels Kointsch. Friedrich Achleitner lobte an diesem Bau das „unglaublich variable architektonische Vokabular, das alle Ansprüche an eine gehobene Erholungsarchitektur befriedigen konnte“. Ausgeführt wurde das Hotel vom Bauunternehmer Anton Bulfon, der 1908 nach Velden gezogen war und die Entwicklung des Orts als größter Grundeigentümer maßgeblich beeinflusste. Ihm gelang es auch, 1922 das Casino nach Velden zu bringen. Im Zentrum des Orts, am Karawankenplatz, errichtete er nach Plänen Baumgartners 1924 mit dem Carinthia noch ein weiteres Hotel, mit dem man an die große Zeit des Tourismus vor dem Ersten Weltkrieg anknüpfen wollte.

Zu ihrer früheren mondänen Atmosphäre fand die Region nach 1918 aber nie mehr zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zwar einzelne Versuch, Hotels im internationalen Stil der Moderne zu errichten, etwa das weitgehend im Originalzustand des Jahres 1963 erhaltene Parkhotel in Pörtschach, das sich auf einem Teil des ehemaligen Etablissements Wahliss befindet.

Wer heute den Wörthersee besucht, braucht einiges an Einbildungskraft, um die Spuren der Erholungslandschaft zu erkennen, die man hier vor hundert Jahren erleben konnte. Die Ufer des Sees wurden über die Jahrzehnte immer dichter verbaut, überwiegend mit Apartmenthäusern, die als Zweitwohnsitze dienen. Mit solchen Projekten lässt sich prächtig Geld verdienen. Allerdings unterliegen sie dem Paradoxon jeder Massenerholung: Im Erfolg zerstören sie ihre eigenen Voraussetzungen. Am Wörthersee ist die Bebauung an den Ufern exponentiell gewachsen: Viel zu lange hat man die Entwicklung nur als Störung, aber nicht als Bedrohung des Erholungsraums wahrgenommen. Heute ist das zulässige Maß an Verdichtung bei Weitem und – wie manche Beobachter meinen – irreparabel überschritten. Im besten Fall könne man noch ein wenig Kosmetik betreiben, auf der Ebene der Orts- und Raumplanung sei heute nichts mehr zu retten.

Aber ist dieser Defätismus tatsächlich gerechtfertigt? Es gibt zumindest einzelne Gemeinden, die versuchen, neue Wege zu gehen. Eine davon ist Velden am Westufer des Wörthersees, im Sommer das touristische Zentrum der Region mit 6500 Gästebetten und 460.000 Übernachtungen pro Jahr. Der Ort boomt, von Mai bis September ist Velden praktisch ausgebucht, und mit dem Veldener Advent wird versucht, die Saison in den Winter hinein zu erweitern. Allerdings gibt es im Ort mit knapp 9000 Einwohnern auch 2000 Nebenwohnsitze, die von Touristikern als „kalte Betten“ bezeichnet werden, da sie den Großteil des Jahres unbenutzt bleiben. Viele dieser Nebenwohnsitze waren ursprünglich als Hotels bewilligt, stellten aber bald den Betrieb ein, um als Geldanlage verkauft zu werden.

Velden hat auch über andere Fragen der Landschaftsnutzung nachzudenken: den öffentlichen Seezugang, den Durchzugsverkehr im Ort, die plärrende Tourismusarchitektur, die sich weit von der mondänen Entspanntheit entfernt hat, die der Ort einmal zu bieten hatte. In der aktuellen Boomphase hätte man diese Fragen leicht in die Zukunft verschieben können. Velden hat sich entschlossen, diese Phase zu nutzen, um grundlegende Veränderungen einzuleiten. Ein erster Schritt dazu war 2008 die Schaffung eines Architekturbeirats, der überwiegend mit Architekten besetzt ist, die von außerhalb der Region kommen. Der Ortsplaner, Gerhard Kopeinig, ist in diesem Gremium Mitglied ohne Stimmrecht.

Eine Aufgabe eines solchen Beirats ist es, bei den Ortsbewohnern Bewusstsein für Qualität zu schaffen. Das braucht mehrere Jahre und Projekte, die sich für eine Bürgerbeteiligung eignen. In Velden hat man sich dafür ein Projekt vorgenommen, das in Österreich einzigartig ist: die Verwandlung eines vom Auto dominierten Verkehrskanals in einen „Shared Space“. Einzigartig ist das Projekt insofern, als erstmals eine Bundesstraße in dieser Form fußgängertauglich gemacht wurde, wofür auf Betreiben der Gemeinde sogar die Straßenverkehrsordnung novelliert werden musste. Finanziert wurde das Projekt zur Hälfte vom Land und zu je einem Viertel von der Gemeinde und den Unternehmen, die an diesem Straßenstück liegen. In der nächsten Etappe soll die Neugestaltung des Straßenraums bis zum Karawankenplatz, wo die Hauptwerke Franz Baumgartners derzeit in einer Asphaltwüste schwimmen, weitergeführt werden.

Im Herbst 2016 hat sich die Gemeinde entschlossen, einen radikalen Schritt zu setzen. Bürgermeister Ferdinand Vouk verkündete eine zweijährige Bausperre für den erweiterten Seeuferbereich, also für alle Grundstücke, auf denen ein besonderer Entwicklungsdruck lastet. In den zwei Jahren sollen die raumplanerischen und gestalterischen Grundlagen erarbeitet werden, auf denen die Gemeinde ihre Entwicklung aufbauen möchte. Seit einem Jahr läuft eine umfassende Analyse der Situation, im nächsten Schritt werden die Ergebnisse in Bürgerversammlungen diskutiert, danach international ausgeschriebene städtebauliche Ideenwettbewerbe durchgeführt. Am Ende soll eine neue Bebauungsplanung stehen, deren Ziele im Gemeinderatsbeschluss für die Bausperre klar angesprochen sind: Erhaltung der Ortsbildqualität; Beschränkung der Anzahl der Wohneinheiten auf maximal zwei bis drei pro Grundstück; Freihaltung des Seeuferbereichs; Vermeidung der Verbauung mit großvolumigen Wohnanlagen. Vielleicht gelingt der Gemeinde ja ein Jahrhundertprojekt, mit dem sie ihre große Tradition in die Zukunft führt.

Spectrum, Sa., 2017.10.21

23. September 2017Christian Kühn
Spectrum

Im Archiv des Genies

Vor 150 Jahren wurde Frank Lloyd Wright geboren, elitärer Erfinder einer egalitären Architektur. Eine Ausstellung im MoMA New York zeigt Schätze aus seinem Archiv.

Vor 150 Jahren wurde Frank Lloyd Wright geboren, elitärer Erfinder einer egalitären Architektur. Eine Ausstellung im MoMA New York zeigt Schätze aus seinem Archiv.

Weltberühmter Architekt: Diese Berufsbezeichnung gab Frank Lloyd Wright an, als er 1956, im Alter von 89 Jahren, in die Fernsehshow „What's my Line?“, die amerikanische Variante des „Heiteren Beruferatens“, eingeladen war. Wright hielt sich für den bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts, und zumindest in den USA würde er mit dieser Einschätzung bis heute auf breite Zustimmung stoßen.

Wright ist Jahrgang 1867, und sein 150. Geburtstag wird in den USA gebührend gefeiert. Eine große Ausstellung im MoMA zeigt Schätze aus seinem Archiv, das seit einigen Jahren von der Columbia-Universität und dem Museum of Modern Art in New York gemeinsam verwaltet wird und über 55.000 Zeichnungen umfasst. Zugleich wurden zahlreiche Gebäude Wrights in Hinblick auf das Jubiläum restauriert und wieder öffentlich zugänglich gemacht.

Dass Wright zum weltberühmten Architekten werden konnte, verdankt er nicht zuletzt der Tatsache, dass er 1887 sein Architekturstudium nach zwei Jahren abbrach, um im Büro von Louis Sullivan und Dankmar Adler in Chicago als Zeichner zu beginnen. Chicago, das nach dem großen Brand von 1871 wieder aufgebaut wurde, war zu dieser Zeit das Labor einer neuen Architektur, die sowohl in konstruktiver als auch in typologischer Hinsicht revolutionär war.

Ob der Stahlskelettbau zum Hochhaustypus führte oder umgekehrt der Zug in die Höhe dazu, Stahl als Baumaterial zu nutzen, ist schwer zu entscheiden, wie das Beispiel des Monadnock-Gebäudes im Zentrum von Chicago zeigt. Es besteht aus zwei im Grundriss fast identischen, jeweils rund 60 Meter hohen Teilen. Der erste, von Burnham & Root 1889 entworfen, ragt als reiner Ziegelbau auf, der zweite wurde 1891 nach Plänen von Holabird & Roche als Stahlskelettbau errichtet. Während der ältere Ziegelbau mit seinen fast spiegelnden massiven Wänden aus hoch gebrannten Ziegeln praktisch ohne jedes Ornament auskommt, ist der jüngere, bei dem der Ziegel nur der Verkleidung dient, mit Ornamenten verziert. Von der tragenden Funktion befreit, kann diese Wand sich wieder leicht und fast textil geben. Den Architekten der „Schule von Chicago“ und allen voran Sullivan gelang es, für diese Fassaden neue Lösungen zu entwickeln. Sullivans Ornamente, die sich wie zarte Tätowierungen in die Terrakotta-Haut seiner Hochhäuser einschneiden, folgen geometrischen Prinzipien, die Wrights Architektur geprägt haben.

Auch auf Adolf Loos, der sich in den Jahren von 1893 bis 1896 in den USA und dabei längere Zeit in Chicago aufhielt, müssen diese Bauten großen Eindruck gemacht haben, wie ebenso jene für die Weltausstellung von 1892, die anlässlich des 400-Jahr-Jubiläums der Entdeckung Amerikas eine vom alten Rom inspirierte, klassizistische „White City“ an den damaligen Stadtrand von Chicago setzte. Loos' berühmter Entwurf für die Chicago Tribune, eine gigantische dorische Säule aus schwarzem Granit, trieb diesen Klassizismus drei Jahrzehnte später auf die Spitze.

In diesem Umfeld entwickelte der junge Frank Lloyd Wright eine neue Architektur, die sich vorerst fast ausschließlich in Einfamilienhäusern manifestierte. Nachdem Sullivan ihn 1893 entlassen hatte, weil er in dessen Büro auf eigene Rechnung zu arbeiten begonnen hatte, eröffnete Wright seine eigene Firma, die er schließlich nach Oak Park, einen Vorort von Chicago, verlegte. Sein Haus und sein Atelier sind heute öffentlich zugänglich; die über 30 anderen in der Nähe von ihm entworfenen Häuser befinden sich in Privatbesitz. Bewundern kann man sie trotzdem, da Oak Park generell auf Zäune und blickdichte Hecken verzichtet und die Häuser wirken, als stünden sie in einem großen, offenen Park.

Das berühmteste Haus Wrights in Chicago, das Robie Haus, befindet sich allerdings am anderen Ende der Stadt und liegt heute auf dem Areal der University of Chicago. Es ist ein Musterbeispiel für den Prärie-Stil, in dem Wright horizontale Schichten und Linien betont. Die Technologie, die diese Häuser möglich macht, ist dieselbe wie jene der Hochhäuser: Die weit auskragenden Dächer der Prärie-Häuser werden von Stahlträgern gehalten, die freilich hinter Verkleidungen aus Ziegeln und Holz verborgen sind.

Auch dieses Haus wurde in den vergangenen Jahren um viel Geld restauriert und in einen Zustand gebracht, der den ursprünglichen Plänen entspricht. Dieses Vorgehen hat seinen Preis: Aus den Häusern werden polierte Ausstellungsstücke ohne Spuren der Zeit. Bei einem von Wrights schönsten Häusern aus dieser Epoche, dem Martin Haus in Buffalo, wurden ganze Trakte abgerissen und neu gebaut und im Rahmen der – wahrscheinlich erstmaligen – Herstellung des „originalen“ Gartens alte Bäume entfernt. Wright hätte damit wahrscheinlich kein Problem, da er die von ihm entworfenen Häuser vor allem als sein geistiges Eigentum betrachtete, dem sich die Nutzer bedingungslos zu unterwerfen hätten.

Wer sich weniger für den Geniekult um Wright interessiert, sondern um seine Einordnung in die amerikanische Kulturgeschichte, wird mit der Ausstellung im MoMAin New York, zu der ein hervorragender Katalog erschienen ist, bestens bedient. Sein ambivalentes Verhältnis zum Hochhaus wirdda etwa im Vergleich zu jenem Mies van der Rohes diskutiert. Wright befasste sich mit der Massenproduktion von Einfamilienhäusern und legte mit der Broadacre City Anfang der 1930er-Jahre eine entsprechende Stadtvision vor.

Vertikale Strukturen konnte Wright nur zweimal realisieren, den Forschungsturm der Johnson Wax Factory – anlässlich des Jubiläums ebenfalls zugänglich und mit alter Laboreinrichtung museal inszeniert – und einen Wohnturm, den Price Tower in Oklahoma, der 1956 eröffnet wurde. Im selben Jahr stellte Wright, im Alter von 89 Jahren, das Projekt des Mile-High Illinois vor, einer 1600 Meter hohen Nadel, die 50 Jahre später dem Burj Kalifa in Dubai als Inspiration diente. Hinterfragt werden in der Ausstellung Wrights Appropriation „exotischer“ Kulturen, der indigenen ebenso wie der japanischen. Weniger erfährt man über den Strom von Ideen, der von der Wiener Sezession zu den Prärie-Häusern zurück zum De Stijl führte, vor allem nach der Publikation von Wrights Werk im deutschen Wasmuth Verlag im Jahr 1909.

Österreich feiert im kommenden Jahr den 100. Todestag von Otto Wagner, dessen Bedeutung für die Architekturgeschichte jener von Wright in nichts nachsteht. Eine Ausstellung im Wien Museum ist für März angekündigt. Ob Wagners Postsparkasse dann noch öffentlich zugänglich sein wird, ist unklar. Die neuen Eigentümer halten sich bezüglich Nutzung und nötiger Eingriffe in die Substanz bedeckt. Man wird die architektonische Kultur des Landes daran messen können, wie mit diesem zentralen Bauwerk der frühen Moderne umgegangen werden wird.

Spectrum, Sa., 2017.09.23

26. August 2017Christian Kühn
Spectrum

Schule mit offenen Armen

Ein Meilenstein in der Entwicklung des österreichischen Schulbaus: Fasch & Fuchs haben für die Seestadt Aspern ein Gymnasium entworfen, das Optimismus und Pioniergeist verströmt. Hier möchte man bleiben.

Ein Meilenstein in der Entwicklung des österreichischen Schulbaus: Fasch & Fuchs haben für die Seestadt Aspern ein Gymnasium entworfen, das Optimismus und Pioniergeist verströmt. Hier möchte man bleiben.

Gibt es einen Fortschritt in der Architektur? Soweit man Architektur als technisches Produkt versteht, sicher. Neue Materialien und Fertigungstechniken lösen ältere ab; neue Planungsmethoden, etwa die Einführung des CAD, machen Geometrien umsetzbar, die vor zwei Jahrzehnten nicht zu beherrschen gewesen wären. Als Baukunst betrachtet, kann Architektur einen Fortschritt anderer Art für sich beanspruchen. Während technischer Fortschritt die alte Lösung obsolet macht, lässt der künstlerische dem Alten seinen Wert. Er ist auch alles andere als linear, verzweigt sich in unterschiedliche Richtungen und setzt dabei manchmal an Verzweigungspunkten an, die weit in der Vergangenheit liegen. Schließlich gibt es noch einen Fortschritt, der aus neuen funktionellen Erfordernissen entsteht. Das können völlig neue Aufgaben sein, wie es im 19. Jahrhundert etwa Bahnhöfe und Schlachthöfe waren, oder auch nur Veränderungen oder Neuinterpretationen bekannter Aufgaben, vom Wohnen bis zur Bildung.

Zu den seltenen Fällen, in denen alle drei Arten von Fortschritt zusammenkommen, gehört das neue Bundesgymnasium in der Seestadt Aspern. Der Fortschritt begann hier schon bei der Ausschreibung des Architekturwettbewerbs. Das Bundesministerium für Bildung wünschte sich eine „Arbeits- und Lernlandschaft, die individuelle Förderung, Arbeiten in unterschiedlichen Gruppengrößen, selbstorganisiertes und offenes Lernen sowie Projektunterricht“ unterstützt. Organisatorisch ist für die Unterstufe ein Cluster-System geplant, in dem sich jeweils vier Klassenräume einen offenen Lernbereich teilen. In der Oberstufe gibt es ein Departmentsystem mit den drei Departments für Sprachen, Naturwissenschaften sowie Wirtschaft und Informatik, zu denen vier große Homebases für die Schüler der Oberstufenjahrgänge gehören. Ein solches Programm ist, international betrachtet, keine große Innovation, aber für österreichische Verhältnisse ein erfreulicher Anschluss an den State-of-the-Art.

Hemma Fasch und Jakob Fuchs hatten für dieses Programm ein Grundstück in der Seestadt Aspern zur Verfügung, das an der einen Seite an einen Stadtteilpark grenzt, den Hannah-Arendt-Park, und an der anderen Seit an einen kleinen urbanen Platz. Das Grundstück ist, wie viele in der Seestadt, schiefwinkelig verzogen, ein stadtplanerischer Kollateralschaden der Ringstraße, die in einer gequetschten Kreiskurve um das Zentrum der Seestadt führt. Fasch & Fuchs haben dieses Grundstück genommen, wie es ist, und ihr Haus an drei Seiten bis an die Grundstücksgrenze gebaut. An der vierten Seite breitet es zum Stadtteilpark seine Armeaus und wirkt von dort wie ein luftiges Glashaus mit Terrassen und einer davor ausgerollten Grünfläche. Diese Grünfläche hätte ursprünglich mit dem Stadtteilpark über große Tore verbunden sein sollen, eine Idee, diesich schließlich aus den üblichen Gründen nicht durchsetzen ließ, die Mehrfachnutzung so schwer machen: Wer zahlt den Betrieb, wer ist für Schäden verantwortlich?

Die beiden seitlichen Arme der Schule sind Treppen, die alle Terrassen mit dem Schulgarten verbinden und gleichzeitig als Fluchtwege dienen. Straßenseitig sind die Wangen dieser Treppen mit einer Membran aus Kunststoff verkleidet, die sich an drei Seiten um das gesamte Gebäude herumzieht. Bei Gegenlicht wird hinter der Membran die tragende Stahlkonstruktion sichtbar, und was zuerst als massives Bauelement erscheint, zeigt sich plötzlich als leichte, transparente Hülle.

Transparenz und Leichtigkeit sind auch im Inneren der Schule das leitende Prinzip. Die Tiefe des Baukörpers erlaubt die Anlage eines gut proportionierten Hofs, der zusätzliches Licht und Grün in die Schule bringt. Parallel dazu liegt eine mehrgeschoßige Aula mit Freitreppen und offenen Lerninseln. Licht von oben kommt über ein Shed-Dach mit einer Tragkonstruktion aus Holz. Diese große Offenheit ist möglich, weil die Schule mit einer Sprinkleranlage ausgerüstet ist, eine Maßnahme, die sich nach Angabe der Architekten durch bessere Flächennutzung und den Wegfall anderer teurer Brandschutzmaßnahmen von selbst amortisiert. Die Wände der Klassen beziehungsweise Homebases sind zu den Erschließungsbereichen hin verglast. Sie haben zumeist einen direkten Ausgang zu einer Terrasse, die fast so groß ist wie die Klasse. Statt Glas bis zum Boden gibt es eine von innen und außen benutzbare Sitzbank mit einem großen Schiebefenster, in deren Gebrauch die Schüler sicher viel Fantasie entwickeln werden.

Es gibt nur wenige Schulen in Österreich, die eine so gelöste Atmosphäre erreichen wie diese, und die meisten der wenigen stammen ebenfalls von Fasch & Fuchs: die Sonderschule Schwechat aus dem Jahr 2006, die Tourismusschule Bad Hofgastein von 2010 und zuletzt das Schulzentrum im oberösterreichischen Feldkirchen, in zwei Etappen 2011 und 2014 errichtet. Drei weitere sind in Bau, in Lienz, in Hall/Tirol und in Neustift im Stubaital. In all diesen Projekten zeigt sich die Fähigkeit der Architekten, aus der konstruktiven Logik baukünstlerische Prinzipien zu gewinnen, die man vor 30 Jahren zum Stilbegriff des Hightech verdichtet hat: Leichtigkeit und Transparenz, Membran statt Mauer, aus dem Konstruktiven abgeleitete Form. Fasch & Fuchs gehörenzu der kleinen Gruppe von Architekten, die diesen Stil so kultiviert haben, dass er sich nicht doktrinär in den Vordergrund drängt, sondern wie die natürlichste Sache der Welt wirkt. Die Fassade zum Park mit ihrem System von abgehängten Stegen, Stahlfachwerken und den leichten Brücken aus Stahlbeton ist ein Kunstwerk für sich.

Das muss man wollen, und man muss es können. Fasch & Fuchs haben in langjähriger forschender Praxis so viel Erfahrung gewonnen, dass ihnen Bauherren, in diesem Fall die BIG, auch bei schwierigen Punkten vertrauen. Dazu gehören viele Beteiligte, unter anderem Projektleiter wie Fred Hofbauer, Büropartner von Fasch & Fuchs, die Tragwerksplaner von Werkraum Wien, die Bauphysik von Exikon und die Künstler Gustav Deutsch und Hanna Schimek, die für die Schule ein kongeniales Farbkonzept entwickelten. Ohne solche Teams, die eine Atmosphäre von Vertrauen, Optimismus und Pioniergeist aufbauen, gibt es in der Architektur keinen Fortschritt. Gerade bei einer Schule darf man hoffen, dass diese Atmosphäre sich aufs Ergebnis überträgt und Schüler wie Lehrer ansteckt.

Spectrum, Sa., 2017.08.26



verknüpfte Bauwerke
Bundesschule Aspern

29. Juli 2017Christian Kühn
Spectrum

Das Wilde pflegen

Seit 25 Jahren wird geplant und gebaut. Jetzt wächst das Areal des ehemaligen Nordbahnhofs langsam zu einem neuen Stadtteil zusammen. Vom Stadtraster zur „Freien Mitte“: eine Mentalitätsgeschichte des Wiener Städtebaus.

Seit 25 Jahren wird geplant und gebaut. Jetzt wächst das Areal des ehemaligen Nordbahnhofs langsam zu einem neuen Stadtteil zusammen. Vom Stadtraster zur „Freien Mitte“: eine Mentalitätsgeschichte des Wiener Städtebaus.

Eine Wildnis mitten in der Stadt: So kann man den heute noch unbebauten Bereich des ehemaligen Nordbahnhofs in Wien-Leopoldau mit Recht bezeichnen. Das Gesamtareal ist das größte zentrumsnahe Entwicklungsgebiet der Stadt und soll bis zum Jahr 2025 Wohnungen für 32.000 und Büroflächen für 25.000 Menschen bieten. Im Grundriss gleicht es einem rechtwinkeligen Dreieck, mit der Nordbahnstraße und der parallel zu ihr geführten Schnellbahn als längster Seite und der Lassallestraße und der Vorgartenstraße als Katheten. Von diesen zwei Straßen her wurde das Gebiet seit den 1990er-Jahren in Etappen bebaut. Als erste markante Objekte entstanden die großen Blocks für IBM und die Bank Austria, beide entworfen von Wilhelm Holzbauer.

Der 1994 beschlossene Masterplan für die Bebauung stammt von Boris Podrecca und Heinz Tesar. Er sieht eine Bebauung in einem Raster vor, der an Otto Wagners Plan einer unbegrenzten Großstadt erinnert: hoheDichte, Baublöcke mit Innenhöfen, breite Alleestraßen und eine gewisse Monumentalität, zu der ein quadratisch angelegter Stadtpark im Format von 200 mal 200 Metern beiträgt. Eine parallel zur Schnellbahn und damit diagonal zum Blockraster geführte Allee spannt eine Achse zum zwei Kilometer entfernten Millenniumstower auf – den Podrecca im Tandem mit Gustav Peichl zu verantworten hat. In umgekehrter Richtung betrachtet ist die Entscheidung für diese Achse wenig glücklich. Sie zielt exakt auf die unattraktivste Ecke des IBM-Hauses, auf deren Quadratlochfassade der Stadtwanderer nun Hunderte Meter lang zugehen muss.

Bisher ist die südöstliche Hälfte des Areals annähernd nach diesem Masterplan bebaut, doch ist von der geplanten Blockrandidee nur noch wenig zu spüren. Vor allem im Wohnbau haben sich die Bautypen durchgesetzt, die Wiener Bauträger am liebsten haben: Zeilen und kompakte frei stehende Punkthäuser, wobei dieses Grün im schlimmsten Fall mit Maschendrahtzaun von der Straße abgetrennt ist. Ein traditioneller Stadtraum kann so jedenfalls nicht entstehen. Wildnis findet sich heute noch auf dem unbebauten Teil des Areals im Westen und Norden. Diese hat ihre Freunde, auch wenn es sich nur um eine spezielle, von industriellen Spuren durchzogene Kulturlandschaft handelt, die in den vergangenen Jahrzehnten langsam verwildert ist.

Ein mitten in diesem Areal gelegener, denkmalgeschützter alter Wasserturm mit einigen angeschlossenen Lagerhallen ist seit einigen Wochen Schauplatz zahlreicher miteinander verschränkter Aktivitäten, die einen pfleglichen Umgang mit dieser Kulturlandschaft zum Ziel haben. Dabei kooperieren universitäre Forscher, Bauträger, Masterplaner und das Architekturzentrum Wien für drei Jahre mit lokalen Initiativen. Ineinem Forschungs- und Entwicklungsprojekt mit dem Titel „Mischung Nordbahnhof“ sollen Strategien für eine Nutzungsmischungdes Stadtteils erarbeitet werden, die vermehrt „von unten“ kommen, durch Beteiligung der Bewohner. In diesem Sinn agieren auch sechs internationale Architekturteams, die von Angelika Fitz und Elke Krasny, den Kuratorinnen des Projekts „Care and Repair“, eingeladen wurden, vor Ort mit lokalen Experten und Nachbarn zu arbeiten und Prototypen für eine andere Planungshaltung zu entwickeln. So hat etwa die belgische Gruppe Rotor Überlegungen zur systematischen Einschleusung von gebrauchten Materialen in den Bauprozess angestellt. Gleichzeitig machten sie die Grenze zwischen zukünftiger Bebauung und Freier Mitte als weiß gekalkte Linie auf dem Boden sichtbar und legten überwucherte Infrastrukturen frei, um den Wert der vorhandenen Kulturlandschaft zu betonen. Zwei andere Teams arbeiteten mit migrantischen Gruppen aus der Umgebung an der Frage, wie auch sie vom neuen Stadtteil profitieren könnten, von öffentlichen Räumen bis zu wirklich finanzierbarem Wohnraum.

Das klingt romantisch und ist es teilweise auch. Die Vorstellung, Stadtraum achtsam aus vorhandenen Substanz heraus zu entwickeln, ist allerdings eine Grundhaltung, die über Romantik hinausgeht. Im konkreten Fall soll sie nicht nur „bottom-up“durchgesetzt werden, sondern auch „top-down“ durch einen neuen städtebaulichen Masterplan. Für den noch unbebauten Teil des Areals fand 2012 ein weiterer städtebaulicher Wettbewerb statt, den Bernd Vlay und Lina Streeruwitz mit einem Projekt für sich entschieden, das quasi die Antithese zum Masterplan von Podrecca und Tesar darstellt. Statt eines Blockrasters sieht dieser mit den Landschaftsarchitekten Agence Ter entwickelte Plan vor, die Mitte des Areals als Grünraum frei zu halten und dafür an den Rändern dichter und höher zu bauen. Von den rund 500.000 Quadratmetern Nutzfläche soll ein Fünftel in Gebäuden liegen, die über die baurechtlich definierte Hochhausgrenze von 35 Metern hinausragen. Das verursacht zusätzliche Kosten, die aber teilweise durch geringere Aufwände für Straßen und Kanäle kompensiert werden. Der Vorteil dieser Freien Mitte mit dichter Bebauung am Rand besteht darin, mehr Leben und Nutzungsmischung in die Sockelzonen bringen zu können, die durch die Lage am „Central Park“ besonders attraktiv sind.

Das Konzept stellt die Stadt vor neue Herausforderungen. Nicht zuletzt geht es umdie Frage, wer die Pflege des Grünraums in der Mitte übernehmen soll. Als Park wäre er dem Bezirksbudget zuzurechnen. Die von den Architekten geplante Form einer pflegeleichten Halbwildnis stieß vorerst bei den Beamten auf wenig Gegenliebe: aus Haftungsgründen und aus Angst vor Kritik der Bevölkerung an einem „ungepflegten“ Park. Im Rahmen der Bürgerbeteiligung stellte sich diese Furcht als grundlos heraus. Die aktuellen Aktivitäten am Wasserturm geben Hoffnung, dass es genug Freiwillige geben wird, um diese Wildnis sinnvoll zu nutzen.

Am anderen Ende des Areals ist inzwischen der Blockraster weitergewuchert. Auch hier gab es einen neuen städtebaulichen Wettbewerb, den wieder Boris Podrecca gewann. Er brachte die Blockränder zeitgeistig zum Schwingen und hob sie teilweise vom Boden ab. Eigentlich hätten in der Umsetzung mehrere Architekten zum Zug kommen sollen. Der Investor sparte sich die Mühe und beauftragte Podrecca mit dem gesamten Projekt. Nur für einen kleinen Bauteil Richtung Praterstern wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Statt echter Vielfalt gibt es jetzt Fassadenakrobatik. Und eine weitere Gegendin Wien, die man meiden sollte.

Spectrum, Sa., 2017.07.29

01. Juli 2017Christian Kühn
Spectrum

Assemble im AzW: Ist das Kunst?

Das Londoner Kollektiv Assemble zeigt im Architekturzentrum Wien in seiner ersten Einzelausstellung Arbeiten zwischen den Genres: Architektur? Bildende Kunst? Aktionskunst in Zeitlupe? Oder vielleicht doch eine neue Kunstgattung, deren Name erst erfunden werden muss?

Das Londoner Kollektiv Assemble zeigt im Architekturzentrum Wien in seiner ersten Einzelausstellung Arbeiten zwischen den Genres: Architektur? Bildende Kunst? Aktionskunst in Zeitlupe? Oder vielleicht doch eine neue Kunstgattung, deren Name erst erfunden werden muss?

Kollektive sind in der bildenden Kunst eine Seltenheit. Wenn überhaupt, treten sie gerne als Verdoppelungen des individuellen Genies auf, wie Gilbert und George oder Eva und Adele. Dass ein Kollektiv von 18 Personen einen der renommiertesten Kunstpreise der Welt erhält, den mit 40.000 Pfund dotierten britischen Turner-Preis, der schon an Rachel Whiteread, Anish Kapoor oder Damien Hirst verliehen wurde, war 2015 eine kleine Sensation. Die Preisträger, die als Gruppe unter dem Namen Assemble firmieren, sind zum größten Teil Architektinnen und Architekten, die sich beim Studium an der Universität Cambridge kennengelernt haben.

Ihr erstes gemeinsames Projekt war die Umwandlung einer verlassenen Londoner Tankstelle in ein Sommerkino im Jahr 2010. Dafür brauchte es nicht viel: eine bestehende Stahlkonstruktion mit vier Stützen, eine steile Tribüne, die darunter errichtet wurde, eine herabrollbare Leinwand und rundherum Vorhänge aus dünnen Folien, die gerafft an die Filmpaläste der 1930er-Jahre erinnerten. Sie konnten nach der Filmvorführung nach oben gezogen werden, um aus der Tankstelle eine Party-Location zu machen. Auf die große Zeit des Films bezog sich auch eine neu auf dem Dach angebrachte Leuchtschrift mit dem Namen dieses flüchtigen Filmpalasts, „The Cineroleum“. Dieses Projekt entstand in Zusammenarbeit mit mehr als 100 Freiwilligen aus der Umgebung, die gemeinsam mit Assemble die Konstruktion entwickelten, Vorhänge nähten und intarsierte Kleinmöbel für die Kinokasse bauten, die einen eigenartigen Kontrast zu den sägerauen Sitzbänken im „Kinosaal“ bildeten.

Den Turner-Preis gewannen Assemble für ein Projekt, an dem man bis heute arbeitet, der Unterstützung eines Community Land Trusts, der sich seit über 20 Jahren mit der Erhaltung und Revitalisierung einer Reihenhausanlage in Liverpool beschäftigt. Die vier kleinen Straßen des „Granby-Four-Streets“-Projekts sind die letzten verbliebenen Teile einer viktorianischen Bebauung. Während die neu errichteten Reihenhauszeilen rundherum wie leblose Fabrikprodukte wirken, sind die alten Straßen von Alleebäumen gesäumt und wirken durch Zubauten und Patina lebendig und individuell.

Das klingt sentimental und würde sich auch darauf beschränken, wenn es Assemble ist nicht gelungen wäre, diesen sentimentalen Impuls in handfeste Aktionen umzusetzen. Sie erarbeiteten mit den Bewohnern ein Konzept für eine schrittweise Sanierung der Häuser und des öffentlichen Raums, planten einen Wintergarten in einer der Baulücken und eröffneten eine Werkstatt, in der sie Elemente für die Sanierung produzierten, die auch in Kleinserien aufgelegt und zum Verkauf angeboten werden. Mit dem Geld aus dem Turner-Preis baute Assemble diese Werkstatt zu einem kleinen Unternehmen aus, das auch lokal Arbeit schafft. Im Architekturzentrum Wien sind diese und andere Projekte in Videos, Modellen und in vielen Fällen Eins–zu-eins-Details ausgestellt. Darunter findet sich auch ein kleines Tonstudio für OTOProjects, eine Art Urhütte, deren dicke Wände aus Sandsäcken bestehen, die mit vor Ort verfügbarem Abbruchmaterial gefüllt sind. Außen sind diese Säcke mit einem rauen Putz aus demselben Material verkleidet. Das Dach ist eine einfache Holzkonstruktion. Ein weiteres Projekt, das Yardhouse, ist die eigene Werkstatt von Assemble in einem Hinterhof. Die schlichte Fassade besteht aus rautenförmigen Kacheln, die auf den ersten Blick wie Eternit aussehen, aber aufwendig in Handarbeit hergestellte Einzelstücke sind. In der Ausstellung ist ein Stück der Fassade zu sehen, kein Modell, sondern das Original: Das Yardhouse wird gerade an einen anderen Ort übersiedelt, und ein kleiner Teil reist zwischendurch nach Wien.

Dass diese Architektur nicht ewig halten möchte, ist offensichtlich. Assemble produziert Aktionskunst in Zeitlupe, ein Architekturtheater mit Laienschauspielern, das sie äußerst professionell inszenieren und dokumentieren. Dass sie dafür den Turner-Preis erhalten haben, ist konsequent. Die Kunstwelt war dennoch einigermaßen irritiert: Der Aufschrei, ob so etwas denn noch Kunst sei, kam diesmal nicht wie üblich vom bürgerlichen Publikum, sondern aus der Szene selbst. Ob die Irritation auch über das Kunstfeld hinaus wirken kann, bleibt abzuwarten. Im Hof des AzW ist eine Ziegel- und Holzkonstruktion zu sehen, die von Architekturstudierenden der TU Wien, wo zwei Mitglieder der Gruppe ein Jahr lang als Gastprofessoren tätig waren, konzipiert und errichtet wurde. Im Zentrum befindet sich ein Keramikbrennofen, der während der Ausstellung vom Publikum benutzt werden kann. Gemeint ist das, so Assemble, als Referenz auf die Ziegelstadt Wien und als Aufforderung, die Gestaltung der persönlichen Lebenswelt nicht der Industrie zu überlassen.

Für diesen Anspruch braucht es in Ikea-Zeiten wahrscheinlich einen radikaleren Impuls. Den können Interessenten sich in den nächsten Monaten auf dem Areal des Nordbahnhofs in einer alten Lagerhalle holen, die im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprojekts „Mischung Nordbahnhof“ der Abteilung für Wohnbau der TU Wien gemeinsam mit dem AzW und der Vienna Biennale genutzt wird. Die „Nordbahnhalle“ liegt im Zentrum eines Areals, auf dem in den nächsten Jahren Tausende Wohnungen entstehen werden. Die Halle soll schon im Vorfeld für Nutzungsmischung sorgen und wird derzeit vom Designbuild Studio der TU Wien unter der Leitung von Peter Fattinger mit Studierenden im Selbstbau adaptiert. Sie bietet Co-Working-Spaces, Co-Making-Werkstätten, Veranstaltungsräume sowie ein Info-Zentrum der Stadt Wien für den neuen Stadtteil.

Angelika Fitz, die neue Direktorin des AzW, hat mit Elke Krasny von der Akademie der bildenden Künste ein Programm entwickelt, das im Juli mit einer Reihe von Veranstaltungen beginnt. Unter dem Titel „Care and Repair“ bietet es die Möglichkeit, die Ansätze aus der Ausstellung im AzW weiter- und vielleicht querzudenken. Sechs international tätige Architekturbüros sollen dabei in Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren Prototypen für einen sorgsamen Umgang mit dem Ort und seinen jetzigen und zukünftigen, menschlichen und tierischen Bewohnern erarbeiten. Daraus soll im Lauf der nächsten Jahre eine Ausstellung wachsen. Wenn die Bagger kommen, um das Areal zu planieren, soll klar sein, dass sie nicht die Ersten sind, die diesen Ort gestalten.

Spectrum, Sa., 2017.07.01

03. Juni 2017Christian Kühn
Spectrum

Bauen wie die Tiger

Architektur, die nur das „Vorwärts!“ kennt, ist in Europa selten geworden. Delugan Meissl durften in Seoul ein herausragendes Exemplar dieser Spezies errichten. Aber ist es repräsentativ für die aktuelle Entwicklung der Architektur?

Architektur, die nur das „Vorwärts!“ kennt, ist in Europa selten geworden. Delugan Meissl durften in Seoul ein herausragendes Exemplar dieser Spezies errichten. Aber ist es repräsentativ für die aktuelle Entwicklung der Architektur?

Wenn in 100 Jahren die Architekturgeschichte des 21. Jahrhunderts geschrieben ist, wird sie mit einem seltsamen Phänomen beginnen. Neben den zahlreichen Kunstmuseen, die nach demModell des Guggenheim Bilbao weltweit errichtet wurden, finden sich spektakuläre, vongroßen Automobilkonzernen beauftragte Gebäude und Anlagen mit ähnlich hohem architektonischem Anspruch. Einige nennen sich Welt, wie die BMW-Welt in München, andere Stadt, wie die Autostadt von VW in Wolfsburg, wieder andere bezeichnen sich als Museum, wie Mercedes und Porsche in Stuttgart. Museen haben ihre Wurzeln im Sakralbau, und so sind auch die neuen Autohäuser Kultstätten, zu denen Millionen ihren Weg finden: Das Mercedes-Museum ist das mit Abstand meistbesuchte Museum Stuttgarts. Die Budgets, die zur Errichtung dieser Häuser zur Verfügung standen, waren enorm, und sie verhalfen zu Beginn des Jahrhunderts einer Architektur zum Durchbruch, die von komplexen Geometrien und spektakulären Spannweiten und Auskragungen geprägt war. Ihre Hauptfunktion bestand darin, Eindruck zu machen.

Es wäre verwunderlich, hätte sich das Rennen um die beste automobile Kultstätte auf die großen deutschen Hersteller beschränkt. 2011 schrieb der Hyundai-Konzern, zu dem auch Kia gehört, für die Marke Hyundai einen Wettbewerb aus, der zwei Aufgaben umfasste: den Entwurf eines Flagship-Centers analog zu den deutschen Beispielen sowie ein Konzept für ein einheitliches Erscheinungsbild aller weltweiten Vertriebs- und Servicestellen der Marke.

Den Wettbewerb konnte das Wiener BüroDMAA/Delugan Meissl Associated Architectsfür sich entscheiden, von dem auch der Entwurf für das Porsche-Museum in Stuttgart/Zuffenhausen stammt. Die Direktoren von Hyundai hatten DMAA zum Wettbewerb geladen, weil sie nach einem Besuch in Zuffenhausen das Gefühl hatten, besser zu verstehen, was einen Porsche ausmacht. Für ihr eigenes Gebäude in Goyang, einer Satellitenstadt von Seoul, hatten sie allerdings eine Vorgabe, die sich deutlich vom deutschen Vorbild unterschied: Es sollte auf keinen Fall ein Museum werden, sondern ausschließlich der Gegenwart und der Zukunft gewidmet sein.

Dieser radikale Blick nach vorn wird verständlich, wenn man einige Kennzahlen der Stadtentwicklung Seouls betrachtet. Die Stadtregion hat inklusive mehrerer Satellitenstädte rund 24 Millionen Einwohner. Unter den Stadtregionen der Welt nimmt Seoul nach Tokio, New York und Los Angeles mit einem Bruttoregionalprodukt von 850 Billionen Dollar den vierten Platz ein. Das Regionalprodukt pro Kopf reicht an jenes Frankreichs oder Finnlands heran. Das Leben im Zentrum Seouls ist so teuer geworden, dass dort die Bevölkerungszahl zugunsten der Satellitenstädte leicht abnimmt. Dazu trägt auch ein U-Bahnsystem bei, das mit über 330 Kilometer Länge zu den größten der Welt gehört. Das Konzept von DMAA erzählt eine Geschichte, die ohne Bezüge zu einem konkreten Ort oder einer historischen Vergangenheit auskommt. Es arbeitet mit drei Begriffen, die räumliche Situationen andeuten: Landscape, Vertical Green und Shaped Sky. Eine künstliche Landschaft aus gestaffelten Podien bildet die Basis, darüber liegt ein gestalteter Himmel, und dazwischen wachsen vertikale Grünräume. Diese Erzählung funktioniert gut für kleine Showrooms, wo DMAA ein System aus polygonalen Podien, einer gestaffelten glänzenden Decke und Grünpflanzen vorschlagen. Spektakulär wird sie im Maßstab von 65.000 Quadratmetern in Goyang, wo unter dem schwebenden Dach ein multiperspektivischer Raum entsteht, derdurch Spiegelflächen zusätzliche Dynamik bekommt. Wie im Porsche-Museum oder bei ihrem Filmmuseum im Amsterdam begnügen sich DMAA aber nicht damit, die Besucher zu beeindrucken. Der Raum zwischen Himmel und Erde ist gut gestaltet und proportioniert, und er kennt neben dem großen Maßstab auch intimere Situationen. Der leicht konische Turm mit Büros blickt wie einBerg auf eine Terrasse hinunter, die in das Dach eingeschnitten ist und Mitarbeitern und Restaurantbesuchern einen Rückzugsraum bietet. Das Vertical Green wächst als Bambushain in mehreren Lichthöfen.

Wie die Architekturgeschichte des 21. Jahrhunderts über diese Art von Architektur urteilen wird, ist noch nicht abzusehen. In Tigerstaaten wie Singapur, Taiwan und Südkorea wird die Nachfrage nach ihr hoch bleiben. Wer in erster Linie an die unmittelbare Zukunft denkt und Erfolg mit Wirtschaftswachstum gleichsetzt, wird immer nach starken Formen suchen, um seinem Optimismus architektonisch Ausdruck zu verleihen. Ein atombombenbauendes Brudervolk in unmittelbarer Nachbarschaft ist dabei wohl ein zusätzlicher Ansporn.

Europa scheint sich von dieser Architektur weitgehend verabschiedet zu haben. Vor wenigen Tagen wurden die Preisträger des aktuellen Mies van der Rohe Preises bekannt gegeben, des alle zwei Jahre verliehenen Architekturpreises der EU. Der Hauptpreis ging an NL-architects für die Sanierung der Wohnhausanlage Kleiburg in Amsterdam aus den frühen 1970er-Jahren, einen 400 Meter langenBau mit elf Stockwerken und Laubengängen, der Teil einer viel größeren, auf einem hexagonalen Raster aufgebauten Satellitenstadt war. Statt diesen Dinosaurier des sozialen Wohnbaus abzureißen oder gestalterisch zu differenzieren, setzten NL-architects darauf, das ursprüngliche Konzept zu rekonstruieren, technisch zu sanieren und die Wohnflächen durch Zusammenlegung zu vergrößern. Die Wohnungen wurden im Rohbauzustand zum Selbstausbau vergeben. Eine Moderne der endlosen Wiederholung trifft hier auf die Bricolage im Kleinen, auf eine Individualisierung, die keine Architekten braucht.

Der Preis für die beste Arbeit eines jungen Büros ging ebenso an einen sozialen Wohnbau, ein kleines fünfgeschoßiges Haus mit fünf Wohnungen bei Brüssel. Das Büro MSA verpasste dem kleinen Turm eine leichtgeschwungene Fassade aus weißen Klinkern,mit der es aus seiner Umgebung herausleuchtet. Das Besondere an dem Projekt ist das komplexe Erschließungssystem mit Split-Level- und Duplex-Wohnungen. Auf einen Lift wurde, um Kosten zu sparen, verzichtet. Die Bewohner, so die Architekten, würden das gar nicht bemerken, da die Treppe so abwechslungsreich gestaltet sei. Der Glaube an Wunder, die Architektur vollbringen kann, ist offenbar ungebrochen.

Spectrum, Sa., 2017.06.03

13. Mai 2017Christian Kühn
Spectrum

Das Glück, Vorarlberg zu bauen

Vom regionalen Phänomen zu einem international beachteten: Baukultur aus Vorarlberg, dessen Architekturinstitut heuer seinen 20. Geburtstag feiert.

Vom regionalen Phänomen zu einem international beachteten: Baukultur aus Vorarlberg, dessen Architekturinstitut heuer seinen 20. Geburtstag feiert.

„Ueber das Glück, in Vorarlberg zu wohnen“, so hieß die Eröffnungsausstellung des Vorarlberger Architektur Instituts, das vor 20 Jahren gegründet wurde. Begleitet wurde sie von einem Buch, das eine fotografische Dokumentation Vorarlberger Lebenswelten von Schruns bis Lochau mit Interviews kombinierte, in denen Menschen über ihre Erfahrungen mit Architektur sprachen.

Architektur nicht als hohe Kunst, sondern vom Alltag her zu denken: Das war seit den 1980er-Jahren das Motto der Vorarlberger Architekturszene. Die Baukultur in Vorarlberg hat eine große, vom Handwerk getragene Tradition. Es gibt ein Grundvertrauen zwischen Bauherren, Planern und Ausführenden. Sie bilden ein Netzwerk, dem das Kunststück gelungen ist, nicht selbstgefällig zu werden, sondern sich über die Jahrzehnte immer wieder selbst herauszufordern.

In den 1980er-Jahren kam diese Irritation von einer Gruppe junger Architekten, die sich „Vorarlberger Baukünstler“ nannten. Ihre Vorbilder fand sie bei Architekten wie Hans Purin und Rudolf Wäger, die schon in den 1960er- und 1970er-Jahren exemplarische, von der Moderne im Sinne Roland Rainers inspirierte Projekte realisiert hatten. Ihre „Baukunst“ war radikal von den Nutzern her gedacht. Sie experimentierten mit neuen Formen des Zusammenwohnens und forderten mit ihren kostengünstigen, nicht für die Ewigkeit gedachten Konstruktionen auch das Handwerk heraus.

Auf dieser Grundlage konnte sich die Vorarlberger Baukultur in die Breite entwickeln, nicht zuletzt durch eine von Roland Gnaiger und Bruno Spagolla betreute Sendung im Regionalfernsehen, die unter dem Titel „Plus-Minus“ gute und schlechte Beispiele präsentierte. Der Auftrag für diese Reihe ging direkt vom Generalintendanten Gerd Bacher an alle ORF-Landesstudios. Nur in Vorarlberg überlebte die Sendung und brachte es in Summe auf 151 Beiträge. Wer das Land Mitte der 1990er-Jahre besuchte, konnte die Veränderung nicht übersehen: Vom Wohnhaus bis zum Industriebau erreichte die Architektur nicht nur in Einzelfällen ein neues Niveau.

Trotz dieses Erfolgs war Vorarlberg das letzte österreichische Bundesland, das ein „Haus der Architektur“ einrichtete, wie es etwa die Steiermark mit dem Haus der Architektur Graz bereits 1988 getan hatte. Das hatte seinen Grund gerade in diesem Erfolg: Wozu braucht man eine Einrichtung zur Architekturvermittlung, wenn alles sowieso gut läuft?

Die Initiative für das Vorarlberger Architektur Institut ging schließlich von einer Gruppe von Mitgliedern der Zentralvereinigung der Architekten aus, die ahnten, dass sich die Vorarlberger Architektur von einem regionalen Phänomen zu einem weltweit beachteten entwickeln könnte. Im Begriff des „Instituts“ verbirgt sich – neben der Vermittlung – auch der Auftrag zur Dokumentation und Selbstreflexion. Für beides kommt dem VAI in einem Bundesland ohne eigene Universität eine besondere Rolle zu.

Den Anspruch, mit internationaler Strahlkraft über die eigene Position nachzudenken, erfüllte das VAI 2003 mit der von Otto Kapfinger kuratierten Ausstellung „Konstruktive Provokation: Neues Bauen in Vorarlberg“. Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem „Institut français d'architecture“ in Paris, wo Marie-Hélène Contal ihren französischen Landsleuten die Vorarlberger Architektur vor allem in ihrer ökologischen Dimension präsentieren wollte. Nachhaltig ist jedenfalls das Interesse des französischen Publikums, das überproportional zum Architekturtourismus beiträgt, der sich inzwischen als eigener Sektor des Tourismus im Land etabliert hat.

Unter seiner Direktorin Verena Konrad ist das Institut heute die zentrale Drehscheibe für Information und Diskussion über Architektur in Vorarlberg. Kein anderes Architekturhaus in Österreich erhält so viel an privaten Spenden – vor allem aus der Industrie, die weiß, dass eine anspruchsvolle Baukultur Voraussetzung für die Nachfrage nach hochwertigen Produkten und Dienstleistungen ist. Zum 20-Jahr-Jubiläum lud das VAI zu einem Festvortrag des Schweizers Köbi Gantenbein, Chefredakteur der Zeitschrift „Hochparterre“, der dem VAI empfahl, die Woche neu einzuteilen. Von Montag bis Freitag das Loblied auf die Vorarlberger Architektur zu singen – und an den Wochenenden der Kritik freien Lauf zu lassen: am konventionellen Wohnbau, an der Zersiedelung, an der behäbigen Routine, die es natürlich auch in Vorarlberg gibt.

Das umstrittenste Projekt im Land ist derzeit die sogenannte Seestadt Bregenz, bei der die Verwirrung schon mit dem Namen beginnt. Es handelt sich um kein Stadtquartier, sondern um eine größere, von einer Querstraße unterteilte Parzelle mit einer Grundfläche von 200 mal 50 Meter auf dem ehemaligen Bahnhofsvorplatz, die derzeit als Großparkplatz genutzt wird. Ihre Längsseite liegt parallel zum Seeufer, wird von diesem aber durch die Bahn getrennt, die hier im Bahnhofsbereich fünfgleisig geführt ist. Ein beschrankter Bahnübergang, wie er etwas weiter stadteinwärts, wo die Bahn nur zweigleisig geführt ist, eine Verbindung zwischen Stadt und Seepark anbietet, lässt sich hier nicht realisieren.

Der Wettbewerb für das Areal 2010 war darauf angelegt, eine kleinteilige Anmutung herzustellen, wie sie stadteinwärts bei Kunsthaus, Landestheater und Landesmuseum zu finden ist. Um Vielfalt zu garantieren, lud man fünf Dreierteams, die aus mehr und weniger berühmten, auch internationalen Architekten gemischt waren. Rückblickend hat nur das Team aus David Chipperfield, Baumschlager Eberle und Diener.Diener mit einer fast monumentalen Bebauung den Ort verstanden. Das der Ausschreibung entsprechende, kleinteilige Siegerprojekt von Aicher, Ludescher-Lutz und Zechner-Zechner ist in der Weiterbearbeitung zur Camouflage einer Shoppingmall mit Luxuswohnungen verkommen.

Obwohl die Widmung fix und die Baubewilligung weitgehend erteilt ist, wurde das Projekt vor wenigen Wochen gestoppt. Nachdem der Letztstand der Pläne bekannt geworden war, hatte sich 2016 eine Bürgerinitiative formiert, die von der Architektenschaft des Landes und von Kulturschaffenden unterstützt wurde. Sie organisierte Stadtspaziergänge, die das Areal im Kontext bewusst machen sollten, und kritisierte nicht nur die schwache Architektur, sondern auch die monofunktionale Nutzung.

Dass zudem die Wirtschaftlichkeit des Projekts durch Fundierungsprobleme für das zweite Garagengeschoß unsicher ist, hat die Entscheidung von Stadt und Projektentwickler Prisma erleichtert, das Projekt nochmals von Grund auf neu zu denken. Der Unterschied zu Wien, modellhaft sichtbar am ähnlich gelagerten Heumarkt-Projekt? Vorarlberger Politiker stellen Sachpolitik vor Machtpolitik. Und sie haben offenbar noch nicht verlernt, zuzuhören und Fehler einzugestehen.

Spectrum, Sa., 2017.05.13



verknüpfte Akteure
vai Vorarlberger Architektur Institut

08. April 2017Christian Kühn
Spectrum

Im Turm der Paragrafen

Zum Glück muss man das Bundesvergabegesetz nicht kennen, um Architektur zu genießen: eine trockene Materie, aber mit großem Einfluss auf die Baukultur.

Zum Glück muss man das Bundesvergabegesetz nicht kennen, um Architektur zu genießen: eine trockene Materie, aber mit großem Einfluss auf die Baukultur.

Baukultur entsteht, wenn gute Bauherren und gute Architektinnen und Architekten zueinander finden. Dafür gibt es viele Wege, vom Direktauftrag bis zum Architekturwettbewerb in seinen unterschiedlichen Formen. Private Bauherren haben hier Wahlfreiheit. Öffentliche Bauherren, die mit Steuergeld bezahlen, unterliegen dabei zahlreichen Spielregeln, die in den vergangenen Jahrzehnten immer komplexer geworden sind.

Seit 1993 gibt es in Österreich ein Bundesvergabegesetz (BVergG), das für öffentliche Vergaben jeder Art Fairness und Transparenz herstellen soll. Das Gesetz schreibt vor, dass alle öffentlichen Aufträge in der EU ab bestimmten Schwellenwerten europaweit ausgeschrieben werden müssen. Allein damit hat es durch Stärkung des Wettbewerbs einen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung Europas geleistet. Niemand sollte Zeiten nachtrauern, in denen mächtige Bautenminister Planungs- und Bauaufträge direkt an Partei- und sonstige Freunde vergeben konnten. Das widersprach zwar auch damals den geltenden Ö-Normen, aber erst die Europäische Union und ihr Gerichtshof haben den Rahmen geschaffen, in dem solche nationale Korruption deutlich erschwert ist.

Das Gesetz ist in weiten Teilen eine Übersetzung von Richtlinien der EU in österreichisches Recht, die nach jeder Revision auf EU-Ebene nachvollzogen werden muss. Solche großen Revisionen ergaben sich annähernd im Rhythmus von zehn Jahren, zuletzt 2004 mit einer Frist zur Umsetzung in nationales Recht bis 2006 und aktuell 2014 mit Frist bis 2016. Während Deutschland diese Frist einhielt, liegt das Gesetz in Österreich erst jetzt, mit gut einem Jahr Verspätung, zur Begutachtung im Parlament. Der Hintergrund ist ein Politikum: Zu Beginn des Jahres 2016 wurde eine Novelle des Gesetzes vorgezogen,die sich gegen Sozialdumping richtete und unter anderem eine Verpflichtung zum Bestbieterprinzip – also der Vergabe nach Qualitätskriterien und nicht nur nach dem Preis – bei Bauaufträgen ab einer Million Euro einführte. Die Gesamtrevision quasi parallel dazu rechtzeitig umzusetzen war legistisch nicht zu bewältigen.

Unter anderem regelt das Bundesvergabegesetz die Vergabe von sogenannten „geistigen Leistungen“, zu denen auch Architektur- und Planungsaufträge zählen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht zwingend zum selben Ergebnis führen: Bei gleicher Ziel- und Aufgabenbeschreibung können, wie jeder Architekturwettbewerb zeigt, höchst unterschiedliche Lösungen entstehen. Die Sprache des Gesetzes hat sich in diesem Punkt über die Jahre subtil verändert: War ursprünglich von „geistig-schöpferischen Leistungen“ die Rede, womit der Aspekt der „Kreativität“ impliziert war, ist im aktuellen Gesetzesvorschlag nur noch von „geistiger Leistung“ die Rede, bei der es noch dazu eine subtile Differenzierung gibt, und zwar in geistige Leistungen, die „konzeptionelle oder innovative Lösungen“ erfordern, und solche, die das nicht tun. Für Letztere ist es mit dem neuen Gesetz zulässig, als einziges Zuschlagskriterium den Preis der Leistung zu verwenden. Darunter kann etwa eine routinemäßige statische Berechnung oder eine Vermessung fallen, bei denen Ziele und Methoden klar beschrieben werden können. Auch die örtliche Bauaufsicht wird von manchen Juristen in diese Kategorie gezählt werden, obwohl gerade hier die Kompetenz gefragt ist, unvorhersehbare Herausforderungen zu bewältigen.

Mittelfristig hat die neue Regelung allerdings auch eine gewisse Sprengkraft für die Planung generell. Wie kreativ ist ein Planer noch, dessen CAD-System ebenso komplexe Aufgaben auf Knopfdruck erledigt? Man kann darauf vertrauen, dass jeder Architekturauftrag eine ganzheitliche und so komplexe Leistung verlangt, dass eine Automatisierung nicht möglich ist. Trotzdem: Die neue Formulierung öffnet ein Stück weit die Tür zu einer Welt, in der Auftraggeber auch bei geistigen Leistungen bewusst eine nicht innovative Lösung bestellen, für deren Planung sie dem Billigstbieter den Zuschlag erteilen können. Zudem könnte eine zweite Neuregelung problematische Seiteneffekte haben. Während bisher das „technisch und wirtschaftlich günstigste“ Anbot aufgrund vorab definierter Zuschlagskriterien zu wählen war, ist in Zukunft eine Alternative zulässig, nämlich die Vergabe aufgrund der erwarteten Lebenszykluskosten in Kombination mit den Kosten der Planungsleistung. Die Lebenszykluskosten bei der Bewertung zu berücksichtigen ist grundsätzlich vernünftig: Die Kosten für den Auftraggeber bestehen ja nicht nur in den Errichtungskosten, sondern in den Kosten für Energie, Wartung, Erneuerung und gegebenenfalls der Entsorgung. Die Regelung bietet allerdings die Möglichkeit, geistige Leistungen rein auf der Basis monetärer Kriterien zu vergeben, selbst wenn das Gesetz das Bestbieterprinzip verlangt.

Eine besondere Bedeutung für die Baukultur hat das BVergG insofern, als es die Grundlagen für Architekturwettbewerbe im öffentlichen Sektor formuliert. Architekturwettbewerbe liefern einen Gewinner, der das Recht erwirbt, mit dem Auftraggeber in ein Verhandlungsverfahren einzutreten. Sie sind immer noch der beste Weg zur Qualität, solange die Souveränität und Professionalität der Jury gesichert sind.

Das Gesetz sieht allerdings ebenso Varianten des Verhandlungsverfahrens vor, die man mit dem Architekturwettbewerb verwechseln könnte, nämlich die „Innovationspartnerschaft“ und den „wettbewerblichen Dialog“. Gedacht ist Letzterer für komplexe neue Aufgaben wie zum Beispiel die Ausschreibung eines fahrerlosen Transportsystems, bei denen technische Spezifikationen im parallelen Dialog mit mehreren Bietern erst erarbeitet werden müssen. Dieses Instrument als Ersatz für städtebauliche Ideenwettbewerbe einzusetzen, wie das in Wien diskutiert wird, ist problematisch. Es verlagert die Formulierung der Aufgabe ins Verfahren selbst und öffnet dabei Tür und Tor für den Einfluss von Partikularinteressen. Die zentrale Rolle kommt hier den Verfahrensorganisatoren und Prozessbegleitern zu, deren Kompetenz in Gestaltungsfragen aber meist nicht ausreicht, um den Vorrang des Stadtraums gegen diese Interessen zu verteidigen. Zum Glück kann man Architektur auch ohne Kenntnis der 384 Paragrafen dieses Gesetzes genießen. Um Architektur zu schaffen, muss man heute, jedenfalls im öffentlichen Bereich, zumindest die Grundlagen dieser hochkomplexen juristischen Konstruktion verstehen.

Im Parlament warten derzeit auch einfachere Gesetze auf ihre Beschlussfassung, etwa das „Bundesgesetz zur Förderung von kommunalen Investitionen 2017“, mit dem 175 Millionen Euro zusätzlich für Modernisierung der Infrastruktur, in erster Linie für Kindergärten, Schulen und Heime, an die Gemeinden ausgeschüttet werden. Diese Wirtschaftsförderung geht direkt vom Finanzministerium an die Kommunen. Die Gelegenheit, die Auszahlung dieser Gelder an Kriterien zu binden, die die Baukultur verbessern, etwa die Durchführung von Wettbewerben oder Vorrang für Investitionen in bestehenden Ortskernen, scheint der Gesetzgeber wieder ungenutzt vorbeigehen lassen.

Spectrum, Sa., 2017.04.08

12. März 2017Christian Kühn
Spectrum

Licht von allen Seiten

Gelungener Umgang mit einem schwierigen Denkmal: Aus der Pestalozzi-Hauptschule im steirischen Leoben-Donawitz entstand das Bildungszentrum Pestalozzi. Dem Umbau, verantwortet vom Büro Nonconform und dem Architekten Michael Zinner, ging eine gemeinschaftliche Ideenwerkstatt voraus.

Gelungener Umgang mit einem schwierigen Denkmal: Aus der Pestalozzi-Hauptschule im steirischen Leoben-Donawitz entstand das Bildungszentrum Pestalozzi. Dem Umbau, verantwortet vom Büro Nonconform und dem Architekten Michael Zinner, ging eine gemeinschaftliche Ideenwerkstatt voraus.

Ein unsympathisches Haus: Vor zwei Jahren habe ich die Pestalozzi-Schule erstmals besucht, kurz vor dem Umbau, und viel mehr als dieses Urteil ist mir nicht in Erinnerung geblieben. Stilistisch ist dieses Bauwerk schwer einzuordnen. Einige sezessionistische Elemente können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im Grunde ein klassischer, dezent monumentaler Nutzbau aus den späten Jahren der K.-u.-k.-Monarchie sein möchte. Das planerische Niveau dieser Zeit wird hier aber bei Weitem nicht erreicht. Dazu ist das Haus im Grundriss zu verwinkelt, in der Ornamentik unbeholfen, und dem Mittelrisalit fehlt zur Symmetrie so eindeutig eine Fensterachse, dass es beim längeren Hinsehen wehtut.

Trotzdem war das Gebäude zu seiner Errichtungszeit in den Jahren 1921 bis 1927 ein Statement. Die Gemeinde Donawitz bekannte sich dazu, auch in den harten Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg Geld in Bildung zu investieren. Dass sie die Schule genau an die Grenze zu Leoben setzte, war kein Zufall: Damals noch eigenständig, wollte sich Donawitz gegenüber dem Nachbarn profilieren. Dabei dürfte sich die Gemeinde übernommen haben: Nicht zuletzt die hohen Kosten des Schulhauses trieben Donawitz in einen Bankrott, der schließlich zur Gemeindezusammenlegung mit Leoben führte.

Der Denkmalschutz für dieses Gebäude hat also durchaus Berechtigung. Er begründet sich in einem zumindest auffälligen Kunstwollen und der sozialgeschichtlichen Bedeutung. Für eine Umnutzung stellt er aber eine große Herausforderung dar, nicht zuletzt weil zu den schützenswerten Besonderheiten graue Terrazzo-Böden und -wände zählen, die dem Haus im Inneren den Charme eines Industriebaus verleihen.

Die Attraktivität des Gebäudes spielte in diesem Fall aber eine besondere Rolle, sollten doch hier nach der Sanierung drei verschiedene Schulen zusammengelegt werden: die bestehende Hauptschule als Neue Mittelschule, eine Volksschule mit angegliederten sonderpädagogischen Klassen sowie eine Polytechnische Schule. Um Kosten zu sparen, entschied sich die Gemeinde dafür, nicht alle drei Standorte zu sanieren, sondern nur den größten, der genügend Fläche für alle drei Schulen aufzuweisen hatte.

Die ersten, mit dem Denkmalamt abgestimmten Pläne für eine Sanierung existierten bereits. Sie sahen neue Fenster, bessere Wärmedämmung und eine Verbesserung des Standards der Klassenräume vor. Die Baudirektion von Leoben erkannte aber in Gesprächen mit den zukünftigen Nutzern, dass dieser Umbau sich nicht auf eine Sanierung der Oberflächen beschränken durfte. Die Volksschule war zuvor in einem kleineren Gebäude mit eigenem Garten untergebracht gewesen. Ihr die Übersiedlung hierher nur mit ökonomischen Sachzwängen der Gemeinde zu erklären wäre eine Zumutung gewesen. Die Herausforderung war, aus der Sanierung einen so substanziellen Umbau zu machen, dass die Nutzer die Übersiedlung als Verbesserung ihrer Situation empfinden konnten.

Voraussetzung dafür war ein umfassender Beteiligungsprozess, für den die Gemeinde das Büro Nonconform – bekannt unter anderem für die Auslobung des Landluft-Gemeindepreises – und den Architekten Michael Zinner engagierte, der Architektur und Schulbau sowohl an der Kunstuniversität in Linz als auch an pädagogischen Hochschulen lehrt. Das Beteiligungsformat, das Nonconform für solche Fälle entwickelt hat, nennt sich „Ideenwerkstatt“ und erklärt sich am besten aus seinem Slogan: „In drei Tagen ist alles anders.“

In der Ideenwerkstatt, die 2014 stattfand, erfanden Lehrer, Schüler und Gemeindemitarbeiter das Projekt unter Anleitung eines achtköpfigen Teams neu, und zwar so radikal, dass am Ende die interessanteste Sanierung eines denkmalgeschützten Schulhauses, die es in Österreich in den letzten Jahren gegeben hat, entstand. Die Analyse des Istzustands erbrachte ein erwartungsgemäß kritisches Ergebnis. Die Schule hätte ein „dunkles Herz“: Der Punkt, an dem alle Schülerströme zusammenlaufen, sei eng und schlecht belichtet. Sie hätte „tote Enden ohne Durchblick“: Das labyrinthische Erschließungssystem erzeuge nicht nur für kleinere Kinder Angsträume ohne Ausblick. Und schließlich wurden die „leeren Gänge“ kritisiert, die mit ihren Terrazzo-Oberflächen als reine Verkehrswege ohne Aufenthaltsqualität wirkten. Zusätzlich fehlte es der Schule an Nutzflächen für eine Bibliothek und eine Mensa. In der Ideenwerkstatt entstanden über 1000 Vorschläge, nicht nur als Text, sondern auch in zahlreichen Skizzen, die von den Architekten mit den Nutzern erstellt wurden. In drei Tagen kann zwar kein fertiges Projekt entstehen, aber sehr wohl ein Leitbild und zahlreiche einzelne Ideen, die dann in der weiteren Planung integriert werden müssen.

Bereits in der Ideenwerkstatt war klar, dass die Schule ein neues Herz bekommen sollte, mit Licht aus allen Richtungen. Voraussetzung dafür waren zahlreiche horizontale und vertikale Durchbrüche im zentralen Gebäudeteil, die das Denkmalamt in Abwägung von Erhaltungs- und Nutzerinteressen klar im Interesse der Nutzer bewilligte. Im ersten Obergeschoß liegen hier alle drei Direktionen nebeneinander, über raumhohe Glaswände für alle Vorübergehenden einsichtig. Transparenz gibt es auch zwischen Gang und Klasse, aufgrund der dicken Ziegelmauern nicht raumhoch, sondern als kreisrunde Tunnels ausgeführt, mit 80 Zentimeter Durchmesser gerade so groß, dass es sich kleinere Kinder in den „Tunnelportalen“, die in den Gang hinausragen, bequem machen können. Alle Klassenräume sind als „Tandemklassen“ ausgeführt: Jeweils zwei sind miteinander verbunden, unspektakulär über zwei Türen, aber ausreichend zur gemeinsamen Gestaltung des Schulalltags ohne Umweg über den Gang. Bibliothek und Mensa bekamen einen Zubau in einem der Höfe, mit Spielterrasse im ersten Stock und einer großen Gartentreppe.

Diese Sanierung eines schwierigen Baudenkmals ist der aktuelle Benchmark, an dem sich andere messen sollten. Nicht alles wird man unhinterfragt lassen: Ist der Zugang zu den Zentralgarderoben im Keller über massiv geratene Rampenbauwerke vor der Schule wirklich die beste Lösung? Musste man die alten Eingänge sperren, nur weil sie nicht mehr barrierefrei sind, und allen Besuchern den Umweg durch den Hof zumuten? Hätte man – statt die Fassade mit einem einheitlichen Beige zu malen – deren ursprüngliche Polychromie nicht doch aufnehmen sollen, selbst wenn die originalen Farbtöne nicht mehr feststellbar waren? Auch aus diesen Punkten spricht aber zumindest der Wunsch, eine radikale Lösung zu finden, also an die Wurzel der Probleme zu gehen. Wer traut sich das heute noch im österreichischen Schulsystem?

Spectrum, So., 2017.03.12



verknüpfte Bauwerke
Bildungszentrum Pestalozzi

25. Februar 2017Christian Kühn
Spectrum

Das Ei der EU: Wie sich der Zustand der Union in ihren Bauten spiegelt

Eine grandiose Idee, die nicht zu einer Form finden will, aufgeblasen in ihren Ansprüchen – und nur scheinbar um Transparenz bemüht. Das neue Ratsgebäude in Brüssel: wie sich der Zustand der Union in ihren Repräsentationsbauten spiegelt.

Eine grandiose Idee, die nicht zu einer Form finden will, aufgeblasen in ihren Ansprüchen – und nur scheinbar um Transparenz bemüht. Das neue Ratsgebäude in Brüssel: wie sich der Zustand der Union in ihren Repräsentationsbauten spiegelt.

Wer amerikanischen Freunden die politische Struktur der EU erklären möchte, hat es schwer. Jeder Durchschnittsbürger der Vereinigten Staaten ist imstande, die wichtigsten Komponenten seines politischen Systems zunennen: Präsident, Kongress und Oberster Gerichtshof bilden ein Dreieck, das zumindest von akademisch gebildeten Amerikanern mit Exekutive, Legislative und Judikative identifiziert wird.

In Europa ist die Sache etwas komplexer. Die EU hat sieben Organe, von denen die Kommission als Exekutive, der Europäische Gerichtshof und der Rechnungshof als Kontrollorgane noch den Konzepten entsprechen, die wir auf nationaler Ebene kennen. Dem Europäischen Parlament als Legislative fehlt das Initiativrecht, also die Möglichkeit, selbst Gesetzesanträge einzubringen, ein Recht, das in der EU nur der Kommission zusteht. Diese kann allerdings vom Parlament, vom Europäischen Rat und seit Kurzem auch von Bürgerinitiativen dazuaufgefordert werden, eine Verordnung zu einem bestimmten Thema zu entwickeln. Zu den Organen der EU gehören weiters die Europäische Zentralbank sowie zwei praktisch namensgleiche Organe, der „Rat der Europäischen Union“ und der „Europäische Rat“. Ersterer ist der Ministerrat der Union, gewissermaßen deren Staatenkammer auf Ministerebene, Letzterer der Rat der Staats- und Regierungschefs, der für die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten der EU zuständig ist. Dass es mit dem Europarat eine weitere Institution gibt, die mit diesen Räten und der Europäischen Union insgesamt gar nichts zu tun hat, trägt zur Verwirrung nur noch unwesentlich bei.

Die Entwicklung der EU in kleinen, vorsichtigen Schritten in ein immer kunstvoller austariertes Gebilde hat auch die Architektur ihrer Institutionen geprägt. Die Vereinigten Staaten fassten unmittelbar nach ihrer Gründung den Beschluss, eine neue Hauptstadt zu planen, und schon im Jahr 1800 konnte der zweite Präsident ins neuerrichtete Weiße Haus in Washington einziehen, in dessen Umfeld dann die weiteren staatlichen Gebäude in einem einheitlichen klassizistischen Stil errichtet wurden. In Europa gab es dagegen schon bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1952 den ersten nicht aufgelösten Streit über die Ansiedlung ihrer Institutionen.

Während sich die anderen fünf Mitgliedsstaaten auf Brüssel als Sitz geeinigt hatten, torpedierte ausgerechnet Belgien selbst aus innenpolitischen Gründen diesen Vorschlag und bot die Provinzstadt Liège als Standort an. Schließlich erklärte sich das kleine Luxemburg bereit, provisorisch als Sitz der EGKS zu fungieren. Als Tagungsort für die Gemeinsame Versammlung, den Vorläufer des EU-Parlaments, entschied man sich für Straßburg, wo der Sitzungssaal des Europarats als übernationale Einrichtung mitgenutzt werden konnte. Die Verteilung der zentralen europäischen Institutionen auf mehrere Standorte war damit vorherbestimmt, obwohl sich Belgien spätestens seit den 1958 geschlossenen Verträgen von Rom darum bemühte, Brüssel zur Hauptstadt Europas zu machen und massiv in Infrastruktur und Gebäude für diesen Zweck investierte.

Wer heute nach Brüssel, ins Herz der Europäischen Union, reist, findet um den Platz Schuman ein Konglomerat von Bauten in enormer Dichte, zwischen denen kaum städtisches Leben aufkommt. Sein ältester Teil ist das zwischen 1963 und 1969 errichtete Berlaymont-Gebäude auf dem Gelände des alten Berlaymont-Klosters. Der Entwurf für das Berlaymont stammt von Lucien de Vestel und den Brüdern André und Jean Polak. Deren Vater, der Schweizer Architekt Michel Polak, hatte in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts auf dem Grundstück schräg gegenüber das Palais Résidence entworfen. Es war das erste großvolumige Gebäude im Quartier Léopold, einer Stadterweiterung Brüssels aus dem frühen 19. Jahrhundert, in die ab 1838 das Bürgertum gezogen war. Nach dem Ersten Weltkrieg begann das Viertel zu verfallen und seine Bewohner an die Außenbezirke zu verlieren. Das Palais Résidence, zwischen 1922 und 1927 im Stil des Art déco errichtet, sollte diesen Trend aufhalten. Es war ein luxuriöser Wohnbau mit bis zu zwölf Geschoßen, in dem auch Restaurants, ein Schwimmbad und ein Theater untergebracht waren. Ein Motiv für seine Errichtung war der Mangel an Dienstboten nach dem Ersten Weltkrieg, dem hier nach dem Muster des Grand Hotels durch gemeinsames Personal begegnet werden konnte. Alte Fotos zeigen das Palais als einsamen Koloss aus dem Gewebe der Bürgerhäuser des 19. Jahrhunderts ragen.

Mit dem Berlaymont war der Startschussfür die weitere Entwicklung des Quartier Léopold gefallen. Hier entstand nach 1960 eine Spielwiese für Investoren, vor allem aus Großbritannien, die im seinerzeit größten Bürohausboom Europas beinahe unreglementiert Gebäude errichten und lukrativ an die EU-Behörden vermieten konnten. Der Spekulation dieser Jahre zwischen 1960 und 1980 verdankt die Stadtplanung den Begriff der„Brusselization“ als Ausdruck für eine rücksichtslose Stadtentwicklung, die für hohe Dichten und hohe Renditen eine ebenso massive stadträumliche Verarmung in Kauf nimmt. Ohne das Palais Résidence, das heute vollkommen in der Masse der es umgebenden Bauten aufgeht, hätte diese Entwicklung aber nicht so problemlos in Gang gesetzt werden können. Das Palais gab die Dimension vor, die von den nachfolgenden Planern nur aufgenommen werden musste.

Alle Versuche, in Brüssel einen dezentralen Standort mit mehr Entwicklungsmöglichkeiten für die europäischen Institutionen zu finden, wurden in einem bizarren Wettstreit zwischen den EU-Gründerländern durch Frankreich und Luxemburg blockiert, die befürchteten, ihre inzwischen eingelebten Institutionen wieder nach Brüssel abgeben zu müssen. Umgekehrt versuchte Brüssel, das Europäische Parlament zurückzuholen, dessen Auslagerung nach Straßburg neben organisatorischen Problemen auch enorme Kosten verursacht, nach der jüngsten Schätzung aus dem Jahr 2013 rund 200 Millionen Euro pro Jahr. Da Straßburg als Hauptsitz des EU-Parlaments in Verträgen festgeschrieben ist, die nur einstimmig geändert werden können, musste die Errichtung eines neuen Parlamentsgebäudes in Brüssel gewissermaßen im Geheimen stattfinden, was bei einer Bauführung im Ausmaß von mehreren hunderttausend Quadratmetern Fläche nicht einfach ist.

Der Trick, mit dem dies gelang, war die Planung eines Kongresszentrums in zufällig denselben Ausmaßen, wie sie das EU-Parlament benötigte, durch eine private Errichtungsgesellschaft, die den fertigen Plan für einen zweiten Standort direkt mit dem Parlament verhandelte. Der Standort dieses als „Espace Léopold“ bezeichneten Bauwerks liegt prominent am Rande des Quartier Léopold, 15 Minuten Fußweg vom Berlaymont-Gebäude entfernt. Sein Spitzname, „Caprice des Dieux“, bezieht sich auf einen Käse gleichen Namens, dessen Schachtel eine ähnlich längliche, an beiden Seiten abgerundete Form aufweist wie das Parlamentsgebäude. Als Laune der Götter kann man das Ensemble aber auch insofern bezeichnen, als sein eigentlicher architektonischer Urheber nicht wirklich zu fassen ist. Offiziell wird eine Planungsgruppe mit dem Namen Atelier Espace Léopold, hinter der sich ein Konglomerat belgischer Großbüros verbirgt, als Planverfasser angeführt. Der eigentliche Entwurf, mit dem ein sehr beschränkt ausgeschriebener Wettbewerb für das Gebäude 1988 gewonnen wurde, stammt jedoch vom damals gerade 26-jährigen Michel Boucquillon, der im selben Jahr sein Architekturstudium abgeschlossen hatte.

Es ist kein Wunder, dass man von diesem Architekten nie wieder etwas gehört hat: In der Hochblüte der architektonischen Postmoderne ausgebildet, entwarf Boucquillon eine symmetrische Anlage, deren Fassade mit Säulenmotiven aus Naturstein verziert ist. Zwischen diesen Motiven findet sich eine kleinteilig gerasterte, verspiegelte Glasfassade. Eine einfältigere Pappendeckelarchitektur ohne Tiefe wird man nur bei wenigen Repräsentationsbauten in Europa finden. Der Mitteltrakt der Anlage wird von einer gläsernen Halbtonne betont, die im Wesentlichen Dekor ist, während Zugänge und innere Erschließung labyrinthisch und für den normalen Besucher so gut wie undurchschaubar sind.

Die erste Kostenschätzung für das Gebäude lag bei zwei Milliarden Euro, die nach einer Prüfung durch externe Berater auf eine Milliarde halbiert wurde. In der Ausführung stiegen die Kosten wieder auf 1,2 Milliarden. Die Differenzen zwischen diesen Beträgen geben eine Ahnung vom Ausmaß der Korruption, die hier im Spiel war. Wie viel Geld in der labyrinthischen Konstruktion sowohl des Baus als auch der Errichtungsgesellschaften versickert ist, wird sich wohl nie mehr klären lassen.

Heute finden hier im Schnitt sechs Sitzungen des EU-Parlaments pro Jahr sowie die Ausschuss- und Fraktionssitzungen statt. Zwölf weitere Sitzungen des Plenums erfolgen im 400 Kilometer entfernten Straßburg, wo seit 1999 ein weiterer, für 470 Millionen Euro errichteter Parlamentsneubau zur Verfügung steht. Dieser Aufwand mag auf den ersten Blick überraschen, bestand doch der Grund, sich mit dem Parlament überhaupt in Straßburg niederzulassen, in der Möglichkeit, sich hier kostengünstig mit dem Europarat ein Versammlungsgebäude zu teilen. Das Provisorium aus den Fünfzigerjahren war 1977 durch einen Neubau auf dem unmittelbar angrenzenden Grundstück abgelöst worden, der nach wie vor gemeinsam mit dem Europarat genutzt wurde. Neben dem aufwendigen Brüsseler „Caprice des Dieux“ hätte dieses Parlament aber allzu bescheiden gewirkt und zu Diskussionen geführt, ob nicht doch ein einziger Standort in Brüssel ausreichend wäre.

Der Architekturwettbewerb für einen eigenen Neubau in Straßburg fand auf französisches Betreiben 1991 statt, also gleichzeitig mit dem Baubeginn für sein Brüsseler Pendant. Das nach Entwürfen des Pariser Büros Architecture Studio in einer Flussschleife errichtete Gebäude kombiniert die Metaphern von Raumschiff und Turmbau zu Babel zu einer einprägsamen Figur. Der Plenarsaal befindet sich im Raumschiff, einem flächigen Bauteil mit einer zum Fluss hin orientierten Glasfassade, die meisten Büros liegen in einem 60 Meter hohen runden Turm mit kreisrundem Innenhof, dessen obere Geschoße absichtlich nur zum Teil ausgebaut sind. Große Betonrahmen sollen die Idee vermitteln, dass dieses Haus, wie die Europäische Union selbst, noch lange nicht zu Ende gebaut ist.

Von den erwähnten Gebäuden hat bisher nur das Berlaymont in Brüssel eine ikonische Eigenständigkeit erreicht. Immerhin findet sich das Gebäude inzwischen im Logo der Europäischen Kommission, wenn auch nur als schattenhafte Andeutung seiner Geschoßteilung und charakteristischen Kurven. Als Ikone der europäischen Integration taugt dieses Gebäude aber kaum, steht doch die Kommission eher für die trockene bürokratische Seite der EU. Wenn sich die politische Idee Europas irgendwo widerspiegelt, dann wohl im Sitz ihrer strategischen Organe, im Gebäude des Rats der Europäischen Union und des Europäischen Rats. Seit 1995 logieren diese in einem gigantischen Labyrinth, dem Justus-Lipsius-Gebäude mit 214.000 Quadratmetern Bürofläche und 24 Kilometer langen Korridoren, am Place Schuman direkt gegenüber dem Berlaymont-Gebäude gelegen. Die vorgeblendeten, gebäudehohen Natursteinrahmenzeugen von einem unbeholfenen Versuch, diesem gesichtslosen Bau doch Charakter zu verleihen. Nach einem hartnäckigen Gerücht bilden diese Rahmen symbolisch Europa ab, indem sie dessen ersten Buchstaben um 90 Grad kippen, woraus sich die drei monumentalen, mit einem Quergebälk verbundenen Säulen erklären, die an jeder Front zu finden sind.

Die Idee, ein Gebäude zu errichten, das endlich das Herz der europäischen Bürger erreicht, erhielt Auftrieb im Jahr 2004. Die europäischen Staatschefs hatten in Rom gerade den Entwurf jener Unionsverfassung unterzeichnet, die im Jahr darauf an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden scheiterte. In der kurzen Phase der EU-Euphorie, die diesen Niederlagen voranging und in die auch der Wettbewerb für die Europäische Zentralbank in Frankfurt fiel, bot der belgische Staat der Union einen neuen Standort für den Sitz der beiden Räte an – jenes Gebäude, mit dem die großvolumige Entwicklung des Quartier Léopold begonnen hatte: das Palais Résidence, das für diesen Zweck adaptiert und erweitert werden sollte. Mit der Namenswahl wurde klargestellt, dass hier das Zentralgebäude der Union entstehen sollte. Kein verdienter Parlamentarier und keine Figur der europäischen Geistesgeschichte standen diesmal Pate, sondern die Sache selbst: „Europa“.

Den dreistufigen Wettbewerb, dessenJury von belgischen Beamten dominiert war, gewann ein belgisch geführtes Konsortium: Philippe Samyn und Partner gemeinsam mit dem italienischen Büro Studio Valle und Buro Happold aus Großbritannien. Der Entwurf interpretiert die Aufgabe mit erstaunlicher Naivität: Was tun mit den geforderten Sälen für Ratssitzungen, Bankette und Pressekonferenzen? Am besten wie am Spieß übereinanderstapeln. In welcher Form? Warumnicht als gigantische Vase mit einer Glashülle, hinter der die Erschließung der Säle verläuft. Wie kommt das Publikum zur Vase? Am besten übereine verglaste Halle, die als Foyer den Block schließt und die Vase zu einem kostbaren Gegenstand macht, wie ein Fabergé-Ei in einer beleuchteten Vitrine. Hat das schon Symbolkraft genug? Nein, das vereinte Europa braucht einen ökologischen Touch, also kommen Solarzellen auf das weit auskragende Dach, und das Foyer erhält eine Fassade, in der alte Eichenfenster aus allen europäischen Ländern recycelt werden.

Ein Klischee reiht sich in diesem Konzept ans andere, Kitsch paart sich mit extremem Pragmatismus: Für die dunkle Farbe, in der die Stahlkonstruktion der Fassade gestrichen ist, gibt Samyn einen Grund an, der so pragmatisch ist, dass er ins Surreale kippt:Man habe – um die Reinigungskosten niedrig zu halten – den Staub der angrenzenden Rue de Loi analysiert und eine Farbe gewählt, auf der dieser nicht auffalle.

Surreal mutet auch die Geometrie der Vase an. Sie ist im Grundriss nicht kreisrund, sondern oval, wodurch sie zwar in der frontalen Ansicht schlank wirkt, von der Seite gesehen aber einen beachtlichen Schmerbauch entwickelt. Ihre weiße Streifenbedruckung hat einen psychedelischen Effekt, der sich in der Bemalung aller Decken, Türen und Liftschächte mit flirrenden Farbflächen in Pastelltönen nach einem Konzept des Künstlers Georges Meurant fortsetzt.

Gemessen an den üblichen Kriterien der Architekturkritik ist dieses Gebäude architektonisch und städtebaulich zweifellos gescheitert: städtebaulich, weil es die spezielle Situation, die das Palais Résidence an dieser Stelle mit seiner Schrägstellung zur Achse der Rue de Loi eingenommen hat, auslöscht. Das neue Europa-Gebäude ist ein weiterer großer Block unter den vielen, die wie Metastasen an der Rue de Loi gewachsen sind. Architektonisch ist diese große, gequetschte Vase in ihrem Käfig nicht mehr als ein millionenschwerer Scherz.

Die Versuchung ist groß, dieses Haus als Gradmesser für den aktuellen Status der Europäischen Union zu betrachten: eine grandiose Idee, die nicht zu einer Form finden will, aufgeblasen in ihren Ansprüchen, scheinbar um Transparenz bemüht, während die wichtigen Entscheidungen dann doch in einem geheimnisumwitterten Raum fallen, aus dem sich die Bürger ausgeschlossen fühlen.

Man sollte dieser Versuchung widerstehen und diesem unsäglichen Bauwerk gegenüber ein vorläufiges, suspendiertes Verhalten pflegen. Es taugt immerhin dazu, der europäischen Öffentlichkeit einen sanft leuchtenden Hintergrund für Fernsehberichte aus Brüssel zu liefern. Mit der Namensgebung als „Haus Europa“ haben die Verantwortlichen schon einen ersten Schritt dafür getan, es zum Verschwinden zu bringen: Keine Suchmaschine ist imstande, es nach diesen Begriffen zu finden. Als Symbol von Hybris, Naivität und Korruption verstanden, könnte es zumindest kathartische Wirkung entfalten. Das wirkliche Herz Europas wird man eines Tages an einem anderen Ort errichten müssen.

Spectrum, Sa., 2017.02.25

11. Februar 2017Christian Kühn
Spectrum

Die Qual mit der Qualität

Alle wollen Qualität. Aber wer legt fest, was schön ist und was nicht? Beim Projekt WEV muss die Antwort jetzt auf politischer Ebene gefunden und verantwortet werden. Kann das gut gehen?

Alle wollen Qualität. Aber wer legt fest, was schön ist und was nicht? Beim Projekt WEV muss die Antwort jetzt auf politischer Ebene gefunden und verantwortet werden. Kann das gut gehen?

Nun ist es also so weit: Der Entwurf des Flächenwidmungs- und Bebauungsplans für das Areal von Hotel Intercont und Wiener Eislaufverein liegt seit letzter Woche bis 16. März zur öffentlichen Einsicht und Stellungnahme auf. Das dem Plan zugrunde liegende Projekt hat eine Nachdenkpause hinter sich, nachdem der Fachbeirat für Stadtplanung und Stadtgestaltung sich im Mai 2016 überraschend deutlich gegen den Entwurf ausgesprochen und eine Überarbeitung empfohlen hatte. Zu den Kritikpunkten gehörten formale Aspekte wie die „gedrungene Massivität“ des Turms, aber auch funktionelle wie die winterliche Barrierewirkung, die sich aus der Drehung der Eisfläche in den öffentlichen Raum der Lothringerstraße ergibt, sowie Zweifel an der Qualität der Durchwegung in den dritten Bezirk. Nicht zuletzt forderte der Fachbeirat, „das Projekt so anzupassen, dass eine Verträglichkeit mit dem Welterbestatus herstellbar ist“.

In der Überarbeitung wurde an einigen Stellschrauben gedreht: Der Turm ist von 73 auf 66 Meter geschrumpft, die Eisfläche ein wenig gestutzt, die Verbindung zum dritten Bezirk verbreitert. Die Scheibe des Hotel Intercont soll nur um zwei Geschoße erhöht werden statt um drei. Sie wird allerdings als Neubau ausgeführt und rückt dabei deutlich Richtung Stadtpark. Ihre im Vergleich zum Bestand um zwei Meter vergrößerte Trakttiefe kompensiert angesichts der enormen Ausdehnung der Scheibe einen guten Teil des durch die reduzierte Geschoßanzahl verlorenen Volumens. Der Rest wird im Trakt am Heumarkt ausgeglichen, der ebenfalls tiefer wird. An der Ansicht vom Belvedere haben diese Änderungen praktisch nichts verändert. Von der Johannesgasse und vom Stadtpark her gesehen drängt sich das Projekt dagegen deutlich voluminöser in den Stadtraum. Die Chance, die nun plötzlich erfolgte Entscheidung für den Abriss des Intercont-Gebäudes zum Anlass für einen Neustart zu nehmen, bleibt ungenutzt. Wir müssen uns mit der absurden Lösung begnügen, ein mittelmäßiges Gebäude aus den 1960er-Jahren als „Ersatzneubau“ rekonstruiert zu bekommen.

Nach fünf Jahren Entwicklungszeit liegt damit ein Projekt vor, das bis zur Kenntlichkeit dessen entstellt ist, was es repräsentiert, nämlich einen von privaten Interessen dominierten Städtebau nach wirtschaftlichen Grundsätzen. Dass dieses Projekt von der Unesco als Beitrag zum Welterbe Wien Innere Stadt akzeptiert wird, ist so gut wie ausgeschlossen, die Streichung von der Welterbeliste die logische Folge. Wie die Stadt damit umgehen wird, ist absehbar: Bei einer Pressekonferenz im Jänner, in der Bürgermeister und Vizebürgermeisterin das Projekt gemeinsam mit dem Investor vorstellten, gab man sich zwar offiziell zuversichtlich, dass die Unesco ein Einsehen haben werde. Aber es müsse auch klar sein, dass noch immer die Wiener darüber entscheiden, was in ihrer Stadt gebaut wird, und nicht eine ausländische Behörde in Paris. Dass diese Pressekonferenz just einen Tag vor der Sitzung des Fachbeirats für Stadtplanung und Stadtgestaltung stattfand, in der erst über die Berücksichtigung der Empfehlungen aus dem Mai 2016 beraten wurde, sagt einiges über die Konfusion aus, die dieses Projekt in der Stadt ausgelöst hat. In den „Baukulturellen Leitsätzen“, die sich die Stadt Wien 2014 zur Qualitätssicherung verordnet hat, liest sich alles noch wunderbar. Das Ziel ist klar: „hohe Lebensqualität beim Neubau wie im Bestand“. Dorthin führen „qualitätsorientierte und transparente Prozesse bei Planung und Errichtung“, „qualitätsorientierte Rahmenbedingungen“ sowie die „Förderung der kritischen, vielfältigen und innovativen Szene der Baukulturschaffenden“.

Das WEV/Intercont-Projekt ist der Beweisdafür, dass selbst eine Überfülle an „qualitätsorientierten Prozessen“ kein gutes Ergebnis garantiert. Bei keinem anderen Projekt hat es in Wien je so viele informelle Verfahrensschritte gegeben, um die Grundlage für eine Flächenwidmungs- und Bebauungsplanung zu finden: die ersten Expertenrunden im Jahr 2012, das anschließende kooperative Verfahren zur Variantenentwicklung 2013, den zweistufigen Architekturwettbewerb des Jahres 2014 bis zur Nachdenkpause des letzten Jahres als Abschluss. Im Hintergrund dieser Prozesse darf man sich die Beamten der Stadt Wien vorstellen, die versuchen, einen Tiger zu reiten, dessen gute Beziehungenzur politischen Entscheidungsebene ihnen bekannt sind. Die grundsätzliche Richtung ist klar, und man behält sie weisungsgebunden im Blick, auch unter Ausblendung unangenehmer Realitäten, die sich manchmal ins Bild schieben: ein Vertreter der Unesco, der vom ersten Workshop im Jahr 2012 an immer klar feststellt, kein Projekt akzeptieren zu können, das über die Höhe des Intercont hinausragt, oder eine Architektenkammer, dieden Architekturwettbewerb des Jahres 2014 nur mit Vorbehalt unterstützt, weil wichtige städtebauliche Rahmenbedingungen ungeklärt sind.

Das eigentlich zuständige Beratungsgremium der Stadt, der Fachbeirat für Stadtplanung und Stadtgestaltung, wurde mit demProjekt erst nach dem Architekturwettbewerb befasst, als die städtebaulichen Prämissen längst definiert waren. Der Beirat hat im Mai 2016 versucht, über Kritik am Objekt Kritik am Städtebau zu üben. Das konnte nicht erfolgreich sein. Die „Nachdenkpause“ war nur ein weiterer unter den vielen Prozessschritten, die der Herstellung einer Alternativlosigkeit dienten, die mit jedem weiteren Schritt zum Konsens geronnen ist. Ganzist das nicht gelungen: Laut Stellungnahme des Beirats hält „ein Teil der Mitglieder in Teilen die Forderungen für die Überarbeitungnicht für erfüllt“. So viel Eiertanz wäre gar nicht nötig gewesen: In diesem Prozess wurde der Beirat in seiner städtebaulichen Kompetenz schlicht ausgebremst.

An der unangenehmen Wahrheit, dass sich auf diesem Bauplatz nicht alle gewünschten Interessen unterbringen lassen, kommt man nicht vorbei. Auf der Strecke bleiben die verletzlichsten, die Qualität des Stadtbilds und das Vertrauen in die Prozesse der Stadtplanung, gerade weil sie hier mit so enormem Aufwand inszeniert wurden.

Jetzt ist das Projekt dort angekommen, wo es eigentlich hingehört: auf der politischen Ebene. Proteste jenseits der Fachöffentlichkeit formieren sich. Der Investor spricht von Baubeginn nicht vor 2019. Bis dahin ist viel Zeit, die Konsensmaschine auf Hochtouren laufen zu lassen. Aber auch Zeit, die Alternativlosigkeit des Projekts infrage zu stellen. Wer bringt dafür die Fantasie auf?

Spectrum, Sa., 2017.02.11

14. Januar 2017Christian Kühn
Spectrum

Die Party ist noch nicht zu Ende

Dubai ist die Welthauptstadt der kapitalistischen Stadtentwicklung. Für die Expo 2020 bläht sich die dortige Immobilienblase noch einmal mächtig auf.

Dubai ist die Welthauptstadt der kapitalistischen Stadtentwicklung. Für die Expo 2020 bläht sich die dortige Immobilienblase noch einmal mächtig auf.

Zumindest quantitativ geht es voran: Die Weltbevölkerung wächst, über die vergangenen 200 Jahre betrachtet explosionsartig, von einer Milliarde Menschen auf heute 7,4 Milliarden. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Wachstum verlangsamt, liegt aber in absoluten Zahlen noch immer bei jährlich rund 75 Millionen. Allein in China wächst die Bevölkerung trotz Ein-Kind-Politik nach wie vor um sieben Millionen Menschen pro Jahr. Im Jahr 2050 ist mit einer Weltbevölkerung von zehn Milliarden zu rechnen, von denen ein überwiegender Teil in Städten leben wird. Die Wachstumsschmerzen, die Wien gerade durchmacht, nehmen sich neben solchen Zahlen bescheiden aus.

Maßgeblich für die Nachfrage nach Gütern, Dienstleistungen und nicht zuletzt Immobilien ist dabei nicht nur die absolute Zahl an Menschen, sondern auch der global zunehmende Wohlstand. Die Nachfrage nachWohnungen und Büros steigt oft deutlich schneller als die Bevölkerungszahl und kann regional exponentielle Steigerungsraten erreichen. Diese Situation ist der ideale Ausgangspunkt für Immobilienblasen, in denen es für Spekulanten darauf ankommt, möglichst schnell und profitabel zu bauen und im richtigen Moment aus dem Spiel auszusteigen. China erlebte eine solche Blase mit einer Spitze im Jahr 2009, bei der sich die Preise im Vergleich zu 2005 verdreifacht hatten. Das Land verbrauchte in zwei Jahren so viel Beton wie die USA im gesamten vergangenen Jahrhundert. 2013 begannen die Preise zu kollabieren, da es an Nachfrage fehlte. Bis heute ist die Blase, die Geisterstädte mit schlecht konstruierten Wohnhochhäusern und leeren Shoppingmalls hinterließ, noch nicht verarbeitet.

Dass sich das Wachstum von Immobilienmärkten auch weitgehend aus externer Nachfrage generieren lässt, hat in den vergangenen Jahren am deutlichsten Dubai vorgeführt. Das Scheichtum am Persischen Golf,mit 2,5 Millionen Einwohnern das größte der Vereinigten Arabischen Emirate, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer „Global City“ entwickelt, in der ein boomender Tourismus und der Immobilien- und Finanzsektor die Wirtschaft bestimmen. Touristisch ist der Stadt das scheinbar Unmögliche gelungen: als eine Art Las Vegas ohne Casinos erfolgreich zu sein. Maßgeblich dafür war die Kombination von fast steuerfreien, ins Stadtgebiet implantierten Freihandelszonen mit einer an Größenwahn grenzenden Strategie der Extreme: Die Stadt brüstet sich mit dem teuersten Hotel, dem höchsten Hochhaus und den größten Malls der Welt, alles Rekorde, die leicht von anderen überholt werden können.

Prophylaktisch wurde inzwischen die Parole ausgegeben, die glücklichste Stadt der Welt zu werden. „We aspire to be the world's happiest city, let's spread the joy“, heißt es auf mobilen digitalen Kummerkästen, die es den Kunden öffentlicher Dienstleistungen vom Museumsbesuch bis zum Fahrkartenschalter erlauben, ihre „experience“ in drei Stufen („happy, neutral, unhappy“) zu bewerten: Nur messbares Glück ist echtes Glück.

Die Stadtstruktur Dubais gleicht einem gigantischen Monopoly-Spielfeld auf einem sechzig Kilometer langen und zehn Kilometer breiten Küstenstreifen. Der Dubai Creek, ein Meeresarm, der auf diese Tiefe ins Landesinnere reicht, markiert den ursprünglichen Stadtkern mit dem alten Handelsplatz, von dem aus sich die Stadt nach Süden hin entwickelt. Lebensader ist eine Autobahn mit acht Spuren in jede Richtung, von der aus die Monopoly-Felder erschlossen werden: hochverdichtete Zonen mit Hochhäusern an der Küste, flächig organisierte Entwicklungen mit Villen im Landesinneren. Eine Metro parallel zur Autobahn und ein Bussystem existieren; bevorzugtes Verkehrsmittel bleibt aber das Auto, mit dem man bei Sommertemperaturen um die 40 Grad von einer klimatisierten Zone in die andere gelangt.

Das eigentliche neue Wahrzeichen Dubais sind die beiden „Palmeninseln“, die zur Verlängerung der Küstenlinie künstlich im Meer aufgeschüttet wurden. Die kleinere, Palm Jumeirah, ist inzwischen fast vollständig bebaut, mit einer Kette von Hotels im äußeren Ring, Apartments auf der Mittelachse und Villen auf den Palmenblättern. Deren leicht gekrümmten Straßen mit ihren fast identischen Elementen hinterlassen einen surrealen Eindruck, der von der dichten, standardisierten Begrünung verstärkt wird.

Die größte Dichte erreicht die Stadt in Hochhausclustern, die in der Regel um künstliche Wasserflächen angelegt sind: 70 Türme mit bis zu 200 Meter Höhe im Bereich der Jumeirah Lake Towers, 150 an der Dubai Marina. Wer die Hochhausstadt Benidorm an der Costa Blanca für nicht überbietbar gehalten hat, wird hier eines Besseren belehrt. Es geht noch dichter, und es finden sich offenbar immer Architekten, die mehr oder weniger originelle Fassaden für die ansonsten identischen Türme zu entwerfen bereit sind, sowie Freiraumplaner, die Ähnliches für die künstlichen Wasserlandschaften leisten. Dass Menschen in solchen durch unddurch kommerzialisierten Räumen wachsen und Beziehungen knüpfen können, ist aber kaum vorstellbar.

Dubai ist das Stadtmodell, zu dem sich unter ungebremst kapitalistischen Bedingungen alle Städte entwickeln würden, zumindest wenn es nie eine Energiekrise gegeben hätte. Man muss der Krise dankbar sein, dass sie Europa vor dieser Karikatur des Städtebaus weitgehend bewahrt hat.

Im Jahr 2020 wird Dubai eine Expo unter dem Titel „Connecting Minds, Creating the Future“ veranstalten, bei der sich dieses Modell noch einmal in Szene setzen möchte. Zumindest bis dahin wird die Stadt ihren Weg weitergehen, mit Großprojekten wie dem größten Flughafen und dem noch einmal höchsten Gebäude der Welt, einem von Santiago Calatrava geplanten Aussichtsturm. Aber irgendwann ist die Party vorbei: Ein tragfähiges Modell für einen von zehn Milliarden Menschen bewohnten Planeten muss anders aussehen.

Spectrum, Sa., 2017.01.14

17. Dezember 2016Christian Kühn
Spectrum

Gleiten oder hetzen?

Neue Geometrien, neue Möglichkeiten: Bringt die Befreiung vom rechten Winkel mehr hervor als spektakuläre Formen? Über das neue ÖAMTC-Hauptquartier in Wien-Erdberg.

Neue Geometrien, neue Möglichkeiten: Bringt die Befreiung vom rechten Winkel mehr hervor als spektakuläre Formen? Über das neue ÖAMTC-Hauptquartier in Wien-Erdberg.

Nur die katholische Kirche hat in Österreich mehr Breitenwirkung: Mit knapp über zwei Millionen Mitgliedern ist der ÖAMTC definitiv der größte Klub des Landes; keine Gewerkschaft, kein Alpenverein und keine politische Partei reicht an ihn heran. Er ist das freundliche Gesicht eines Systems, dessen Kehrseite in Abgaswerten und Unfallstatistiken gemessen wird – und das heute vor massiven Umbrüchen steht. Längst dürfen auch Radfahrer und Fußgänger der ÖAMTC-Mobilitätsfamilie angehören, deren motorisierter Teil in den nächsten Jahren drastisch abnehmen könnte. Wenn autonom fahrende Vehikel zur Selbstverständlichkeit werden und Mobilität immer weniger an Fahrzeugbesitz gekoppelt ist, wird das nicht ohne Auswirkungen auf die Verkehrsklubs bleiben.

Für eine solche Institution im Umbruch ein neues Hauptquartier zu entwickeln ist eine spannende Aufgabe. Als der ÖAMTC im Jahr 2013 einen geladenen Wettbewerb ausschrieb, war bewusst nicht nur der Entwurf für einen Bürobau gefragt, sondern für ein „Mobilitätszentrum“, das die verschiedenen Dienstleistungen des ÖAMTC zusammenführen sollte: das Kfz-Service, ein Reisezentrum, ein Callcenter, das zentrale Management, ein Fortbildungszentrum mit Vortragssälen, die Redaktion der diversen vom ÖAMTC betriebenen Medien und schließlich einen Hubschrauberlandeplatz mit Garage auf dem Dach des Gebäudes.

Der siegreiche Entwurf von ChristophPichler und Hannes Traupmann, die gemeinsam als PxT firmieren, hat dieses komplexe Anforderungsprofil in eine spektakuläre Struktur verwandelt, die ungebrochenen Optimismus verbreitet. Das Grundstück liegt für die Aufgabe ideal, unmittelbar an der Südosttangente, mit 170.000 Fahrzeugen pro Tag die meistbefahrene Straße Österreichs. Zugleich gibt es mit der U3-Station Erdberg einen U-Bahnanschluss, der über einen Steg kreuzungsfrei mit dem ÖAMTC verbunden ist. Der Weg führt in friedlicher Koexistenz durch den Hof eines Bürogebäudes, in dem die Wiener Linien, also die städtischen öffentlichen Verkehrsbetriebe, ihren Hauptsitz haben.

Im 19. Jahrhundert war dieses Areal mit seinen Schlachthäusern und Gasometern ein wichtiger Teil der städtischen Infrastruktur. Inzwischen sind nicht nur in die Gasometer neue Nutzungen eingezogen: Das Quartier St. Marx mit dem „Groundscraper“ des T-Mobile-Gebäudes liegt in unmittelbarer Nähe, und bald werden hier mehrere neue Hochhäuser – teilweise mit Wohnnutzung – für weitere Verdichtung sorgen. Die 800 im ÖAMTC-Gebäude arbeitenden Menschenwerden daher in einigen Jahren ein paar Inseln von Urbanität vor ihrer Haustüre vorfinden, zwischen denen es klassischen Stadtraum, wie wir ihn aus den Innenstädten gewohnt nicht, nicht mehr geben wird. Umso wichtiger ist die räumliche Organisation der Inseln, die mehr Luft enthalten müssen als die alten Blockstrukturen.

Das ÖAMTC-Gebäude ist in dieser Hinsicht vorbildlich. Es gruppiert seine Nutzungen um eine zentrale, von oben belichtete Halle, die alle Geschoße miteinander verbindet. Der Hauptzugang für Fußgänger liegt auf der Ebene des ersten Obergeschoßes, annähernd auf der Fahrbahnhöhe der Südosttangente. Man erreicht den Eingang entweder über die Verbindungsbrücke zur U-Bahn oder über eine geschwungene Rampe, die vom Straßenniveau nach oben führt. Wer sein Auto in die Werkstatt bringt, kann es übergeben und dann von der zentralen Halle aus durch große Verglasungen beobachten, wie es im ersten Untergeschoß artgerecht gepflegt wird.

Die beiden Geschoße über der Eingangsebene gehören dem Callcenter, dem Firmenrestaurant und dem angeschlossenen Veranstaltungsbereich, der für die Fortbildung der Mitarbeiter gedacht ist, aber auch extern vermietet werden soll. Darüber schweben vier Bürogeschoße, die im Grundriss an einen Seestern mit fünf Armen erinnern, die vom zentralen Atrium her ausstrahlen. Diese Typologie hat den Vorteil sehr gut belichteter Bürozonen, die im konkreten Fall nicht wie bei einem normalen Kammtyp im rechten Winkel aneinanderstoßen, sondern in einer weichen Geometrie. Der fließende Übergang von einem Büroarm zum anderen bietet hohe Flexibilität, da die Grenzen zwischen den Abteilungen problemlos verschoben werden können. Durch eine doppelte Ringerschließung – einmal im Atrium und konzentrisch dazu vor den Nebenräumen – gibt es viele Durchblicke, aber kaum Störungen durch die Menschen, die sich im Atrium bewegen. Dessen Rauminszenierung mag spektakulär aussehen; vor allem aber ist sie ein gelungener Beitrag zum Betriebsklima, indem sie alle Abteilungen vom Management hin zu den Werkstätten vernetzt.

Das nach außen auffälligste Merkmal des Gebäudes ist die vorgesetzte geschwungene Glaswand, die um drei Viertel des Gebäudes läuft. Sie ist sowohl Schallschutz als auch Fluchtweg mit eingebauten Treppen, die kaskadenartig von den Bürogeschoßen nach unten führen. Das Erweiterungskonzept des Hauses sieht vor, die fünf Arme des Seesterns um zwei zusätzliche zu ergänzen und dann auch die Glaswand um das gesamte Gebäude herumzuführen.

Konstruktiv ist das Gebäude eine Meisterleistung, die den Architekten als Generalplanern (Projektleiterin bei der Umsetzung: Johanna Maria Priebe) mit einem Team von Ingenieuren gelungen ist, neben anderen FCP als Tragwerksplaner und DnD Landschaftsplanung. Ausgeführt wurde das Projekt von einem Totalunternehmer mit Erfahrung auf diesem Sektor, der Baufirma Granit, die unter anderem die Bibliothek der Wirtschaftsuniversität von Zaha Hadid und den Erste Campus umgesetzt hat.

Die Verwandtschaft des Projekts mit Zaha Hadids Architektur ist kein Zufall. Hannes Traupmann unterrichtet seit vielen Jahren an der Universität für angewandte Kunst, zuerst bei Wilhelm Holzbauer, dann bis zu deren Emeritierung in Hadids und jetzt in Kazuo Sejimas Meisterklasse. Das Büro PxT hat sich seit seiner Gründung 1992 kontinuierlich weiterentwickelt und in den letzten Jahren verstärkt mit dem formalen Repertoire experimentiert, das auf Hadid und ihre Partner zurückgeht. Anders als bei Hadid, bei der die Form im Vordergrund steht und die Konstruktion nur ein Mittel zum Zweck ist, das die spektakulären Formen ermöglicht, verstehen sich PxT auch als Konstrukteure einer vom Tragwerk und vom Detail ausgehenden Architektur. Wer gern architektonische Ahnenforschung betreibt, wird darin den Einfluss Helmut Richters erkennen, an dessen Institut an der TU Wien Christoph Pichler viele Jahre gearbeitet hat. An der schwebenden Glaswand und ihren Details hätte auch Richter seine Freude gehabt.

Man darf sich durchaus fragen, ob die Ästhetik dieses Gebäudes noch zeitgemäß ist. Der Beweis, dass sich eine Architektur, der man lange nur eine Existenz auf dem Computerbildschirm zugetraut hätte, tatsächlich konstruieren lässt, ist erbracht, und nun steht zur Debatte, ob das Ergebnis mehr zu bieten hat als großformatige spektakuläre Bilder. Was den einen als Inbegriff von Dynamik erscheint, ist für andere nicht mehr als die gehetzte Ästhetik eines fortschrittsbesoffenen Zeitalters, das gerade seinem Ende zugeht. Man darf gespannt sein, wohin sich nicht nur die Architektur von PxT weiterentwickelt, sondern die ganze Richtung, zu der sie sich bekennt. Sie hat nicht nur ein Arsenal an neuen Möglichkeiten geschaffen, sondern auch ein Ökosystem an Fachingenieuren und ausführenden Firmen, die imstande sind, hochkomplexe Strukturen im großen Maßstab zu planen und zu bauen. Dieses Potenzial in eine Richtung zu lenken, die weniger monumental und objekthaft ist, wird eine Aufgabe für die Zukunft sein

Spectrum, Sa., 2016.12.17



verknüpfte Bauwerke
ÖAMTC-Zentrale

19. November 2016Christian Kühn
Spectrum

Bildung, Building, Bilding

Die Reform unseres Bildungssystems quält sich durch die Mühen der Ebene. Zumindest architektonisch hat der PISA-Schock aber eine stille Revolution ausgelöst, deren Ergebnisse nicht mehr zu übersehen sind. – Neue Bildungsräume aus Österreich: gefunden in Dornbirn und Innsbruck

Die Reform unseres Bildungssystems quält sich durch die Mühen der Ebene. Zumindest architektonisch hat der PISA-Schock aber eine stille Revolution ausgelöst, deren Ergebnisse nicht mehr zu übersehen sind. – Neue Bildungsräume aus Österreich: gefunden in Dornbirn und Innsbruck

Architektur ist ein Medium, in dem sich gesellschaftliche Veränderungen materialisieren. Manchmal geschieht das in kleinen Schritten, manchmal in plötzlichen Schüben – vor allem, wenn es darum geht, Schocks zu verarbeiten.
Ein solcher Fall war der PISA-Schock im Herbst 2001, die Veröffentlichung der ersten Studie des „Programme for International Student Assessment“, die dem deutschen und dem österreichischen Bildungssystem bestenfalls mittelmäßige Qualität attestierte. Die davon ausgelöste Debatte betraf zuerst die „Software“ des Schulsystems, die Lehrpläne, die Unterrichtsmethoden sowie die Ausbildung des Lehrpersonals. Erst mit ein paar Jahren Verzögerung wurde auch die „Hardware“ zum Thema: Kann es sein, dass ebenso die Art, wie wir Kindergärten und Schulen gestalten, eine Mitschuld an den durch PISA aufgedeckten Schwächen trifft?

Wer damals behauptete, dass Grundrisse mit links und rechts eines langen Ganges aufgereihten Klassenzimmern überholt sind, konnte Indizien dafür vor allem im Ausland finden oder in einem Rückgriff auf die Geschichte: In den 1960er- und 1970er-Jahren hatte es auch in Österreich eine breite Diskussion über radikale Alternativen gegeben, die aber in einer Rückkehr zu „bewährten Mustern“ endete. Selbst das viel gepriesene Wiener „Schulbauprogramm 2000“ konnte in den 1990er-Jahren zwar einiges an formaler Innovation vorweisen, typologisch musste es – gebunden an starre Richtlinien – am Gang- und Klassenzimmertypus festhalten.

Inhaltlich nahm die Debatte der 1960er-Jahre vieles von dem vorweg, was auch heute diskutiert wird. Es ging um Individualisierung des Lernens: Kinder müssen nicht im selben Tempo nach denselben Methoden lernen. Es ging um Inklusion, verstanden als Erziehung zur Solidarität und zur Akzeptanz von Differenz. Und es ging um die Öffnung der Schule zum „Leben“, also zum Stadtteil und den anderen, auch informellen Bildungseinrichtungen vor Ort. In Architektur umgesetzt bedeutete das offenere Grundrisse, in denen Lernen nicht nur in Klassenzimmern stattfindet, sondern an unterschiedlich gestalteten Lernorten im Schulhaus und im Freiraum, mit möglichst viel Durchblick, um das Arbeiten in Teams zu unterstützen.

Auch wenn diese Themen nach 1975 gelegentlich wieder aufflackerten, bekamen sie erst mit dem PISA-Schock den nötigen Aufwind. Ab 2005 intensivierte sich die Diskussion und erfasste schließlich auch die zahlreichen Schulerhalter auf Bundes-, Länder- und Gemeindeebene. Seither hat eine stille Revolution im österreichischen Bildungsbau stattgefunden. Es gibt „Leuchtturmprojekte“ wie den Campus Sonnwendviertel der Stadt Wien, das Gymnasium in der Au in Innsbruck oder die Schule in Feldkirchen in Oberösterreich, die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Und es gibt Dutzende weitere Projekte, die weniger prominent sind, aber auf gleichem Niveau Vorbildwirkung entfalten. Dabei geht es nicht allein um die Qualität von Einzelprojekten, sondern um die langfristige Strategie.
Der unmittelbare Bedarf an neuen Schulen ist selbst in boomenden Städten wie Wien geringer als der Bedarf an Sanierung und Erweiterung bestehender Standorte. Ob in diesen Fällen eine Sanierung oder doch ein Neubau die bessere Lösung ist, hängt stark von der Ambition der Schulerhalter ab: Wollen wir eine besser wärmegedämmte Gangschule oder eine Schule, in der man auf dem heutigen Stand der Pädagogik unterrichten kann?

Eine Gemeinde, die sich dieser Frage seit Jahren systematisch stellt, ist Dornbirn, mit knapp 50.000 Einwohnern die größte Stadt Vorarlbergs. Sie hat sich 2009 ein neues Schulraumkonzept verordnet, das bis zum Jahr 2030 Investitionen von rund 100 Millionen Euro in die Schulen und Kindergärten der Gemeinde vorsieht. Im Kern steht nicht die technische Sanierung, sondern die räumlich-pädagogische Qualität. Eine Ausweichschule wurde errichtet, um bestehende Schulstandorte umfassend und nicht nur in Etappen sanieren zu können. Das ursprüngliche Ziel, Projekte in einem Jahr abzuschließen, hat die Gemeinde aufgegeben: Hetzen bringt keine Qualität, und so rechnet man heute mit eineinhalb bis zwei Jahren für jedes Projekt.

Aktuell wurden in der Gemeinde ein Kindergarten nach dem Entwurf von Marte.Marte und eine Volksschule von Dietrich.Untertrifaller fertiggestellt, beides Vorarlberger Baukunst auf hohem formalem und technischem Niveau. Die Volksschule in Edlach war ursprünglich als Sanierung gedacht. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass nur ein Neubau die gestellten Anforderungen erfüllen konnte – nicht flächenmäßig, sondern in der funktionellen Organisation.

Bemerkenswert ist in diesem Fall, wie stark sich das Konzept vom Wettbewerb im Jahr 2012 zum ausgeführten Projekt weiterentwickelt hat. Der damalige Entwurf für eine Sanierung teilte den lang gestreckten Grundriss in zwei Hälften: Klassenräume auf der einen Seite, Bewegungsflächen, kleinere Projekträume und Sonderunterrichtsräume auf der anderen. Eine zentrale Treppe führte vom Eingangsbereich im Erdgeschoß nach oben. Dieses Konzept hält am Klassenraum als wichtigstem Lernort fest, dem ergänzende Räume vorgelagert werden. Eine Beziehung zwischen den Klassenräumen ist nicht vorgesehen.

Im realisierten Entwurf ist der Grundriss stattdessen in Cluster gegliedert, die jeweils drei Stammklassen und zwei Projekträume über eine gemeinsame Mittelzone zu einer Einheit verbinden. Statt einer Haupttreppe gibt es zwei gleichwertige, die von der offenen Zentralgarderobe im Erdgeschoß nach oben führen, womit die Mittelzone von Durchgangsverkehr frei bleibt. Toiletten gibt es nur im Erdgeschoß, wodurch das Treppensteigen auch für die Kleinen zur regelmäßigen Übung wird. Die Wände zu den Stammklassen sind voll verglast, und kleine, ins Volumen eingeschnittene Loggien und Höfe erweitern die Mittelzone mit direkt jedem Cluster zugeordneten Freiklassen. Neu im Raumprogramm ist eine großzügige Aula im Erdgeschoß: kein Durchgangsraum, sondern ein Halle, in der man bei Bedarf auch Theater spielen kann.

Was derzeit im österreichischen Bildungsbau passiert, ist ein Experiment in „open innovation“, wie man in der Industrie Innovationen bezeichnet, die ohne zentrale Steuerung ablaufen. Es zeichnen sich neue Typologien ab, die vielleicht zu Standards werden können. Allerdings ist die Schule auf einem guten Weg, von der Maschine zum Lebensraum zu werden. Das spricht gegen Lösungsmuster und für allgemeine Prinzipien, die am jeweiligen Standort angewendet dessen Potenzial ausschöpfen.

Wer sich in dieser Hinsicht inspirieren lassen möchte, dem sei ein Besuch im „Bilding“ empfohlen, einer Schule für Kunst und Architektur im Rapoldipark in Innsbruck, einem Gemeinschaftsprodukt, getragen vom AUT, von Studierenden und Lehrenden des Instituts für Hochbau der Uni Innsbruck und zahlreichen privaten Förderern. Auch so dynamisch kann Schule aussehen: Vielleicht – hoffentlich – stehen wir ja erst am Anfang einer Revolution.

Spectrum, Sa., 2016.11.19

22. Oktober 2016Christian Kühn
Spectrum

Hin und weg

Kampfzone Denkmalpflege: zwei Beispiele aus Wien, eine Buchhandlung in der Innenstadt und die Villa Beer in Hietzing. Wo schaut das Denkmalamt in dieser Stadt hin, und wo schaut es weg?

Kampfzone Denkmalpflege: zwei Beispiele aus Wien, eine Buchhandlung in der Innenstadt und die Villa Beer in Hietzing. Wo schaut das Denkmalamt in dieser Stadt hin, und wo schaut es weg?

Da war doch was. Immer an dieser Ecke, bei Spaziergängen durch die Wiener Innenstadt, gab es diesen kurzen Moment der Irritation: ein einfaches Geschäftsportal mit drei Öffnungen, von denen zwei als Schaufenster ausgebildet sind und die dritte den Eingang darstellt. Das Alter dieses Portals ist schwer einzuschätzen. Mit seinen Fensterrahmen aus Holz könnte es historisch sein, aber dagegen spricht eine eigenartige Asymmetrie der Komposition. Die Schaufenster wirken wie bewegliche Elemente, die sich vor die Fassade schieben oder klappen. Ihre Tiefe reduziert sich an diesen Stellen auf knapp zehn Zentimeter; tief genug, um das zu präsentieren, womit dieses Geschäft handelt, nämlich Bücher.

Zweifel, ob man es nicht vielleicht doch mit einem historischen Portal zu tun hätte, lösten sich bisher spätestens dann auf, wenn man das eigentlich irritierende Element dieses Portals nicht als spätere Zutat, sondern als integralen Bestandteil erkannt hatte: eine Reihe von bunt gefärbten, rechteckigen Glasplatten, gerahmt in schmale Aluminiumprofile, die in einem ausgefeilten Rhythmus über und neben den Öffnungen angeordnet waren und diese miteinander verbanden. Auch die Sockel der Schaufenster waren mit solchen Platten geschützt, wobei diese im Sockelbereich in Dunkelblau und Purpurrot ausgeführt waren, im oberen Bereich abwechselnd in Purpur- und hellem Rubinrot.

Die Komposition dieser Fassade entsprach einem Musikstück mit klar komponierten Harmonien, Klangfarben und Obertönen. Entworfen wurde sie Mitte der 1980er-Jahre von der Wiener Architektin Elsa Prochazka. Kleinarchitekturen waren zu dieser Zeit das Hauptgeschäft einer jüngeren Generation von Architekten, zu denen unter anderen Hermann Czech mit seinen Cafés und Bars oder Helmut Richter und Heidulf Gerngroß mit dem Restaurant Kiang gehörten. Im Spannungsfeld zwischen Czechs raffiniertem Manierismus und dem Hightech-Handwerk von Richter/Gerngroß nimmt das Werk von Elsa Prochazka eine Zwischenposition ein, in der im Alltäglichen das Besondere aufblitzt.

Vor Kurzem wurde die Fassade des denkmalgeschützten Hauses, in dem die Buchhandlung untergebracht ist, saniert. Und seither sind die Glastafeln weg. Das ist, als hätte man in einer Symphonie den Bläsersatz eliminiert. So steht man nun vor dem Rest dieses Portals und fragt sich: Wie konnte das passieren? Der Eigentümer des Hauses, der Deutsche Orden, zeigt sich ehrlich überrascht und verweist aufs Denkmalamt, das im Rahmen der Fassadensanierung dazu ermuntert hätte, möglichst viele spätere Zutaten an der Fassade zu entfernen. Erst auf Nachfrage finden sich im Archiv des Ordens doch die Pläne zu diesem Geschäftslokal, das auch im Innenraum zu den besten seiner Zeit gehört. Über die Anordnung und Farbgebung der Glasplatten gab es zahlreiche Diskussionen mit dem Orden und dem Denkmalamt, es wurden 1:1-Modelle angebracht, es wurde eine Variante mit weißem Glas überlegt, bevor man sich schließlich doch – gemeinsam – für die kräftige bunte Variante entschied.

Ist das Denkmalamt vergesslich? Oder hat diese Entscheidung doch mit einem impliziten Qualitätsurteil zu tun? Oder schlicht mit Inkompetenz der zuständigen Beamten? Wohl eine Mischung von all dem, wobei ein zusätzlicher Aspekt zu berücksichtigen ist. Auf der Homepage des Bundesdenkmalamts wird explizit auf die neue Situation durch den seit 2003 bestehenden Welterbe-Status der Wiener Innenstadt verwiesen: „Um die strengen Richtlinien, die mit einer solchen Auszeichnung verbunden sind, einhalten zu können, musste die Unterschutzstellungstätigkeit in der Abteilung für Wien nachhaltig intensiviert werden.“ Diese Hyperaktivität darf aber nicht zu einer „Alles-weg-was-stört“-Strategie führen, der vorbildliche Beispiele für neues Bauen in alter Substanz zum Opfer fallen. Man wird nicht jedes Geschäftsportal unter Denkmalschutz stellen wollen. Im konkreten Fall hätten ein Minimum an Wissen über die jüngere Architektur und ein Blick ins Archiv ausgereicht, um eine Zerstörung zu verhindern.

Dass jüngere Architektur selbst dann, wenn sie bereits unter Denkmalschutz steht, in Wien einen schweren Stand hat, zeigen die aktuellen Vorgänge um die 1929 von Josef Frank und Oskar Wlach entworfene Villa Beer in der Wenzgasse. Anlässlich der Ausstellung über Josef Frank im Museum für angewandte Kunst wurde die Villa Beer erstmals seit Jahren wieder einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht, und an einem einzigen Wochenende stürmten 2500 Besucher nach Hietzing, um an einer Führung durch das Haus teilzunehmen.

Das ist angesichts der Bedeutung des Hauses für die jüngere Architekturgeschichte kein Wunder: Die Villa Beer zählt zur selben Klasse von einzigartigen Wohnhäusern aus dem ersten Drittel des 20 Jahrhunderts, zu der auch die Villa Tugendhat in Brünn vonLudwig Mies van der Rohe, das Haus Müller in Prag von Adolf Loos und die Villa Savoye von Le Corbusier in Poissy gehören.

Noch 2007 hatte die Stadt Wien, vertreten durch den damaligen Planungsstadtrat Rudolf Schicker, angekündigt, das Haus kaufen zu wollen, wenn auch „nicht zu einem horrenden Preis“. Verkauft wurde tatsächlich, allerdings an einen privaten Investor, der zuerst 2008 einen Hausanteil erwarb und schließlich im Jahr 2012 den Rest ersteigerte und in Summe 2,8 Mio Euro für eine Wohnfläche von 600 Quadratmetern investierte. Bestandsfrei wurde die Villa dadurch nicht, da ein Erbe der Vorbesitzerin über seine Firma noch einen Mietvertrag für eine Wohneinheit hält. Diese Einheit ist eine von fünf, in die das Haus im Lauf der Zeit zerlegt worden war. Die anderen vier wurden wieder zu der ursprünglichen großen Wohnlandschaft zusammengelegt, in Franks Worten zu einem „Haus als Weg und Platz“, einem Wunderwerk an Raumabfolgen, von dem sich die 2500 Besucher überzeugen konnten.

Was der Eigentümer mit dem Haus vorhat, ist unklar. Einerseits erklärt er, mit MAK oder AzW über eine Kooperation sprechen zuwollen, um das Haus zu öffnen. Andererseits bietet er es für 5,5 Millionen Euro zum Verkauf an. Aktuell liegt ein Plan vor, einen Lift und eine zusätzliche Treppe einzubauen, um wieder drei Wohneinheiten errichten zu können. Die Raumfolge im oberen Wohngeschoßwäre damit dauerhaft zerstört. In Städten mit baukulturellem Bewusstsein gäbe es einen Aufschrei. In Wien hat das Denkmalamt dieser Zerstörung zugestimmt.

Spectrum, Sa., 2016.10.22

24. September 2016Christian Kühn
Spectrum

Ist das schon gut genug?

Kann die Aufstockung zweier schwacher Bestandsbauten zu einem starken Resultat führen? Am Karlsplatz wird man sich dieser Frage stellen müssen.

Kann die Aufstockung zweier schwacher Bestandsbauten zu einem starken Resultat führen? Am Karlsplatz wird man sich dieser Frage stellen müssen.

Die Wiener Karlskirche ist zweifellos eine der originellsten und bedeutendsten Barockkirchen der Welt. Mit ihren zwei monumentalen Säulen und der im Grundriss ovalen, in der Frontalansicht schlanken und von der Seite wuchtig wirkenden Kuppel ist sie das Hauptwerk ihres Architekten Johann Bernhard Fischer von Erlach.

Zur Erinnerung an die überstandene Pest des Jahres 1713 errichtet, war die Kirche in erster Linie kaiserlicher Propagandabau, in Architektur übersetztes Gottesgnadentum. Ihr Standort ist daher mit Bedacht gewählt: Als dreiseitig freigestellter Monumentalbau lag sie außerhalb der Befestigungsmauern auf einer kleinen Anhöhe über dem damals noch unregulierten Wienfluss und war exakt auf die Hofburg hin ausgerichtet.

Seit ihrer Fertigstellung im Jahr 1739 hat sich die Umgebung der Kirche massiv verändert. Im Unterschied zur Stephanskirche, die man im 19. Jahrhundert von Anbauten befreite und als Monument auf dem Präsentierteller des Stephansplatzes inszenierte, wurde die Karlskirche sukzessive von der um sie wachsenden Stadt umarmt. Aus den landwirtschaftlich genutzten Flächen der Umgebung wurde eine im Blockraster gegliederte, dicht parzellierte Stadt. Die Vorstadthäuser verwandelten sich in gründerzeitliche Wohnhäuser, die schon im 19. Jahrhundert in mehreren Etappen aufgestockt wurden.

Ähnliches gilt auch für die benachbarten öffentlichen Monumentalbauen. Im Jahr 1897 wurde die damalige Technische Hochschule um ein Geschoß erhöht und erreichte damit annähernd die Gesimshöhe der die Karlskirche flankierenden Glockentürme. Karl König, der Gegenspieler Otto Wagners an der Technischen Hochschule, entwarf schließlich einen seitlichen Zubau zur Hochschule, eine ruhige, fast klassizistische Fassade, die in einem Winkel von 45 Grad an deren Hauptgebäude anschließt.

Dieser einigermaßen harmonischen Lösung ein entsprechendes Pendant auf der anderen Seite der Karlskirche zu geben ist eines der vertracktesten Probleme, das Wien für Architekten und Stadtplaner zu bieten hat. Viele haben sich daran versucht, geglückt ist es keinem. Otto Wagner kämpfte über zehn Jahre lang für sein Projekt eines Kaiser-Franz-Josef-Stadtmuseums an diesem Standort, zuerst 1900 mit einem „Agitationsentwurf“, den er in der Secession ausstellte.

In dem 1902 folgenden Wettbewerb unterlag Otto Wagner dem Architekten Friedrich Schachner, der einen Entwurf im neo-barocken Stil lieferte, der präferierten Architektursprache des Thronfolgers Franz Ferdinand. Der öffentlich heftig geführte Streit um das Projekt kulminierte 1910 darin, dass Wagner auf eigene Kosten ein Eins-zu-eins-Modell mehrerer Fensterachsen aus Holz und Leinwand errichten und das Gesamtvolumen durch hölzerne Rahmen markieren ließ.

Am Ende beschloss der Gemeinderat 1911, das Stadtmuseum nicht im Zentrum, sondern auf der Schmelz zu errichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es schließlich doch zum Bau eines Stadtmuseums an diesem Ort. Das 1959 eröffnete Gebäude nahm sich die frei stehenden Kulturbauten des Künstlerhauses und des Musikvereins zum Vorbild. Während Otto Wagner als Abschluss des Karlsplatzes eine monumentale Fassade nach dem Muster seiner Postsparkasse vorgeschlagen hatte, war das von Oswald Haerdtl entworfene Museum ein solitärer, an die Lothringerstraße gerückter Baukörper, der zur Karlskirche hin eine Lücke offen ließ. Hier befand sich damals noch ein schlichtes barockes Wohnhaus mit drei Geschoßen, das bis auf Tuchfühlung an die Kirche heranreichte.

Anfang der 1970er-Jahre wurde dieses Gebäude abgerissen und durch das Winterthur-Haus, ein Bürogebäude nach einem Entwurf von Georg Lippert, ersetzt. Das neue Haus war kaum höher als das alte und ebenfalls knapp an die Karlskirche gerückt. Lipperts Ansatz war, das Haus zum Verschwinden zu bringen, einerseits durch eine anämisch wirkende Fassade, andererseits indem er es über Brückengeschoße mit dem Wien Museum verband. Vom Karlsplatz aus betrachtet, bilden Museum und Bürohaus heute eine die Horizontale betonende Wand, die von einem Durchgang Richtung Schwarzenbergplatz durchbrochen ist. Nun liegt ein Entwurf für die Aufstockung des Winterthur-Hauses vor. In einem geladenen, anonymen Wettbewerb unter dem Juryvorsitz von Rüdiger Lainer gewannen die Architekten Henke und Schreieck mit einem Entwurf, der den Bestand fast unverändert lässt.

Optisch wird das Haus um zwei Geschoße erhöht, ein niedriges mit kleinen, in einem freien Rhythmus gesetzten Fenstern und ein höheres im einheitlichen Raster des Bestandes. Hinter dieser Teilung verbergen sich zwei Vollgeschoße und ein zurückgesetztes Staffelgeschoß, dessen Terrassenbrüstung in die oberste Fensterreihe integriert ist. Diese Fassade ist zwar mit Rücksicht auf den Bestand entwickelt, aber im Gegensatz zu ihm nicht banal.

Für die vereinten OrtsbildschützerWiens ist sie Grund genug, mit Unterstützung der „Kronen Zeitung“ gegen das Projekt Sturm zu laufen: Ein kleiner Schandfleck solle hier in einen großen verwandelt werden. Das ist Unsinn. Wenn hier aufgestockt wird, dann ist diese Lösung durchaus akzeptabel.

Trotzdem muss über das Projekt geredet werden. Sein Anlass ist nämlich eine andere Aufstockung, jene des Wien Museums. Hier hat ein Wettbewerb im Herbst 2015 zu einem Siegerprojekt geführt, das eine „schwebende“ Box auf das Museum setzt und es durch Abbruch der Brücken freistellt. Aus dem Durchgang soll eine Straße werden. Um den Eigentümern des Winterthur-Hauses diese Lösung zu versüßen, gibt es eine Kompensation: Durch den Abbruch fallen 700 Quadratmeter Nutzfläche weg, durch die Aufstockung kommen 4300 Quadratmeter dazu.

Es hat daher keinen Sinn, isoliert über das Winterthur-Haus zu diskutieren. Um das Gesamtergebnis beurteilen zu können, muss auch der Planungsstand des Wien Museums auf den Tisch. Die Öffentlichkeit hat ein Recht, beurteilen zu können, ob die zahlreichen Kritikpunkte am Projekt in der Weiterbearbeitung zufriedenstellend gelöst werden konnten.

Das betrifft die Details der verglasten Zwischenebene zwischen Bestand und schwebender Box, laut Juryprotokoll „das große Versprechen des Entwurfs“, aber auch die Erschließung, die Qualität der Dauerausstellungsräume sowie Statik und Lichtführung – lauter Fragen, die schon im Juryprotokoll kritisch vermerkt sind. Erst dann wird man abschätzen können, ob die Qualität der mit 100 Millionen Euro budgetierten Erweiterung und Sanierung auch die Aufstockung des Winterthur-Hauses rechtfertigt.

Kann die Aufstockung zweier schwacher Bestandsbauten zu einem starken Resultat führen? Am Karlsplatz wird man sich dieser Frage stellen müssen. Im Zweifel müsste man sich zur Entscheidung durchringen, einen Neustart zu wagen, der auch denDenkmalschutz für Haerdtls Museumsbau infrage stellt. An diesem extrem sensiblen Ort mit einem Projekt zu scheitern wäre keine Schande. Ein halbherziges zu realisieren, das für die nächsten hundert Jahre eine überzeugendere Antwort verhindert, aber sehr wohl.

Spectrum, Sa., 2016.09.24

27. August 2016Christian Kühn
Spectrum

Die Stadt als Objekt

Eine Stadtplanung, die mehr ist als der geschickte Umgang mit Sachzwängen und Interessen: Ist so etwas überhaupt vorstellbar? Die Wiener Architektenkammer lädt mit einem „Strategiepapier zur Stadtentwicklung“ zum Dialog ein. Man darf auf die Antworten gespannt sein.

Eine Stadtplanung, die mehr ist als der geschickte Umgang mit Sachzwängen und Interessen: Ist so etwas überhaupt vorstellbar? Die Wiener Architektenkammer lädt mit einem „Strategiepapier zur Stadtentwicklung“ zum Dialog ein. Man darf auf die Antworten gespannt sein.

Kennen Sie Wien? Ach, Sie sind hier geboren. Und wie oft waren Sie schon in der Spargelfeldstraße? Oder am Kagraner Anger? Noch nie. Das wundert mich nicht. Diese Adressen werden Sie in keinem Reiseführer finden. Nicht, dass es dort nichts zu sehen gäbe. In der Spargelfeldstraße residiert immerhin die Österreichische Agentur für Gesundheitswesen, die hier ihre Zentrale mit 600 Mitarbeitern betreibt, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Einfamilien- und Reihenhäusern und einem künstlichen Berg, der Mülldeponie Rautenweg, dem höchsten Punkt in der Umgebung.

Auch der Kagraner Anger ist kein touristischer Hotspot. Nichts hier erinnert an den namensgebenden historischen Anger des Vororts Kagran. Eine Pfarrkirche, 1970 nach Plänen der Berliner Architekten Alfons und Florian Leitl errichtet, bildet hier den Schlusspunkt einer modernistisch-monumentalen Wohnhausanlage aus den frühen 1960er-Jahren, deren bis zu zehn Geschoße hohe Wohnblöcke sich in strenger orthogonaler Anordnung einen Kilometer weit nach Süden erstrecken.

Es ist gut möglich, dass 99 Prozent der Wiener diese Orte nie besuchen werden. Dürfen sie trotzdem behaupten, ihre Stadt zu kennen? Natürlich. Wie bei jeder Stadt ist das Wien, das die Wiener kennen, ein sehr individuelles. Ein paar Dutzend Adressen sind jedem Wiener geläufig, es gibt ein paar Erzählungen, die von fast allen geteilt werden, aber dann franst das Wien-Bild aus und differenziert sich in persönliche Wien-Bilder und Erfahrungen. Das Charakteristikum der Großstadt ist, dass sie einen Namen hat, aber viele Identitäten.

Die Stadtplanung der letzten Jahrzehnte hat daraus den Schluss gezogen, dass es sich nicht lohnt, die Stadt als ein Objekt zu betrachten, das sich gestalten ließe. Als Folge hat sie die Stadt in zwei Richtungen aufgelöst: auf der einen Seite in ihre funktionalen Elemente, Verkehrssysteme und Wohnbauten, Grünanlagen und Industriebetriebe, einegigantische Infrastruktur, zwischen deren Komponenten ein permanenter Fluss von Energie, Personen und Gütern besteht. Auf der anderen Seite in ein Spannungsfeld von Interessen, in dem das Recht auf Stadt permanent zwischen Bewohnern und Projektentwicklern, Grundstückeigentümern und Beamten verhandelt wird.

So unterschiedlich diese beiden Ansätze auch sind, in einem Punkt gehen sie konform: Wenn sich etwas gestalten lässt, dann sind es die immateriellen Rahmenbedingungen, die zur Gestalt führen, und nicht die Gestalt der Stadt selbst. Im ersten Fall ist diese Gestalt das Resultat technischer Sachzwänge, im zweiten Fall ein Resultat sozialer Prozesse.

Dass der Begriff Stadtbaukunst in diesem Umfeld kein besonders hohes Ansehen genießt, ist nicht weiter verwunderlich. Ist die Vorstellung einer künstlerischen Disziplin, die Bauwerke und den von ihnen gebildeten Raum in einem zeitlich und räumlich großen Maßstab zusammendenkt, nicht hoffnungslos veraltet? Hat sie nicht abseits der historischen Stadtkerne ihren Gegenstand verloren und einer Freiraumplanung Platz gemacht, deren gestalterisches Repertoire sich auf Grünpflanzen und Stadtmöblierung beschränkt?

Die Qualität der in den letzten Jahrzehnten entstandenen Stadträume lässt freilich Zweifel daran aufkommen, ob man auf diese Disziplin tatsächlich verzichten kann. In Deutschland führten diese Zweifel 2014 zu einer Debatte, die von einem dreiseitigen Manifest unter dem Titel „Stadt zuerst!“ ausging, das Kölner Stadtplaner um Wolfgang Sonne und Christoph Mäckler initiiert hatten. „Deutschland war noch nie so wohlhabend, seine Stadträume waren aber noch nie so armselig“, hieß es da trocken, und die Kritik richtete sich vor allem an die Universitäten, an denen man nur noch lerne, ausführlich zum Thema Stadt zu sprechen, aber nicht mehr, wie man eine Straße, geschweige denn einen Stadtteil gestaltet.

Die Antwort kam von einer etwas jüngeren Generation von Planern, die unter dem Titel „100 % Stadt“ ein Gegenmanifest verfassten, in dem die Vielfalt der Stadt beschworen wurde, die nur noch durch interdisziplinäre Anstrengung gelenkt werden könne. Eine lebendige Stadt sei eben immer in Bewegung und existiere eigentlich nur im Kopf: Sie bestehe „vor allem aus den Erzählungen der Vergangenheit und den gegenwärtigen Erwartungen an die Zukunft“. Ist diese erzählte Stadt nicht um vieles interessanter als ihre dauerhafte Form aus Ziegel, Stahl und Beton?

Wer sich an diese Frage praktisch heranwagen möchte, dem sei ein Ausflug in die Stadt empfohlen, allerdings nicht in die reale, sondern in die virtuelle. Google bietet mit seiner Maps-Funktion seit Kurzem die Möglichkeit, in ausgewählten Städten frei durch ein dreidimensionales Modell der Stadt zu navigieren. Im Vergleich zu früheren Versionen, die zuerst die Navigation durch ein exaktes, orthogonal aufgenommenes Luftbild erlaubten und später eine Schrägansicht in voreingestellten Perspektiven, bietet die neue Funktionalität das Erlebnis eines Drohnenflugs, gesteuert mit der linken Maustaste in Kombination mit der „Strg“-Taste.

Vom Fließen ist in diesem Modell keine Rede mehr. Die Sonne steht am Zenit eines sonnigen Tages, und so detailreich alle Fahrzeuge und selbst Baustellen dargestellt sind: Die Straßen sind menschenleer, und nichts bewegt sich. Je näher man dabei ins Bild zoomt, desto sichtbarer werden die Effekte der Algorithmen, mit denen Google aus Satellitenbildern und anderen Daten die Geometrie und die Oberflächen dieses Stadtmodells errechnet. Man muss diesen Bildern einen speziellen, äußerst suggestiven „Stil“ zugestehen, der das Modell stark vereinheitlicht. In Verbindung mit der freien Navigation wirkt die Stadt plötzlich nicht mehr als Addition von Elementen, sondern als großes, faszinierendes Objekt.

Wer sich ein paar Stunden durch dieses Modell bewegt, lernt die Stadt auf eine radikal neue Art kennen. Vor allem lernt er, dass es zwischen der Stadt der technischen Sachzwänge und der Stadt der Interessen tatsächlich eine Stadt als Objekt gibt, in der andere Zusammenhänge bestehen, als man sie von der Fußgängerebene aus herstellen würde. Und genau hier könnte auch eine zeitgemäße Stadtbaukunst ansetzen, die nicht zurück ins 19. Jahrhundert weist, sondern in die Zukunft.

Die Kammer der Wiener Architekten und Ingenieurkonsulenten hat gerade einenSchritt gesetzt, die beamtete Wiener Stadtplanung und ihre akademischen Sekundanten zu einem Dialog über diese Frage herauszufordern. „Schmerzlich vermisst“ werde, so die Vorsitzenden der Kammer, „eine Strategie für Stadtgestaltung im Sinne einer originären und zeitgemäßen Antwort in Fragen der Architektur und des Städtebaus.“ Als ersten Input für diese Diskussion hat die Kammer ein „Strategiepapier Stadtentwicklung“ beauftragt, verfasst von Michael Hofstätter, Mitglied der Architektengruppe PAUHOF, nachzulesen unter (bit.ly/2bxnv2u).

Hofstätter referiert die Geschichte der Stadtplanung in Wien, analysiert ihre aktuellen Zwänge und Beschränkungen und fordert schließlich eine rationale Debatte über ihre Instrumente, Institutionen und Organisationsformen. Dieses Papier hat ernsthafte Antworten verdient. Sie sollten mit dem Eingeständnis beginnen, dass es eine Ebene der Stadtplanung gibt, die nicht von Sachzwängen und Interessen dominiert ist. Ihre Kunst besteht darin, im Häuserbrei der Stadt anschlussfähige Strukturen zu entdecken, die dem Wachstum der Stadt Orientierung geben. Noch ist es dafür nicht zu spät.

Spectrum, Sa., 2016.08.27

29. Juli 2016Christian Kühn
Spectrum

Sparen mit Verstand

Mit seinem Programm zum „smarten“ Wohnen sucht der geförderte Wiener Wohnbau nach der Quadratur des Kreises: günstige Mieten trotz hoher Qualität. Ein erstes Ergebnis, geplant von Geiswinkler & Geiswinkler, beweist: Das geht. Wir müssen nur lernen, Urbanität in der dritten Dimension zu leben.

Mit seinem Programm zum „smarten“ Wohnen sucht der geförderte Wiener Wohnbau nach der Quadratur des Kreises: günstige Mieten trotz hoher Qualität. Ein erstes Ergebnis, geplant von Geiswinkler & Geiswinkler, beweist: Das geht. Wir müssen nur lernen, Urbanität in der dritten Dimension zu leben.

Hinter dem Hauptbahnhof befindet sich ein Großlabor des geförderten Wiener Wohnbaus: das Sonnwendviertel. Jüngstes Experiment in diesem Labor ist ein Wohnhaus, das der Bauträger „Heimbau“ an der Alfred-Adler-Straße entwickelt hat. Das Grundstück liegt an der Schnittstelle zwischen der gründerzeitlichen Bebauung und dem neuen Stadtteil auf dem ehemaligen Bahngelände. Es ist lang und schmal, mit einer 150 langen straßenseitigen Front nach Südosten und einem Innenhof mit gründerzeitlichen Hoffassaden. Ein markantes Gegenüber findet der lange Riegel an der Kreuzung zur Sonnwendgasse, wo ihm ein elfgeschoßiges Turmhaus aus der 1960er-Jahren einen vertikalen Kontrapunkt setzt.

Das Haus ist eines der ersten in Wien, in dem der Großteil der Wohnungen (116 von 148) nach dem Prinzip des sogenannten Smart-Wohnens im geförderten Wohnbau errichtet wurde. Smart-Wohnen soll „leistbaren“ Wohnraum schaffen, ohne den hohen Standard des geförderten Wohnbaus in Wien aufzugeben. Erreicht werden soll das durch Bruttomieten von maximal 7,50 Euro pro Quadratmeter, Reduktion der Quadratmeterflächen der Wohnungen und eine hohe Bebauungsdichte, die den Anteil der Grunderwerbskosten reduziert. Das Smart-Programm ist nicht unumstritten: Was die einen als logischen Schritt zur Reduktion auf das ökonomisch Vertretbare sehen, ist für die anderen ein Rückschritt in Richtung „Wohnen für das Existenzminimum“, noch dazu in gefährlich dichter Packung.

Mit dem Wohnbau in der Alfred-Adler-Straße haben die Architekten Kinayeh und Markus Geiswinkler bewiesen, dass Smart-Wohnen ohne Abstriche bei der Qualität funktionieren kann. Ihr Wohnbau, dessen reine Baukosten bei 1385 Euro pro Quadratmeter lagen, ist ein „Stadtregal“ mit einfachem Konstruktionsprinzip: tragende Außenwände, denen zur Straße hin ein zwei Meter tiefes Gerüst mit Balkonen vorgesetzt ist, zum Hof hin Laubengänge mit ebenfalls zwei Meter Breite, die sich aber an mehreren Stellen zusätzlich aufweiten, als Abstellplätze für Fahrräder, aber auch als geschlossene Räume, Waschküche oder Werkstätten. Der Laubengang spart Kosten, da er die Erschließung vieler Wohnung mit wenigen Aufzügen erlaubt; er ist aber auch ein Begegnungsraum, wenn er – wie hier – mit Zusatzfunktionen angereichert wird. Die Küchen haben Fenstertüren zum Laubengang, und man darf erwarten, dass doch manche Bewohner die Gelegenheit nutzen, die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem für ein paar Stunden am Tag aufzuheben.

Diese effiziente Nutzung von Raumzonen ist angesichts der geringeren Grundflächen ein Kernprinzip des Smart-Wohnens. Die Wohnungsgrößen liegen mit 40, 55 und 70 Quadratmetern deutlich unter den sonst üblichen. Im C-Typ mit 70 Quadratmetern lassen sich im maximalen Ausbau eine Wohnküche, ein Elternschlafzimmer und zwei Kinderzimmer unterbringen. Angesichts dieser Dichte ist es wichtig, dass alle Räume Fenstertüren und einen zumindest 80 Quadratmeter tiefen Balkon besitzen. Vor den Wohnräumen weiten sich die Balkone zur Straße hin auf gut nutzbare zwei Meter auf. Damit diese tiefen Balkone die Wohnungen nicht verschatten, sind sie stockwerksweise gegeneinander versetzt, sodass über einem Balkon ein zweigeschoßiger Luftraum liegt. Gemeinsam mit der Bepflanzung, die im Moment noch etwas schütter aussieht, belebt dieser Versatz die straßenseitige Fassade des Stadtregals, die sonst leicht monoton wirken könnte.

Neben den Laubengangwohnungen im langen Riegel gibt es an der tieferen Stelle des Grundstücks zwei Quertrakte, die einen kleinen, öffentlich zugänglichen Hof umschließen. Dieser Hof ist Teil eines Systems von Fußwegen, das im Sonnwendviertel die Innenhöfe der Blockrandbebauung miteinander verbindet. Die Architekten haben hier aus diesem Prinzip einen städtischen Raum mit besonderer Qualität gemacht, der nicht nur räumlich überzeugt, sondern auch durch Geschäfte im Erdgeschoß städtisches Leben anziehen wird. Die Verbindung zur Straße erfolgt nicht durch einen schmalen Durchgang, sondern durch einen breiten, gedeckten Stadtraum, für den im Erdgeschoß sechs Achsen des Stadtregals geöffnet wurden. Dieser Stadtraum ist quasi das öffentliche Foyer für die beiderseits liegenden Portale zu den Liften und Laubengängen. Gewünscht hätte man sich an dieser Stelle eine Station der hier vorbeiführenden Buslinie. Ein veritabler Schildbürgerstreich ist aber, dass der Fußweg, der von der Stadtplanung hier geplant war, keinen Übergang bekommen hat, sondern den Fußgängern einen Umweg von 150 Metern zugemutet wird, wenn sie sicher die Straße queren wollen. Überhaupt scheint die Kunst, eine Straße zu bauen, in Vergessenheit geraten oder im Niemandsland zwischen Verkehrsplanung und Freiraumplanung verkümmert zu sein. Derart unwirtlich breite Straßenräume wie im Sonnwendviertel hat die Stadt schon lange nicht mehr gesehen. Der Verkehr wird hier sicher gut vorankommen; bleiben möchte in dieser Straße niemand.

Das ist besonders schade, da es im neuen Gebäude selbst gelungen ist, eine durchgängig mit Geschäften oder öffentlichen Nutzungen belebte Erdgeschoßzone mit einer überdeckten Arkade zu schaffen. Zum Glück haben diese Nutzungen auch eine Sichtverbindung zu dem schönen, von den Gartenarchitekten Auböck und Kárász geplanten Hof. In dessen halb öffentlichem Teil haben sie die knappe Fläche mit einer Dschungellandschaft im militärischen Camouflagemuster ausgestattet, die sich wie ein Teppich an einer Schmalseite des Hofs hochzieht. Im öffentlichen Bereich gibt es runde, teilweise begrünte Sitzkreise.

Insgesamt lässt dieses Projekt den Schluss zu, dass Smart-Wohnen tatsächlich ein schlaues Konzept ist. Es wird dann erfolgreich sein, wenn es konsequent den Weg geht, den die besten der Wiener Wohnbau-Architekten im Moment verfolgen, nämlich die Stadt ins Haus zu holen, die Erdgeschoße zu beleben und halb öffentliche Erschließungszonen bis in die obersten Geschoße als Begegnungszonen auszubilden. Selbst wenn die Bewohner dieses Angebot nicht sofort annehmen, ist es essenziell, um die Dichte in dieser Art von Bebauung nicht nur erträglich, sondern als bereichernd und aktivierend zu empfinden. Urbanität in der dritten Dimension zu leben müssen auch versierte Stadtbewohner noch üben. Für diese soziale Innovation braucht es Erfindungsreichtum und räumliche Angebote, deren Nutzung noch nicht ausformuliert ist.

Spectrum, Fr., 2016.07.29

04. Juni 2016Christian Kühn
Spectrum

Wie viel Wert hat Ihre Haltung?

Alle zwei Jahre finden in ganz Österreich die Architekturtage statt, heuer unter dem Titel „Wert/Haltung“. Sie zeigen unter anderem Österreichs beste Häuser – auch solche, die es bald nicht mehr geben wird. Zu Herbert Eichholzers Haus Albrecher-Leskoschek in Graz.

Alle zwei Jahre finden in ganz Österreich die Architekturtage statt, heuer unter dem Titel „Wert/Haltung“. Sie zeigen unter anderem Österreichs beste Häuser – auch solche, die es bald nicht mehr geben wird. Zu Herbert Eichholzers Haus Albrecher-Leskoschek in Graz.

Wie erklärt man Architektur? Am besten gar nicht, meinen viele Architekten: Gute Architektur spreche für sich selbst und brauche keine Erklärung. Tatsächlich wird sich kaum ein Laie ohne das direkte, sinnliche Erlebnis für ein Haus begeistern. Selbsterklärend ist Architektur damit aber noch lange nicht. Man sieht nur, was man weiß, und daher braucht auch gute Architektur Vermittler, um Aspekte eines Werks freizulegen, die ohne Vorwissen nicht verständlich wären.

Zu den Architekten, die sich intensiv mit Architekturvermittlung befassten, gehörte Adolf Loos, nicht nur als Autor zahlreicher Beiträge in der „Neuen Freien Presse“, sondern auch als Herausgeber einer eigenen Zeitschrift mit dem programmatischen Titel „Das Andere. Ein Blatt zur Einführung abendländischer Kultur in Österreich“. Loos wollte darin nicht Architektur vermitteln, sondern eine kulturelle Haltung, die sich auf alle Lebensbereiche erstreckte. Das Blatt, das 1903 als Beilage zur Zeitschrift „Kunst“ erschien, erlebte wohl auch aus diesem Grund nur zwei Auflagen. Wer von Architektur in erster Linie schöne Formen erwartete, wurde von Loos nur schlecht bedient.

Umso größer war seine Fähigkeit, Architektur als Erlebnis zu vermitteln. In der Beantwortung einer Rundfrage aus dem Jahr 1907 nach dem schönsten Wiener Innenraum nennt Loos den Stephansdom: „Sage ich damit etwas Altes? Umso besser. Man kann es nicht oft genug sagen: Wir haben den weihevollsten Kirchenraum der Welt. Das ist kein totes Inventarstück, das wir von unseren Vätern übernommen haben. Dieser Raum erzählt uns unsere Geschichte. Alle Generationen haben daran mitgearbeitet. Dann aber strömt dieser Raum auf einen ein, daß man . . . Ich sehe, ich kann mich nicht ausdrücken, wie er wirkt. Aber vielleicht beobachte jeder das Gefühl, das ihn erfaßt hat, wenn er nach dem Durchschreiten die Straße betritt. Es ist stärker als nach der Fünften von Beethoven. Die dauert eine halbe Stunde. St. Stephan braucht dazu eine halbe Minute.“

Im selben Text nennt Loos auch das schönste Palais: das Stadtpalais Lichtenstein in der Bankgasse („ganz unwienerisch, nicht in dem kleinlichen Wiener Barockstil“); das schönste neue Gebäude: das Geschäfts- und Wohnhaus Ecke Himmelpfortgasse/Kärntnerstraße von Johann Walland, heute ein Anhängsel von David Chipperfields Peek-und-Cloppenburg-Palast („bescheiden, ruhig, vornehm. Dieses Haus wird nicht in den Kunstzeitungen abgebildet werden, man hält es nicht für künstlerisch genug. Und das, was die Leute modern nennen, also ordinär, ist es auch nicht.“); und schließlich auch das schönste sterbende Gebäude: das wenige Jahre später, 1913 abgerissene Kriegsministerium am Platz am Hof, in dessen Nachfolgebau heute das Park Hyatt Hotel eingezogen ist („Jeder weiß, dass es bald fallen wird, aber keine Hand erhebt sich, diesem Frevel Einhalt zu tun. Nun gut, so fangt euch den Hof jetzt noch mit Blicken ein, damit Ihr ihn im Herzen aufbewahren könnt. Dieses Gebäude gibt den Grundakkord für den Platz. Ohne dieses Gebäude gibt es keinen Platz am Hof mehr.“)

Die Architekturtage, die an diesem Wochenende wie alle zwei Jahre in ganz Österreich stattfinden, haben sich heuer mit dem Motto „Wert/Haltung“ ein sperriges Thema gegeben, das in dieser Tradition der Architekturkritik steht und nach den Wertvorstellungen fragt, die in der Architektur bei jedem Projekt zum Vorschein kommen. Reden wir nur von Funktionen, Kosten und Sachzwängen? Oder auch von Nachhaltigkeit, von Innovation und von Schönheit? Haben wir Respekt vor kreativen Leistungen, oder reicht uns das Mittelmaß?

Loos' „Wohnungswanderungen“ neu

Die Architekturtage, die von der Bundeskammer und den Länderkammern der Architekten und Ingenieurkonsulenten und der Architekturstiftung Österreich veranstaltet werden, bieten eine Gelegenheit, sich mit diesen Fragen zu befassen, und zwar nicht nur abstrakt, sondern vor allem konkret am gebauten Objekt. So weit wie möglich sind – im Rahmen des Veranstaltungsformats „Zu Gast bei . . .“ – auch Bauherren und Architekten der Projekte vor Ort. Selbst das hat Adolf Loos schon vor hundert Jahren vorgemacht: Er veranstaltete regelmäßig „Wohnungswanderungen“, bei denen er Interessierte durch von ihm gestaltete Wohnungen führte.

Das umfangreiche Programm der Architekturtage wird von den Vermittlungsinstitutionen in den Bundesländern getragen, wobei in Wien die Österreichische Gesellschaft für Architektur und das Architekturzentrum kooperieren. Exemplarisch zum Thema „Wert/Haltung“ passt ein Programmpunkt, den das Haus der Architektur in Graz anbietet: eine Führung durch das Haus Albrecher-Leskoschek, 1937 vom Architekten Herbert Eichholzer im Stil der internationalen Moderne entworfen. Wäre es noch im Originalzustand, hätte man es mit einem für Österreich seltenen Beispiel für diesen Stil, der nie einer sein wollte, zu tun, einem Haus, dessen Qualität nahe an das Landhaus Gamerith am Attersee von Ernst Plischke heranreicht. Im Unterschied zu Plischkes Meisterwerk, das als eingeschoßiges Ferienhaus eine größere Leichtigkeit hat, ist das Haus Albrecher-Leskoschek vom Format her eine bürgerliche Villa mit Wohn- und Schlafgeschoß. Sie scheint über dem Hang zu schweben, auf Stützen, die eine umlaufende Terrasse tragen. Von einem leichten Vordach geschützt, ist sie ein regengeschützter Wohnraum im Freien.

Der Zugang erfolgt nordseitig über einen kleinen Vorraum und eine Garderobe, von der zwei Stufen in eine Wohndiele hinunterführen, an die wieder eine Stufe tiefer der Wohn- und Essbereich anschließt. Die Möblierung ist in der Wohndiele funktionalistisch reduziert, während sie sich im Wohnbereich eher an Josef Frank orientiert, dessen Stoffe Eichholzer hier auch einsetzt. Alles an diesem Haus erzählt von der Hoffnung auf eine neue Zeit, in der Sigfried Giedion „befreites Wohnen“ propagierte und Frank überhaupt die Devise ausgab: „Modern ist, was uns vollkommene Freiheit gibt.“

Dass wir heute überhaupt über diese Urfassung des Hauses sprechen können, ist einem hervorragenden Buch zu verdanken, mit dem das Autorenteam Heimo Halbrainer, Eva Klein und Antje Senarclens de Grancy dem Haus ein Denkmal gesetzt haben. Der Urzustand ist nach zahlreichen Umbauten und Erweiterungen heute nämlich höchstens zu erahnen. Auch das wundersame Wandgemälde von Axl Leskoschek, eine „Allegorie der Freunde“, das im Buch detailreich in seiner Symbolik beschrieben wird, ist unrettbar hinter einer dicken Schicht roter Farbe verschwunden. Nur anhand des Buchs kann man heute erkennen, dass dieses „sterbende Gebäude“, das bald einer Erweiterung des Landeskrankenhauses Graz weichen wird, mehr ist als ein beliebiges Stadtrandhäuschen.

Für seinen Architekten Herbert Eichholzer war die internationale Moderne mehr als ein Stil. Als Mitglied der kommunistischen Partei engagierte er sich, unter anderem mit Grete Schütte-Lihotzky, im Widerstand gegen das NS-Regime. 1941 an die Gestapo verraten, wurde er 1942 in Wien hingerichtet.

Spectrum, Sa., 2016.06.04

28. Mai 2016Christian Kühn
Spectrum

Eine Front findet sich immer

Alle zwei Jahre versammelt sich die Architekturszene zur Positionsbestimmung in Venedig. Diesmal ist sie gerade noch nicht unter die Räder der guten Absichten geraten.

Alle zwei Jahre versammelt sich die Architekturszene zur Positionsbestimmung in Venedig. Diesmal ist sie gerade noch nicht unter die Räder der guten Absichten geraten.

„Less aesthetics, more ethics“, so betitelte Massimiliano Fuksas die von ihm im Millenniumsjahr 2000 kuratierte Architekturbiennale. Wer erinnert sich noch an die lange Flucht von Projektionen in den Räumen des Arsenale, in denen Fuksas ein Weltpanorama der Architektur aufrollte? Als Labor über die „planetare Dimension“ aktueller Probleme im Spannungsfeld von Umwelt, Gesellschaft und Technologie gedacht, scheiterte diese Biennale in der Umsetzung. Die Bilderflut überrollte die Besucher, ohne dass sich die Konturen einer Alternative zum laufenden Betrieb erkennen ließen. Ähnlich erging es wenig später Richard Burdett, der sich bei der Biennale 2006 zwar nicht auf den ganzen Planeten, aber immerhin auf dessen urbanisierten Teil konzentrierte.

Heuer sucht Alejandro Aravena als Direktor der aktuellen Architekturbiennale einen anderen Zugang zum Thema. Am Planeten interessiert ihn nicht mehr die weltumspannende, gemeinsame Oberfläche, sondern die Grenzlinie in ihrer radikalsten Form, der Front. Mit dem Titel „Reporting from the Front“ stellt Aravena die heurige Biennale unter ein Motto, das leicht missverstanden werden kann. Die Front markiert die umkämpfte Grenze zwischen Freund und Feind, zwischen Eigenem und Fremden. Vor ein paar Jahren hätte das aus europäischer Perspektive nach einem exotischen Thema über Frontlinien in Kriegsgebieten ferner Länder geklungen. Heute dominieren diese Themen die europäische Politik.

Aravenas Vorstellung von „Front“ geht jedoch weit über diese Kriegsrhetorik hinaus. In seiner Beschreibung des Themas klingt die Vorstellung einer neuen Avantgarde der Architektur an, die unter den Bedingungen des Ausnahmezustands mit frischen Ideen ans Werk geht. Die Biennale möchte Ansätze präsentieren, von denen man lernen könne, „trotz knapper Ressourcen zu intensivieren, was verfügbar ist, statt über den Mangel zu klagen“. Es gehe um „Werkzeuge, mit denen sich die Kräfte, die das ,Ich‘ über das ,Wir‘ stellen, subversiv umgehen lassen“, und um Fallbeispiele, die unter widrigen Umständen weiterhin „die Mission der Architektur verfolgen, das Mysterium der ,conditio humana‘ zu durchdringen.“ Ziel sei ein Verständnis zu wecken für „Design als Mehrwert statt als zusätzlicher Kostenfaktor“.

So viel heroisches Pathos hat es seit Langem nicht mehr im Architekturdiskurs gegeben. Dass Avarena für diese Art von Engagement heuer mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde, beweist, dass die Zeit dafür reif war, 15 Jahre, nachdem Fuksas die Formel „Less aesthetics, more ethics“ zur Diskussion gestellt hat. Aravena geht es in erster Linie um konkrete Aktionen, was sich auch in der Beschriftungen der Arbeiten in den beiden von ihm direkt kuratierten Ausstellungen im Hauptpavillon und im Arsenale widerspiegelt. Sie beginnen jeweils mit „The work of . . . in . . .“, wobei damit nicht das Werk im Sinn eines Objekts gemeint ist, sondern das Arbeiten an einem konkreten Ort. Konsequenterweise zeigt Aravena fast ausschließlich realisierte Projekte und keine Utopien, und nicht immer sind Architekten die Hauptakteure, so etwa bei „The work of EFM (Public Companies of Medellin) and the mayor's office to change the fate of the city“.

In Summe ist Aravena eine Weltausstellung einer anderen Architektur gelungen, nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht doktrinär nur akute Krisenintervention als Notlösungen zeigt, sondern auch Arbeiten – oder genauer Arbeit –, die auf Dauerhaftigkeit und höchste Qualität setzen. Es ist symptomatisch, dass ein eigener Raum Renzo Piano gewidmet ist, einem Architekten, der neben Großprojekten immer auch Ad-hoc-Architekturen entwickelte, beides auf höchstem Niveau. Aus Österreich überrascht im Arsenale „The work of Marte.Marte in Vorarlberg“, das hier an der Frontlinie zwischen Natur und Architektur präsentiert wird.

Unter den Länderpavillons widmen sich Deutschland und Österreich den Themen Flucht und Migration. Der deutsche Pavillon präsentiert sich als unmissverständliches Bekenntnis zu Deutschland als Einwanderungsland. Nur in einem Raum geht es um die akute Flüchtlingskrise, alle anderen widmen sich der Frage, wie Deutschland zur Heimat für die neu Ankommenden werden kann. Ausgehendvon Thesen aus Doug Saunders' Buch „The Arrival City“, werden die urbanen, architektonischen und sozialen Anforderungen an die Stadt unter Migrationsbedingungen ausgelotet. Das Bekenntnis zur Offenheit drückt sich auch im Raum aus: Mehrere großformatig in die Außenwände gebrochene Durchgänge lassen Wind und Regen in den Pavillon, bieten aber auch neue, lohnende Ausblicke.

Der österreichische, von Elke Delugan mit Liquid Frontiers kuratierte Beitrag setzt vor den Pavillon ein irritierendes Element: eine scheinbar schwebende Stahlbetonplatte, die man als einladenden Gabentisch, aber auch als massiven Grenzbalken interpretieren kann, wobei Letzteres wohl die Mehrheitsposition zur Immigrationsfrage in Österreich (und Deutschland) symbolisiert. Hinter diesem Balken findet sich die Dokumentation von drei noch laufenden Projekten in Wien, die Caramel, EOOS und Next Enterprise mit Flüchtlingen und für Flüchtlinge in Wien erarbeitet haben. Räumlich wurde Heimo Zobernigs Installation von der jüngsten Kunstbiennale beibehalten und nur um einen großen Tisch mit Materialien und Videos ergänzt. Davor, im Eingangsraum, finden die Besucher Stapel großformatiger Poster mit Fotos von Flüchtlingen zur freien Entnahme. Wenn diese Installation als Entlarvung zu leicht gemachter Anteilnahme gedacht war, ist sie jedenfalls gelungen. Hauptprodukt der Ausstellung ist aber eine gut aufgemachte, großformatige Zeitung, die einem internationalen Publikum nicht nur die drei direkt im Rahmender Biennale entstandenen Projekte, sondern so gut wie alle relevanten Initiativen zum Thema in Österreich vorstellt.

Unter den übrigen Länderpavillons sticht der Schweizer Pavillon mit Christian Kerez' Beitrag hervor, der von Arbeit an einer ganz anderen Front berichtet. Kerez, der auch im Hauptpavillon mit einem Rechercheprojekt über eine Favela in São Paulo vertreten ist, installiert hier ein raumgreifendes, in den Dachstuhl ragendes Objekt, eine weich-amorphe Form mit grottenartigem begehbarem Innenraum. Das Objekt repräsentiert einen Nullpunkt der Architektur, ohne Bindungen sozialer, funktionaler oder inhaltlicher Art, durch Beobachtung von Zufall entworfen und mit enormem technischem Aufwand umgesetzt. Es ist das Weltwunder dieser Biennale, ein rätselhaftes Ding in einer Welt ohne Rätsel.

Spectrum, Sa., 2016.05.28

07. Mai 2016Christian Kühn
Spectrum

Meint ihr das ernst?

Die Pläne für die Bebauung am Wiener Eislaufverein gehen in die nächste Runde. Der städtische Fachbeirat für Stadtplanung und die Unesco geben in den kommenden Wochen ihre Empfehlungen ab. Wie wird der Gemeinderat im Herbst mit dem Projekt verfahren?

Die Pläne für die Bebauung am Wiener Eislaufverein gehen in die nächste Runde. Der städtische Fachbeirat für Stadtplanung und die Unesco geben in den kommenden Wochen ihre Empfehlungen ab. Wie wird der Gemeinderat im Herbst mit dem Projekt verfahren?

Du sollst Dir kein Ortsbild machen“: Kein Geringerer als Friedrich Achleitner hat dieses Gebot vor Jahren verkündet. Städte und Dörfer verändern sich, manchmal langsam und behutsam, manchmal in plötzlichen Schüben, die kaum einen Stein auf dem anderen lassen. Die Fixierung auf ein Bild, das für die „gute alte Zeit“ steht, ist ein schlechter Ratgeber, wenn es darum geht, gute Veränderungen von schlechten zu unterscheiden. Trotzdem besteht die Stadt auch aus Bildern, die im kollektiven Gedächtnis haften bleiben. Der Blick vom Oberen Belvedere auf Wien gehört zu diesen besonderen Eindrücken: der barocke Garten mit dem Unteren Belvedere als Abschluss; dahinter eine gestaffelte Dachlandschaft, die überwiegend auf das 19. Jahrhundert zurückgeht; der Nordturm der Stephanskirche und die Hügel des Wienerwalds.

In dieses Bild haben sich in den letzten Jahrzehnten neue Elemente geschoben, die teilweise deutlich aus der alten Dachlandschaft herausragen. Dazu gehören die beiden großvolumigen Hotels am Stadtpark, das InterContinental und das Hilton, die Hochhäuser im Bereich von Wien-Mitte und am Donaukanal, mit dem Media-Tower und dem Sofitel als markantesten Objekten. Diese Hochpunkte bilden eine lose Kette, die annähernd konzentrisch zum östlichen Abschnitt der Ringstraße verläuft.

Was spricht dagegen, eines dieser Objekte, das Hotel InterContinental, um drei Etagen aufzustocken und ihm einen Turm an die Seite zu stellen, der mit 73 Metern gleich hoch wäre wie der Ringturm, ein Bauwerk aus den 1950er-Jahren am anderen Ende der Innenstadt? Wer unvoreingenommenen Besuchern eine entsprechende Visualisierung des Blicks auf die Innenstadt vom Oberen Belvedere aus vorlegt, bekommt darauf eine spontane und einfache Antwort: Dieser Blick ist ruiniert. Niemand würde auf die Idee kommen, neben die Karlskirche einen Getreidesilo zu stellen oder vor das Parlament ein Hochregallager. Warum geht das hier? Warum ein Hochhaus, das wie ein Gespenst aus den 1950er-Jahren aussieht? Warum eineScheibe, die als Karikatur der rationalistischen Häuserzeilen Ludwig Hilberseimers aus den 1930er-Jahren durchgehen könnte? Als Idee hat das vielleicht einen surrealistischen Witz. Aber ist das, so fragen die Besucher ungläubig, wirklich euer Ernst?

Ein spontanes ästhetisches Urteil reicht freilich nicht aus, um eine gute Veränderung von einer schlechten unterscheiden zu können. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Zeitgenossen sich irren und ein zuerst umstrittenes Bauwerk später als Bereicherung empfunden wird, wie etwa der Eiffelturm oder der Torre Velasca in Mailand. Das liegt allerdings nicht an gutem Marketing, sondern ist in den Objekten selbst angelegt. Was bietet das aktuelle Wiener Projekt in dieser Hinsicht? Konstruktiv und formal ist es eine Banalität, wie sie tausendfach auf der Welt vorkommt. Ein Wahrzeichen entsteht hier sicher nicht. Aber ist es nicht trotzdem eine Verbesserung des heutigen Zustands, an einem Ort, der Besseres verdient hat? Der Ort ist tatsächlich ein besonderer. Welche Stadt leistet es sich sonst noch, mitten im Zentrum einen Eislaufplatz zu betreiben? Und zwar nicht als Verlegenheitsnutzung, sondern als Teil des Ringstraßenkonzepts, das zwischen dem Stadtpark zum Flanieren und den Kulturbauten von Konzerthaus und Akademietheater eine Fläche für Sport vorsah. Seit 1897gibt es hier den Wiener Eislaufverein, seit 1900mit eigenen, von Ludwig Baumann entworfenen historistischen Gebäuden, die nach dem Zweiten Weltkrieg dem Hotel InterContintal weichen mussten. Der Eislaufverein ist seither in Gebäuden im Stil des Nachkriegsfunktionalismus untergebracht, die wie das Hotel eine Sanierung verdienen. Dafür fehlt dem Verein allerdings das Geld: Sein Kapital ist das im Grundbuch bis 2058 gesicherte Recht auf eine Eislauffläche im Ausmaß von 6000 Quadratmetern.

Dass die Betreiber des aktuellen Projekts zuerst das Hotel und dann, zum sensationell niedrigen Preis von knapp fünf Millionen Euro, auch das Areal des Eislaufvereins erwerben konnten, wurde allgemein als gutes Zeichen gesehen. Die Kombination der beiden Flächen hat viel Potenzial: eine Erweiterung des Hotels um Konferenzräume, eine verbesserte Durchwegung zwischen erstem und drittem Bezirk, die Schaffungeines kleinen, seitlichen Vorplatzes für das Konzerthaus, der im Sommer um die Eisfläche zu einem großen Platz werden könnte. Die Randbereiche des Grundstücks ermöglichen die Errichtung hochwertiger Wohnungen und Büros.

Das aktuelle Projekt geht über diese bescheidene Vision hinaus. Es sieht einen dreigeschoßigen Sockel für Konferenzräume und Geschäftslokale vor, auf dem sich ein Wohnturm mit 18 Geschoßen erhebt. Voraussetzung dafür ist ein gewagtes Manöver zur Einverleibung eines bisher öffentlichen Grundes. Um dem Turm Platz zu machen, wird die Eislauffläche um 90 Grad gedreht und ragt damit in die Lothringerstraße hinein, deren Fahrspuren dafür verlegt werden. Dass Passanten im Winter auf die Bande der Eislauffläche auflaufen werden, ist nur ein Problem. Das andere ist, dass die Eisfläche auf Höhe der Lothringerstraße liegen muss und nicht mehr, etwas abgesenkt, als Vorplatz vor dem Konzerthaus fungieren kann.

Für die Betreiber lohnt sich der Aufwand jedenfalls. Ihren Beteuerungen, an diesem Projekt kaum zu verdienen, lässt sich eine einfache Rechnung entgegenhalten. Ein Durchschnittspreis von 12.000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche ist realistisch angesichts einer Lage, die in den obersten Geschoßen reihum Blick auf die Stephanskirche, den Stadtpark, das Belvedere und die Karlskirche bietet und damit nicht mit Dachböden im ersten Bezirk, sondern mit Top-Lagen in New York und London konkurriert. Bei Baukosten von geschätzten 2000 Euro proQuadratmeter, 500 Quadratmeter Wohnfläche und 18 Geschoßen bliebe eine Differenz von 90 Millionen Euro, von der rund 20 Millionen für Straßenverlegung, Grundstückskosten, Projektentwicklung und für „Geschenke“ an die Öffentlichkeit wie etwa ein unterirdischer Turnsaal abzuziehen sind. Dass den Betreibern bei einem derartigen, durchaus riskanten Projekt ein hoher Gewinn bleiben soll, lässt sich nachvollziehen. Dass angesichts dieser Spanne kein besseres Projekt entstehen kann, aber nicht.

Die Unesco, die beobachten muss, ob die Republik die Verpflichtungen einhält, die mit dem Welterbe-Status der Inneren Stadt Wiens verbunden sind, hat dem Projekt seit 2012, als die ersten Ideen für eine massive Verbauung präsentiert wurden, konsequent die rote Karte gezeigt. Die Stadt Wien hat das Projekt nie fachlich verteidigt, sondern mit dem Hinweis auf die zahlreichen Experten, die ihm als Mitglieder in kooperativen Verfahren und als Juroren in Architekturwettbewerben ihren Segen gegeben hätten. Dass in diesen Verfahren das von den Betreibern geforderte Volumen an hochpreisigem Wohnraum nie zur Diskussion stand, wird dabei dezent verschwiegen.

Wien sollte die Unesco nicht brauchen, um seine öffentlichen Interessen zu wahren. Eine rot-grüne Regierung, die nicht dazu imstande ist, privates Kapital in verträglichere Bahnen zu lenken, hat sich von ihren Wählern verabschiedet.

Spectrum, Sa., 2016.05.07

09. April 2016Christian Kühn
Spectrum

Wie baut man eine Stadt?

Wohnen am Helmut-Zilk-Park in Wien-Favoriten: Die ÖBB wagen den Sprung von der Liegenschaftsverwertung zum Städtebau. Ein Bericht zum aktuellen Stand.

Wohnen am Helmut-Zilk-Park in Wien-Favoriten: Die ÖBB wagen den Sprung von der Liegenschaftsverwertung zum Städtebau. Ein Bericht zum aktuellen Stand.

Mit rund 25000 Liegenschaften sind die Österreichischen Bundesbahnen einer der größten Immobilieneigentümer Österreichs. Einfluss auf Städtebau und Architektur üben die ÖBB überall dort aus, wo sie Flächen, die nicht mehr für den Bahnbetrieb benötigt werden, für andere Nutzungen freigeben. Allein in Wien gehören dazu zwei der wichtigsten Stadtentwicklungsgebiete: einerseits die benachbarten Areale des ehemaligen Nord- und Nordwestbahnhofs, andererseits das Gebiet um den neuen Hauptbahnhof. Hier entstehen Stadtquartiere, die weit über ihre engeren Grenzen hinaus wirken.

Die Bebauung des Areals um den neuen Hauptbahnhof ist inzwischen zu knapp zwei Dritteln abgeschlossen. Der Masterplan dafür stammt aus dem Jahr 2004 und geht auf die Architekten Albert Wimmer, Theo Hotz und Ernst Hoffmann, den Planer des Regierungsviertels in St. Pölten, zurück. Dieser Plan sieht am Wiedner Gürtel ein Quartier mit hauptsächlicher Büronutzung vor, das von der Bahntrasse diagonal durchschnitten wird. Hier sollte eine Mischung aus Blockrandbebauung und Hochhäusern entstehen. Die Hochhäuser gibt es, den Blockrand nur in Ansätzen. Am spektakulärsten und erfolgreichsten ignoriert wurde er vom Erste Campus, der sich für seine geschwungenen, offenen Formen einen neuen Bebauungsplan bewilligen ließ.

Südöstlich des Bahnhofs schließt ein gemischtes Baugebiet mit Schwerpunkt Wohnen an, in dessen Mitte ein nach Helmut Zilk benannter Park liegt, ein lang gestrecktes Dreieck parallel zu der in Hochlage geführten Bahntrasse. Im Westen dieses Parks sah der Plan eine Blockrandbebauung vor, die sich als Fortsetzung der Bebauungsstruktur des angrenzenden Gründerzeitviertels versteht. Allerdings fallen die Blöcke hier doppelt so groß aus als ihre historischen Vorbilder. In der Umsetzung ist es nur in Teilbereichen gelungen, diese Dimension auf ein erträgliches Maß herunterzuschrauben. Für den Streifen Bauland, der sich zwischen der Ostkante des Parks und der Bahntrasse befindet, war eine eigenwillige Struktur geplant, eine Art städtebauliche Tatzelwurm mit zentralem Erschließungsboulevard und beidseitig angedockten u-förmigen Höfen, auf der Seite zur Bahntrasse vor allem für gewerbliche Nutzung.

Als die ÖBB 2012 an die Verwertung dieses Bereichs gingen, war bald klar, dass der Plan massive Schwächen hatte. Der Boulevard in der Breite der Favoritenstraße ohne markanten Anfangs- oder Endpunkt wäre vorallem Verkehrsträger geblieben; der schematische Zuschnitt der Baublöcke hätte kaumAbwechslung in den Stadtraum gebracht; undschließlich gab es Zweifel an der Vermarktbarkeit der vorgesehenen Gewerbeflächen. Auf Anregung der Stadt Wien entschlossen sich die ÖBB, ein sogenanntes „kooperatives Verfahren“ für eine Überarbeitung dieses Plans durchzuführen. Im Unterschied zum städtebaulichen Ideenwettbewerb, bei dem mehrere Planer parallel und ohne die Arbeit der Mitbewerber zu kennen eine Idee entwickeln, wird im kooperativen Verfahren offen gearbeitet. Die Teilnehmer treffen sich, diskutieren ihre Ansätze und übernehmen Ideen voneinander. Manchmal dauert ein solches Verfahren nur wenige, intensiv genutzte Tage. Bei komplexeren Aufgaben wechseln sich kurze Workshops mit Ausarbeitungsphasen ab, wobei dieser Prozess bis zu sechs Monate dauern kann. Im Unterschied zum Wettbewerb, bei dem am Ende konkurrierende Konzepte stehen, ist dieses Ergebnis beim kooperativen Verfahren nur eine Option. Im Extremfall gibt es hier nur ein einziges, von allen Teilnehmern getragenes Resultat.

Im konkreten Fall handelte es sich um eines der ersten Verfahren dieses Typs in Wien. Sechs Architektenteams waren eingeladen, die sich erst darauf einstellen mussten, nicht mehr in Konkurrenz zu arbeiten. Als sich auch nach mehreren Anläufen die Zahl konkurrierender Ideen nur von sechs auf fünf reduziert hatte, beschlossen die Teilnehmer, ihre Konzepte zu überlagern. Das Ergebnis war ein dichtes Liniengeflecht, aus dem man die wesentlichen Elemente herausschälte: Der Boulevard wird weitgehend vom motorisierten Verkehr befreit, der an die Bahntrasse verlegt ist; aus dem monotonen Straßenraum entsteht eine differenzierte Abfolge von Stadträumen mit vielen Abzweigungen und Durchblicken zum Park; die Baublöcke sind kleiner und reagieren auf das Achsensystem des angrenzenden Stadtviertels. Die Brücke für Fußgänger und Radfahrer, die über die Bahn zum Arsenal führt, endet nicht mehr an einer Engstelle, sondern an einem Platz, der sich zum Park hin öffnet. Für die Erdgeschoßzonen wird eine Raumhöhe von vier Metern vorgegeben, um überall gewerbliche Nutzungen zu ermöglichen.

Die Hoffnung, dass hier ein lebendiger Stadtteil entstehen wird, ruht aber nicht nur auf einem besseren Stadtgrundriss. Max Rieder, einer der Architekten im kooperativen Verfahren, begleitete das Projekt auch im nächsten Schritt, nämlich der Suche nach den richtigen Bauträgern. Hier gingen die ÖBB in Abstimmung mit der Stadt neue Wege. Von den 34 Bauplätzen wurden 17 an den Meistbietenden verkauft, 17 zu einem Fixpreis im Qualitätswettbewerb. Vier davon gingen an Baugruppen, der Rest an Bewerber, die neben einem architektonischen Konzept auch einen Betreiber für die Erdgeschoßzonen vorweisen mussten. Diese sogenannten Quartiershäuser sind über das Viertel verteilt und sollen von Anfang für Urbanität sorgen, also für die richtige Kombination von Dichte, Differenz und Theatralik. Für die Vergabe der Quartiershäuser gibt es zweistufige Verfahren, bei denen ein von den ÖBB installierter Quartiersentwicklungsbeirat unter dem Vorsitz von Max Rieder die Auswahl der Projekte vornimmt. Als Planer zum Zug kam hier eine neue Generation von Büros, die offen für Kooperationen ist, unter anderem Einszueins, Feld72, StudioVlay und Franz Architekten. Sozialen Wohnbau im engeren Sinne gibt es nur auf zwei Randparzellen an der Nord- und an der Südspitze des Areals, dort geplant von asap.

Das alles klingt aufwendig und ist es auch, wobei der Aufwand weniger finanziell als organisatorisch ins Gewicht fällt. In einem viel beachteten Vortrag beim letzten „Turn On“-Festival (bit.ly/1RFBoZf) erläuterte Max Rieder, warum dieser Aufwand nötig ist, um aus dem Elend der heutigen Stadtplanung herauszukommen, die zwischen schön Reden und schön Zeichnen nicht zum Eigentlichen kommt.

Spectrum, Sa., 2016.04.09

12. März 2016Christian Kühn
Spectrum

„We make the world“

Wenn Architektinnen und Architekten die Welt erklären: so geschehen kürzlich in Wien, beim Architekturfestival „Turn On“. Einblicke und Ausblicke im Rückblick.

Wenn Architektinnen und Architekten die Welt erklären: so geschehen kürzlich in Wien, beim Architekturfestival „Turn On“. Einblicke und Ausblicke im Rückblick.

Das Architekturfestival Turn On, das Ende letzter Woche seine 14. Auflage erlebte, hat ein einfaches Prinzip: Menschen stellen sich auf die Bühne des Radiokulturhauses in der Wiener Argentinierstraße und sprechen über Häuser, Gärten oder Stadtquartiere. In den ersten Jahren des Festivals waren diese Menschen ausnahmslos Architektinnen und Architekten, die ihre Projekte präsentierten.

Über die Jahre hat sich das Festival ausgedehnt, aus einem in den Abend verlängerten Nachmittag mit einem knappen Dutzend Vorträgen wurde ein Dreitagesprogramm, das von Donnerstag bis Samstag dauert. An den ersten beiden Tagen teilen sich die Architekten die Bühne mit anderen Menschen, die für das Gelingen von Architektur wichtig sind: Bauträgern, Baufirmen, Fachplanern und Vertretern der Bauindustrie, die neue Technologien in konkreten Anwendungen vorstellen.

Gemeinsam mit den Architekten berichten sie darüber, wie anspruchsvoll und komplex das Planen und Bauen geworden ist. Architektur zu produzieren gleicht heute einem Staffellauf mit zahlreichen Beteiligten, bei dem ständig mehr Hürden zu überspringen sind. Diese Vorträge geben einen faszinierenden Einblick in technische und organisatorische Innovationen, die heute für die Architekturentwicklung bestimmend sind. Der Blick aufs Ganze geht in diesem Wettrennen um immer mehr Effizienz freilich etwas verloren.

Der letzte Tag von Turn On gehört daher nach wie vor dem klassischen Werkvortrag: Architekten sprechen über Dinge, die sie sich ausgedacht haben. Da wird es oft persönlich, und die Persönlichkeit der Architekten spiegelt sich im Charakter der Gebäude wider, die sie vorstellen. Gute Architekten sind in der Regel keine „flexiblen Menschen“, zumindest nicht in dem Sinn, mit dem dieser Begriff als deutsche Übersetzung in Richard Sennetts Buch „The Corrosion of Character“ verwendet wurde. Sennett vertritt darin die These, dass es im heutigen Wirtschaftsleben schädlich ist, Charakter zu haben, also sich zu sehr mit der Sache zu identifizieren, an der man arbeitet.

Die Architekten, die bei Turn On vortragen, gehen dieses Risiko ein. Sie identifizieren sich zu 100 Prozent mit der Sache Architektur, und das macht die Faszination dieser Vorträge aus, deren Gegenstand man sich ja genauso gut aus Zeitschriften oder noch besser aus dem Besuch vor Ort erschließen könnte. Wie weit die Identifikation der Vortragenden mit ihrem Werk reicht, erfährt man aber am besten im persönlichen Vortrag. Der Übergang von der Identifikation zur Obsession ist dabei fließend. Rem Koolhaas vermutet ja – in Anlehnung an die kritisch-paranoide Methode von Salvador Dalí –in jedem Architekten den Paranoiker, der eine andere Welt als die aktuell reale imaginiert. Der Unterschied zum echten Paranoiden bestehe nur darin, dass dieser wirklich verrückt sei.

Und so könnte auch der eigenwilligste Satz, der bei den Vorträgen letzte Woche gesagt wurde, als Zeichen einer solchen Paranoia aufgefasst werden. Fast beiläufig wies die irische Architektin Yvonne Farrell in ihrem Vortrag darauf hin, dass die Welt, in der wir leben, zum größten Teil ein entworfenes Ding ist: „This profession is so important. We make the world.“ So deutlich hat das schon lange niemand mehr auszusprechen gewagt. Kann dieser Satz ernst gemeint sein? Oder ist er vermessen in einer Zeit, in der das Ende des Autors weitgehend akzeptiert ist und die Autopoiesis der Architektur als Zukunftsmodell diskutiert wird?

Yvonne Farrell ist zuzutrauen, dass sie diesen Satz ernst meint. Sie führt mit ihrer Partnerin Shelley McNamara ein Architekturbüro in Dublin, Grafton Architects, das 1978 gegründet wurde und spätestens seit 2008 mit der Fertigstellung der Università Luigi Bocconi in Mailand weltberühmt ist. Soeben wurde die erste Baustufe eines weiteren Universitätsgebäudes eröffnet, eine technische Universität in Lima, Peru, derFarrell den Großteil ihres Vortrags widmete. An einem exponierten Standort neben einer Stadtautobahn gelegen, übernimmt das Projekt die Typologie einer Stadiontribüne, die als Rahmen für gestaffelte Vortragssäle und Büroetagen genutzt wird. Der Raum unter diesen Nutzflächen wird zu einer Begegnungszone, die atmosphärisch dem Raum unter den Tribünen gleicht. Inspirationsquelle sind dabei vor allem die Stadien des brasilianischen Architekten Paulo Mendes da Rocha. Die Gegenüberstellung dieser Vorbilder mit den eigenen Projekten in großen Modellen, die Grafton Architects bei der Architekturbiennale des Jahres 2012 präsentierten, gehörte damals zu den besten Beiträgen.

Monumentalität, vermittelt über Raum, Material und Licht, ist das Thema dieser Architektur. Allerdings wirken diese Monumente nicht schwer. Sie sind mit hoher konstruktiver Eleganz lufthaltig und manchmal schwebend ausgeführt. Farrell sieht Architektur als künstliche Landschaft, die für die meisten Menschen die Natur abgelöst hat. Vor diesem Hintergrund bekommt die Aussage „We make the world“ eine radikalere Bedeutung. Wir bauen nicht mehr in der Welt – wir bauen die Welt, mit der Option, siezu zerstören.

An diesen Aspekt erinnerte ein anderer Vortrag bei Turn On, der dramaturgisch klug vor Yvonne Farrells Präsentation angesetzt war. Die Architektin Anna Heringer berichtete über aktuelle Projekte, darunter drei Häuser für eine Jugendherberge in China, die im Rahmen der Bambus-Biennale im Dorf Baoxi entstanden. Die drei Rundhäuser sind von Formen inspiriert, wie sie beim spielerischen Arbeiten an der Töpferscheibe entstehen. Diese Formen in Bambus zu übersetzen führt zu überraschend schlüssigen Konstruktionen, in denen das Material seine Stärken ausspielen kann.

Für Anna Heringer, die erstmals 2005 mit einer unter anderem mit dem Aga Khan Award ausgezeichneten Schule aus Stampflehm in Bangladesch internationale Aufmerksamkeit erregte, kann Architektur nur dann nachhaltig sein, wenn sie zugleich als schön empfunden wird. Nachhaltigkeit bedeute aber auch, dass jedes Projekt darauf geprüft werden müsse, ob es als Vorbild für die sieben Milliarden Menschen, die sich die Welt derzeit teilen, dienen kann.

Diese Frage zu stellen ist ein erster Schritt. Welche Disziplin sie ernsthaft beantworten kann, weiß heute noch niemand. Vielleicht bleiben wir beim Begriff Architektur und geben ihm neue, dem Stand der Dinge entsprechende Inhalte.

Spectrum, Sa., 2016.03.12

13. Februar 2016Christian Kühn
Spectrum

Da kommt noch was!

Wenn Architektur Gewohnheiten nicht mehr herausfordern dürfte, gäbe es keine Entwicklung. Eine Antwort auf Peter Reischers Polemik gegen die Stararchitektur von vergangener Woche.

Wenn Architektur Gewohnheiten nicht mehr herausfordern dürfte, gäbe es keine Entwicklung. Eine Antwort auf Peter Reischers Polemik gegen die Stararchitektur von vergangener Woche.

Endlich sagt einer, was die meisten schon lange denken. Auch wenn Peter Reischers vorige Woche im „Spectrum“ unter dem Titel „War das schon alles?“ erschienene Polemik sich vor allem gegen Zaha Hadid richtete, ist klar, wer gemeint ist: die Stararchitekten und ihre Epigonen, die durch „bedenkenlose Ausnutzung einer Masche“ einen „an Kolonialismus erinnernden Architekturexport“ betreiben.

Sie erdreisten sich, nicht nur Häuser zu entwerfen, sondern auch Möbel, Schmuck, Stoffe, Jachten und sogar Kleidung. Wo, so Reischer, bleibt da noch der „soziale Auftrag, der gesellschaftsbildende, kulturelle Input der Architektur“? Stararchitekten gingen über Leichen, wie man an Hadids kalter Reaktion auf die tödlichen Unfälle auf Baustellen für die Fußball-WM in Katar ablesen könne. Solche Sentimentalitäten könne sich nicht leisten, wer meist damit beschäftigt sei, totalitären Staaten „mit Prunkbauten ein legitimistisches Feigenblatt“ zu liefern.

Dabei fehle es dieser Architektur am Wesentlichen, nämlich der „Fassade als bildgebender Metapher für ein Bauwerk“. Worte wie Haus, Kirche oder Moschee „rufen in unserem Gehirn – je nach kulturellem Hintergrund – ein Haus als Kubus mit Satteldach, eine Kirche mit Turm und die Moschee mit Kuppel und Minarett“ auf. Dekonstruktivistische Architektur von Gehry bis Coop Himmelb(l)au sei nicht mehr fähig, Fassaden und damit klare Bilder zu produzieren. „Das – meist sehr verwirrende – Körperhafte überwiegt, das menschliche Auge kann sich kein Bild mehr machen.“ Ästhetischer Kolonialismus, soziale Kälte, ethische Indifferenz und eine endlose Produktion der immer gleichen Bilder mit rein kommerziellen Interessen: Wenn das den Stand der Architektur beschreibt, dann wäre sie – wie Peter Reischer resümiert – tatsächlicham Ende.

Reischers Polemik verdient eine Entgegnung nicht um ihrer selbst willen, dazu ist sie auf zu schwachen Fundamenten gebaut. Architekten, die nicht nur Häuser, sondern auch Stoffe, Möbel und Kleidung entwerfen, sind wohl alles andere als neu in der Architekturgeschichte. Ob sie heute ihre Sache genauso gut oder besser machen als Designer, ist die einzige Frage, die in diesem Zusammenhang interessiert. Bedenkenloses Ausnutzen einer Masche, ästhetischer Kolonialismus?

Ästhetisch betrachtet, war auch die internationale Moderne eine Masche, die bis heute 90 Prozent der globalen Bauproduktion beherrscht. Genau gegen diese Massenproduktion hat sich die Stararchitektur positioniert, teilweise in einer Nische, teilweise mit dem Anspruch, neue Regeln für die 90 Prozent zu finden. Von einer ästhetischen Weltherrschaft dieser Versuche sind wir aber weit entfernt, und selbst wer zur Gruppe der Stararchitekten nur Coop Himmelb(l)au, Hadid, Gehry, Koolhaas und Herzog & De Meuron zählen möchte, ist heute mit einer Spannweite konfrontiert, die in der Architekturgeschichte einzigartig ist. Dass diese Architektur keine Fassade mehr hätte, ist erstens Unsinn und wäre zweitens auch kein Grund, ihr Einprägsamkeit abzusprechen. Auch unsere Wahrnehmung entwickelt sich weiter, und was vor 30 Jahren irritierend war, ist heute zu neuen Typologien geworden, die meist komplexer sind als die klassischen, denen Reischer nachtrauert.

Von Zaha Hadid ist das Bonmot überliefert, mit dem sie einem Journalisten, der an ihrem Sofa „Iceberg“ kritisierte, man könne darauf keine zehn Minuten sitzen, antwortete: „Da müssen Sie noch an Ihrer Sitzhaltung arbeiten.“ Das ist arrogant, aber trotzdemnicht völlig unberechtigt. Wenn Architektur Gewohnheiten nicht mehr herausfordern dürfte, gäbe es keine Entwicklung. Bleibt schließlich der Vorwurf, dass dieser Architektur das soziale Engagement und die ethische Haltung fehlen. An diesem Punkt wird es interessant, denn hier ist Reischers Polemik stellvertretend für einen Trend, Architektur vor allem an ihren guten Absichten zu messen.

Dieser Trend hat heuer auch die Architekturbiennale in Venedig erreicht, deren Direktor Alejandro Aravena das Thema „Reporting from the Front“ ausgegeben hat. Die Biennale möchte Ansätze präsentieren, von denen man lernen könne, „trotz knapper Ressourcen zu intensivieren, was verfügbar ist, statt über den Mangel zu klagen“. Es gehe um „die Werkzeuge, mit denen sich die Kräfte, die das ,Ich‘ über das ,Wir‘ stellen, subversiv umgehen lassen“, und um Fallbeispiele, die unter widrigen Umständen weiterhin „die Mission der Architektur verfolgen, das Mysterium der ,conditio humana‘ zu durchdringen“. So viel heroisches Pathos hat es seit Langem nicht mehr im Architekturdiskurs gegeben. Intelligentes Sparen, das schon bei der Aufgabenstellung ansetzt und nicht erst bei den Details, sollte zur Kernkompetenz guter Architekten gehören. Sich im Umgang mit dem Mangel bereitwillig dem Sparzwang zu unterwerfen kann aber auch jenen in die Hände spielen, denen die Ausplünderung der öffentlichen Haushalte in den Finanzkrisen der letzten Jahrzehnte zu verdanken ist: Standards zu senken, um Wohnraum für das Existenzminimum zu schaffen, ist alles andere als sozial.

Diese Entwicklung könnte tatsächlich zum Ende der Baukultur führen, denn Kultur bedeutet nichts anderes als den Wunsch, Wertvolles zu schaffen. Was genau wir unter „wertvoll“ verstehen, ist eine Aushandlungssache, von der die Entwicklung der Kultur lebt. Wenn aber die Notlösung zum Standard erklärt wird, ist der Wunsch, Wertvolles zu schaffen, an sich in Gefahr. Was übrig bleibt, ist gleichgültiges und gedankenloses Bauen, von dem es auch ohne Krise genug gegeben hat.

Aktuell geht es darum, die Übersicht über die Verhältnisse nicht zu verlieren und den Handel mit guten Gedanken zwischen den Welten diesseits und jenseits der „Front“ zu fördern. Dann wäre der gegenwärtige Wechsel der Aufmerksamkeit der Architekturszene hin zu kleinen, spontanen, partizipativen und temporären Interventionen mehr als nur eine Mode, die nach zwei Jahrzehnten Dominanz der Großarchitektur kommen musste, nämlich eine Erweiterung der Optionen.

Manche Großarchitekten haben dazu schon Vorleistungen erbracht. Herzog & De Meuron planten unter Verzicht auf ihr Honorar im brasilianischen Natal eine Sporthalle im Zentrum des Arbeiterbezirks Mãe Luiza, der vor 40 Jahren noch eine Favela war. Jedes kleinste Detail dieses Projekts hat die Qualität, die man von Stararchitekten erwartet: ein luftiges Satteldach mit runden Einbauten, aus Stahlträgern einfach konstruiert und trotzdem, durch einen simplen geometrischen Kunstgriff, spektakulär aufgelöst. Ohne Zweifel ein besonderer Ort: Warum sollten sich die Bewohner von Mãe Luiza mit weniger zufrieden geben?

Spectrum, Sa., 2016.02.13

16. Januar 2016Christian Kühn
Spectrum

Schweben mit Verstand

Eine Standardaufgabe an einem außerordentlichen Ort: Mit dem Wohnheim im Olympischen Dorf in Innsbruck zeigen Artec, wie menschengerecht ein architektonisches Meisterwerk sein kann.

Eine Standardaufgabe an einem außerordentlichen Ort: Mit dem Wohnheim im Olympischen Dorf in Innsbruck zeigen Artec, wie menschengerecht ein architektonisches Meisterwerk sein kann.

Die Stadt als Parklandschaft mit eingebetteten Hochhäusern, das war die Maxime des Städtebaus der 1960er- und 1970er-Jahre. Le Corbusier hatte die Idee schon 1922 mit dem Konzept seiner „ville contemporaine“, einer Stadt für drei Millionen Einwohner, in die Welt gesetzt. Fast jede europäische Stadt, die sich nach 1945 erweiterte, hat von dieser Idee zumindest ein Stück abbekommen. Auch in Innsbruck gibt es einen Stadtteil, der paradoxerweise Olympisches Dorf heißt, aber von Hochhäusern geprägt ist. Sein Name geht auf die Austragung der Olympischen Spiele in den Jahren 1964 und 1976 zurück. In beiden Fällen wurden jeweils rund 700 Wohnungen errichtet, Punkthochhäuser mit sternförmigem Grundriss 1964, scheibenförmige Hochhäuser 1974. In den Jahren nach den Spielen wurde jeweils in derselben Typologie weitergebaut. Inzwischen leben hier knapp 7000 Menschen, zumgrößten Teil in Hochhäusern.

Wie in vielen anderen Fällen zeigt die Idee der dicht bebauten Parklandschaft auch in Innsbruck ihre inhärenten Schwächen. Sie ist weder Landschaft noch Park, weil die Hochhäuser einen Raum mit tiefen Schatten bilden, in dem sich nur schwer Landschaftsarchitektur betreiben lässt. Es gibt zu viele dunkle Winkel und zu wenig markante Orte. Durch die Trennung der Funktionen Wohnen, Arbeiten, Handel und Verkehr gehören die Straßen den Autos, und in den Erdgeschoßen gibt es zu wenig Frequenz, um Geschäfte zu erhalten.

Trotz allem gehört das Innsbrucker O-Dorf zu den besseren Beispielen dieser Art von Stadt. Seine besondere Qualität liegt in der unmittelbaren Nähe zum Flussraum des Inn, bei dessen Regulierung eine bis zu 50 Meter breite, natürlich wirkende Uferpromenade mit dichtem Baumbestand angelegt wurde. Die Grünräume zwischen den Hochhäusern sind mit dieser Promenade verbunden, die eine echte Erholungszone ohne motorisierten Verkehr bietet.

Eine Bebauung dieser Promenade ist auf den ersten Blick unvorstellbar. Dass die Stadt Innsbruck trotzdem auf diese eiserne Baulandreserve zugreifen musste, hat demografische Gründe. Knapp 28 Prozent der Einwohner im Olympischen Dorf sind älter als 65 Jahre, mehr als in jedem anderen Bezirk der Stadt. Diesen Bewohnern einen Platz in einem Wohnheim in möglichst großer Nähe zu ihrem bisherigen sozialen Umfeld bieten zu können erforderte ein Heim mit 118 Betten und 10500 Quadratmeter Bruttogeschoßfläche. Ein Haus dieser Dimension an einer attraktiven Stelle zwischen die Hochhäuser zu fädeln erwies sich als unmöglich. So kam man auf einen Bauplatz an der Schnittstelle zwischen den Sternhäusern der 1960er- und einer abgetreppten Scheibe aus den 1970er-Jahren, an dem sich bereits ein niedriger Bestandsbau befand. Dieser sollte ersetzt und durch einen in die Uferpromenade hineinreichenden Neubau erweitert werden.

Bettina Götz und Richard Manahl (Artec) konnten den Wettbewerb für das Projekt mit der Erfindung eines neuen Bautyps für sich entscheiden. Sie ersetzen den eingeschoßigen, linearen Bestandsbau durch ein Gebäude im alten Umriss und situieren an dessen Ende – genau am Übergang zur Uferpromenade – ein sechs Geschoße hohes Gelenk mit Treppenhaus und Lift. An dieses Gelenk schließen die Zimmertrakte an: Ein zweigeschoßiger Trakt folgt zuerst annähernd der Richtung des alten Bestandsbaus, schwenkt dann aber nach einer Wendung um 90 Grad in den Uferverlauf des Flusses ein. Ein höherer Trakt mit fünf Geschoßen zweigt gleich am Gelenk in einem Winkel von 45 Grad ab. Beide Trakte treffen sich in einem weiteren Erschließungsgelenk, wodurch ein dreiecksförmiger Hof entsteht, zu dem hin alle Erschließungsgänge der Zimmertrakte orientiert sind. Das Besondere an diesem Hof ist, dass er keinen Boden hat: Beide Zimmertrakte schweben mindestens fünf Meter, stellenweise bis zu acht Meter über dem Niveau der Uferpromenade und werden von nur neun zarten Stützen und einem kleinen runden Baukörper getragen, wodurch der Blick unter dem Gebäude hindurch fast ungehindert erhalten bleibt. Die kongeniale Freiraumgestaltung von Auböck und Kárász, die nicht nur das unmittelbare Umfeld des Heims, sondern einen längeren Abschnitt der Uferpromenade bearbeiten durften, verstärkt diesen Effekt durch die raffinierte Organisation von Wegen und Pflanzen.

Über die genauen Winkel zu sprechen, in denen Baukörper aneinanderstoßen, ist in diesem Fall angemessen. Die präzise Linienführung gehört zur besonderen Qualität der Architektur von Artec, wobei Präzision nicht impliziert, dass jede Linie rational erklärbar wäre. Der Typus des Hauses mit schwebendem Hof korrespondiert hier mit den vielen unterschiedlichen Linien der Häuser in der Umgebung, ohne eine zu bevorzugen.

Wer ein Beispiel für Josef Franks „Akzidentismus“ sucht, kann es hier finden: Präzision ohne Raster, Beweglichkeit der Linien zur Ausnutzung von Potenzialen, die sich im Entwurf eröffnen. Dazu gehört etwa die nach Süden orientierte Terrasse über dem zweigeschoßigen Zimmertrakt – ein schwebendes Deck auf der Höhe der Baumkronen –, aber auch die Tatsache, dass es hier keine Mittelgänge gibt und damit vor jedem Zimmer viel Licht. Ist das unwirtschaftlich? Nur, wenn man Qualität in Zahlen messen möchte. Wie viele Punkte Abzug gibt es für einen dunklen, toten Gang? Und wie viele Punkte mehr für einen Ort, an den man sich gern erinnert?

Qualität in der Architektur hat ihren Preis, der sich aber im Bereich weniger Prozente bewegt, wenn mit Verstand geplant wird. Sie braucht keine Abstriche bei der Ökologie zu machen: Das Heim im O-Dorf ist trotz der schwebenden Baukörper ein Passivhaus. Das setzt eine sehr exakte Planung voraus, bei der Artec eine Ästhetik verfolgen, die sich mit Konzeptkunst vergleichen lässt. In der Fassade walzblanke und eloxierte Aluplatten abwechseln zu lassen ist eine rein formale Entscheidung, die mit derselben Konsequenz behandelt wird wie die konstruktive Lösung, die diagonalen, in der Fassade liegenden Zugbänder hinter den Glasflächen sichtbar zu lassen. (Das Tragwerkskonzept von Peter Bauer/Werkraum Wien verdient eine besondere Erwähnung.) Hier ergänzen sich künstlerische Freiheit und konstruktive Notwendigkeit zu einer besonderen ästhetischen Kategorie, dem scheinbar Zufälligen. Das nimmt in Kauf, dass nicht alles „schön“ im konventionellen Sinn wird. Aber dafür ist es umso lebendiger.

Spectrum, Sa., 2016.01.16



verknüpfte Bauwerke
Wohnheim Olympisches Dorf Innsbruck

09. Januar 2016Christian Kühn
Spectrum

Mit dem Zufall planen

Über totalitären Glauben, Anti-Methodologie, Sharawaggi und Hundertwasser: Hermann Czech im Gespräch anlässlich der aktuellen Josef-Frank-Ausstellung im Wiener MAK.

Über totalitären Glauben, Anti-Methodologie, Sharawaggi und Hundertwasser: Hermann Czech im Gespräch anlässlich der aktuellen Josef-Frank-Ausstellung im Wiener MAK.

Hermann Czech, die von Ihnen mitkuratierte Ausstellung über Josef Frank im MAK läuft unter dem Titel „Against Design“. Das erinnertan Paul Feyerabends Buch „Against Method“, das auf Deutsch „Wider den Methodenzwang“ heißt.

Das passt gut; Feyerabend hat bei der Titelsuche auch eine Rolle gespielt. Frank hat ja erklärt: „Man kann alles verwenden, was man verwenden kann.“ Insofern ist er unter dem Titel gut zu verorten. Das Konzept der Ausstellung ist, Franks gedanklichen Hintergrund im Vergleich mit parallelen und analogen Positionen darzustellen, von Alberti bis Rem Koolhaas. Dem kommt der Ausstellungsraum entgegen: ein großes U, das eine Chronologie von Werken und Motivationen Franks enthält – von den frühen Wohnungseinrichtungen über die Möbel und Einfamilienhäuser, die Arbeiten für die Stadt Wien im Siedlungs- und Wohnungsbau bis hin zu den Möbel- und Stoffentwürfen für Svenskt Tenn – und parallel dazu ein innerer schmaler Umgang, der Frank eine Auswahl von Referenzen gegenüberstellt. Das unterscheidet die Ausstellung auch von der, die Johannes Spalt und ich 1981 im MAK gezeigt haben. Da war Franks Werk selbst ja noch kaum aufgearbeitet, und es waren noch nicht so viele Bewegungen populär, die solche Vergleiche gerechtfertigt hätten. Heute ist das anders, es gibt eine Tendenz zur Anti-Methodologie, eine gewisse Lässigkeit. Sogar das Wort Styling heißt nicht mehr, dass alles zusammenpassen muss.

Sie haben im vergangenen Jahr im Hauptgebäude der Universität Wien die Gestaltung einer Ausstellung über den Wiener Kreis betreut, bei der – wie im MAK – die vorgefundene räumliche Struktur zum Vorteil der inhaltlichen verwendet wurde. Es gibt da einige Überschneidungen mit Josef Frank, etwa über die Person Otto Neuraths und die Siedlerbewegung. War Frank von der „wissenschaftlichen Weltauffassung“ des Wiener Kreises beeinflusst?

Frank hat vom Wiener Kreis vor allem die Einsicht mitgenommen, dass jede Dogmatisierung verfehlt ist. Er hat sich ja immer gegen jede Form des Totalitarismus gestellt, ästhetisch wie politisch. Wir hatten ursprünglich vor, dem politischen Frank in der Ausstellung einen eigenen Abschnitt zu widmen, aber dazu braucht es noch mehr Forschung. Für Frank hatten schon kunstgewerbliche Reformversuche einen Nahbezug zum Militarismus. Beim Forum Alpbach 1947 sagte er: „Ich bin der Ansicht, dass jeder, der den Wunsch hat, sein Hinterteil auf einem Rechteck auszuruhen, im Grunde seiner Seele einen totalitären Glauben hat.“

Aus demselben Jahr stammt auch Franks Entwurf für den Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York, ein Alternativvorschlag zum später realisierten Projekt, das eine Kommission unter Beteiligung von Le Corbusier und Oscar Niemeyer entworfen hatte, eine perfekte, völlig rationale Scheibe als Symbol für eine von der Vernunft regierte, einheitliche Welt. Frank schlägt dagegen mehrere unterschiedlich hohe, mit Ornamenten verzierte Türme vor, die durch zarte Brücken verbunden sind. Aus der Distanz von 60 Jahren betrachtet, entspricht diese Idee eher der Wirklichkeit. Diese Türme sind dabei nicht irrational, aber sie wirken trotzdem so, als wären sie bis zu einem gewissen Grad zufällig entstanden. Frank hat dafür Ende der 1950er-Jahre ja auch einen Begriff geprägt: Akzidentismus.

Abgesehen von dieser politisch visionären Bildhaftigkeit ist das UN-Projekt eines der Bezugsthemen zu Rem Koolhaas: nämlich die Auflösung der klassischen Hochhaustypologie. – „Akzidentismus“ ist Franks halb ironische Zusammenfassung seiner lebenslangen skeptischen und antidogmatischen Haltung. Mit dem „wie zufällig Entstandenen“ umschreibt er nichts anderes als den komplexen Begriff der künstlerischen Qualität. Es geht um scheinbare Absichtslosigkeit, wobei das Interessante ist, wie man das macht. Dafür gibt es kein Rezept. Ich stelle immer die Analogie mit der Gartenkunst her, dass man nämlich etwas betreibt, bei dem man sich klar ist, das Ergebnis nicht voll unter Kontrolle zu haben. Im Entwurf muss man bereit sein, das einzubeziehen.

Wie stark ist Frank dabei von der asiatischen Kultur beeinflusst? Er hat ja 1910/11 die Einrichtung für das Ostasiatische Museum in Köln entworfen, damals das europäische Zentrum für Sinologie.

Ostasien war natürlich ein zentraler Einfluss, der ja auch schon für die englische Gartenkunst wichtig war. Der chinesische Begriff des Sharawaggi – für scheinbar absichtslose, höhere Harmonie in der Unregelmäßigkeit – war in England schon im 18.Jahrhundert bekannt. Das hat letztlich auch mit Partizipation als einem externen, nicht kontrollierbaren Einfluss zu tun, aber eben nicht in dem unpräzisen Sinn, dass man sich als Architekt zurückzieht und alles Ästhetische den Nutzern anheimstellt – das ist gar nicht möglich. Vielmehr muss das Entwurfsdenken breit genug sein, auch Unvereinbares aufzunehmen; allerdings ist das kein leidensfreier Prozess.

Gibt es da eine Verwandtschaft mit Hundertwasser, stellenweise auch ästhetisch? Manche Stoffe Franks und auch fantastische Entwürfe wie das Giraffenhaus mit Kaminen, die an Giraffenhälse erinnern, sind doch hart an der Grenze zum Kitsch.

Frank hat selbst behauptet: „Jedes großeKunstwerk muss an der Grenze des Kitsches stehen.“ Bei Hundertwasser – ich spreche vom späten, „architektonischen“ Hundertwasser – ist das allerdings unfreiwilliger Kitsch, er simuliert Eingriffe des Nutzers. Bei Frank ist es die bewusste Verwendung solcher Elemente, so wie Rem Koolhaas kein Problem hat, sich aus dem „Trash“ des „Junkspace“ zu bedienen. Wenn Frank übrigens sagt, dass man sich an zufällig entstandenen Orten wohler fühlt als im „designten“ Raum, dann ist das „Zufällige“ ja durchaus aus Absichten entstanden, von einzelnen oder sogar vielen Leuten, aus Motivationen, die später aber nicht mehr nachvollziehbar sind und insofern etwas Fremdes darstellen, was eine gewisse Beruhigung ergibt. Frank sagt anlässlich seiner Wohnung in Wien, die teilweise von Dachschrägen geformt war, dass sie eben dadurch „angenehm und unpersönlich“ wirkt. Das ist ein eigenartiger Gegensatz – wieso ist etwas zugleich angenehm und unpersönlich? Weil man zwar nicht weiß, warum etwas so aussieht, aber es offensichtlich doch einen Grund, eine Substanz hat.

Sie haben 1970 über Adolf Loos geschrieben, dass sein „Kampf gegen das Ornament nicht zu verstehen [ist] als Kampf für die glatte Fläche, sondern gegen jede Form, die nicht Gedanke ist – und sei es eine glatte Fläche.“ Ist das nicht eine Überforderung der Architektur, dass jede Form Gedanke sein muss?

Ich habe im gleichen Text auch die Fähigkeit gefordert, „zu individualisieren, konkret und nicht abstrakt zu denken“. Gott sei Dank muss die Architektur kein philosophisches System aufstellen, sondern sie muss in bestimmten Situationen intervenieren, und zwar dringend. (Früher hätte man gesagt, sie muss „Probleme lösen“.) Es nützt die abstrakte Theorie nichts, wenn die Intervention nicht gelingt. Der „Gedanke“, den ich meine, ist nicht abstrakt, sondern: Denken zum Entwurf. Wenn man Qualität nur von Form ableiten wollte und dauernd Formen im Kopf haben müsste, dann hätte man es ja beim Entwurf noch schwerer. Wenn ich dagegen – ein unter Umständen tragfähiges Gedankenbeispiel – beim Bauen ein Industrieprodukt verwende, weil es da ist (und die Haftungsfragen damit geklärt sind), dann kann ich das Grübeln über Form aufgeben, weil das Produkt eh schon eine Form hat. Also das ist fallweise sogar leichter fürs Entwerfen.

Spectrum, Sa., 2016.01.09

19. Dezember 2015Christian Kühn
Spectrum

Eleganz ganz aus Glas

Henke und Schreieck ist im Wiener Quartier Belvedere etwas wirklich Großes gelungen: der Erste Campus, das neue Hauptquartier für die Erste Bank.

Henke und Schreieck ist im Wiener Quartier Belvedere etwas wirklich Großes gelungen: der Erste Campus, das neue Hauptquartier für die Erste Bank.

Geldgeschäfte leben vom Vertrauen. Wer sein Geld zur Bank trägt, hofft heute zwar nicht mehr auf Zinsen, vertraut aber zumindest darauf, dass sich sein Vermögen dort nicht in Luft auflöst. Diese Gefahr ist, wie die letzten Jahre gezeigt haben, größer als gedacht. Den kriminellen Größenwahn, der Banken wie die Hypo Alpe Adria in den Ruin getrieben hat, werden wir noch lange teuer bezahlen. Die alte Forderung von AdolfLoos – „Das bankhaus muss sagen: Hier ist dein geld bei ehrlichen leuten gut und sicher verwahrt.“ – würde heute wohl wieder viel Zustimmung erfahren.

Für die Banken ist das nicht unbedingt erfreulich. Im Geschäft mit solchen Kunden ist nämlich nicht viel zu verdienen. Dass die Bank Austria ihr Filialnetz in Österreich drastisch reduziert, ist dafür das jüngste Indiz. Das Bankgeschäft verlagert sich zunehmend in den virtuellen Raum. Dort führt unser Geld eine Existenz, deren Wesen die meisten von uns nicht mehr durchschauen, und in dem neue Softwaretechnologien das Geldgeschäft bald fundamental verändern könnten.

Umso wichtiger ist es für Banken, im realen Raum Präsenz zu zeigen, wobei es nicht nur um das Vertrauen der Kunden geht, sondern auch um das Selbstvertrauen der Mitarbeiter. Je mehr das Filialnetz schrumpft, desto wichtiger werden dafür die Hauptsitze der Banken. Unicredit, der Mutterkonzern der Bank Austria, hat sich 2012 in Mailand ein Denkmal gesetzt: das damals mit 231 Metern höchste Hochhaus Italiens, errichtet auf einem ehemaligen Bahnhofsgelände. Die Plaza davor ist heute der meistbesuchte öffentliche Raum der Stadt, noch vor der Piazza del Duomo. César Pelli entwarf für die Bank eine verspiegelte gebogene Scheibe mit einem koketten Türmchen an einem Ende, ein 85-Meter-Finger ohne Funktion, der wie das Modell des Hochhauses aussieht, das der Torre Unicredit eigentlich hätte werden wollen.

Die Erste Bank erwarb für ihr neues Hauptquartier ein Grundstück, auf dem eine solche vertikale Geste von vornherein unmöglich war. Zwar hätte es auf dem Areal vor dem Hauptbahnhof, das von seinen Entwicklern wegen der Nähe zum Barockpalais auf den Namen „Quartier Belvedere“ getauft wurde, auch Standorte gegeben, die größere Höhen zugelassen hätten. Aber die Erste Bank entschied sich bewusst für ein Eckgrundstück am Wiedner Gürtel mit geringerer Bauhöhe, aber viel Blick ins Grün des Schweizergartens.

Auf diesem Areal von 2,5 Hektar war ein Raumprogramm mit einer Bruttogeschoßfläche von rund 120.000 Quadratmetern – berechnet ohne Kellergeschoße – unterzubringen. Damit ist der Erste Campus größer als die Wirtschaftsuniversität Wien, allerdings auf einem kleineren Grundstück, dessen Bebauungsplan eine Art Blockrandbebauung mit Innenhöfen vorsah.

Die Erste Bank schrieb im Jahr 2007 einen Architekturwettbewerb aus, für den aus 200 interessierten Büros 14 ausgewählt wurden. Die Ausschreibungsunterlagen formulierten auf 300 Seiten die Vision für das neue Hauptquartier, in dem Mitarbeiter aus den verteilten Verwaltungsstandorten in Wien zusammenarbeiten werden. Im September 2008 entschied sich die Jury unter Vorsitz von András Pálffy für das Projekt der Architekten Dieter Henke und Marta Schreieck, praktisch zeitgleich mit der Insolvenz von Lehman Brothers und dem Beginn der Finanzkrise. Die dadurch verlängerte Reifezeit für das Projekt hat sich gelohnt. Den Architekten ist hier im direkten wie im übertragenen Sinn etwas Großes gelungen. Sie haben den Blockrandplan ignoriert und stattdessen begonnen, den Städtebau an dieser Stelle neu zu denken, und zwar von den Nutzern her. Die scheinbar „freien“ Formen sind geprägt vom Ansatz, jeden Arbeitsplatz zu einem speziellen Ort zu machen, mit weitem und in gewisser Weise einzigartigem Blick. Ähnliche Grundrissfiguren haben Henke und Schreieck schon in ihrem OMV-Hochhaus und in den kleineren Bürohäusern im Viertel 2 erprobt. Im Ersten Campus hat sich die Geometrie weiterentwickelt. Sie wirkt wie mit lockerer Hand hingezeichnet, in zahlreichen Wiederholungen auf der Suche nach der richtigen Linienführung. Es ist eine sehr intuitive Geometrie, die sich nur schwer einordnen lässt, aber wunderbar funktioniert.

Die Bürogeschoße sind bis hin zur Haustechnik so konzipiert, dass jeder Bürotyp möglich wäre, vom Zellenbüro bis hin zum Großraum, für den man sich letztlich – auch im Bereich des Vorstands – entschied. Die Qualität im Detail ist bemerkenswert, wofür auch die ausführenden Firmen hervorzuheben sind, vom Bauunternehmen Granit bis zum mittelständischen Fensterhersteller aus dem Südburgenland, der alle Fensterrahmen für die 40000 Quadratmeter Fassade produzierte.

Diese Fassade besteht aus einer äußeren rahmenlosen Glasscheibe und einer inneren Rahmenkonstruktion aus Holz mit Isolierverglasung und teilweise öffenbaren Fenstern. Im Raum dazwischen liegt ein effizienter Sonnenschutz, der es erlaubte, nicht verspiegeltes, sondern hochtransparentes Glas zu verwenden: In dieses Haus kann man auch bei Tag von außen hinein- und an vielen Stellen durchsehen, was für die Detailplanung neue Fragen aufwirft. Die Farben von Möbeln und Wandverkleidungen oder die Position von Pflanzen werden plötzlich zu einer Frage des äußeren Erscheinungsbildes, ebenso wie die Beleuchtung der Innenräume.

Für die Öffentlichkeit ist bei diesem Bankhaus vor allem die Sockelzone entscheidend. Hier liegt eine großzügige, teilweise durch Innenhöfe belebte Erschließungshalle mit Café, Geldmuseum, einer Bankfiliale und einem großen Veranstaltungssaal. Die Decke dieser Halle wird von v-förmigen Stützen getragen und überspanntwie ein leichtes Tuch auch den öffentlichen Raum, der die Durchquerung des Grundstücks erlaubt. Auf dieses Tuch haben die Landschaftsarchitekten Maria Auböck und János Kárász einen Garten gezaubert, der im ersten Obergeschoß gewissermaßen den Schweizergarten ins Zentrum des Campus weiterführt und den Bankern als Erholungsfläche dient.

Man darf die ersten 1600 Mitarbeiter, die diese Woche einziehen, um ihren Arbeitsplatz beneiden: Elegantere und wohnlichere Büros wird man in Wien nicht finden. An einer Frage kommt man bei der Diskussion dieses Gebäudes freilich nicht vorbei: Können sich heute wirklich nur noch Banken dieses architektonische Niveau leisten?

Spectrum, Sa., 2015.12.19



verknüpfte Bauwerke
Erste Campus

21. November 2015Christian Kühn
Spectrum

Schaffen wir das?

Vom Ausnahmezustand zur strategischen Planung: Wie löst man das Problem der Unterbringung von Flüchtlingen, wo es doch auch unter den hier Geborenen Mangel an Wohnraum gibt?

Vom Ausnahmezustand zur strategischen Planung: Wie löst man das Problem der Unterbringung von Flüchtlingen, wo es doch auch unter den hier Geborenen Mangel an Wohnraum gibt?

Dass ein Grundriss die Titelseite einer Tageszeitung ziert, noch dazu in voller Seitenbreite, ist eine Seltenheit. Vor knapp zwei Wochen ist das der „Presse“ erstmals gelungen: Über der Schlagzeile „Fertigteilhäuser für Flüchtlinge“ prangte der Grundriss eines lang gestreckten Gebäudes mit einem Mittelgang und 20 Zimmern, jedes rund 14 Quadratmeter groß und mit zwei Betten und einem kleinen Badezimmer ausgestattet. Dieser Grundriss ergibt, viermal übereinandergestapelt, das in der Bildunterschrift genannte „Grundversorgungsquartier für rund 80 Personen, das als Fertighaus gebaut wird; Kostenpunkt etwa 1,6 Millionen Euro“.

Vorgestellt wurde das Konzept durch den Österreichischen Fertighausverband in Anwesenheit von Flüchtlingskoordinator Christian Konrad. Anlass war die von der Bundesregierung im Oktober vorgestellte Wohnbau-Offensive 2016, die unter anderem die Schaffung einer Wohnbau Investitionsbank (WBIB) vorsieht, die auch Quartiere für Flüchtlinge finanzieren wird. Angesichts von derzeit rund 65.000 Flüchtlingen in der Grundversorgung und heuer bisher 26.000 Asylentscheidungen, die zu 35 Prozent in der ersten Instanz positiv ausfielen, ist der massive Bedarf an Quartieren offensichtlich. Man sei, so Konrad, mit den Bürgermeistern im Gespräch bezüglich der nötigen Grundstücke und plane, „so viele Fertighäuser wie möglich zu errichten und in vielen Varianten: größere oder kleinere Einheiten“.

Zu den größeren Einheiten gehören auch Notunterkünfte, die bei derselben Veranstaltung präsentiert wurden und die man nur als menschenverachtend bezeichnen kann: 50Meter lange und zwölf Meter tiefe Baukörper mit Vierbettzimmern ohne Bad, dafür mit Sanitärcontainern an einem Ende mit offenem Treppenhaus. 84 Personen pro Geschoß können hier untergebracht werden.

Wer die Internet-Postings zu Artikeln in Lokalzeitungen liest, muss feststellen, dass sogar das von einem beachtlichen Teil der einheimischen Bevölkerung als zu luxuriös empfunden wird. „Grenzen zu und so lange abschieben, bis alle einheimischen Wohnungssuchenden versorgt sind“, lautet die Forderung dieser Gruppe. Mit billigen Notunterkünften wird eine doppelte Botschaft in diese Richtung gesandt. Erstens: Wir bauen für Flüchtlinge so, wie wir es den „eigenen Leuten“ nie zumuten würden. Zweitens: Flucht ist ein temporäres Phänomen, auf das wir mit Provisorien antworten können.

Diese Grundstimmung zur Maxime des Bauens für Flüchtlinge zu machen werden wir teuer bezahlen. Angesichts der Bilder zerstörter Städte in Syrien ist klar, dass es selbst im besten Fall ein Jahrzehnt dauern wird, bis dieses Land ein sicherer Aufenthaltsort wird. Das Thema Flucht und Integration wird uns in den nächsten Jahrzehnten begleiten, wie bisher in Wellen, aber es wird nicht verschwinden. Statt Notmaßnahmen wäre daher strategische Planung nötig.

In einer Mitte 2015 erschienenen Sonderausgabe von „asyl aktuell“, der Zeitschrift der Asylkoordination Österreich, haben sich Nina Kolowratnik und Johannes Pointl mit Studierenden der TU Wien systematisch mit dem „Fluchtraum Österreich“ befasst und dessen bauliche Rahmenbedingungen in einprägsamen Zeichnungen visualisiert. Ihre Zusammenfassung lautet: „Anders als der Tourismusinfrastruktur oder dem öffentlichen Gesundheitssystem in Österreich fehlt dem Asylsystem die langfristige Planung. Die Vorstellung von Flucht als zeitlich beschränktem Phänomen, die durch den wiederkehrenden institutionellen Ausnahmezustand aufrechterhalten wird, lässt keine strategische Herangehensweise zu und diese wird auch bis dato vom Architekturdiskurs ferngehalten.“

Letzteres hat sich in den letzten Monaten rapide geändert, zumindest ist die Betriebsamkeit in der Szene deutlich gestiegen. Dabei ist auch ein Projekt sichtbar geworden, das sich schon länger mit dem Thema befasst und dabei den Schritt von der Notmaßnahme zur strategischen Planung vorausgedacht hat. „Transfer Wohnen Vorarlberg“ wurde als Modell für kleinere und mittlere Gemeinden entwickelt und könnte Vorbildwirkung für ganz Österreich haben.

Gearbeitet wird an dem Konzept seit Anfang 2015 von einer interdisziplinären Gruppe, getragen von den Vorarlberger Architekten Andreas Postner und Konrad Duelli in Zusammenarbeit mit Hermann Kaufmann, Professor an der TU München und führendem Holzbauexperten. Die Gruppe hat bestehende Einrichtungen untersucht, auch in Hinblick auf die Reaktion der lokalen Bevölkerung, und daraus das Prinzip abgeleitet, dass der Bau von neuen Nachbarschaften für Flüchtlinge als Impuls und wesentlicher Bestandteil der Gemeindeentwicklung verstanden werden muss.

Das setzt kleine Einheiten von höchstens 25 bis 30 Personen voraus. Nur in diesem Maßstab kann längerfristig die Integrationsbereitschaft der ortsansässigen Zivilbevölkerung und der Flüchtlinge geschützt, unterstützt und gefördert werden. Bauten für 50 bis 70 Flüchtlinge vor Ort würden neue Barrieren schaffen, Integration behindern und hohe soziale Folgekosten hervorrufen. Die Architekten haben Typenpläne und Details für sehr einfache, zweigeschoßige und dreigeschoßige Häuser entwickelt, die variabel in die bestehenden Umgebungen implementiert werden können. Die Kleinteiligkeit erlaubt die Bildung von gestalteten Freiräumen dazwischen, die auch gärtnerisch genutzt werden können.

Technisch werden die Häuser in Tafelbauweise errichtet, also in derselben Technologie, die auch den Produkten der meisten Fertighausanbieter zugrunde liegt. Allerdings sind die Details im konkreten Fall so gestaltet, dass sie von lokalen Holzbauunternehmen ausgeführt werden können, um möglichst viel Wertschöpfung vor Ort zu behalten. Bauzeit und Kosten entsprechen nach Berechnung der Architekten jenen der Großstrukturen, wobei die Bewohner zusätzlich Teile des Endausbaus selbst übernehmen könnten. Für die Möblierung eignen sich Altmöbel, die von den Asylwerbern renoviert werden könnten.

Im Unterschied zu den Großstrukturen lassen sich diese Häuser tatsächlich in gute Startwohnungen umbauen, wenn die Flüchtlingswelle abflaut. Zwar wird diese Flexibilität auch von den Fertighausanbietern versprochen, ein Blick auf die entstehenden Grundrisse macht aber klar, dass es sich aus der Perspektive heutiger Wohnvorstellungen nur um Notquartiere handeln würde. In solche Häuser zu investieren ist vergeudetes Kapital.

Eine zentrale Frage für den Erfolg des Konzepts „Transfer Wohnen“ ist das Bauland. Hier haben die Initiatoren auf Basis des Engagements des Vorarlberger Bischof Benno Elbs begonnen, auf 45 dem Land zur Bebauung auf Baurechtsbasis angebotenen Bauplätzen auf Kirchengrund einige der geeignetsten Standorte zu analysieren. Auf mehreren sollen nun die ersten Pilotprojekte entstehen.

Die Akzeptanz in der Bevölkerung wird nicht zuletzt davon abhängen, ob parallel zu diesen Bauten unter gleichen niedrigen Kostenbedingungen Wohnbauten für Ortsansässige realisiert werden, wie es auch die Proponenten von „Transfer Wohnraum Vorarlberg“ fordern. Die Schaffung der Wohnbau-Investitionsbank, die beide Sektoren bedienen soll, ist dafür ein guter Schritt – weg vom Ausnahmezustand und hin zur Ermöglichung guter Planung im allgemeinen Interesse.

Spectrum, Sa., 2015.11.21

26. September 2015Christian Kühn
Spectrum

Chronik einer Gasse

Großbürgerliche Palais, Puritanismus des Wiederaufbaus, Gewerkschafts- und Investorenbarock: städtische Geometrie als Spiegel der Kultur.

Großbürgerliche Palais, Puritanismus des Wiederaufbaus, Gewerkschafts- und Investorenbarock: städtische Geometrie als Spiegel der Kultur.

Eine jede Stadt entsteht aus der Verbindung von Geometrie und Geschichte. Punkte, Linien undFlächen bilden den Stadtgrundriss, in den immer feinere Geometrien vom Baukörper bis zum Architekturdetail eingeflochten werden. Dieser Prozess endet nie: Linien lösen sich auf und werden durch andere ersetzt, Baufluchten vor- und wieder zurückverlegt, Achsen aufgespannt und wieder versperrt.

Wahrgenommen werden diese Veränderungen oft erst mit Verspätung. Das Bild der Stadt, das wir im Kopf mit uns herumtragen, ist stärker als die Realität. Aber irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem man nicht mehr in der gewohnten Straße steht, sondern in einer neuen und sich fragt: Was ist hier geschehen?

Die Straße, um die es gehen soll, heißt Plößlgasse und liegt im vierten Wiener Gemeindebezirk. Sie verbindet die Prinz-Eugen-Straße, die erst seit 1907 den Namen trägt und davor schlicht Heugasse hieß, mit der Argentinierstraße. Das Viertel ist geprägt von der Nachbarschaft zu den beiden größten Wiener Palais, dem Belvedere und dem Palais Schwarzenberg, und ihren Gärten, deren von Baumkronen überragte Mauern die Prinz-Eugen-Straße an einer Seite begleiten.

Auf mehreren Grundstücken auf Höhe der Plößlgasse errichtete die Familie Rothschild hier Ende des 19. Jahrhunderts insgesamt vier Palais. Zwei davon sind erhalten: ein kleines, zweigeschoßiges in der Plößlgasse 8 und das von den Architekten Fellner und Helmer in der Prinz-Eugen-Straße geplante aus dem Jahr 1894, heute Sitz der Brasilianischen Botschaft. Während diese Stadtpalais in die Straßenflucht eingebunden sind, standen die beiden anderen, weit größeren Rothschild-Palais frei auf ihren Grundstücken und forderten als bürgerliche Konkurrenz die benachbarten Adelspaläste heraus. Das Palais Albert von Rothschild aus dem Jahr 1884 lag an der Ecke von Plößlgasse und Prinz-Eugen-Straße. Der französische Architekt Gabriel-Hippolyte Destailleur machte dasBeste aus der für ein repräsentatives Gebäude schwierigen Ecksituation, indem er das Hauptgebäude von der Prinz-Eugen-Straße wegrückte und ihm einen Ehrenhof vorlagerte. Die bombastisch dekorierte Straßenseite stand in einem seltsamen Kontrast zur klassizistischen Gartenfassade.

Weit opulenter gestaltet war das Palais von Albert Rothschilds Bruder Nathaniel von 1878, ebenfalls von einem französischen Architekten, Jean Girette, entworfen. Dem an der Theresianumstraße liegenden Haupttrakt war ein grandioser Garten vorgelagert, der bis zur Plößlgasse reichte. Die enorme Dimension des Palais begründete sich nicht zuletzt darin, dass es in seinen weitläufigen Räumen die umfangreiche Kunstsammlung des Bauherrn aufnehmen musste.

Beide Palais wurden von den Nationalsozialisten enteignet und nach dem Zweiten Weltkrieg restituiert. Die Erben von Nathaniel Rothschild ließen sein weitgehend zerstörtes Palais abreißen und verkauften das Areal an die Arbeiterkammer, die hier 1952 das Franz-Domes-Lehrlingsheim nach Plänen von Roland Rainer errichtete. Das in der Substanz erhaltene Palais Albert Rothschild wurde vom Eigentümer mit der Auflage, einen Pensionsfonds für seine ehemaligen Angestellten einzurichten, der Republik überlassen, die mit dem historistischen Bau aber nichts anzufangen wusste. 1954 wurde auch dieses Palais abgerissen, um Platz für den neuen Hauptsitz der Arbeiterkammer zu schaffen. Dass wenig später das von den Rothschilds gestiftete und an die jüdische Kultusgemeinde restituierte Rothschildspital am Gürtel – bis in die 1930er-Jahre eines der renommiertesten Krankenhäuser der Stadt – ins Eigentum der Wirtschaftskammer überging, ist ein Beispiel für die großkoalitionäre Verteilungsgerechtigkeit der Nachkriegszeit. 1960 wurde das Spital abgerissen und auf dem Areal das Wirtschaftsförderungsinstitut errichtet.

Auch in der Plößlgasse lief die Entwicklung auf eine Auslöschung aller Spuren der Vergangenheit hinaus. Das 1960 eröffnete Gebäude der Arbeiterkammer, von den Architekten Franz Mörth, Heinrich Vana, Kurt Vana und Alexis Franken geplant, Ergebnis eines 1955 gewonnenen Wettbewerbs, ist typisch für den vorsichtigen Rationalismus der Nachkriegszeit. Mit der Ecklage hat es nicht weniger zu kämpfen als das alte Palais. Es gibt sich zur Prinz-Eugen-Straße klassisch-repräsentativ, mit symmetrisch gesetztem Eingang und der Andeutung eines Mittelrisalits in der Fassadengliederung. Zur Plößlgasse hin war man mutiger: Ein knapp 15 Meter weit gespannter Unterzug erlaubte den Blick unter dem Quertrakt hindurch in den Garten. Dass dieses offene Geschoß bei der jüngsten Sanierung 2008 verbaut wurde, ist ein Verlust für die Passanten, denen das Haus nun Garagentor und Hintereingang zuwendet.

Anfang der 1960er-Jahre war das gesamte Areal um die Plößlgasse in den nüchternen Linien der Nachkriegsarchitektur neu gezeichnet. Eine Berufsschule bildete den Abschluss des Franz-Domes-Heims, die Gewerkschaft für Metall, Bergbau und Energie errichtete 1962 ihre Zentrale an der Kreuzung zur Argentinierstraße, einen würfelförmigen Bau von kaum überbietbarer Schlichtheit. Schon 1959 war im Garten vor der Arbeiterkammer das Anna-Boschek-Mädchenheim nach einem Entwurf von Carl Auböck entstanden.

Als diese Gebäude Anfang der 1980er-Jahre sanierungsbedürftig wurden, entschied sich die Arbeiterkammer dafür, das schlichte Lehrlingsheim von Roland Rainer abzureißen und das Areal neu zu ordnen. Anstelle des Heims entstand 1989 ein Bildungszentrum mit Theater. Warum die Kammervertreter sich vom Architekten Rudolf Jarosch die Karikatur eines Barockpalais für diese Aufgabe einreden ließen, wird ewig ein Rätsel bleiben. Inzwischen zeigt eine vor die Fassade gestellte Großskulptur von Hans Schabus, ein Palettengerüst mit dem Titel „Régalité“, dass sich die Kammer dieser Entgleisung bewusst ist.

Carl Auböcks Anna-Boschek-Heim wurde 2008 im Zuge der von NMPB verantworteten Generalsanierung der Arbeiterkammer abgebrochen. Einzig das Mäuerchen aus Stampfbeton, das den Garten von derPlößlgasse abtrennt, erinnert noch an diesen im Detail liebenswürdigen Bau. Das jüngste Projekt der Arbeiterkammer auf dem Grundstück, ein Bürogebäude nach einem Entwurf von Češka Priesner und Fellerer-Vendl Architekten, führt die Mauer in einen Sichtbetonsockel weiter, über dem sich ein würfelförmiger Bau mit doppelter Glashaut erhebt. Mit seiner klaren Geometrie macht dieses Haus – auch wenn es stilistisch und typologisch eher an die 1990er-Jahre erinnert – jedenfalls eine gute Figur.

Das kann man vom neuen Wohnbau auf der anderen Straßenseite, der seit 2013 das Haus der Metallergewerkschaft ersetzt, nicht behaupten. Der Verkauf des nun bis aufs absolute Maximum ausgenutzten Grundstücks mag zur Sanierung der von der BAWAG-Pleite angeschlagenen Gewerkschaftsfinanzen beigetragen haben. Der Stadt ist mit solcher emailleweißer Grottenbahnarchitektur aber nicht gedient. In der wirren Geometrie diesesHauses spiegelt sich eine Kultur, in der alles möglich wäre, aber nichts gelingen will.

Spectrum, Sa., 2015.09.26

29. August 2015Christian Kühn
Spectrum

Die Stadt der schnellen Schulen

Die Wiener Schulpolitik hat auf die rasante Steigerung der Schülerzahlen zu spät reagiert. Jetzt setzt sie bei der Erweiterung von Pflichtschulen auf Standardisierung, massiven Holzbau und den Verzicht auf Architektur. PFERD oder PFAU, das ist hier die Frage.

Die Wiener Schulpolitik hat auf die rasante Steigerung der Schülerzahlen zu spät reagiert. Jetzt setzt sie bei der Erweiterung von Pflichtschulen auf Standardisierung, massiven Holzbau und den Verzicht auf Architektur. PFERD oder PFAU, das ist hier die Frage.

Was ist das: Es sieht aus wie eine Gangschule aus den 1960er-Jahren, ist aus Holz gebaut und garantiert architekturfrei. Antwort: Das ist ein PFERD. Ein Pferd? Das Wort steht fürPFlichtschulERneuerungsDruck und wurde von der Wiener Baudirektion für ein Investitionsprogramm geprägt, in dessen Rahmen ein beachtlicher Teil der zusätzlichen Nachfrage nach Schulraum in Wien befriedigt wird,vor allem mit Erweiterungsbauten auf dem Areal bestehender Bildungseinrichtungen.

Das PFERD-Programm ist eines von dreien, mit denen die Stadt Wien die Auswirkungen der Stadtentwicklung auf den Bildungsbereich zu bewältigen versucht. In den Stadterweiterungsgebieten setzt sie auf das Campus-Modell, das sich inzwischen zum Campus plus und zum Mini-Campus weiterentwickelt hat. Ursprünglich sah das Modell die Kombination von Kindergarten, Volksschule und – in einigen Fällen – Neuer Mittelschule zu einer großen Einheit vor, in der Sportanlagen und Räume für die Nachmittagsbetreuung allen zur Verfügung stehen. Die einzelnen Einrichtungen blieben dabei aber separiert.

Im Campus plus sind vor allem Kindergarten und Volksschule in Form sogenannterCluster enger miteinander verbunden. Ein Cluster besteht in der Regel aus zwei Kindergarten- und vier Volksschulräumen, in manchen Fällen ergänzt um eine „basale“, also für die Integration schwerbehinderter Kinder geeignete Einheit. Klassenräume gibt es zwar nach wie vor, aber sie öffnen sich zu einer großen, gemeinsamen Mitte, dem Zentrum des Clusters. In solchen Einheiten haben die Kinder mehr Orte zum eigenständigen Lernen sowie Bewegungsflächen und Angebote für den ganztägigen Betrieb. Der Übergang vom Kindergarten zur Volksschule kann hier individueller und sanfter gestaltet werden als in „normalen“ Strukturen, was vorallem für den sicheren Spracherwerb unter den aktuellen demografischen Bedingungen wichtig ist: Von den knapp 100.000 Schülerinnen und Schülern an Wiener Pflichtschulen hatten im Jahr 2014 nur 40 Prozent Deutsch „als Umgangssprache“, wie das die Statistik Austria formuliert.

Vier Campusschulen gibt es bisher, eine weitere wird nächste Woche in der Seestadt Aspern eröffnet. Der erste Campus plus, entworfen von Querkraft Architekten, wird 2016 in der Attemsgasse im 22. Bezirk seinen Betrieb aufnehmen, weitere neun große Campusschulen sollen bis 2023 mit einem Investitionsvolumen von 700 Millionen Euro entstehen. Daneben sind unter dem Namen Mini-Campus kleinere Lösungen geplant, die Räume für Kindergärten und Volksschulen mit anderen Nutzungen wie Wohnen oderHandel kombinieren.

Für diese Neubauprojekte führt die Stadt nach wie vor Wettbewerbe durch, bei denen für den jeweiligen Standort die beste architektonische und städtebauliche Lösung gesucht wird. Das ist aufwendig, führt aber in Kombination mit den pädagogisch neu durchdachten Raumprogrammen zu innovativen Resultaten. Wien hat eine Tradition, die auf das Schulbauprogramm 2000 aus den 1990er-Jahren zurückgeht. Damals entstanden individuell geplante, ästhetisch ansprechende Schulen mit animierenden Räumen, die auch international beachtet wurden.

Anders sieht die Lage bei Schulsanierungen und Erweiterungen aus. Hier greifen die beiden anderen von der Stadt betriebenen Programme. SUSA (für Schulsanierung), in dessen Rahmen seit 2008 „substanzerhaltende“ Sanierungen an 242 Pflichtschulen durchgeführt werden, ist mit 570 Millionen Euro für einen Zeitraum von zehn Jahren dotiert. Für das Erweiterungsprogramm PFERD werden allein in den Jahren 2014 bis 2017 rund 110 Millionen Euro für 111 Klassen an 20 Standorten investiert.

Von den im Campus-plus-Modell formulierten Qualitäten, die ja für alle Schülerinnen und Schüler gelten sollten, ist die Stadt hier freilich weit entfernt. Bei Sanierungen werden in der Regel nur neue Fenster und eine bessere Wärmedämmung installiert sowie Brandschutz und Barrierefreiheit. Die Chance, mit etwas Mehraufwand auch die Grundrisse an neue Bedürfnisse anzupassen, ist in diesen Fällen auf Jahrzehnte, bis zur nächsten Sanierung, verspielt. Die Erweiterungen im PFERD-Programm beeindrucken vor allem durch ihr Tempo. Eine eigens als von der Stadt gegründete Wiener Infrastruktur Projekt GmbH, kurz WIP, wickelt diese Projekte in geradezu atemberaubendem Tempo ab, wobei jeweils mehrere Schulen zugleich im Rahmen eines Totalunternehmerauftrags, der Planung und Ausführung umfasst, vergeben werden.

Grundlage sind schematische Machbarkeitsstudien, die von Baumeistern oder Architekten in Hinblick auf eine Ausführung in Holzfertigteilbauweise erstellt werden. Diese Schulen lassen sich im Zeitraum von unter einem Jahr ab der Bedarfsanmeldung errichten, wobei der Rohbau oft nur wenige Wochen benötigt. Wer die Abläufe für ein öffentliches Bauprojekt in Wien und die zahlreichen involvierten Akteure kennt, kann dieses Tempo nur bewundern.

Der Wiener Bildungspolitik hat PFERD buchstäblich Kopf und Kragen gerettet. Tausende Schüler ohne Raum oder in behelfsmäßig aufgestellten Containern hätten jedenfalls kein gutes Bild ergeben. Die Kollateralschäden dürfen jedoch nicht unter den Tisch gekehrt werden. Messlatte in Bezug auf architektonische Qualität und pädagogischesPotenzial ist bei diesen Projekten der temporär aufgestellte Schulcontainer.

Man muss zugeben, dass diese Latte zumindest im äußeren Erscheinungsbild übersprungen wird. Diese Schulen sind architekturfreie Ingenieurbauten, die an die funktionalistischen Schulen der 1950er- und 1960er-Jahre erinnern. Mit dieser Ästhetik kann man durchaus spielen, wie es etwa die Schweizer Architekten Miller & Maranta mit ihrem Volta-Schulhaus in Basel aus dem Jahr 2000 getan haben, hinter dessen strenger Fassade sich ein Wunder an Raum und konstruktiver Eleganz verbirgt. Daran war hier aber niemand interessiert, was sich an der Brutalität zeigt, mit der mit dem Bestand umgegangen wird, etwa bei der Erweiterung der Schule in der Vorgartenstraße 208, einem Entwurf von Martin Kohlbauer, der vom würfelförmigen Neubau erschlagen wird. Das eigentliche Problem ist aber die Schizophrenie, mit der in Wien zwischen Neubau und Sanierung von Schulen differenziert wird. Warum wird bei Sanierung und Erweiterung nicht einmal der Versuch gemacht, zeitgemäße räumliche Bedingungen herzustellen? Reichen für einigeKinder ein Dach über dem Kopf, schmale Gänge, Klassen ohne kontrollierte Raumlüftung und ein Schuleingang, der nicht mehr ist als ein normgerechtes, barrierefrei erreichbares Loch in der Wand?

Mit dem Know-how der WIP ließe sich eine drastisch höhere Qualität erzielen, wennsie neben dem Geschwindigkeits- auch einenInnovationsauftrag hätte, und dafür kompetente architektonische Planung einbezieht. Das PFERD, die Notlösung, muss nicht gleich zum PFAU werden, zum PFlichtschulArchitekturUniversum.

Aber mehr PFIFF muss eine Schule des 21. Jahrhunderts schon haben als PFlichtschule mit Intelligenter FormFindung.

Spectrum, Sa., 2015.08.29

01. August 2015Christian Kühn
Spectrum

Wir sind am Ziel. Sind wir?

Seit 2010 wird an der Seestadt Aspern gebaut. Die ersten 2600 Wohnungen im Südwesten sind bezogen, der See ist seit Juli zum Baden freigegeben. Entsteht hier die Stadt der Zukunft? Ein Lokalaugenschein.

Seit 2010 wird an der Seestadt Aspern gebaut. Die ersten 2600 Wohnungen im Südwesten sind bezogen, der See ist seit Juli zum Baden freigegeben. Entsteht hier die Stadt der Zukunft? Ein Lokalaugenschein.

Die Fahrt mit der U-Bahn ist in Wien seit der Einführung neuer Sprachdurchsagen zu einer Gruppenreise geworden. „Wir sind am Ziel“, sagt die Tonbandstimme, und das kollektive „wir“ weiß, dass es ganz weit draußen angekommen ist, an Orten wie Hütteldorf im Westen, Siebenhirten im Süden oder Leopoldau im Norden. Seit Kurzem gibt es auch eine entsprechende Destination im Nordosten, die freilich keinen alten Ortsnamen hat. Die Seestadt auf dem ehemaligen Flugfeld Aspern, im Süden begrenzt vom General-Motor-Motorenwerk, ist ein komplett neuer Stadtteil, in dem im Endausbau 20.000 Menschen in 10.500 Wohnungen wohnen und ebenso viele einen Arbeitsplatz finden sollen. Die Fläche des Gebiets entspricht annähernd der Wiener Innenstadt innerhalb des Rings.

Den ersten Anlauf für eine städtebaulichePlanung gab es im Jahr 1992, damals noch für 4000 Wohneinheiten. Das Konzept von Rüdiger Lainer nahm die Achsen der Landebahnen des alten Flugfelds zum Ausgangspunkt für eine städtebauliche Figur, die Aufbruch signalisierte. Sichtachsen sollten den Blick nach außen offen halten, die Planung mit den Freiräumen beginnen und die Bebauung in einem offenen Prozess schrittweise festgelegt werden. Das klang mehr nach Partitur als nach Plan und stieß auf wenig Gegenliebe bei den Wiener Bauträgern.

2006 erfolgte daher ein weiterer Wettbewerb, bei dem die Anzahl der Wohnungen bereits auf 8500 gewachsen war. Der Masterplan, den dieser Wettbewerb hervorbrachte, stammt vom schwedischen Büro Tovatt Architects and Planners, zum Zeitpunkt der Ausschreibung des Wettbewerbs noch ein Gemeinschaftsbüro mit dem inzwischen 91-jährig verstorbenen Ralph Erskine, Mitglied des legendären Team Ten und radikaler Kritiker des modernistischen Städtebaus. Der Masterplan sieht einen See im Zentrum vor, um den sich die Stadt in mehreren konzentrischen Ringen ausbreitet. Der Blockraster in den Dimensionen der gründerzeitlichen Stadt gibt dabei den Takt vor. Eine der umlaufenden Straßen ist als überbreiter Boulevard hervorgehoben, eine Ringstraße, die im Unterschied zu ihrem Vorbild tatsächlich ein kreisförmig geschlossener, wenn auch ein wenig verquetschter, Ring ist.

Dieser Masterplan sieht im Grundriss konservativer aus, als er ist. Die Blockrandbebauung ist als grobe Vorgabe mit einigem Spielraum im Rahmen einer vorgegebenen Dichte zu verstehen, was vielfältige Verbindungen zwischen Straßenraum und dem Inneren der Blöcke ebenso ermöglicht wie unterschiedliche Bauhöhen in einem Block. Die Qualität des Konzepts von Johannes Tovatt, der das Projekt als Stadtplaner auch in der Umsetzung begleitet hat, liegt darin, dass es von Anfang an den Freiraum ins Zentrum rückte. Dafür entwickelten Gehl Architects aus Kopenhagen 2009 ein Planungshandbuchunter dem Titel „Partitur des öffentlichen Raums“ als Grundlage für die weitere Arbeit der Architekten und Freiraumplaner. „Zuerstdas Leben, dann die Stadträume, dann die Gebäude“, lautete der Slogan. Mit der Fertigstellung der Bebauung im Südwesten mit 2600 Wohneinheiten ist eine erste Bilanz über das Projekt aus städtebaulicher und architektonischer Sicht möglich, da hier alle zentralen Fragen zu beantworten waren: Anschluss an den See, Ausformung von Wohnstraßen und Ringstraße, Typologie der Bebauung, Übergang zu den angrenzenden Einfamilienhausgebieten.

Besucher, die sich dem Areal von der Endstation der U2 nähern, dürfen sich vom ersten Eindruck nicht täuschen lassen. Das Brachland, das sich vor ihnen ausbreitet, wird in den nächsten Jahren verbaut. Bis zur U-Bahn-Station fertiggestellt ist nur der Park am südlichen Seeufer, der zurückhaltend gestaltet ist und sich bemüht, den beachtlichen Niveausprung zum Wasserspiegel des Sees in den Griff zu bekommen. Nähert man sich vom Park den Wohnbauten an der Bebauungskante zum See, sieht man sich einer unruhigen Front von Fassaden gegenüber, die in einer eher spannungslosen spätmodernen Formensprache gestaltet sind. Damit ist ein Grundproblem des Konzepts einer lockeren Interpretation des gründerzeitlichen Blocks angesprochen: So wertvoll der Ansatz ist, in der Stadtplanung vom Freiraum und nicht von den Gebäuden auszugehen, bleibt am Ende die schlichte Tatsache, dass der Stadtraum von Häusern gebildet wird. Während deren Typologie und Gestalt im gründerzeitlichen Block stark geregelt war, hängt in der Seestadt sehr viel mehr von der Qualität des Einzelobjekts ab.

Das erlaubt auch Ausreißer nach oben: Am Übergang zur kleinteiligen Nachbarschaft hinter der spätmodernen Wasserkante finden sich drei Stadtvillen von NMPB, die mit sparsamen Mitteln hohe Wohnqualität und von Rajek/Barosch fein gestaltete Außenräume bieten. Ein paar Reihen dahinter stehen sich die beiden Baublöcke der Architekten PPAG auf der einen und Berger und Parkkinen mit Querkraft auf der anderen Seite gegenüber. PPAG verdichten das Baufeld maximal mit scheinbar frei eingestreuten Turmhäusern, zwischen denen es so dicht zugeht wie in der Altstadt von Venedig. Trotzdem gibt es aus allen Wohnungen weite Blicke und auf Straßenniveau einen winkeligen öffentlichem Raum mit kleinen Baumgruppen und viel Asphalt, der erstaunlich gut funktioniert.

Berger und Parkkinen haben sich mit Querkraft ein großes Baufeld nicht in der üblichen Weise in zwei Abschnitte geteilt, sondern gemeinsam eine große Lösung entwickelt, eine komplexe Zeilenstruktur, die es sich im Blockrand bequem macht. Als eines der ganz wenigen Projekte kommt dieses ohne Vollwärmeschutz aus, es arbeitet mit einer Holzelementfassade. Im Inneren der Anlage gibt es einen halböffentlichen Park nach einem Entwurf von Alice Größinger, der von den Bewohnern mitgestaltet wird. In beiden Projekten ist die Idee, in der Erdgeschoßzone Wohnungen mit direktem Straßenzugang anzubieten, die auch als Büros genutzt werden können, umgesetzt.

Am Ziel der Wünsche sollte man mit der ersten Bauetappe der Seestadt jedenfalls noch nicht sein. Der erste Abschnitt der Ringstraße zeigt deutlich, dass der Juryvorsitzende aus dem Wettbewerb, Carl Fingerhuth, mit der Aussage recht hatte, diese Straße sei „das Unwichtigste am Projekt“. Während die Wohnstraßen gut funktionieren, kann mit dem überbreiten Straßenraum offensichtlich niemand etwas anfangen. Überhaupt sind Kreuzungspunkte und Platzbildungen keine Stärke des Konzepts und müssten für die Zukunft besser mit der Bebauung justiert werden. Unangenehm bemerkbar macht sich auch das Fehlen eines Farbkonzepts, für das von den Stadtplanern zumindest eine Strategie vorzulegen wäre. Und dass die Bildungseinrichtungen, die die Stadt hier errichtet, mehr Esprit haben sollten als der erste Bildungscampus, der zumindest von der Zugangsseite her aussieht wie ein Finanzamt aus den 1960er-Jahren, wäre an diesem peripheren Standort besonders wichtig.

Eine Idealstadt wollte die Seestadt sowieso nie werden, sondern ein lernendes System. Das kann sie in der nächsten Ausbaustufe beweisen.

Spectrum, Sa., 2015.08.01

04. Juli 2015Christian Kühn
Spectrum

Lernen von den Dänen

Mit seinen jüngsten Projekten katapultiert sich der Däne Bjarke Ingels in die erste Reihe der Weltarchitektur. Ist Dänemark auf dem Weg zu einer führenden Architekturnation?

Mit seinen jüngsten Projekten katapultiert sich der Däne Bjarke Ingels in die erste Reihe der Weltarchitektur. Ist Dänemark auf dem Weg zu einer führenden Architekturnation?

Wie lange dauert der Weg an die Weltspitze? Im Jahr 2003 eröffnete in Kopenhagen das Restaurant Noma, dessen 1977 geborener Küchenchef René Redzepi sich 2005 mit neuer nordischer Küche seinen ersten Michelinstern erkochte. Zwei Jahre darauf wurde Noma mit zwei Michelinsternen ausgezeichnet, bevor es in den Jahren 2010 bis 2014 vom britischen „Restaurant Magazine“ viermal zum besten Restaurant der Welt erklärt wurde.

In der Kochkunst verwundern solche Blitzkarrieren heute niemanden. In der Baukunst sieht es anders aus. Architektur gilt als Old Man's Job; in Wien wird gerne Otto Wagners Aussage zitiert, dass der Baukunstjünger erst ab 50 ernst zu nehmen sei. Umso bemerkenswerter ist die Karriere von Bjarke Ingels, Jahrgang 1974, der nach drei Lehrjahren bei Rem Koolhaas im Jahr 2005 sein eigenes Architekturbüro eröffnete. BIG steht für Bjarke Ingels Group und ist repräsentativ für das Ego seines Gründers. BIG erregte erstes Aufsehen mit Wohnbauten in Kopenhagen, mit dem dänischen Expo-Pavillon in Shanghai und mit einem in Bau befindlichen Wohnhaus in New York: einem Hybrid zwischen Blockrandbebauung und Skyscraper.

Auf dieses Hochhaus folgte nun ein weiteres Projekt, das an Prestige kaum zu überbieten ist. BIG wird das Two World Trade Center in New York planen, den zweithöchsten der neuen WTC-Türme, für den bereits ein Projekt von Sir Norman Foster existierte, das dem zukünftigen Hauptmieter aber zu konventionell war: James Murdoch, der Sohndes Medienmoguls, vergab den Auftrag an BIG. Nun wird Fox News in ein Hochhaus einziehen, das aus sieben gestapelten und leicht gegeneinander versetzten Kuben besteht. Der Entwurf bildet zum Ground Zero hin eine ruhige Figur, die sich Richtung Tribeca abstuft und mit ihren begrünten Terrassen einen einzigartigen Beitrag zur New Yorker Skyline leisten wird.

Mit diesem Coup dürfte Ingels seine Kritiker, die ihm gerne vorwerfen, keine ernsthafte Architektur zu produzieren, zumindest verunsichert haben. Den doppelt so alten Norman Foster an diesem Ort aus einem Auftrag gedrängt zu haben positioniert ihn jedenfalls in der ersten Reihe der Weltarchitektur. Den latenten Vorwurf, er sei so erfolgreich, weil er zwar Talent, aber keinen Charakter hätte, wird er mit diesem Projekt aber kaum aus der Welt schaffen. Kann man guten Gewissens für Fox News bauen?

Ähnlichen Vorwürfen sah sich Rem Koolhaas ausgesetzt, als er für das chinesische Staatsfernsehen das CCTV-Gebäude in Peking entwarf. Koolhaas' Antwort darauf lautet in Kurzfassung: Wir müssen als Architekten aufhören, uns für Dinge verantwortlich zu fühlen, die wir nicht beeinflussen können. Wenn sich die Gelegenheit bietet, außergewöhnliche Architektur umzusetzen, sollten wir sie nutzen. Unter außergewöhnlich versteht Koolhaas dabei aber nicht primär die Form, sondern die Funktionslogik eines Gebäudes, die vom Architekten neu interpretiert werden müsse. Dass sich diese Interpretation in einer außergewöhnlichen Form äußert, ist ein Nebeneffekt, auf dessen Eintreten beim Entwurf natürlich penibel geachtet wird. Das Anliegen, die Welt durch Architektur zu verbessern, hat Koolhaas dabei nicht aufgegeben. Es tritt aber nicht mehrals großspurige Ansage auf, sondern ist in den Entwurf als Potenzial eingewoben. Das CCTV-Gebäude, das als Bauaufgabe George Orwells Ministerium für Wahrheit entspricht, ist bei Koolhaas kein Superzeichender Macht, sondern eine wunderbare Raumschleife, die jeden Moment zu kippen droht. Niemand, der hier arbeitet, kann sich dieser Botschaft, die der Hierarchie eines totalitären Staatsapparats diametral entgegensteht, völlig entziehen.

Man könnte diese Haltung als „kritischen Opportunismus“ bezeichnen. Im Unterschiedzu Koolhaas geht Ingels dabei mit einer bemerkenswerten Portion Humor ans Werk. Für jedes der Projekte von BIG hat er eine Erklärung parat, die den Entwurf wie eine Ikea-Bauanleitung erklärt. So gewinnt man Bauherren, die in der Regel keine Freunde von Komplexität sind. Tatsächlich sind die Projekte von BIG alles andere als simpel. Mit dem 8 House in Kopenhagen, einem Gebäude mit 60.000 Quadratmetern Wohnungen und 10.000 Quadratmetern Büro- und Geschäftsflächen, ist Ingels der wahrscheinlich komplexeste Wohnbau der Welt gelungen, eine gigantische Achterschleife mit Wohnungen auf zehn Geschoßen, von denen die meisten ohne Lift über Rampen erreichbar sind. Ebenfalls in Kopenhagen liegt ein in Bau befindliches Heizkraftwerk, das Ingels mit einer Skipiste umhüllt und mit einem Schornstein ausstattet, aus dem der Abgasdampf nicht kontinuierlich aufsteigt, sondernin ringförmigen Portionen auspufft, womit aus einer diffusen Umweltbelastung eine abzählbare wird. Mit dem dänischen Schifffahrtsmuseum in Helsingør, 50 Kilometer nördlich von Kopenhagen, hat BIG 2013 seinen ersten Kulturbau errichtet. Statt wie vorgesehen ein altes Trockendock mit einem Museum zu füllen, entwarf BIG ein versenktes Museum um das Dock herum, dessen Hohlraum nur von einigen Brückenbauten durchzogen wird.

Dass Bjarke Ingels ausgerechnet von Dänemark aus eine Weltkarriere starten konnte, ist kein Zufall. Gestaltung hat in Dänemark hohen Rang, nicht zuletzt aufgrund der großen, von Architekten getragenen Designtradition, also im kleinen Maßstab des täglichen Lebens. Andererseits zeichnet sich Dänemark durch eine hervorragende Stadt- und Raumplanung aus. Als das Kulturministerium 2006 einen Kanon mit den wichtigsten kulturellen Leistungen des Landes zusammenstellte, gehörte dazu auch der „Fünf-Finger-Plan“, die Raumplanung für die Region Kopenhagen. Last but not least wissen die Dänen seit der Schaffung der Øresund-Region durch die Brückenverbindung zwischen Oslo und Kopenhagen, was sie vorausschauender Planung zu verdanken haben: einen boomenden Wirtschaftsraum mit 3,8 Millionen Bewohnern.

Zwischen Design und Raumplanung ist in Dänemark viel Platz für gute Architektur und Freiraumplanung. Ab 2017 wird diesen Themen ein neues Haus gewidmet sein, das vom Dänischen Architektur Center bespielt wird. Es entsteht gerade in prominenter Lagean der Wasserkante der Altstadt. Das gemischte Raumprogramm umfasst inklusive einiger Wohnungen 17.000 Quadratmeter. Dieses Projekt musste BIG noch dem Übervater überlassen: Der Entwurf stammt von Rem Koolhaas.

Spectrum, Sa., 2015.07.04

06. Juni 2015Christian Kühn
Spectrum

Orientiert euch!

Und jetzt alle gemeinsam: Das Wiener Museum für angewandte Kunst sucht mit der Vienna Biennale nach einer neuartigen Einheit der Künste im Zeitalter der „Digitalen Moderne“. Lässt sich so die Welt verbessern? Eine Vorschau.

Und jetzt alle gemeinsam: Das Wiener Museum für angewandte Kunst sucht mit der Vienna Biennale nach einer neuartigen Einheit der Künste im Zeitalter der „Digitalen Moderne“. Lässt sich so die Welt verbessern? Eine Vorschau.

Wie können Kunst, Architektur und Design zur Verbesserungder Welt beitragen? Schon bei seinem Amtsantritt als Direktor des Wiener Museums für angewandte Kunst im Herbst 2011 kondensierte Christoph Thun-Hohenstein sein Konzept für die zukünftige Entwicklung des MAK auf diese knappe Fragestellung. Die Kunst-, Architektur- und Designszene nickte diese Ansage freundlich ab, erinnerte sich etwas wehmütig an Installationen wie die fliegende Dampfwalze von Chris Burden, die es nun wohl so bald nicht mehr im MAK zu sehen geben würde, und ging zur Tagesordnung über.

Seither sind vier Jahre vergangen, und das MAK hat seine Sammlung neu aufgestellt, ein neues „Design Labor“ im Keller installiert, und ein vielfältiges Ausstellungsprogramm geboten. Aus Sicht der Architektur blieb vieles in guter Erinnerung, etwa die große Retrospektive zu Hans Hollein, die Recherche über die Produktionsbedingungen für Architektur im Fernen Osten („Eastern Promises“) und zuletzt „Wege der Moderne“ über Josef Hoffmann und Adolf Loos. Dazu wurden der jüngeren Szene Möglichkeiten geboten, sich zu positionieren, etwa Soma und „Alles wird gut“ mit kleinen Einzelausstellungen.

Und die Verbesserung der Welt durch Kunst, Architektur und Design? Christoph Thun-Hohenstein hatte schon zu seinem Amtsantritt angekündigt, dass diese Frage nicht nur als Leitmotiv seines Programms zu verstehen sei, sondern als eigener Schwerpunkt mit eigenem Format unter dem Arbeitstitel „Ideas for Change: Ideen für den positiven Wandel“. Ursprünglich war an eine Triennale gedacht, letztlich entschied sich das MAK für eine Biennale, deren erste Ausgabe am 11. Juni eröffnet wird.

Die Vienna Biennale ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Sie ist weltweit die einzige Mehrsparten-Biennale, in der Kunst, Architektur und Design gemeinsam thematisiert werden. Und sie hat ein klares inhaltliches Programm, das zwei Zukunftsfragen der Menschheit in den Mittelpunkt stellt: die Überbeanspruchung des Planeten Erde und die Digitalisierung des Lebens mit ihren positiven wie negativen Folgen. Im 250 Seiten starken Katalog zur Biennale, der um zehn Euro zu erstehen sein wird, sprechen die Autoren von einer „Digitalen Moderne“, die einen „radikalen Einstellungswandel sowohl in den reichen Industrieländern als auch in den Schwellen- und Entwicklungsländern erfordert“. Zugleich bedürfe es, da „auch die Kreativsparten immer stärker im Sinne herkömmlichen Wachstums instrumentalisiert wurden, zu ihrer Erneuerung einer Kreativitätsreform“. Ansätze dafür seien bereits zu erkennen: „In Design und Architektur wird positiver Wandel immer mehr zum Kernthema, und auch die bildende Kunst findet Wege, zur Verbesserung der Welt beizutragen, ohne deshalb gleich ,angewandt‘ zu werden.“ Eine nachhaltige Überwindung der ökonomischen Eigeninteressen und der Selbstbezogenheit der Sparten werde aber erst möglich, wenn „sich Kunst, Design und Architektur zu einer neuartigen Einheit der Künste verbinden“.

Diesem hohen Anspruch folgend, ist die Vienna Biennale ein Großprojekt geworden, an dem zahlreiche Institutionen beteiligt sind. Ausstellungsorte sind neben dem MAK auch die Kunsthalle Wien und die Universität für angewandte Kunst sowie der öffentliche Raum, der mit Installationen und im Rahmen eines Performing Public Art Festivals bespielt wird. Thun-Hohenstein hat vier internationale Kuratorinnen und Kuratoren eingeladen, das Programm zu gestalten. Maria Lind, Direktorin der Tensta Konsthall in Stockholm, zeigt unter dem Titel „Future Light“ im MAK eine Gruppenausstellung und in der Kunsthalle Wien filmische Installationen von Pauline Boudry und Renate Lorenz. Pedro Gadanho, Kurator für zeitgenössische Kunst des MoMa in New York, präsentiert Projekte zum „Taktischen Urbanismus“ in sechs Weltmetropropolen, Mumbai, Istanbul, New York, Rio de Janeiro, Hongkong und Lagos. Peter Weibel wirft im MAK einen Blick auf eine Stadt des ehemaligen Ostblocks: „Mapping Bucharest: Art, Memory, and Revolution 1916–2016“. Harald Gründl, Vorstand des Instituts für Design Research in Wien, hat zehn Projekte initiiert, die sich mit zukünftigen Entwicklungen in den Bereichen Mobilität, Arbeit, Geld, Gesundheit, Wohnen, Versorgung, Gastfreundschaft, Bildung, Konsum und Unterhaltung im Kontext des städtischen Alltags befassen: „2051: Smart Life in the City“.

Gezeigt werden die Projekte einerseits in einer Zusammenschau im MAK, bei der die Milliardenstadt Hypotopia, die vergangenes Jahr von Studierenden der Technischen Universität Wien vor der Karlskirche als Modell aufgebaut wurde, als roter Faden dient, und andererseits an mehreren Standorten im öffentlichen Raum, an denen „Demonstratoren“ zu den Projekten aufgebaut werden. Um die Zukunft der Arbeit unter den Bedingungen der „Digitalen Moderne“ geht es in den von Marlies Wirth unter dem Titel „24/7“ kuratierten Kunstprojekten in der MAK Galerie und in einem vom Biennale Circle mit Erwin Bauer gestalteten Ausstellungsmanifest im Obergeschoß der Säulenhalle.

Mit einem konkreten Baublock in der Seestadt Aspern befasst sich ein Wettbewerb,bei dem sieben vom Direktor des AzW, Dietmar Steiner, ausgewählte internationale Architekturbüros – Kempe Thill, Bevk Perović, Gino Zucchi, Helen & Hard, Hild und K, Lacaton & Vassal und von Ballmoos Krucker –eingeladen wurden, alternative Herangehensweisen der Stadtentwicklung zu erproben, insbesondere in Bezug auf die Nutzungsoffenheit der Strukturen. Gezeigt werden diese Projekte ab 12. Juni im Architekturzentrum Wien.

Wie weit die Vienna Biennale ihre hohen Ansprüche einlösen kann, und ob sie dabei auch die erhoffte internationale Wirkung erreicht, werden die nächsten Monate bis Anfang Oktober zeigen. Die Besucher auf das Format einer Biennale einzuschwören, bei der die „neuartige Einheit der Künste“ vor allem dann erlebt wird, wenn man sich ein paar Tage Zeit nimmt, wird vielleicht noch nicht beim ersten Mal gelingen. Der Schritt eines Museums, sich das scheinbar Unmögliche, nämlich die Verbesserung der Welt durch die Künste, zur Aufgabe zu machen, hat jedenfalls Respekt verdient.

Aber ist das nicht alles doch etwas zu gutmenschenmäßig? Sollten wir uns nicht doch an Stéphane Hessels Empfehlung „Empört Euch!“ halten? Die Botschaft der Vienna Biennale ist anders: Orientiert euch! Und sucht den Punkt, von dem aus ihr wirksam zu einer Verbesserung der Welt beitragen könnt.

Das könnte in Österreich aus aktuellem Anlass die Frage der Unterbringung von Flüchtlingen sein, die derzeit von baurechtlichen Erlässen und dem taktischen Aufbau von Zeltlagern dominiert wird. Die elende Fantasielosigkeit, mit der hier auf fast allen Ebenen agiert wird, ist beschämend. Eine „digitale Moderne“ sollte diese Aufgabe wohl anders bewältigen können, durch bessere Kommunikation und Planung, durch Architektur und Design und nicht zuletzt durch eine Kunst, die sich vielleicht als „zugewandt“ deklarieren könnte.

Spectrum, Sa., 2015.06.06

09. Mai 2015Christian Kühn
Spectrum

Mut zur Mücke

Ein Bauplatz am Ende der Stadt, ein Bauherr, dem es vor allem um die Rendite ging: Wie dem Architektenteam Querkraft unter schwierigen Bedingungen ein besonderes Projekt gelingen konnte.

Ein Bauplatz am Ende der Stadt, ein Bauherr, dem es vor allem um die Rendite ging: Wie dem Architektenteam Querkraft unter schwierigen Bedingungen ein besonderes Projekt gelingen konnte.

Eine Preisfrage für alle, die glauben, Wien zu kennen: Welche Station der U-Bahnlinie U1 liegt zwischen den Stationen Rennbahnweg und Großfeldsiedlung? Selbst für Bewohner des 21. Bezirks ist es keine Schande, die Antwort nicht zu wissen. Im Unterschied zu den beiden nach berühmt-berüchtigten Großsiedlungen aus den 1970er-Jahren benannten Stationen ist die Station Aderklaaer Straße ein Zwischenstopp im gemischt genutzten Baugebiet, wo Industrie, Handel und Gewerbe dominieren.

Für das an die Station anschließende, unbebaute Grundstück im Ausmaß von 30.000 Quadratmetern begann durch die Ankündigung des U-Bahnbaus Ende der 1990er-Jahre ein neues Zeitalter. Erste städtebauliche Konzepte datieren ins Jahr 2000. Heute befinden sich hier eine Shoppingmall mit 20.000 Quadratmetern sowie rund 1200 Miet- und Eigentumswohnungen, die zum einen Teil in zwei Hochhäusern mit jeweils 100 und 80 Metern Höhe, zum anderen Teil in einer achtgeschoßigen Blockrandverbauung und in gleich hohen, kompakten Wohnblöcken untergebracht sind. Das Dach der Shoppingmall ist begrünt und für die Bewohner zugänglich, um das nicht gerade üppige Grünflächenangebot in der Umgebung ein wenig zu kompensieren.

Ursprünglich hieß das Areal Brachmühle. Der neue Name Citygate ist so generisch wie die Shoppingmall, deren Angebot kaum mehr bietet als eine Untermenge des nur drei Stationen entfernten Donauzentrums. Nur beim Namen des zweiten Turms blitzt unfreiwillig Originalität auf: Unter Bezugnahme auf den alten Ortsnamen Leopoldau heißt er Leopoldtower, was sich auf Wienerisch nur als Leopoldauer aussprechen lässt und am besten auf Leopoldauertower erweitert werden sollte.

Architektonisch originell sind nur die beiden von Querkraft geplanten Wohnhochhäuser, von denen das erste gerade bezogen wird. Schon von Weitem fällt dieses Haus durch seine plastisch gestaltete Fassade auf, die mit einfachsten Mitteln einen einprägsamen visuellen Effekt erzielt. Erstens werden die umlaufenden schmalen Balkone in regelmäßigen Abständen halbkreisförmig auf über zwei Meter Tiefe erweitert. Zweitens werden diese Balkone nicht exakt übereinander gestapelt, sondern pro Geschoß leicht verschoben, sodass eine Wellenbewegung mit einemkontinuierlichen Verlauf über die gesamte Fassade entsteht. Und drittens werden auch die Balkongeländer – einfache „Zaunlatten“ aus Aluminium, wie sie als Massenprodukt für Gartenzäune gefertigt werden – in Bewegung gebracht: Dort, wo die Balkone tiefer werden, verdichten sich die Abstände zwischen den Latten, während die Höhe dieser Stäbe gleichzeitig ansteigt.

Auch im Grundriss hat dieses Hochhaus mit einer Innovation aufzuwarten, die von den Architekten als „vertikale Dorfstraße“ bezeichnet wird. Auf der nach Norden gerichteten Schmalseite des Turms liegen keine Wohnungen, sondern gemeinschaftlich nutzbare Räume, von der Waschküche bis zu Kinderspielräumen, und einige allgemein zugängliche Terrassen. Die Lifttüren öffnen sich auf jedem Geschoß zu diesen Räumen, die zum Gang hin verglast sind. Im Unterschied zu einem normalen Hochhaus, bei dem man erst in der Wohnung spürt, auf welcher Höhe man sich befindet, gibt es das Höhenerlebnis und damit eine vertikale Orientierung hier in dem Moment, in dem man aus dem Lift heraustritt und – je nach Höhe – mehr oder weniger weit in die transdanubische Landschaft blickt. Für dieses Erlebnis wurde auf ein paar nordseitige Wohnungen verzichtet, was durch die sonst hohe Effizienz des Grundrisses möglich war. Das Tragsystem ist ökonomisch und bietet für die Wohnungsteilung eine hohe Flexibilität. Die Wohnungen sind gut geschnitten, die Fenster nicht übermäßig breit, aber bis zum Boden geführt, was die Räume in Kombination mit dem umlaufenden Balkon erweitert. Wo immer möglich, bietet sich schon von der Wohnungstür aus ein Blick über ein gegenüberliegendes Fenster ins Freie, eine Maßnahme, die nichts kostet, aber bei jedem Betreten der Wohnung Freude macht.

Die Idee, im Hochhaus die Vertikale zu inszenieren, hat Querkraft bis ins Detail durchgezogen. Auf jeder Etage gibt es vor denLiften eine kleine Grafik und einen Text, der die Höhe mit einer Geschichte verbindet: im ersten Geschoß die Höhe einer Giraffe mit sechs Metern, im achten Geschoß das Brandenburger Tor mit 26 Metern, im 31. Stock die New Yorker Freiheitstatue mit 93 Metern, und ganz oben, im 34. Stock, wird auf die maximale Flughöhe von Stechmücken mit 100 Metern Bezug genommen.

Ähnliches leistet Heimo Zobernigs Kunst-am-Bau-Projekt, das auf eine Umfrage zurückgeht, welche Farben Menschen mit emotional besetzten Begriffen assoziieren. Für denCitygate-Tower wurde die Verteilung zum Begriff Geselligkeit gewählt, bei der Orange mit 25 Prozent dominiert, und als Leitfarbe für die Geschoße verwendet. Diese ist von außen im Schlitz zu sehen, den die vertikale Dorfstraße an der Nordseite ins Hochhaus schneidet, und in den Erschließungsgängen zu den Wohnungen.

Bauherr der Türme und eines Teils der sonstigen Wohnungen ist die Stumpf AG des Investors Georg Stumpf, der mit dem Millenniumstower und der anschließenden Mall ein Vermögen gemacht hat, das ihm 2005 den Kauf des Areals ermöglichte. Die Ausschlachtung eines Projekts bis zum einträglichen Maximum ist sein Markenzeichen. Ein erstes, von Frank und Partner entworfenes Projekt, das diesem Prinzip bedingungslos huldigte, scheiterte mehrfach am Fachbeirat für Stadtgestaltung, dem jedes Hochhaus vorzulegen ist, und vor allem am Grundstücksbeirat, der über die Wohnbauförderung entscheidet. Unter dem Vorsitz von Dietmar Steiner schickte der Beirat das Projekt so lange in die Warteschleife, bis 2010 ein neues städtebauliches Verfahren erfolgte und Stumpf den Auftrag an Querkraft übertrug. Dass auch Querkraft zu kämpfen hatte, zeigen acht Zentimeter dünne Gipskartonwände in den Wohnungen und manche Details, wo mit wenig Geld Architektur statt Improvisation hätte entstehen können.

Das Ergebnis ist ein Teilerfolg in der Kanalisierung von Privatkapital in verträglichen Wohnbau mit öffentlicher Förderung. Die Kompromisse und Kämpfe sieht man dem Projekt an, etwa, wo der Turm mit dem banalen Wohnbauriegel zusammenstößt, den Frank und Partner am Ende bauen durften. In 50 Jahren wird man fragen, wie eine Epoche zu solcher Schizophrenie fähig war.

Spectrum, Sa., 2015.05.09

11. April 2015Christian Kühn
Spectrum

Luftschiffe im Hinterhof

Wien wächst auch durch innere Verdichtung. Ein Ausflug nach Simmering, Mautner-Markhof-Gründe. In die Zukunft des städtischen Wohnbaus?

Wien wächst auch durch innere Verdichtung. Ein Ausflug nach Simmering, Mautner-Markhof-Gründe. In die Zukunft des städtischen Wohnbaus?

Simmering gilt nicht unbedingt als die feinste Gegend von Wien. Für die Bewohner Döblings beginnt hier der Osten, der Balkan, die Steppe. Allerdings ist dieser Osten durch den Bau der U-Bahnlinie U3 inzwischen nahe ans Zentrum gerückt: Von der Station Wien Mitte ist man in nur neun Minuten am Enkplatz in Simmering.

Wer sich für die Stärken und Schwächen des aktuellen Wiener Wohnbaus interessiert, ist gut beraten, diese kurze Fahrt anzutreten. Hier sind auf dem Areal der ehemaligen Mautner-Markhofschen Fabrik in den letzten zwei Jahren rund 900 neue Wohnungen entstanden, in der Werbesprache der Stadt ein „neuer Stadtteil“, streng genommen eher ein großes Implantat, das sich in die bestehende Bebauung einfügen muss.

Das städtebauliche Konzept stammt vom Büro Hermann und Valentiny mit Peter Podsedensek. Es ist das Ergebnis eines Wettbewerbs aus dem Jahr 2007 und sieht eine große Fußgängerachse vor, die von der Simmeringer Hauptstraße, also von der U-Bahnstation am Enkplatz, durch das Grundstück bis zur Mautner-Markhof-Gasse führt und dabei einen Platz durchquert, der das urbane Zentrum des „neuen Stadtteils“ bilden soll, neben einem niedrigen, villenartigen Altbestand, der teilweise denkmalgeschützt ist. An beiden Enden der Fußgängerachse verdichtet sich die Bebauung und passt sich dem Blockrand an, während in der Mitte eine lockere Struktur mit frei stehenden Baukörpern entsteht, die relativ tief sind und über zentrale Lichthöfe erschlossen werden.

Die Umsetzung dieses konventionellen, aber in sich schlüssigen städtebaulichen Konzepts zeigt eine Schwäche des Systems auf, mit dem in Wien auf dieser Maßstabsebene Stadtplanung betrieben wird. Im städtebaulichen Wettbewerb müssen die Planer nicht nur eine Baumassenstudie liefern, sondern bereits eine detaillierte Aussage über die vorgesehenen Grundrisstypologien und Freiräume. Das hat seine Berechtigung, ist aber niemals durch das Honorar gedeckt, das für städtebauliche Wettbewerbe bezahlt wird. Im konkreten Fall betrug das Preisgeld für die acht geladenen Planer je 7000 Euro. Kompensiert wird dieses garantierte Verlustgeschäft durch die inoffizielle Zusage, dass der Gewinner gemeinsam mit einem Bauträger am folgenden Bauträgerwettbewerb teilnehmen darf – und dabei als sogenannter Fixstarter nicht mehr verlieren kann.

Diese eigenartige Vorstellung von Wettbewerb hat Konsequenzen, die man auf den Mautner-Markhof-Gründen besichtigen kann. Der Bauträger Wien Süd, der das gesamte Areal erworben hatte, beauftragte als Fixstarter das Team Hermann, Valentiny und Podsedensek mit dem großvolumigen Bauteil an der Simmeringer Hauptstraße und für das Pendant am anderen Ende der Achse ein weiteres Team aus dem städtebaulichen Wettbewerb, Harry Glück und Atelier4. Die frei stehenden Baukörper dazwischen wurden an andere Bauträger vergeben. Dabei kam auf einem Baufeld mit Rüdiger Lainer für den Bauträger Wiener Heim ein weiterer Teilnehmer aus dem städtebaulichen Wettbewerb zum Zug, die zwei restlichen Baufelder wurden durch die Architekten Tillner und Willinger für das Österreichische Siedlungswerk und Geiswinkler und Geiswinkler für Neues Leben geplant.

Nicht zuletzt diese Konstellation erklärt das beachtliche Qualitätsgefälle der Anlage. Die großvolumigen, vom Bauträger Wien Süd entwickelten Teile sind Massenware: rein pragmatisch der Wohnblock von Harry Glück, als große Geste inszeniert der Bauteil von Hermann und Valentiny an der Simmeringer Hauptstraße. Die Maschinenästhetik von Hermann und Valentiny, schon immer eine Art Parodie auf die russische Revolutionsarchitektur, ist hier unangemessen monumental und im Detail schlecht umgesetzt. Auch das Freiraumkonzept von Jakob Fina, das an der Hauptachse klassische Motive von Straße und Platz zitiert, wird der spezifischen Situation eines großen, etwas wilden und potenziell geheimnisvollen Hinterhofs nicht gerecht. Das Ergebnis ist paradox: überinszeniert und trotzdem langweilig.

Innovation findet man allerdings in den frei stehenden Wohnbauten, die den vorgegebenen Typus des kompakten Blocks mit zentraler, von oben belichteter Erschließungshalle sehr unterschiedlich interpretieren. Bei Rüdiger Lainer wird aus der Halle eine geschoßweise Begegnungszone mit hoher Aufenthaltsqualität: Blick ins Freie und wenige Vertikalverbindungen. Die Halle bei Tillner und Willinger ist an sich ein großzügigeres Treppenhaus, das allerdings im Erdgeschoß und ersten Stock geschickt mit den Sozialräumen des Hauses verbunden ist.

Die überzeugendste Interpretation des Typus liefern Geiswinkler und Geiswinkler. Ihre Halle ist ein mehrgeschoßiger, heller Aufenthaltsraum mit Stiegenläufen, für die man gerne darauf verzichtet, den Lift zu benutzen. Im Unterschied zu den beiden anderen Variationen des Typus, denen man von außen ihren Passivhaus-Standard deutlich anmerkt, schweben die Häuser von Geiswinkler und Geiswinkler wie Luftschiffe im Hinterhof, mit verglasten Ecken und umlaufenden Balkonen, deren Brüstungen aus fein gelochtem Aluminiumblech in der Sonne blitzen. Die tiefen, raffiniert gestaffelten Ausbuchtungen der Balkone sind echte Sommerwohnzimmer, mit Pflanztrögen und Rankgerüsten aus Metall. Alle Details passen, auch solche, die man nicht sieht: Die Entwässerung der Balkone, sonst meist außen in Rohren geführt, wird man an dieser Fassade vergeblich suchen.

Eine besondere Qualität des Projekts ist die Freilegung der Kellergeschoße, die durch das leicht abfallende Gelände begünstigt wird. Zwischen den drei identischen Baukörpern entsteht so eine Gemeinschaftszone, die an einem Ende einen Kindergarten aufnimmt, am anderen einen großen Veranstaltungssaal und unter dem mittleren Baublock eine offene, aber überdachte Spielfläche. Die hervorragende Gartenarchitektur stammt von Auböck und Kárász, die beweisen, dass es auch ohne den Maschendrahtzaun geht, der in diesem „neuen Stadtteil“ die meisten Parzellen voneinander trennt.

Alle, die über die Zukunft des Wiener Wohnbaus zu entscheiden haben, sollten sich diese Architektur genau ansehen. Dem aktuellen Kostendruck kann man vom heute erreichten Qualitätsniveau aus durch typologische und technische Innovationen und durch Durchforstung von Normen und Regulierungen begegnen. Oder dadurch, dass man sich von den Pragmatikern 30 Jahre in die Vergangenheit katapultieren lässt.

Spectrum, Sa., 2015.04.11

21. März 2015Christian Kühn
Spectrum

Was muss hier brennen?

In Frankfurt brennen zur Eröffnung der Europäischen Zentralbank fürs Erste die von Demonstranten angezündeten Autos. Ist dieser Turm ein Symbol für Europas Zukunft?

In Frankfurt brennen zur Eröffnung der Europäischen Zentralbank fürs Erste die von Demonstranten angezündeten Autos. Ist dieser Turm ein Symbol für Europas Zukunft?

In der Finanzkrise ducken sich auch die guten Banken lieber weg. Wer Geld beim Staat aufnehmen muss, um seine Liquidität zu sichern, gibt sich besser bescheiden. Pläne für neue „Headquarters“ kommen gerade in solchen Phasen schlecht an, selbst wenn sie wirtschaftlich sinnvoll sind. Als die Erste Bank 2008 den Wettbewerb für ihre neue Zentrale am Wiener Hauptbahnhof durchführte, geschah das weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Über den Entwurf der Architekten Henke und Schreieck, der den Wettbewerb gewann, konnte damals praktisch nicht berichtet werden, da weder Visualisierungen noch Pläne des 300-Millionen-Euro-Projekts freigegeben wurden.

Die Europäische Zentralbank hat mit 1,3 Milliarden Euro rund das Vierfache gekostet, und sie wäre wohl kaum in dieser Form realisiert worden, hätte der Wettbewerb für das Projekt nicht schon im Jahr 2004 stattgefunden, als von einer Finanzkrise noch nichts zu bemerken war. 2004 hatten die Europäischen Staatschefs in Rom gerade den Entwurf jener Unionsverfassung unterzeichnet, die im Jahr darauf an Referenden in Frankreich und in den Niederlanden scheitern sollte. In der kurzen Phase der EU-Euphorie, die diese Entwicklung begleitete, beschloss die EU gleich zwei neue Headquarters für ihre zentralen Organe zu errichten: Der Europäische Rat und der Rat der EU sollten ein neues, gemeinsames Gebäude in Brüssel erhalten, die Europäische Zentralbank eines in Frankfurt. Die übrigen vier Organe – Kommission, Parlament, Rechnungshof und EU-Gerichtshof – waren baulich bereits gut versorgt. Aus Anlass der Verfassungsgebung ein neues Parlament zu errichten – wie das in vielen Nationalstaaten der Fall war – wäre in der EU keine gute Idee gewesen: Mit den Parlamentsbauten in Straßburg und Brüssel leisten wir uns ja bereits zwei aktive Parlamentsstandorte mit Transferkosten von rund 200 Millionen Euro pro Jahr. Vom dritten Plenarsaal in Luxemburg, der nur einige Jahre in Betrieb war, wird heute lieber nicht mehr gesprochen.

Dass die Europäische Zentralbank zu einem Symbol für den Zusammenhalt der Europäischen Union wurde, ist ebensowenig Zufall wie ihr Standort. Die Einführung des Euro und damit die Aufgabe der Deutschen Mark waren der Preis, den Deutschland für die Wiedervereinigung zu leisten hatte. Obwohl zahlreiche Ökonomen die Einführung der gemeinsamen Währung für verfrüht hielten, behielten die politischen Argumente die Oberhand. Immerhin bekam die EZB ihren Sitz in Frankfurt, dem Finanzzentrum Deutschlands, um dem Euro ein wenig von der Aura der Deutschen Mark mitzugeben.

Der Turm der EZB ist daher weniger ein Monument des Kapitals als vielmehr ein Monument der Europapolitik. Wer hier aus österreichischer Perspektive eine Entsprechung sucht, kann sie im Projekt für die Nationalbank der k. u. k. Monarchie, der Österreichisch-Ungarischen Bank, finden, in deren Druckereigebäude am Otto-Wagner-Platz bis heute die Oesterreichische Nationalbank untergebracht ist.

1911 konnte der Wagner-Schüler Leopold Bauer, der sich zu diesem Zeitpunkt schon von seinem Lehrer entfremdet und dem Neoklassiszismus zugewandt hatte, den Wettbewerb für ein monumentales Zentralbankgebäude an der Alser Straße für sich entscheiden, das mit einem fast 100 Meter hohen, pyramidenförmigen gekrönten Turm als Symbol für die k. u. k. Monarchie als supranationale Einheit gedacht war. Begonnen wurde der Bau mit dem Druckereitrakt, einem schlichten Industriebau, der mit der Bank über eine Brücke verbunden gewesen wäre. 1917 stand dieses Gebäude im Rohbau und wurde von 1923 bis 1925 zum Verwaltungsbau der Nationalbank umgestaltet, dessen Dimension dem geschrumpften Österreich entsprach. Statt dem monumentalen Turm findet sich heute eine lieblos gestaltete Grünfläche, die sinnigerweise Ostarrichi-Park heißt.

Der Europäischen Zentralbank ist ein solches Schicksal erspart geblieben, da alle wesentlichen Entscheidungen noch vor der Finanzkrise gefällt wurden. Für den Standort östlich außerhalb des Bankenviertels, in dem die EZB bisher untergebracht war, hatte man sich bewusst entschieden, um den Unterschied zwischen der Zentralbank und den anderen Banken hervorzuheben. Auf dem Areal am Main, das für das Projekt zur Verfügung stand, befand sich eine denkmalgeschützte Großmarkthalle, 1928 nach einem Entwurf von Martin Elsaesser errichtet.

Die Halle, mit 250 mal 50 Metern zur Bauzeit eines der größten Gebäude der Welt, liegt in der Mitte des annähernd quadratischen, 300 mal 300 Meter großen Grundstücks und musste in den neuen Komplex integriert werden. Das Ergebnis ist sicher eines der markantesten und schönsten Hochhäuser der Welt. Wer von Coop Himmelb(l)au und den Tragwerksplanern Bollinger und Grohmann dekonstruktivistische Collagen erwartet, wird von der disziplinierten und trotzdem mysteriösen Geometrie des Turms überrascht sein, der eigentlich aus zwei durch eine Halle miteinander verbundenen Türmen besteht. Die seitlichen Außenflächen sind sogenannte HP-Flächen, doppelt gekrümmte hyperbolische Paraboloide, die aus geraden Elementen konstruiert werden können. Da die beiden Türme leicht gegeneinander verschoben sind und das Gesamtgebäude keinen horizontalen oberen Abschluss hat, sondern einen schräg angeschnittenen, bietet es aus unterschiedlichen Blickrichtungen jeweils ein völlig anderes Erscheinungsbild: kompakt und fast wuchtig in der Ostansicht, schlank und dynamisch in der Westansicht vom Stadtzentrum aus.

Die besondere typologische Innovation des Turms ist die innere Halle, die in mehrere bis zu 60 Meter hohe vertikale Abschnitte geteilt ist. Auf den Zwischenebenen halten offen geführte Expresslifte, in jedem der beiden seitlichen Bürotürme gibt es weitere Liftgruppen, die über die Halle zugänglich sind. Wer von einem Bürogeschoß in ein anderes wechseln möchte, betritt dafür zuerst die Halle, statt einfach von einem identischen Bürogeschoß in ein anderes katapultiert zu werden.

Das ist eine Veränderung der Alltagsdramaturgie, die nicht gering zu schätzen ist. Einzelne Stege zwischen den beiden Bürotürmen stellen weitere Verbindungen zwischen bestimmten Abteilungen her. Zusätzliche, der Stabilisation der beiden Türme dienende Stahlträger laufen schräg durch den Raum. Die Glaswände, die beiderseits die Atrien nach außen abschließen, sind konstruktive Meisterwerke mit einem markanten Knick in der Mitte, der Bewegungen der Fassade abfedert.

Der Turm steht seitlich neben der mit großem Aufwand restaurierten Markthalle. Sie wurde durch Einbauten in ein Konferenzzentrum verwandelt und bildet auch den Hauptzugang zum Gebäude. Hier entsteht tatsächliche eine Collage zwischen Alt und Neu: Ein horizontaler Trakt durchschneidet die Halle schräg und verfällt dabei in eine heftige Krümmung, die sich über den Eingang schiebt. Dahinter entwickelt sich eine gut rhythmisierte Raumfolge, die schließlich in das erste, unterste Atrium des Turms führt. Frei zugänglich ist nur ein kleiner Teil des Areals, dessen Außenanlagen von Günther Vogt gestaltet wurden. Das Konferenzzentrum ist ein zumindest halböffentlicher Bereich, hinter dem dann die Hochsicherheitszone des Turms beginnt.

Wer dieses Gebäude als Inbegriff all dessen interpretiert, was in der Europäischen Union falsch läuft, wird es von Herzen hassen. „Architektur muss brennen“, haben Coop Himmelb(l)au vor vielen Jahren gefordert, und vielleicht wird dieses Gebäude in einigen Jahren tatsächlich in Flammen aufgehen. Es ist teuer, dominant und elitär. Es könnte aber auch ein Symbol für den Versuch werden, Rationalität und Leidenschaft miteinander in Verbindung zu bringen, sich in einem vereinten Europa große, schwer erreichbare Ziele zu setzen und dabei erfolgreich zu sein. Wofür dieses Gebäude am Ende steht, werden die nächsten Jahre entscheiden.

Spectrum, Sa., 2015.03.21



verknüpfte Bauwerke
Europäische Zentralbank - Neubau

14. Februar 2015Christian Kühn
Spectrum

Kann das gesund sein?

Die Rezepte und ein paar Zutaten vom Spitzenkoch, zubereitet wird bei der Fastfoodkette. Wenn der Architekt seine Schuldigkeit getan hat: das Private-Public-Partnership-Modell.

Die Rezepte und ein paar Zutaten vom Spitzenkoch, zubereitet wird bei der Fastfoodkette. Wenn der Architekt seine Schuldigkeit getan hat: das Private-Public-Partnership-Modell.

Es wird der wichtigste Kulturbau sein, den die Stadt Wien in eigener Verantwortung seit über 50 Jahren realisiert: die Erweiterung des Wien Museums am Karlsplatz. Noch heuer soll der Wettbewerb über die Bühne gehen, bis Jahresende könnte ein Generalplaner feststehen, der das Projekt vom Entwurf bis zur künstlerischen Oberleitung betreut, inklusive aller nötigen Zwischenschritte wie Ausführungs- und Detailplanung. Es ist das Modell, das große öffentliche Bauherren wie die Bundesimmobiliengesellschaft seit Jahrzehnten erfolgreich praktizieren. Doch Wien ist anders: Das Museumsprojekt soll „PPP-tauglich“ sein, also eventuell im Rahmen eines sogenannten Private-Public-Partnership-Modells realisiert werden. In diesem Fall – so erklären die juristischen und wirtschaftlichen Berater der Stadt Wien – könne den Siegern des Wettbewerbs nur eine Beauftragung von Entwurfs- und Einreichplanung und einigen Leitdetails garantiert werden. Alle weiteren Planungsstufen müssten vom privaten Partner verantwortet werden. Den Architekten könnte nur eine Beraterrolle auf der Seite der Stadt eingeräumt werden, aber keine Verantwortung für die finale Detailplanung und künstlerische Oberleitung.
Was treibt die Stadt Wien dazu, sich auf ein Verfahren einzulassen, das man mit dem Versuch vergleichen könnte, für ein Festessen (also das Museum) das Rezept (den Entwurf) und ein paar ausgewählte Zutaten (die Leitdetails) in einem Spitzenrestaurant einzukaufen und dann die Zubereitung einer Fastfoodkette zu überlassen. Ob unter diesen Bedingungen internationale Spitzenarchitekten, für die eine weitgehende Kontrolle über ihre Projekte selbstverständlich ist, überhaupt am Wettbewerb teilnehmen werden, ist fraglich.

Woher kommt die Motivation der Stadt, sich auf dieses Risiko einzulassen? Die Antwort führt in einen Dschungel volkswirtschaftlicher und juristischer Sachzwänge, die ihren Ausgangspunkt bei der Lage der öffentlichen Finanzen haben. Dazu kommt die ideologisch belastete Frage, ob die öffentliche Hand oder private Unternehmen besser mit dem Geld der Steuerzahler umgehen. Die Idee von PPP-Modellen stammt nicht zufälligerweise aus Großbritannien, wo Tony Blairs New Labour nach ihrem Wahlsieg 1997 die Idee eines Dritten Wegs propagierte, der eine stärkere Beteiligung privater Investoren an öffentlichen Aufgaben vorsah, als Partnerschaft, im Unterschied zur radikalen Privatisierung der Thatcher-Ära. Bis zu 20 Prozent günstiger – so lautete das Versprechen – könnten Projekte werden, wenn sie der trägen Beamtenschaft entzogen und agilen Privaten übertragen werden.

Die Realität sah freilich anders aus. Ein Untersuchungsausschuss des britischen Parlaments kam 2011 zum Ergebnis, dass Nachforderungen der Investoren die Regel sind. Zu einer ähnlich kritischen Haltung kam 2014 der Deutsche Bundesrechnungshof, der mittels PPP errichteten Autobahnprojekten Mehrkosten in Milliardenhöhe im Vergleich zu einer öffentlichen Umsetzung attestierte. Befürworter des Modells sprechen von einzelnen Negativbeispielen und sehen den zentralen Vorteil von PPP in der höheren Kostenwahrheit, da der Private einen realistischen Fixpreis zusagen muss. Öffentliche Auftraggeber würden stattdessen oft mit zu niedrigen Budgets in ein Projekt starten und danach nicht die Kosten minimieren, sondern ihren Arbeitsaufwand und ihr politisches Risiko.

Die anhaltende Attraktivität von PPP-Projekten hat freilich andere Gründe: Im PPP muss sich die öffentliche Hand nicht in der Höhe der Projektkosten verschulden, sondern für eine Zeitspanne von 20 bis 30 Jahren ein jährliches Nutzungsentgelt zahlen, wobei das Objekt am Ende in den Besitz der Stadt übergeht. Mit dieser Konstruktion belastet das Projekt die öffentliche Verschuldung Österreichs, zu deren Beschränkung auf 60 Prozent des BIP sich die Republik im Rahmen des Euro-Stabilitätspakts verpflichtet hat, nur im Rahmen der Jahresrate.

Gemessen wird dieser Wert von der Statistik Austria nach Regeln, die von ihrem Äquivalent auf EU-Ebene, der Eurostat, vorgegeben werden und im europäischen System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (ESVG 2010) ihren rechtlichen Rahmen haben. Diese Regeln zielen darauf ab, Scheinkonstruktionen, bei denen sich die öffentliche Hand der Privaten nur bedient, um die Schuldenbremse zu umgehen, von „echten“ PPP-Projekten zu unterscheiden. Zentrales Kriterium ist das Risiko, das der Private übernimmt. Dabei müssen drei Risken eindeutig dem Privaten zugeordnet werden: das Baukostenrisiko, das Verfügungsrisiko und das Finanzierungsrisiko. Der letzte Punkt bedeutet, dass die öffentliche Hand für die Kredite des Privaten nicht haften darf; der zweite, dass Zeitverzögerungen zu Lasten des Privaten gehen; und der erste, dass Baukostenüberschreitungen nicht an die öffentliche Hand weitergegeben werden dürfen.
An diesem Punkt setzt die verzwirbelte Kette der Sachzwänge an, wie sie die Berater der Stadt argumentieren. Wird der Private dazu verpflichtet, die Architekten aus dem Wettbewerb weiter zu beauftragen, könnte der Umstand eintreten, dass der Private eine Baukostenüberschreitung auf eine fehlerhafte Ausführungsplanung der Architekten zurückführt und die Mehrkosten der öffentlichen Hand zu verrechnen versucht, die ihn ja „gezwungen“ hat, diese Planer zu beauftragen. Dieser Fall ließe sich zwar vorab in einem Vertrag zwischen der Stadt und dem Privaten explizit ausschließen.
Allerdings könnte eine solche Regelung in einem Zivilprozess nach § 879 ABGB von einem Richter als „sittenwidrig“ eingestuft und aufgehoben werden. Würde nun der Private auf diesem Weg Mehrkosten erfolgreich einklagen, hätte er einen Teil des Baukostenrisikos auf die öffentliche Hand abgeschoben – und dann könnte der Fall eintreten, dass die Statistik Austria das Projekt nicht als „echtes“ PPP-Projekt anerkennt und der Schuldenstand der Stadt um die Projektkosten ansteigt.

Die vielen Konditionalsätze in dieser Argumentation bedeuten vor allem eines: Die Stadtregierung kann den privaten Partner mit gutem Gewissen dazu verpflichten, die Gewinner des Architekturwettbewerbs mit der weiteren Planung zu beauftragen. Sie müsste dafür allerdings tun, wofür sie gewählt ist: politische Verantwortung übernehmen. Die im letzten Herbst veröffentlichten „Baukulturellen Leitlinien“ der Stadt sollten als Motivation ausreichen. Immerhin versprechen sie „qualitätsorientierte Prozesse für die Planung aller Bauten im Einflussbereich der Stadt Wien“.

Es geht hier nicht nur um das Wien Museum. Acht neue Wiener Campusschulen und zahlreiche andere Sozialbauten sollen in den nächsten Jahren als PPP-Projekte umgesetzt werden. Es wird Mut zur Qualität und die Bereitschaft brauchen, im Rahmen der Möglichkeiten des ESVG neue Modelle der maastrichtneutralen Finanzierung und Umsetzung, die es sehr wohl gibt, zu entwickeln. Vor dem Restrisiko in die Knie zu gehen, ist jedenfalls kein gesunder Weg.

Spectrum, Sa., 2015.02.14

31. Januar 2015Christian Kühn
Spectrum

Tanz der Türme

Ein neues Hochhauskonzept für Wien liegt vor. Wird es Wirkung zeigen?

Ein neues Hochhauskonzept für Wien liegt vor. Wird es Wirkung zeigen?

Wer baut Wien? Unter diesem Titel publizierte Reinhard Seiß 2007 sein Sittenpanorama der Wiener Stadtplanung seit den 1980er-Jahren. Das Skandalöse an diesem Titel war die Frage nach dem „Wer“: Gibt es überhaupt noch so etwas wie persönliche Verantwortung im Städtebau? Baut sich die Stadt nicht längst selbst, in einem Strom systemisch verknoteter, unkontrollierbarer Prozesse, die sich jedem individuellen Zugriff entziehen? Seiß hat nachgewiesen, dass diese Darstellung der Dinge falsch ist und vor allem ein Ziel verfolgt: die für die Stadtplanung grundlegende Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Interessen zu vernebeln. Für die Jahre bis 2007 konnte Seiß an zahlreichen Wiener Beispielen nachweisen, wie sich in diesem Nebel gute Geschäfte machen ließen, von denen Investoren, Parteifreunde und Beamte profitierten.

Seither hat sich viel geändert. Das Jahr 2010 markiert den Beginn einer rot-grünen Koalition, deren Juniorpartner für die Stadtplanung verantwortlich ist. Das Bekenntnis zur Stadt, das Maria Vassilakou kurz nach ihremAmtsantritt ablegte, klang authentisch. Die Stadt ließ ihr auch keine Wahl, da sie beschlossen hatte, heftig zu wachsen. Das wirft Fragen nach Bebauungsdichten und -höhenauf, die zu den Idealen mancher grüner Parteigänger – für die ein Haus grundsätzlich nicht höher zu sein hat als ein Baum – deutlich im Widerspruch stehen. Dass sich das Hochhaus in den Jahren der rot-grünen Koalition vom Exoten zu einem Normalfall der Stadtverdichtung entwickelt hat, ist jedenfalls bemerkenswert.

Die bisherigen Leitlinien für den Bau vonHochhäusern stammen aus dem Jahr 2002 und waren kein Konzept, sondern ein Patchwork, mit Angaben über Ausschlusszonen, freizuhaltende Sichtachsen und einer Definition von Eignungszonen, die der Spekulation mehr als genug Raum ließ: „Alle nicht als Ausschlusszonen deklarierten Stadtbereiche sind potenzielle Eignungszonen.“ Zusätzliche Vorgabe war das Vorhandensein einer „höherrangigen“ öffentlichen Verkehrsanbindung – ein Konzept, das spitze Kommentare geradezu herausforderte: Kann in Wien ein Hochhaus gebaut werden, wo immer sich zwei Straßenbahnlinien kreuzen und keine Ausschlusszone vorliegt? Städtebauliche Leitbilder sollten erst im Lauf der Projektentwicklung für ein konkretes Hochhaus entstehen, was gewissermaßen eine Schubumkehr der Stadtplanung bedeutet: Statt vom Leitbild gesteuert zu werden, schafft das Projekt sich sein Leitbild selbst.

Dieses Hochhauskonzept aus dem Jahr 2002 war das dritte, das die Stadt Wien in Auftrag gegeben hatte. Das erste wurde 30 Jahre zuvor von Hugo Potyka verfasst. Es lieferte 1972 einen auf einer minutiösen Analyse von Topografie, Verkehr und Stadtstruktur aufbauenden städtebaulichen Entwurf, der geeignete Standorte und verträgliche Höhen festlegte, durchaus mit dem Ziel, mit einigen dieser Objekte Dominanten zu setzen, so wie es expressionistische Architekten wie Bruno Taut in den 1920er-Jahren mit ihrer Idee der „Stadtkrone“ getan hatten. Auf besonderes Interesse stieß dieses Konzept nicht. Im Gegenteil: Ende der 1980er-Jahre herrschte in den für die Stadtentwicklung zuständigen Abteilungen des Wiener Magistrats geradezu eine Hochhausphobie. Dass Wien seine eigene, kleine Tradition im Hochhausbau besaß, wurde verdrängt. Hochhäuser aus den 1950er-Jahren wie der Ringturm und das Hochhaus am Matzleinsdorfer Platz – als Theodor-Körner-Hof hochrangig tituliert – wurden zu ihrer Zeit als Wahrzeichen des Wiederaufbaus verstanden. Auch das erste Wiener Hochhaus in der Herrengasse, ein Entwurf der Architekten Theiss und Jaksch aus dem Jahr 1932, war nicht nur ein elegantes bürgerliches Wohnhaus im Stil einer moderaten Moderne, sondern auch ein Politikum.

Erste Ideen, Hochhäuser auch im Rahmen des sozialen Wohnbaus zu errichten, gab es bereits Mitte der 1920er-Jahre. Es blieb freilich bei vertikalen Gesten – wie beim Reumann-Hof aus dem Jahr 1926, für dessen Zentrum Hubert Gessner ursprünglich ein zwölfgeschoßiges Hochhaus geplant hatte. Stadtrat Franz Siegel („Persönlich bin ich prinzipiell gegen das Hochhaus“) entschied, den Leuchtturm des aufstrebenden Proletariats nicht zu bauen.

Zwei Jahre später hatten sich die Dinge geändert: 1928 fand ein Wettbewerb für ein Hochhaus an der Ecke Währingerstraße/Spitalgasse, also auf dem Gelände des heutigen Arne-Carlsson-Parks statt, mit dem sich die Sozialdemokratie ein Denkmal setzen wollte. Neben 245 Wohnungen sollte das Haus eine Bibliothek, die Zentrale der Wiener Stadtwerke, ein Jugendheim, Postamt, Kindergärten und Künstlerateliers enthalten. Der Wagner-Schüler Rudolf Fraß gewann den Wettbewerb mit einem expressionistischen Entwurf, der breite Zustimmung fand.

Ende 1930 waren die Ausführungspläne fertiggestellt, Brandschutz- und Windkanalversuche positiv abgeschlossen. Zu dem für das Frühjahr 1931 vorgesehenen Spatenstich kam es jedoch nicht. Die dem roten kommunalen Wohnbau äußerst feindselig gestimmte schwarze Bundesregierung beschloss einen neuen Finanzausgleich, der den Wiener sozialen Wohnbau zugunsten Niederösterreichs praktisch zum Erliegen brachte. Als dann die bereits bewilligten Mittel aus der Bundeswohnbauförderung in das Hochhausprojekt in der Herrengasse umgeleitet wurden, legten die Sozialdemokraten ihre Hochhauspläne zu den Akten. Das bürgerliche Lager hatte den Wettlauf um das erste Hochhaus gewonnen. Öffentliche Flächen beschränkten sich hier auf ein Tanzcafé in den obersten beiden Geschoßen. Ende der 1960er-Jahre wurde auch dieses in Wohnungen umgewidmet.

Die ausführliche Darstellung dieser Geschichte findet sich im zweiten Wiener Hochhauskonzept, das Wolf D. Prix und Helmut Swiczinsky von Coop Himmelb(l)au 1992 gemeinsam mit Michael Wagner-Pinter vom Forschungsinstitut Synthesis und zahlreichen Partnern wie Max Rieder, Hans Peter Wörndl und Jan Tabor erstellten. Der Auftrag dafür kam vom damaligen Planungsstadtrat, Hannes Swoboda, der den Magistrat von seiner Hochhausphobie kurieren wollte. Coop Himmelb(l)au, der Stadt spätestens nach der Erfahrung mit dem gescheiterten Projekt des Ronacher-Umbaus in Hassliebe verbunden, produzierte mit ihren Partnern ein dreibändiges Werk, das, kostbar gebunden, nur in wenigen Exemplaren aufgelegt wurde. Das provokante Großformat war darauf angelegt, in keinen Papierkorb zu passen und so der raschen bürokratischen Entsorgung zu entgehen.

Inhaltlich hätte die „Wiener Hochhausstudie“ diese Überhöhung nicht gebraucht. Sie geht das Thema in voller Breite an, von der Geschichte des Hochhauses über städtebauliche und konstruktive Fragen bis hin zum Planungsprozess und zur Sozialverträglichkeit. Gefordert werden die programmatische Durchmischung von Hochhäusern und die Schaffung von Durchlässigkeit und zusätzlichem öffentlichem Raum in den unteren Geschoßen, wofür sich die Autoren amerikanische Großstädte wie New York zum Vorbild nehmen. Nicht zuletzt geht es im Konzept um die politische Dimension von Architektur, die bei Hochhäusern naturgemäß von besonderer Bedeutung ist. Das liest sich dann streckenweise wie eine Abrechnung mit der Selbstgefälligkeit der roten Alleinregierung in Wien: „Die Vorstellung von einem Zentrum der Politik, die im Modell der Industriegesellschaft kultiviert wird, beruht auf einer eigentümlichen Halbierung der Demokratie. Einerseits bleiben Handlungsfelder der Subpolitik von der Anwendung demokratischer Regeln ausgespart. Andererseits trägt auch im Inneren die Politik den systematisch geschürten äußeren Ansprüchen nach majestätische Züge.“

Ob die solcherart Adressierten diese Sprache verstanden haben, darf bezweifelt werden. Das Konzept wurde im Magistrat jedenfalls von Herzen ignoriert. Dass wenig später der Wienerberg zum erstrangigen Hochhausstandort werden konnte, abseits von öffentlicher Verkehrsanbindung und ohne sinnvolles städtebauliches Leitbild, spricht für sich.

Die große Chance zu einem städtebaulichen Durchbruch war zu diesem Zeitpunkt schon durch die Entscheidung verspielt, das Gelände vor der UNO-City als Hochhauszone freizugeben, statt die Wiener Messe hier anzusiedeln. Im Konzept von Coop Himmelb(l)au und Synthesis war noch zumindest die Option enthalten gewesen, Hochhäuser diesseits der Donau entlang der Lassallestraße auf dem Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs zu realisieren. Dieser Standort hatte im Vergleich zum Gelände vor der UNO-City durchaus höhere Attraktivität, da er mehr Spielraum bot und deutlich weniger isoliert ist als der transdanubische. Für diesen hätte sich als Nachnutzung der geplanten Weltausstellung Expo 95 die Übersiedlung der Wiener Messe angeboten, die damit unmittelbar neben dem Konferenzzentrum zu liegen gekommen wäre. Zwei Nutzungen, die sich gegenseitig stärken, hätten damit zueinander gefunden. Zugleich wäre das Messegelände – immerhin ein Areal von 600 mal 200 Metern – als ein Wohnbaugebiet zur Verfügung gestanden, das in jeder Hinsicht dem Wohnen vor der UNO-City vorzuziehen ist. Die Windbelastung ist geringer, das Stadtzentrum näher, die Verkehrsanbindung besser und der Prater als Erholungsgebiet unmittelbar vor der Tür. Von dieser Lösung hätteauch die neue Wirtschaftsuniversität profitiert, die heute im Nordosten nicht von der undurchdringlichen Mauer des Messegeländes begrenzt wäre, sondern von einer lebendigen Wohnbebauung.

Dass diese Lösung – Hochhäuser im Bereich Praterstern/Lassallestraße, Messe vor der UNO-City und Wohnbebauung am bisherigen Messegelände – nicht weiter verfolgt wurde, nachdem die Wiener 1991 in einer Volksbefragung den Fehler des Jahrzehnts machten und sich gegen die Expo 95 entschieden, ist nicht leicht zu erklären. Ein Grund mag die Hochhausphobie gewesen sein: Man wollte die Hochhäuser in sicherer Distanz halten, jenseits der Donau, wo mit der UNO-City ja bereits ein erster Sündenfall begangen worden war. Für die Lassallestraße schwebten manchen Stadtplanern und Bezirksvertretern die Champs-Élysées vor, eine gewagte Analogie, der das heutige Erscheinungsbild der Straße, abgesehen von der Überbreite, nicht wirklich entspricht. Die wesentlichen Gründe für die Entscheidung lagen jedoch im wirtschaftlichen Bereich: Das Areal vor der UNO-City war im Besitz der Stadt, während der Nordbahnhof den ÖBB gehörte. Für Hans Mayr, den Wiener Finanzstadtrat und neben Helmut Zilk heimlichen Bürgermeister Wiens, war die Entscheidung klar: Warum sollten die ÖBB einen Widmungsgewinn einstreifen, der am anderen Standort der Stadt selbst zugute käme? Noch dazu versprach der Standort vor der UNO-City die Sanierung der dort unter der Oberfläche liegenden Mülldeponie und in weiterer Folge die Überplattung des gesamten Gebiets mit einer Betondecke, mit schönen Aufträgen für stadtnahe Unternehmen.

Diese Praxis, Stadtplanung über das Finanzressort zu betreiben, hat sich bis heute gehalten. Ein aktuelles Beispiel ist dieBebauung der sogenannten Hoerbiger-Gründe im 11. Bezirk, Standort eines Schweizer High-Tech-Unternehmes auf dem Gebiet der Automatisationstechnik mit Wurzeln in Wien. Als der Hoerbiger-Konzern 2012 über einen Neubau seines Wiener Werks nachzudenken begann, stand die Übersiedlung nach Bratislava im Raum. In den Verhandlungen konnte Wien ein Grundstück in der Seestadt Aspern anbieten, das ausreichend Expansionsmöglichkeiten und gute Verkehrsanbindung aufweist. Das scheint nicht ausgereicht zu haben, um Hoerbiger zu überzeugen. Erst eine neue, massiv verdichtete und auf Wohnnutzung veränderte Widmung des bestehenden Standorts gab offenbar den Ausschlag: Die Flächenwidmung ist eine dezente Förderung und fast so effektiv, wie Geld zu drucken.

Von der Idee, einen geladenen Architekturwettbewerb für sein neues Wiener Hauptquartier in der Seestadt durchzuführen, war das Unternehmen vor diesem Hintergrund wohl leicht zu überzeugen. Was sind – so wird man sich im Planungsressort gedacht haben – die großen Gewinne ohne die kleinen. Finanzstadträtin Renate Brauner ist ihr Erfolg, ein Hightech-Unternehmen in Wien gehalten zu haben, zu gönnen. Aber wer übernimmt die Verantwortung für die Kollateralschäden in Simmering: viel zu dichte Bebauung, unzureichende Freiräume, schlechte Wohnqualität? War das Widmungsgeschenk wirklich die Ultima Ratio in diesem Prozess? Spielt städtebauliche Qualität überhaupt eine Rolle im kollektiven Bewusstsein der Stadtregierung?

Das aktuellste Wiener Hochhauskonzept kann als therapeutischer Versuch gelesen werden, die Selbstheilungskräfte der Stadt durch kollektive Einübung ins städtebauliche Denken zu stärken. Das Konzept, das von Christoph Luchsinger, Professor für Städtebau an der TU Wien, und seinen Mitarbeitern im Dialog mit zahlreichen Akteuren im Magistrat und externen „Echogruppen“ erarbeitet wurde, baut auf den bisherigen auf, unterscheidet sich aber in einem wesentlichen Punkt: Es gliedert die Stadt in Bereiche, in denen je unterschiedliche Muster der Hochhausentwicklung Platzgreifen sollen. Die „Konsolidierte Stadt“ im historischen Zentrum, das „Urbane Komposit“ im Simmeringer Osten, die „Südlichen Terrassen“ auf den Ausläufern des Wienerbergs, die „Fluviale Stadtlandschaft“ an den Uferbereichen der Donau und schließlich die „Transdanubische Ausdehnung“ in die Fläche. Diese Eignungsbereiche nehmen nur einen Teil des Stadtgebiets ein; dazwischen gibt es Übergangszonen, in denen keine Hochhausbebauung stattfinden soll. Die Beschränkungen durch Welterbe und Sichtachsen bleiben wie im Konzept aus dem Jahr 2002 bestehen, ebenso die Forderung nach hochrangiger öffentlicher Verkehrsanbindung. Diese Festlegungen sind allgemein genug, um keine Anhaltspunkte für Spekulation zu bieten, aber doch so aussagekräftig, dass sie im Anlassfall konkrete Schlussfolgerungen erlauben.

Rechtlich verbindlich wird das neue Regelwerk genauso wenig sein wie der Stadtentwicklungsplan 2025, dessen Bestandteil es sein wird. Manche laufenden Projekte scheinen aber im Konzept bereits vorweggenommen. So wirkt das Projekt dreier Wohnhochhäuser neben den Gasometern in Simmering am Franzosengraben durchaus kompatibel mit dem Muster für das „Urbane Komposit“, das „poröse Sockelzonen“ vorsieht, die zur Vernetzung der stark fragmentierten Stadtstruktur beitragen sollen.

Der Teufel steckt freilich im Detail: Während im Konzept eine moderate Höhenentwicklung angedeutet ist, schieben sich die drei Türme im konkreten Projekt fast ungebremst in den Himmel. Wer hier das Maß vorgibt und mit anderen Projekten im Umkreis abstimmt, bleibt ungeklärt. Der in Luchsingers Text elaborierte Prozess in vier Phasen (Idee, Konzept, Entwurf und Realisierung) weist die Klärung dieser Frage der Phase zwei (Konzept) zu, in der ein „lokales Leitbild“, die Nutzungsvielfalt und der Mehrwert für die Umgebung festgelegt werden. Eine „argumentierte Höhenfestlegung laut Bereichsbeschreibung“ deutet darauf hin, dass die Höhe nicht gänzlich von Renditeüberlegungen abhängen sollte. Auch in der „Transdanubischen Ausdehnung“ ist die Realität dem Hochhauskonzept vorausgeeilt. Hier kann sich das Luchsinger-Konzept „Hochpunkte als Landmarks für ein kapillares Netzwerk von Zwischenzonen der heterogenen Siedlungsstrukturen“ vorstellen, also das Gegenteil der sonst üblichen Zusammenballung von Hochhäusern zu „Clustern“. Diesen Anspruch erfüllt etwa das Citygate-Hochhaus von Querkraft Architekten an der U-Bahn-Station Aderklaaer Straße, das auch typologisch innovativ ist, etwa mit gut belichteten Erschließungszonen und Gemeinschaftsflächen auf allen Geschoßen. Wie viele solche Türme der transdanubische Immobilienmarkt verträgt, wird sich zeigen. Wenn durch eine Mischung von frei finanzierten, geförderten und Sozialwohnungen eine Ghettobildung vermieden werden soll, müssen sich genug Käufer finden, die einen sehr fernen Fernblick aufs Stadtzentrum ebenso schätzen wie die Nachbarschaft von Rennbahnweg und Rinterzelt.

Mit dem neuen Hochhauskonzept könnte der Stadtplanung ein Schritt in Richtung eines systematischen, aus der Stadtstruktur abgeleiteten Umgangs mit dem Phänomen Hochhaus gelingen. Eine Prämisse dafür findet sich gleich zu Beginn des Erläuterungstextes: „Aus den topografischen, morphologischen, atmosphärischen, naturlandschaftlichen, funktionalen, sozialen und ökologischen Qualitäten Wiens ergibt sich: Wien benötigt Hochhäuser nur unter der Voraussetzung, dass diese außerordentliche Mehrwerte für die Allgemeinheit beisteuern.“ Dem wird man zustimmen, wobei die diffuse Begrifflichkeit des „Mehrwerts“ zu denken gibt. Die Vernichtung städtebaulicher Qualität lässt sich nicht damit rechtfertigen, dass ein Investor Leistungen für die öffentliche Hand übernimmt wie etwa die Errichtung einer Sporthalle. Der Mehrwert muss in erster Linie ein stadträumlicher und stadtgestalterischer sein. Die Abschöpfung zumindest eines Teils des Widmungsgewinns ist ein anderes Thema, das auf gesetzlicher Ebene so rasch wie möglich umgesetzt werden sollte.

Für das aktuelle Projekt eines Turms am Wiener Eislaufverein lässt sich aus dem neuen Hochhauskonzept keine Rechtfertigung ableiten. Ein nach allen Regeln der Moderationskunst eingefädeltes kooperatives Planungsverfahren mit angeschlossenem Architekturwettbewerb kann nichts daran ändern, dass hier kein Mehrwert für die Öffentlichkeit gegeben ist. Das Ergebnis wäre stattdessen eine nachhaltige Blamage für eine Stadt, die auf ihr historisches Erbe stolz ist.

Warum die Gefahr dennoch groß ist, dass es zu einer Realisierung kommt, zeigt eine einfache Rechnung: Der Marktwert der obersten sechs Geschoße des 18-geschoßigen Turms beträgt bei 600 Quadratmeter verkaufbarer Fläche pro Geschoß und einem vorsichtig geschätzten Preis von 25.000 Euro pro Quadratmeter 90 Millionen Euro. Da bleibt auch nach großzügigen Spenden an die Stadt einiges übrig. Wie weit die Stadt fähig ist, dem Druck standzuhalten, der durch die Verflechtung der Projektbetreiber mit den größten Boulevardmedien der Stadt zu erwarten ist, bleibt abzuwarten. Vielleicht zeigt die Einübung ins städtebauliche Denken im Rahmen des neuen Hochhauskonzepts ja Wirkung. Am Ende könnte ein neues Projekt für den Eislaufverein stehen, das der Besonderheit des Ortes gerecht wird.

Spectrum, Sa., 2015.01.31

20. Dezember 2014Christian Kühn
Spectrum

Zwei Betten, eine Wiege, ein Sarg

Zwei Architekturausstellungen, zwei Welten. Das Museum für angewandte Kunst zeigt verschlungene Wege zur Moderne, das Architekturzentrum Wien wirbt für Isay Weinfeld und seinen Hochhausentwurf am Wiener Eislaufverein.

Zwei Architekturausstellungen, zwei Welten. Das Museum für angewandte Kunst zeigt verschlungene Wege zur Moderne, das Architekturzentrum Wien wirbt für Isay Weinfeld und seinen Hochhausentwurf am Wiener Eislaufverein.

Auch ich bin schöpferisch, ich schöpfe Verdacht. So lautet einer der bekannten Aphorismen aus Oswald Wieners Roman „Die Verbesserung von Mitteleuropa“. Er findet sich als Zitat im Katalog zur aktuellen Ausstellung „Wege der Moderne – Josef Hoffmann, Adolf Loos und die Folgen“ im Wiener Museum für angewandte Kunst.

Dass diesen beiden Antipoden der österreichischen Kulturgeschichte erst jetzt zum ersten Mal eine große gemeinsame Ausstellung gewidmet wird, ist bemerkenswert. Überall Verdacht geschöpft, also radikaleKulturkritik betrieben, hat nur einer von beiden, Adolf Loos. Zur Verbesserung Mitteleuropas, das damals noch schlicht Österreich hieß, brachte er 1903 eine eigene Zeitschrift heraus: „Das Andere. Ein Blatt zur Einführung abendländischer Kultur in Österreich“.

Darin findet sich die berühmte Geschichte vom Sattlermeister, dem eingeredet wird, seine Sättel seien nicht mehr modern, weil „ohne Phantasie“ gestaltet. Er wendet sich an die Kunstgewerbeschule, wo sich eine Meisterklasse sofort an den Entwurf zeitgemäßer Sättel im Secessionsstil macht. Als dem Sattlermeister die Resultate präsentiert werden, hellt sich seine Miene auf. „Herr Professor! Wenn ich so wenig vom Reiten, vom Pferde, vom Leder und von der Arbeit verstehen würde wie Sie, dann hätte ich auch Ihre Phantasie!“ Und Loos gibt der Geschichte ein glückliches Ende, in dem sein eigenes Ideal guten Designs aufleuchtet: „Er lebt nun glücklich und zufrieden. Und macht Sättel. Moderne? Er weiß es nicht. Sättel.“

Für Loos war eine neue Ästhetik „von oben“, wie sie die von Josef Hoffmann gegründeten Wiener Werkstätten propagierten, unvorstellbar. Das Neue könne man nicht erzwingen, es entstehe von selbst, bedingt durch neue Technologien und neue Bedürfnisse der Benutzer. Loos lehnte – wie Otto Wagner – jeden Stil ab, auch jeden „modernen“. Das hinderte ihn nicht, „Stilmöbel“ in seinen Interieurs zu verwenden, etwa Kopien von Chippendale-Sesseln in den Speisezimmern. Das Sitzen „bei Tisch“ hätte sich seit 300 Jahren nicht verändert. Für das Sitzen im Kaffeehaus entwarf Loos dagegen eigene Sesseltypen aus Bugholz, oder genauer: Er kombinierte die Elemente mehrerer vorhandener zu einem neuen Typ.

Hoffmann verstand sich dagegen als schöpferischer Künstler im klassischen Sinn. Seine Produktivität war enorm, sowohl als Designer als auch als Architekt. Allein für das Palais Stoclet in Brüssel, ein Hauptwerk der frühen Moderne, existieren tausende Zeichnungen. Die Anzahl seiner Entwürfe für Stoffe, Geschirr und Möbel geht in die Hunderte. Er war nach Otto Wagner bis in die 1920er-Jahre mit Abstand der renommierteste österreichische Architekt, nicht zuletzt durch prestigeträchtige Projekte im Ausland, etwa dem Pavillon für die Kunstgewerbeausstellung in Paris 1925.

Die Ausstellung im MAK stellt die Auseinandersetzung zwischen Loos und Hoffmann in einen breiteren historischen Kontext, der vom frühen 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht. Es ist ihr Verdienst, das 19. Jahrhundert nicht als Zeitalter des schlechten Massengeschmacks zu denunzieren, sondern als ersten Versuch einer Kultur der Massengesellschaft darzustellen. Das MAK kann diese Darstellung zum größten Teil aus eigenen Beständen bespielen, bis hin zu Goldrahmen aus Papiermaché und Perserteppichen in Prägetechnik. Die enormeAnzahl an Exponaten ist in diesem Fall berechtigt, weil sie vermittelt, dass diese Massenkultur in die Krise kommen musste.

Auch den Reaktionen darauf wird breiter Raum gegeben. Otto Wagner als erste zentrale Figur ist mit Großstadtentwürfen und Möbeln vertreten, in denen die „Phantasie“ durch ein Verständnis für Material und Herstellung auf der Höhe des industriellen Zeitalters kultiviert ist. Vorbei an der 1:1-Rekonstruktion einer Geschäftsfassade Wagners, des Depeschenbüros „Die Zeit“ aus blitzendem Aluminium, geht es weiter in den zentralen Raum, in dem die ästhetischen Welten von Loos und Hoffmann gegeneinander in Stellung gebracht werden. Als Referenzobjekte dienen hier zwei Schlafzimmer: die Rekonstruktion des mit weißen Angorafellen und blauem Spannteppich ausgelegten, das Loos 1903 in seiner eigenen Wohnung einrichtete und unter dem Titel „Das Schlafzimmer meiner Frau“ publizierte, und ein im Quadratraster diszipliniertes aus dunklem Holz von Josef Hoffmann. Um diese zentrale Szene herum platziert finden sich Modelle und Pläne der Hauptwerke von Loos und Hoffmann sowie Werke befreundeter Künstler, wie etwa Kokoschka auf der einen und Klimt auf der anderen Seite.

Damit hat der Besucher erst zwei Drittel der Ausstellung abgeschritten, die danach noch Werke aus dem Umfeld der beiden Hauptfiguren zeigt, etwa von Josef Frank und Grete Schütte-Lihotzky, und dann in die Gegenwart überleitet. Michael Embachers Ausstellungsgestaltung lässt den Objekten trotz der Fülle des Materials viel Raum, man fühlt sich nirgendwo bedrängt, sondern zum Entdecken angeregt. Ähnliches gilt für den hervorragenden Katalog, den die Kuratoren Christian Witt-Döring und Matthias Boeckl mit zahlreichen Autoren – unter anderem Otto Kapfinger, Ernst Strouhal und Andreas Vass – herausgegeben haben.

Im Sinne einer radikalen Kulturkritik muss man freilich auch bei dieser Ausstellung Verdacht schöpfen. Wird hier nicht mit viel Liebe zum Detail eine österreichische oder besser Wiener Leitkultur weiterkonstruiert, die de facto Vergangenheit ist, so sehr man sich auch bemüht, sie in die Gegenwart scheinen zu lassen? In unsicheren Zeiten könnte das legitim sein, nicht als Nostalgie, sondern als Aufruf, das Reflexionsniveau dem Neuen gegenüber wieder auf eine Höhe zu bringen, wie sie im Konflikt zwischen Loos und Hoffmann erreicht war.

Anlass dafür bietet die zweite diese Woche eröffnete Architekturausstellung, die über den Architekten Isay Weinfeld im Architekturzentrum Wien zu sehen ist. Verdacht zu schöpfen, lohnt sich hier besonders. Weinfeld ist der Architekt des geplanten Hochhauses am Wiener Eislaufverein, dessen Developer die Ausstellung, die zuvor in São Paulo und in New York zu sehen war, nach Wien geholt hat und nun gegen eine großzügige Spende im AzW zeigen darf. Dass diese Ausstellung nicht kritisch sein kann, ist klar. Zumindest müsste sie aber die Voraussetzung für Kritik schaffen, indem sie Weinfelds Projekt umfassend zeigt, inklusive Blick vom Belvedere und Heumarkt, Details der Fassade und einer Renditeberechnung dieses spekulativen Unternehmens, das den Stadtkörper Wiens beschädigen wird wie kaum eines davor.

Stattdessen wird man mit einem Modell des Projekts im Maßstab 1:1000 abgespeist. Der Rest der Ausstellung zeigt einen Architekten, der – in den Begriffen der Loos-Hoffmann-Debatte – Kunstgewerbe für die brasilianische Millionärs-Oberschicht produziert. Auch im Zentrum dieser Ausstellung stehen zwei 1:1 installierte Schlafräume, jeweils mit einer Designer-Wiege und einem Designer-Sarg nach Entwurf von Isay Weinfeld möbliert. Der Architekt als Weltdekorateur, der seine Kunden von der Geburt bis in den Tod begleitet: Das war der Albtraum, gegen den Loos Zeit seines Lebens gekämpft hat. Das poetische Geschwurbel, mit dem Weinfeld seine Projekte begleitet, ist das rhetorische Äquivalent dazu. Hinter diesem Vorhang wächst der Profit.

Spectrum, Sa., 2014.12.20

22. November 2014Christian Kühn
Spectrum

Reden unter Glas

Nach Jahren der Vorbereitung liegt der Entwurf für die Sanierung des Parlamentsgebäudes am Ring vor. Jabornegg/Pálffy beweisen wieder einmal ihre Meisterschaft im Umgang mit wertvoller Bausubstanz.

Nach Jahren der Vorbereitung liegt der Entwurf für die Sanierung des Parlamentsgebäudes am Ring vor. Jabornegg/Pálffy beweisen wieder einmal ihre Meisterschaft im Umgang mit wertvoller Bausubstanz.

In Österreich, so heißt es in Artikel eins der Bundesverfassung, geht das Recht vom Volk aus. Diese abstrakte Formel wird konkret im Parlament, wo die Repräsentanten des Volkes sich versammeln, um Gesetze zu diskutieren und zu beschließen. Wie ein Haus aussehen soll, das die repräsentative Demokratie repräsentiert, wirft heute viele Fragen auf. Ist es ein nationales Monument, das die Bedeutung eines Landes nach innen und außen verdeutlicht? Soll es sich offen und transparent geben, um eine entsprechende Politik zu signalisieren? Soll man ihm vielleicht anmerken, dass es das Parlament eines Landes ist, das zur Europäischen Union gehört? Immerhin basieren 80 Prozent der hier beschlossenen Gesetze auf EU-Vorgaben, und die laufende Reform der Geschäftsordnung des Nationalrats sieht vor, den österreichischen EU-Abgeordneten hier ein Rederecht einzuräumen.

Auf den ersten Blick scheint es, dass Österreich sich über diese Fragen keine besonderen Gedanken machen müsste. Wir haben ja ein Parlament, ein schönes und „repräsentatives“ noch dazu, ein Ringstraßenjuwel aus dem Jahr 1883, entworfen von Theophil Hansen. Es handelt sich um ein Meisterwerk des Historismus, in Hansens Lieblingsstil geplant, der griechischen Klassik. Kritiker nannten es bei seiner Eröffnung eine „gefrorene Satire auf die Akropolis“. Zu Unrecht: Hansen war ein hervorragender Baumeister, vom großen Maßstab bis ins feine Detail. Dem Charme des Hauses können sich auch eingefleischte Gegner des Historismus nur schwer entziehen.

Leider ist dieses Haus ziemlich marode, da es gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von mehreren Bomben getroffen und durch den folgenden Brand in 60 Prozent seiner Substanz beschädigt wurde. Der Wiederaufbau nach dem Krieg erfolgte mit den beschränkten finanziellen und technischen Mitteln der Zeit. Fünfzig Jahre lang, bis zum Beginn des neuen Jahrtausends, konnte man den Betrieb durch schrittweise Reparaturen aufrechterhalten. Im Jahr 2004 kam es zur bisher umfangreichsten: Die Rampe vor dem Haus wurde komplett erneuert, was dem Haus einen zusätzlichen Eingang an der Ringstraße und ein Besucherzentrum in der Unterkonstruktion verschaffte. 2008 sollte der Plenarsaal an die Reihe kommen. Der Architekturwettbewerb dafür erbrachte zwar ein Siegerprojekt, vor dessen Umsetzung man aber zur Einsicht gelangte, doch besser eine Generalsanierung des gesamten Hauses durchzuführen.

Die Kosten für diese Sanierung wurden zu einem Politikum. Umfangreiche Gutachten ergaben für eine reine Bestandssanierung einen Kostenrahmen von 250 Millionen Euro; für eine „effizienzsteigernde“ Variante mit zusätzlichen Räumen für Ausschüsse und Büros, einer Besuchercafeteria und einem „Ökologiepaket“ zur Senkung des Energieverbrauchs wurden 300 Millionen Euro errechnet, jeweils ohne Mehrwertsteuer und mit einem Spielraum von 20 Prozent nach oben oder unten.

2013 wurden die Generalplanerleistungen für das Projekt ausgelobt. Die zehn aufgrund eines Bewerbungsverfahrens ausgewählten Planerteams hatten unter anderem ein „Qualitätsangebot“ in Form eines detaillierten architektonischen Entwurfs einzureichen. Noch während des laufenden Verfahrens beschloss der Nationalrat eine Budgetobergrenze von 350 Millionen Euro für das Projekt, womit die Finanzierung der „effizienzsteigernden“ Variante gesichert war. Im Juli dieses Jahres fällte eine Jury die Entscheidung für den Entwurf des Planerteams Jabornegg/Pálffy und Axis. Vor drei Wochen konnte das Projekt der Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Diese Chronologie klingt reibungsloser, als sie sich tatsächlich ereignet hat. Einsprüche von nicht geladenen Architekten und ein Disput über die Vertragsbedingungen, der zum Rückzug von zwei Planerteams führte, sorgten für monatelange Verzögerungen. Die Anzahl der Jurymitglieder wurde kurzfristig auf 24 verdoppelt, da jede politische Fraktion ein weiteres Mitglied entsenden wollte, und damit auch die Zahl der Fachpreisrichter entsprechend erhöht werden musste. Es ist ein Verdienst der verstorbenen Nationalratspräsidentin Barbara Prammer und des Juryvorsitzenden Ernst Beneder, dass am Ende eine einstimmige, von allen Parteien getragene Juryentscheidung erzielt wurde.

Das Siegerprojekt zeichnet sich dadurch aus, dass es Hansen als Architekten des Maschinenzeitalters ernst nimmt. Denn hinter der spielerischen Leichtigkeit des Dekors verbirgt sich bei Hansen eine strenge Rationalität, die den Geist der industriellen Revolution verrät. Die Einbauten von Jabornegg und Pálffy nehmen diesen Geist auf. Sie sind präzise wie neue Maschinenteile in die alte Substanz gesetzt, spürbar vor allem im Besucherfoyer im Erdgeschoß und in den Treppenhäusern, die in bestehende Lichthöfe implantiert wurden. Über dem Plenarsaal wird sich eine Glaskuppel wölben, die die Grenzen des heute statisch Möglichen auslotet. Auf der Ebene darunter liegt eine neu geschaffene, zusätzliche Besuchergalerie mit Blick in den Saal.

Im Plenarsaal selbst regiert weniger die Handschrift der Architekten als jene des Denkmalamts. Der bestehende Saal aus dem Jahr 1956 von Max Fellerer und Eugen Wörle gehört nämlich zu den besten Werken der österreichischen Nachkriegsarchitektur. Bei der Eröffnung urteilte Roland Rainer: „Ein Saal der Arbeit, ernst und klar, fast durchsichtig, sachlich und höchst gediegen. An dieser Arbeit hätte Adolf Loos seine Freude gehabt – er würde wenig anders gemacht haben.“ Den Architekten sei zudem „eine legitime Fortsetzung des Hauptwerks Theophil Hansens“ gelungen.

Zu einer wirklichen Unterschutzstellung, die den Abgeordneten weiterhin enge Sessel zugemutet und eine Beschränkung der Barrierefreiheit bedeutet hätte, konnte sich das Denkmalamt nicht durchringen. Schon beim Wettbewerb 2008 hatte es zur schizophrenen Zauberformel gefunden, die „derzeitige Optik in der Vertikalen“ zu erhalten und in der „Horizontalen umfassende Grundrissänderungen“ zuzulassen.

Diese Art von Denkmalpflege ergibt keinen Sinn, sondern schadet in beide Richtungen: Sie erhält statt der Komplexität des Bestands bestenfalls dessen Optik und behindert Bauherren und Architekten bei der Suche nach dem zeitgemäßen Ausdruck für eine Bauaufgabe. Der Saal von Fellerer und Wörle mag Messlatte und Inspiration sein. Wie die Optik und die künstlerische Ausgestaltung eines de facto neuen Saals am Ende aussehen, darf sich die Republik aber nicht vom Denkmalamt vorschreiben lassen.

Wenn der Saal 2020 nach der Sanierung wiedereröffnet wird, sollte er keinen Zweifel daran lassen, dass die österreichische Demokratie im 21. Jahrhundert angekommen ist. Symbole des Stillstands finden sich in diesem Land genug.

Spectrum, Sa., 2014.11.22

24. Oktober 2014Christian Kühn
Spectrum

Bahn frei für das Mittelmaß

Ein Architekturwettbewerb für das 250 Millionen Euro teure Gebäude fand nie statt. Man merkt es dem Ergebnis an. Zu Wiens neuem Hauptbahnhof.

Ein Architekturwettbewerb für das 250 Millionen Euro teure Gebäude fand nie statt. Man merkt es dem Ergebnis an. Zu Wiens neuem Hauptbahnhof.

Auf der Strecke Wien–Linz–Salzburg hat die Bahn den PKW längst als schnellstes Verkehrsmittel überholt. Eine gefühlte Stunde nach Linz, zwei nach Salzburg, vier nach München: Solche Zahlen verändern die mentale Landkarte. Die Bahn hat in dieser Hinsicht eine große Tradition. Schon im 19. Jahrhundert spielte sie als Katalysator der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung eine ähnliche Rolle wie heute das Internet. Entsprechend eindrucksvoll waren damals auch die Bahnhöfe. Angelegt am Rand der bestehenden Städte waren sie hybride Gebäude, in denen sich Architektur und Ingenieurwesen auf eine sehr spezielle Art begegneten: Zur Stadt hin zeigten sie Palastfassaden, hinter denen sich Meisterwerke der Ingenieurskunst verbargen, die größten und am weitesten gespannten Hallen, die bis dahin errichtet worden waren.

Im heute weitgehend elektrifizierten Betrieb muss ein Fernbahnhof freilich nicht unbedingt aussehen wie eine Kathedrale der Industriegesellschaft. Vom praktischen Gesichtspunkt her ist er eine bessere Schnellbahnstation mit vielen Gleisen und höherer Besucherfrequenz. Letztere hat allerdings einen wichtigen Seiteneffekt: Wo viele Menschen unterwegs sind, entsteht heute fast zwangsläufig ein Shoppingcenter. Dass die Eröffnung des Wiener Hauptbahnhofs vor zwei Wochen eigentlich die Eröffnung des Shoppingbetriebs feierte und nicht die Inbetriebnahme der Gleise für den Fernverkehr, die erst im Dezember folgen wird, spricht für sich.

Städtebaulich ist die Lage des neuen Bahnhofs eine Herausforderung. Als Durchgangsbahnhof scheint er selbst auf der Durchreise zu sein. Seine Ausrichtung folgt der optimalen Kurve des Gleiskörpers, ohne sich besonders um den umliegenden Stadtraum zu kümmern. Dazu kommt das Problem, dass die U-Bahnlinie U1, die den Bahnhof an den öffentlichen Verkehr anschließt, relativ weit entfernt liegt und die Gleise nicht in der Mitte, sondern am westlichen Ende erschließt. Hätte man den Bahnhof zurückversetzt, um einen größeren Vorplatz zu schaffen, wäre diese Distanz, die schon jetzt knapp 500 Meter Gehweg bis zu den Gleisen bedeutet, weiter gewachsen.

Alle weiteren städtebaulichen und architektonischen Entscheidungen in diesem Projekt müssen als Versuche verstanden werden, aus dieser Situation das Beste zu machen. Manches ist gelungen: Der lange Weg zur U-Bahn ist abwechslungsreich und zumindest punktuell natürlich belichtet. Die Verbindung der beiden Bezirke Wieden und Favoriten unter dem Gleiskörper ist an mehreren Punkten hergestellt, nicht zuletzt durch die innere Passage, die auf der einen Seite Geschäfte und auf der anderen die Aufgänge zu den Gleisen erschließt. Sie mündet auf der Favoritner Seite in einen zweiten Bahnhofsvorplatz, an dem auch das Hochhaus der ÖBB-Zentrale liegt. Der Bahnhof verbindet damit die beiden Bezirke als gleichwertig, ohne eine Vorder- und eine Rückseite auszubilden. Auch eine Bahnhofshalle gibt es: Sie schmiegt sich seitlich an den Gleiskörper und wird an beiden Stirnseiten von großen Glaswänden abgeschlossen.

Auf der Glaswand zum Südtiroler Platz klebt eine Uhr mit vier Meter Durchmesser, die der alten Uhr an der Wand des Südbahnhofs nachempfunden ist. Dasselbe gilt für den Schriftzug, und im inneren der Halle ist der kleine Markuslöwe aufgestellt, der als letztes Relikt des im Krieg zerstörten Südbahnhofs erhalten blieb. Dass die Uhr auf der Glaswand, von der Rückseite her betrachtet, die verkehrte Zeit anzeigt, ist symptomatisch. Hier wird mit historischen Versatzstücken Stimmung gemacht, statt technische Infrastruktur auf der Höhe der Zeit zu konzipieren. Trotz hohem Aufwand reicht es architektonisch gerade noch fürs Mittelmaß.

Dasselbe gilt für die Überdachung der Bahnsteige. Die weit gespannte Stahlkonstruktion besteht geometrisch aus fünf ineinander verzahnten Bändern, die konstruktiv als 14 jeweils 76 Meter lange rautenförmige Elemente mit einem zentralen Oberlicht ausgebildet sind. Durch die wellenförmige Verzahnung der Bänder entstehen zusätzlich seitliche Belichtungsfelder. Das Dach schwingt sich über den Aufgängen zu den Bahnsteigen auf beachtliche 15 Meter Höhe auf, läuft Richtung Osten gemächlich auf die Höhe normaler Bahnsteigdächer aus. Alle 38 Meter tragen massive schräge Stützen die Last des Stahldachs in den Boden ab.

Aus der Vogelperspektive wirkt dieses Dach relativ klar. Aus der Perspektive der Besucher dominiert aber die skulpturale Wirkung der Einzelteile, die kein Ganzes ergeben. Die Auf- und Abbewegung aller Elemente und die leichte Krümmung der Gesamtanlage tragen dazu bei. Man fühlt sich nicht geschützt unter einem Dach, sondern wie ein Zwerg, der unter eine Herde von Wasserbüffeln mit stämmigen Beinen geraten ist, die ihre Bäuche aneinander reiben. Die Planer sind stolz darauf, dass hier so viel Stahl verbaut wurde wie im Eiffelturm. Man hätte sich besser Bahnhöfe wie Salzburg oder Dresden zum Vorbild nehmen sollen, leichte Konstruktionen mit Dächern aus Kunststoffmembranen.

Wer der Frage nachgeht, von wem dieser Entwurf stammt, kommt zu einem überraschenden Ergebnis. Im Jahr 2004 kürte eine Jury in einem städtebaulichen Wettbewerb für das Bahnhofsareal zwei Preisträger ex aequo, das Team Theo Hotz/Ernst Hoffmann und Albert Wimmer. Beide hatten in ihren Modellen die Bahnhöfe als Baukörper angedeutet: Wimmer als eine Kiste ähnlich jener, die er am Praterstern realisiert hat, Hotz/Hoffmann als Fantasiegebilde aus Bandnudeln. Als wenig später die Ingenieurleistungen für den neuen Bahnhof und die Gleisanlagen vergeben wurden, waren Hotz/Hoffmann und Wimmer als Teil eines Konsortiums dabei: Bandnudeln und Kiste entwickelten sich zum Rautendach. Ein Architekturwettbewerb für das 250 Millionen teure Bahnhofsgebäude fand nie statt. Man merkt es dem Ergebnis an.

Spectrum, Fr., 2014.10.24

27. September 2014Christian Kühn
Spectrum

Schön allein ist nicht genug

Spitzengastronomie bietet die Gelegenheit, gutes Essen und gute Architektur an einem Ort zusammenzuführen. Mit der Erweiterung des Steirerecks im Wiener Stadtpark ist PPAG die ideale Bühne für eine Begegnung gelungen, die alle Sinne anspricht.

Spitzengastronomie bietet die Gelegenheit, gutes Essen und gute Architektur an einem Ort zusammenzuführen. Mit der Erweiterung des Steirerecks im Wiener Stadtpark ist PPAG die ideale Bühne für eine Begegnung gelungen, die alle Sinne anspricht.

Gutes Essen und gute Architektur haben eines gemeinsam: Schön aussehen reicht noch lange nicht. Für das gute Essen ist dieser Grundsatz allgemein anerkannt. So schön kann sich eine Speise gar nicht auf dem Teller präsentieren – wenn sie fad schmeckt, ist sie beim Gast unten durch. In der Architektur ist die Sache etwas komplizierter. Ihr Problem ist, dass sie massenhaft über Bilder verbreitet wird und deshalb oft als primär optisches Phänomen gilt. Dass Architektur auch etwas damit zu tun hat, ob ein Raum alltagstauglich organisiert ist, wie sich seine Oberflächen anfühlen und ob er gut klingt, ist für viele Menschen alles andere als klar. Aber auch hier gilt: So schön kann ein Raum gar nicht aussehen – wenn er akustisch oder funktionell misslungen ist, kann er nicht für sich beanspruchen, gute Architektur zu sein.

Die Spitzengastronomie bietet eine perfekte Gelegenheit, gutes Essen und gute Architektur an einem Ort zusammenzuführen. Das Restaurant Steirereck der Familie Reitbauer hat den ersten Schritt in diese Richtung im Jahr 2005 gesetzt, als es seinen gutbürgerlichen Standort im dritten Bezirk aufgab und in ein teilweise denkmalgeschütztes Objekt im Wiener Stadtpark übersiedelte, die sogenannte Meierei, eine ehemalige Milchtrinkhalle aus dem Jahr 1903. Deren ursprünglicher Entwurf stammt von Friedrich Ohmann, neben Otto Wagner Leiter einer Meisterklasse an der Akademie und im Stadtpark auch für die Architektur der Wienflussausmündung verantwortlich, einer Abfolge von Treppen und Pergolen, die mit Otto Wagners angrenzender Stadtbahnstation eine recht eigenartige Symbiose eingehen.

Im Vergleich zu dieser üppig dekorierten Architektur war die Meierei ein schlichtes Gebäude mit Mansarddach und großen Bogenfenstern an beiden Hauptfronten, von denen heute – nach Kriegszerstörungen und zahlreichen Umbauten – noch das Fenster zum Wienfluss erhalten ist. Schon 2005 hatten die Reitbauers das Haus für einen Betrieb auf zwei Ebenen eingerichtet: Auf Ebene der Kaipromenade gibt es einen verglasten Zubau, der unter dem Namen Meierei als Gastraum eines eigenen Lokals mit kleiner Karte betrieben wird. Über eine Treppe verbunden liegt im Geschoß darüber das eigentliche Steirereck, dem eine große Gartenterrasse vorgelagert war. Bei der aktuellen Erweiterung ging es darum, diese Gartenterrasse mit einem neuen Gastraum zu überbauen und darunter zusätzliche Räume für Küche und Lager zu schaffen.

Die Suche nach den richtigen Architekten für die Aufgabe haben sich die Bauherren nicht leicht gemacht. Ihr ursprünglicher Plan war, einen Direktauftrag an ein Büro mit großer Erfahrung und Referenzprojekten im Gastronomiebereich zu vergeben. Das Ergebnis wäre erwartbar gut gewesen, aber nicht unbedingt herausragend. Die Bauherren entschlossen sich daher, einen Wettbewerb unter acht eingeladenen Büros auszuloben, darunter auch zwei ausländische und zwei Teams von jungen Absolventen. Jedes Team bekam ein separates Briefing in Form eines Essens mit anschließendem Blick hinter die Kulissen, wo in einem Lokal der Spitzengastronomie auf einen Koch zwei Gäste kommen und die Summe des Personals annähernd gleich mit der Anzahl der Sitzplätze anzusetzen ist.

Die Ergebnisse des Wettbewerbs waren aus der Sicht der Bauherren durchwegs hervorragend. Den Zuschlag bekam das Projekt der Architektengruppe PPAG (Anna Popelka und Georg Poduschka) vor allem, weil es die Einbeziehung des Stadtparks in die neuen Räume am besten gelöst hatte. Ihr Plan sieht im Zubau keinen großen Gastraum vor, sondern eine Struktur, die aussieht, als wäre sie wie ein Kristall von der Front des Altbaus her in mehreren Fingern in den Park gewachsen. Im Inneren ergeben sich dabei zahlreiche Nischen unterschiedlicher Figuration, in denen die Tische locker platziert sind. Trotz der Nischen wirken die Räume großzügig, da jeder Finger eine beachtliche Tiefe aufweist.

Der Haupteingang mit Windfang liegt genau zwischen den beiden mittleren Fingern und wird über einen schmalen, zum Park hin offenen Hof erreicht. Der Eingangsbereich liegt hier genau an der richtigen Stelle: Nach links bietet eine Glaswand einen ersten Blick in die obere Küche, in der ein Dutzend Köche mit weißen Hauben an der Arbeit ist. Vor dem Besucher liegt ein verglastes Weinlager und rechts ein kleines Empfangspult, das nicht aussieht wie ein Empfangspult, sondern wie eine suprematistische Skulptur. Folgt man der Erklärung der Bauherrschaft, ist das aber Zufall: Das Pult ist vor allem praktisch, und seine unterschiedlichen Höhen und Tiefen bieten mehr Möglichkeiten, mit den Gästen beim Abgeben der Garderobe ins Gespräch zu kommen.

Auf die Idee, sich selbst einen Sitzplatz zu suchen, kommen die Besucher hier schon deshalb nicht, weil erst eine Drehung um 180 Grad den Blick zu den Tischen öffnet. Dass man dort eine andere Zone betritt, macht auch der Wechsel im Bodenbelag deutlich. Im Eingangsbereich ist ein Fliesenboden in einem PPAG-typisch vertrackten Muster verlegt, dessen Logik sich erst bei genauerer Betrachtung erschließt, in den Speiseräumen ein hellgrauer Terrazzo. Ursprünglich hatten die Architekten hier einen Boden aus Kunststoffgewebe vorgeschlagen. Man entschloss sich dann doch für die harte Oberfläche, aus hygienischen Gründen, aber auch aus einem viel subtileren: Auf jedem Boden klingen die Schritte der Kellner anders, und der Kunststoff hatte für die Bauherren zu viel „Eigenleben“.

Das signifikanteste Element im Entwurf von PPAG sind die großen Schiebefenster, die sich vertikal nach oben schieben lassen und dann wie große Bilderrahmen über die Dachkante des Zubaus hinausstehen. In der Fassade wechseln sich diese Schiebelemente ab mit Verkleidungen aus matt spiegelndem Aluminium, demselben magischen Material, mit dem Kazuyo Sejima die kürzlich eröffnete Louvre-Außenstelle im französischen Lens verkleidet hat. Die polygonale Geometrie des Steirerecks bringt diese Materialien zur vollen Entfaltung: Abhängig von Licht und reflektierter Umgebung bekommt jede Fläche ihren eigenen Glanz.

Neben seinen vielen praktischen Vorzügen erfüllt das Projekt damit auch eine andere Vorgabe der Bauherren: Es bietet eine signifikante und einprägsame Figur, die den Besuchern in Erinnerung bleibt.

Wem das Ergebnis nicht „wienerisch“ genug ist, sollte bei Josef Frank nachlesen, der schon 1931 postuliert hat, dass ein beliebiges Polygon einen besseren Grundriss abgibt als ein regelmäßig-rechteckiges.

Frank wollte der Architektur ihre Gravität nehmen und hat in späteren Jahren unter dem Begriff des „Akzidentismus“ Phantasieentwürfe skizziert wie das berühmte Giraffenhaus, als dessen Urenkel man das Steirereck mit seinen hochgeschobenen Fenstern durchaus betrachten darf. Architektur mit Humor ist eine Seltenheit. PPAG ist sie hier gelungen.

Spectrum, Sa., 2014.09.27

30. August 2014Christian Kühn
Spectrum

Cluster macht Schule

Volksschule Mariagrün in Graz, zumindest hier bewegt sich das Bildungssystem: Lerninseln ersetzen die Korridore, Bildungsbereiche die Klassenzimmer. Werden sich diese neuen Räume auch bewähren?

Volksschule Mariagrün in Graz, zumindest hier bewegt sich das Bildungssystem: Lerninseln ersetzen die Korridore, Bildungsbereiche die Klassenzimmer. Werden sich diese neuen Räume auch bewähren?

Die letzte große Bildungsreform in Österreich, das Schulorganisationsgesetz von 1962, liegt ein halbes Jahrhundert zurück. Bildungspolitisch leben wir im Land der kleinen Schritte und vorsichtig austarierten Kompromisse, hinter denen aber zumindest manchmal größere Ambitionen hervorleuchten.

Spürbar werden diese Ambitionen nicht zuletzt im Schulbau. Hier hat sich in den vergangenen Jahren, meist unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit und abseits der Schusslinie im Grabenkampf um die Schulreform, ein Paradigmenwechsel vollzogen, dessen Resultate nun österreichweit wirksam werden. Zwei repräsentative Beispiele, die auf Wettbewerbe aus dem Jahr 2011 zurückgehen, nehmen im Herbst ihren Betrieb auf: die Volksschule Mariagrün in Graz und der Bildungscampus Sonnwendviertel in Wien, eine Kombination aus Kindergarten, Volksschule und Neuer Mittelschule. Es sind nur zwei Beispiele von vielen. In allen Bundesländern und auch auf Bundesebene wurde in den letzten Jahren begonnen, die starren, teilweise gesetzlich fixierten Regeln für den Bau von Kindergärten und Schulen zu flexibilisieren und neue Unterrichtsformen auch architektonisch zu unterstützen.

Charakteristisch für das neue Paradigma ist die Auflösung des Systems aus Klassenzimmern und Erschließungsgängen zugunsten von offeneren Grundrissen, die unterschiedliche Lehr- und Lernformen und nicht nur den Frontalunterricht unterstützen. Dahinter stehen Ideen, die in der Pädagogik alles andere als neu sind, aber in den letzten Jahren durch neue Bildungsziele und Schlüsselqualifikationen an Brisanz gewonnen haben. Die homogene Klasse, in der gleich begabte Kinder mit gleicher Geschwindigkeit dasselbe lernen, gibt es längst nicht mehr. Schule geht heute vom Prinzip der Inklusion aus, womit nicht allein die Integration sogenannter behinderter Schüler gemeint ist, sondern ein so weit wie möglich auf die Persönlichkeit des einzelnen Kindes zugeschnittener Unterricht. Das ist ein hoher Anspruch, der nicht nur exzellente und motivierte Pädagogen braucht, sondern auch geeignete Räume. Es ist kein Zufall, dass die Formulierung, der Raum sei – neben den anderen Kindern und den Lehrern – der „dritte Pädagoge“, von Loris Malaguzzi in Italien geprägt wurde, einem Land, das seit den 1970er-Jahren auf inklusiven Unterricht setzt und schon damals seine Sonderschulen weitgehend abgeschafft hat.

An der Volksschule Mariagrün in Graz lässt sich erkennen, dass die „neue Schule“ nicht unbedingt spektakulär aussehen muss. Der Entwurf der Vorarlberger Architekten Philipp Berktold und Christoph Kalb ist eine einfache, holzverkleidete Box am Hang. Auf demselben Grundstück liegen ein als Kindergarten genutztes, denkmalgeschütztes Sanatorium aus dem 19. Jahrhundert und eine 2010 errichtete Kinderkrippe, ein Massivholzbau von Martin Strobl. Mit diesen Einrichtungen teilt sich die Schule nicht nur den Freiraum, ein parkähnliches Areal im Grazer Stadtteil Mariatrost, sondern auch die Küche und den Speisesaal, die im Altbau liegen. Bedingt durch die Hanglage befindet sich der Haupteingang zur Volksschule im obersten der drei Geschoße. Eine großzügige, flexibel nutzbare Halle mit Oberlicht empfängt die Besucher. Linker Hand liegt die Direktion, ein Stockwerk tiefer die gemeinsame Garderobe mit eigenem Ausgang in den Garten. Auf dem untersten, teilweise in den Hang gegrabenen Niveau liegen der Turnsaal und Werkräume mit überdachten Terrassenflächen. Der Unterschied zu einer normalen Schule besteht in der Anordnung der Unterrichtsräume. Sie gliedern pro Geschoß sich in einen großen, von jeweils vier Gruppen gemeinsam nutzbaren offenen Bereich, an den vier mit Schiebetüren zu öffnende „Klassenräume“ angelagert sind. Dazu kommt ein großzügig dimensionierter Teamraum für die Lehrer, ein Lagerraum für Unterrichtsmaterialien und die WCs für die Schüler. Eine solche, um eine gemeinsam nutzbare Mitte herum angeordnete Einheit wird im Schulbau als „Cluster“ bezeichnet. In Mariagrün werden die vier Gruppen als Jahrgangsklassen geführt, im zentralen Raum wird aber jahrgangsübergreifend und im Team gearbeitet.

Auch der neue Campus Sonnwendviertel in Wien, ein Entwurf der Architekten PPAG, folgt diesem Clusterprinzip. Für den Wiener Schulbau muss das Projekt als Auslöser einer kleinen Revolution gesehen werden. Während die ersten Campusschulen nach dem Muster Gang und Klassenzimmer konzipiert waren, hat sich der Cluster heute als Standard im Schulneubau der Stadt etabliert. Inzwischen wurde auch das Potenzial dieses Prinzips für die Verbesserung der frühkindlichen Bildung erkannt: Eine Kombination von Kindergartengruppen und Schulklassen in einem Cluster bietet die Möglichkeit, die wichtige Schnittstelle zwischen diesen Institutionen flexibler und besser auf die individuellen Bedürfnisse hin orientiert zu gestalten.
Sowohl im Wiener wie im Grazer Beispiel zeigt sich, dass der Clustertypus eine Neujustierung von Gewichtungen erfordert. In Graz wurden die „Klassenräume“ auf 48 m² verkleinert, um Flächen für den Zentralraum zu schaffen. In Wien wurde der Hort als eigenständige, nur halbtags genutzte Institution aufgegeben und seine Flächen der Schule zugeschlagen. In beiden Fällen wird der Möblierung große Bedeutung gegeben: Eine flexible Schule funktioniert nur mit leichten, beweglichen Tischen und Sesseln und zusätzlichen Aufbewahrungsmöglichkeiten für Schulsachen.

Solche Verschiebungen über Budgetgrenzen hinweg klingen einfacher als sie sind, ebenso die Kombination von bisher säuberlich getrennten Institutionen wie Kindergarten und Schule. Die eigentlichen Helden in diesem Spiel sind Beamte der Bildungs- und Bauressorts, die gemeinsam mit engagierten Pädagogen Grenzen einreißen und neue Regeln definieren. Ohne eine kluge Wettbewerbsausschreibung, die von den Architekten Innovationen einfordert, wäre keine der beiden genannten Schulen möglich gewesen.
Die anstehende große Reform unseres Bildungssystems kann diese Entwicklung nicht ersetzen. Sie schafft aber eine wichtige Voraussetzung einer zeitgemäßen Pädagogik. Jetzt geht es darum, die neuen Konzepte im Betrieb zu beobachten, aus ihnen zu lernen und die Erkenntnisse in die Breite zu tragen.

Spectrum, Sa., 2014.08.30

02. August 2014Christian Kühn
Spectrum

Eine undichte Stelle

Das Wiener Stadthallenbad ist endlich eröffnet. Die Farce um seine Sanierung endet wohl vor Gericht.

Das Wiener Stadthallenbad ist endlich eröffnet. Die Farce um seine Sanierung endet wohl vor Gericht.

In der aktuellen Ökonomie der Aufmerksamkeit ist der Wert der Architektur im Schwinden begriffen. Noch vor zehn Jahren setzte das amerikanische „Time Magazine“ unter dem viel versprechenden Titel „The Shape of Things to Come“ den Stararchitekten Daniel Liebeskind aufs Titelblatt und ließ ihn und andere Götter in Schwarz über die Zukunft der gebauten Umwelt räsonieren. Auch in einer der jüngsten Ausgaben von „Time“ ging es in einem immerhin knapp 40 Seiten starken Sonderteil um Architektur unter dem Titel „The Smarter Home“. Das Titelblatt zeigte diesmal allerdings die Zeichnung eines Einfamilienhauses, das zwar ästhetisch eher ins Fertighausparadies der „Blauen Lagune“ passen würde, technisch aber einiges verspricht, unter anderem seinen eigenen Energiebedarf abzudecken, durch ausgefeilte Sensorik auf die Bedürfnisse seiner Nutzer zu reagieren und über LEDs beliebige Lichtstimmungen erzeugen zu können.

Man wird sich daran gewöhnen müssen, dass Architektur außerhalb der Reservate der Architekturkritik in einem neuen Rahmen diskutiert wird: als Gerüst, auf das wir Schalter und Tasten montieren, mit denen wir unseren Komfort steuern. Mit der Realität des Architekturschaffens haben solche Fantasien freilich nur wenig zu tun. Die zunehmende Komplexität der Gebäudetechnik ist ein Faktum, das die Architektur dazu zwingt, viele ihrer klassischen Mittel neu zu denken. Der Schluss, dass Ingenieure und Haustechniker und eine vielleicht noch entstehende Berufsgruppe von Interfacedesignern eine ganzheitliche architektonische Planung ersetzen könnten, wäre freilich verhängnisvoll. Am Ende stünde dann oft ein saftiger Bauskandal – die andere verblieben Möglichkeit für ein Gebäude, heute noch in die Zeitung zu kommen.

Das Wiener Stadthallenbad hat sich in den vergangenen Jahren zu einem solchen Skandal entwickelt, in dessen Zentrum die Frage des Vertrauens zwischen der Bauherrenseite und den verantwortlichen Architekten steht. Begonnen hat dieser Skandal im Jahr 2009, als die Stadt Wien den schon lange fälligen Entschluss fasste, das Stadthallenbad zu sanieren. Das Sportamt hatte einen Planer mit einem Sanierungsentwurf beauftragt, der auf eine grobe Verunstaltung des Gebäude hinausgelaufen wäre. Dass die Verantwortlichen nicht wirklich wussten, womit sie es zu tun hatten, zeigte sich schon an dem kleinen Detail, dass in der Projektbeschreibung ein gewisser Arnulf Rainer als Architekt des Ursprungbaus aus dem Jahr 1974 angeführt war.

Tatsächlich handelt es sich beim Stadthallenbad um eines der Hauptwerke von Roland Rainer, ein auch im internationalen Vergleich herausragendes Werk, nicht so spektakulär wie seine frühen Hallen, aber unglaublich raffiniert in Konzept und Detail. Die schräg geneigten Träger, die sich aus der Höhenstaffelung der Halle Richtung Sprungturm ableiten, geben dem Raum eine besondere Dynamik. Auch der Grundriss, an sich ein einfaches Rechteck, das der Kontur der beiden Schwimmbecken folgt, wird durch das „störende“ Element des Sprungturms in Bewegung gebracht: Die Verglasung weicht ihm in mehreren, mit der Neigung der Dachträger synchronisierten Stufen aus, während die Wettkampftribünen leicht schräg in den Raum gestellt sind, um die Blicke der Zuschauer auf die Springer zu fokussieren. Das Ergebnis ist ein pulsierender Hochleistungsraum, weder Spaßbad noch Wellness-Oase, aber seinem ursprünglichen Zweck, als Trainingsanlage für den Spitzensport zu dienen, in jeder Hinsicht angemessen.

Durch Proteste der Fachöffentlichkeit sensibilisiert, beantragte die Stadt Wien selbst praktisch im letzten Moment Denkmalschutz für das Bad und ließ in einem Generalplanerverfahren nach einem entsprechend kompetenten Architekten suchen. Georg Driendl, der selbst bei Roland Rainer studiert hat, überarbeitete die vorliegende Planung von Grund auf. Das technisch und denkmalpflegerisch größte Problem waren die bereits in den 1990er-Jahren erfolgten Sanierungen, bei denen unter anderem der Hallenboden leicht angehoben und eine Edelstahlwanne anstelle des gekachelten Beckens eingesetzt wurde. In vielen Punkten hatten sich seit 1974 Vorschriften geändert, für Geländer ebenso wie für Türhöhen, und hier galt es, sinnvolle Lösungen zu finden, teilweise unter Beibehaltung der alten Standards, wie das bei denkmalgeschützten Altbauten ja auch in anderen Fällen in Kauf genommen werden muss.

Die Sanierung begann 2010 und sollte im Herbst 2011 abgeschlossen werden. Wie bei vielen Sanierungen traten zusätzliche Probleme auf, die unter anderem auf jahrelange Vernachlässigung der Substanz zurückzuführen waren. Zum öffentlich gravierenden Problem wurde kurz vor Abschluss der Sanierung das Edelstahlbecken, das sich als undicht erwies. Die ausführende deutsche Firma, von der das Becken in den 1990er-Jahren stammte, empfahl, etappenweise nach den undichten Stelle zu suchen und das Bad trotzdem zu eröffnen, da die austretende Wassermenge minimal sei. Die Stadthalle unter der Führung ihrer neuen kaufmännischen Direktorin, Sandra Hofmann, entschloss sich nach kritischen Zeitungsberichten zu einem anderen Weg, nämlich einen Schuldigen zu suchen. Sie veranlasste Ende Jänner 2012 einen Baustopp und eine gerichtliche Beweissicherung.

Seit damals hat sich diese Causa zu einer Farce entwickelt, die Hunderttausende Euro an Gutachter- und Rechtsanwaltshonoraren gekostet hat. Bereits nach Plänen von Georg Driendl errichtete Teile wie der Kassenschalter beim Eingang wurden abgebrochen und neu errichtet und fertig verlegte Böden getauscht. Der Aufgang auf den Sprungturm wurde neu als Standardtreppe statt als Leiter errichtet und steht entsprechend unglücklich im Weg. Um viel Geld wurde auch eine Gesamtprüfung des vorgespannten Tragwerks durchgeführt, in der Hoffnung, das ungeliebte Gebäude könnte aus statischen Gründen als nicht erhaltenswert eingestuft werden. Die von einem Tragwerksplaner aus dem Umfeld von Pier Luigi Nervi stammende Konstruktion hielt dieser Prüfung aber mit mehrfacher Sicherheit stand.

Inzwischen ist das Edelstahlbecken dicht. Wer heute im Stadthallenbad schwimmen geht, darf sich an einer ästhetisch und funktionell hervorragend gelungenen Sanierung erfreuen. Auch die Wasserqualität ist – nach der Korrektur der Fehler, die schon zu Roland Rainers Zeiten gemacht wurden – hervorragend. Bei der Pressekonferenz zu der im Juni erfolgten Eröffnung sprach Sandra Hofmann von 300 Planungsfehlern des Generalplaners, der auf mindestens 6,8, möglicherweise 15 Millionen Euro Schadenersatz geklagt werde. Womit man wieder im ursprünglichen Budgetplan sei. Das klingt nach Realitätsverweigerung. Falls es tatsächlich zu diesem Prozess kommt, wird der Steuerzahler aller Voraussicht nach heftig zur Kasse gebeten werden. Dass das Becken schon vor der Sanierung des Bads undicht war, ist bekannt. Hätte man die Energie ins Lösen von Problemen statt in die Suche nach Schuldigen gesteckt, wäre das Bad wohl schon im März 2012 in Betrieb gegangen: ohne Skandal, als Erfolgsstory einer intelligenten und einfühlsamen Sanierung.

Spectrum, Sa., 2014.08.02

05. Juli 2014Christian Kühn
Spectrum

Nichts ist egal

Seine Bauten waren ihrer Zeit Jahrzehnte voraus. So ist es keine Überraschung, dass sie heute dringend saniert werden müssen. Wien sollte das Andenken an Helmut Richter ehren, indem es seine Bauten weitersprechen lässt– die Stadt hat nicht viele Räume dieser Qualität zu bieten.

Seine Bauten waren ihrer Zeit Jahrzehnte voraus. So ist es keine Überraschung, dass sie heute dringend saniert werden müssen. Wien sollte das Andenken an Helmut Richter ehren, indem es seine Bauten weitersprechen lässt– die Stadt hat nicht viele Räume dieser Qualität zu bieten.

Über Architektur zu sprechen ist Helmut Richter nie leicht gefallen. Ein allgemeines Gespräch zum Thema „Architektur“ hielt er für sinnlos, weil es keine ästhetischen Argumente gäbe, sondern nur ästhetische Postulate. Die würden allerdings nicht vom Himmel und dem Architektengenie in die Hände fallen. Vielmehr sei festzuhalten, dass „die ständige Beschäftigung mit einem Problem, dauernde Anstrengung und der Wille, etwas zu verbessern, neben der Verwendung von klaren Argumenten bei der Kontrolle unserer Handlungen zu dem Resultat führt“.

Es ist symptomatisch, dass Richter „dem Resultat“ kein Adjektiv beistellt, wie man es an dieser Stelle erwarten würde. Sollte es nicht zumindest „korrekt“ sein, besser noch „gelungen“ oder „herausragend“? Das wäre für Richter schon zu viel an Selbstgefälligkeit gewesen. Das Resultat ist, was es ist. Aber im selben Text, der 1984 in der Zeitschrift „UmBau“ erschien, heißt es auch: „Die Methode sei der ständige Zweifel, die Kontrolle, die Korrektur.“ So macht man sich und seiner Umgebung kein leichtes Leben. Aber man gelangt zu außergewöhnlichen Resultaten. Und das ist das Mindeste, das man über Helmut Richters Architektur sagen kann.

Geboren wurde Richter 1941 in Ratten in der Steiermark. „Aufgewachsen bin ich im Wald“, sagte er vor Jahren in einem Interview und legte damit wahrscheinlich eine falsche Fährte: Sein Vater war Bergbauingenieur, und beeinflusst haben ihn weniger die Natur als das industrielle Gerät und die Industriebauten des Kohlebergwerks im Ort. Nach dem Architekturstudium an der TU in Graz ging Richter 1969 in die USA, um an der University of California, Los Angeles, weiterzustudieren. Dem Trend der Zeit entsprechend, belegte er Vorlesungen in System- und Netzwerktheorie und war bis 1971 als Forschungsassistent tätig. Er kehrte nicht direkt nach Österreich zurück, sondern wechselte für vier Jahre als Assistenzprofessor an die École nationale superiéure des beaux-arts in Paris.

Dort freundete sich Richter mit einer internationalen Gruppe von Architekten an, die gerade mit der Planung des Centre Pompidou befasst waren. Zum ersten Mal in der Geschichte Frankreichs hatten an dem Wettbewerb für dieses Projekt auch ausländische Architekten teilnehmen dürfen, und aus fast 700 Einreichungen machte das Team des Engländers Richard Rogers und des Italieners Renzo Piano das Rennen. Das Projekt eines anderen Briten, des 23 Jahre alten William Alsop, kam auf Platz zwei. Richter hoffte, sich in diesem Pariser Umfeld als internationaler Architekt selbstständig machen zu können. Das ging nicht auf, aber der kontinuierliche Austausch mit den Architekten und Ingenieuren der Architekturströmung, die man ab Mitte der 1970er-Jahre als „Hightech“ zu bezeichnen begann, ließ ihn Konstruktion und Material neu denken: nicht als Mittel zum Zweck, sondern als zentrales Medium des architektonischen Schaffens. Unter den österreichischen Architekten gelangte nur Konrad Frey, der zur selben Zeit wie Richter an der TU Graz diplomiert und danach in London bei Arup Associates – den Ingenieuren des Centre Pompidou – gearbeitet hatte, zu einem vergleichbaren Verständnis.

Im Jahr 1977 kehrte Richter nach Wien zurück und gründete gemeinsam mit Heidulf Gerngroß ein eigenes Büro, das sehr rasch auffällig wurde. Während an der TU Wien mit Rob Krier ein wortgewaltiger Vertreter der Postmoderne den Ton angab, legten Gerngroß/Richter Projekte einer zweiten, entspannt wirkenden Moderne vor. Es waren kleine und kleinste Aufgaben: das Einfamilienhaus Königseder in Oberösterreich, das Bad Sares und das Restaurant Kiang in Wien, alle in den Jahren zwischen 1980 und 1985 realisiert. Für viele Studierenden an den Wiener Architekturschulen wurden diese Projekte zu Leitbildern. Sie waren der gebaute Beweis, dass ihre Lehrer unrecht hatten. Die behaupteten nämlich zu dieser Zeit, man müsse einem Projekt ansehen, dass es die Weltgeschichte der Architektur ehrfurchtsvoll zitiert. Die Projekte unter dem Label von Gerngroß/Richter zeigten eine Alternative auf, die völlig im Heute zu Hause war. Wer diesen Weg verfolgte, war aber auch gegen jede Art von Dekonstruktivismus immunisiert. Richters Lieblingsphilosophen waren Wittgenstein und Popper. Er verstand Entwerfen als deduktiven Prozess, dessen Ergebnisse sich im Leben zu bewähren haben, und Bauschäden als Erkenntnisgewinn durch Falsifikation.

Zur Attraktivität der Person Helmut Richters bei der jungen Szene trug wesentlich seine kompromisslose Haltung bei – sie führte aber nicht immer zum Erfolg. Beim Wohnbau auf den Wiener Gräf-und-Stift-Gründen, der als Stahlkonstruktion geplant war, erlebte er eine doppelte Niederlage: Die Ausführung erfolgte in Massivbauweise, und die zahlreichen Grundrissvarianten, die der Entwurf den Nutzern angeboten hätte, wurden auf zwei reduziert. Im Kampf mit der Genossenschaft ließ sich Richter auf keinen Kompromiss ein, bis er den Auftrag verlor. Sein Gegenüber erwartete von einem Haus nicht mehr, als dass es warm, trocken und möglichst billig war. Richters Leidenschaft galt der Präzision bis ins letzte Detail. Richard Manahl von Artec, einer der ersten Mitarbeiter im Büro Gerngroß/Richter, berichtet, er hätte dort vor allem ein Prinzip gelernt: „Nichts ist egal.“ In der Wiener Welt des Durchwurstelns ist das bis heute eine Kampfansage.

Diese Ansage hat Richter seit den frühen 1980er-Jahren auf vielen Wegen in die österreichische Architekturszene getragen. Da wären einerseits die Mitarbeiter in seinem Büro, andererseits die Studierenden, die er zuerst als Lehrbeauftragter an der Angewandten, dann als Gastprofessor in Kassel und schließlich ab 1991 als Nachfolger von Ernst Hiesmayr an der TU Wien unterrichtet hat. In seiner Zeit als Professor betreute Richter rund 750 Diplomarbeiten: eine ganze Architektengeneration.

An der TU etablierte er mit seinen Assistentinnen und Assistenten eine Schule, die aus dem Betrieb herausleuchtete. Zu denen, die ihm auf die eine oder andere Art wesentliche Impulse verdanken, gehören viele, auch einige der besten der heute um die 50-jährigen Architekten in Wien, unter anderem Fasch und Fuchs, Querkraft, Gerner und Gerner, Andreas Treusch, Pichler Traupmann, Berger und Parkkinen, Bulant und Wailzer, Tillner und Willinger.

Diese Architekten verbindet ein Verständnis für Konstruktion und Material, wie es an den beiden Hauptwerken Richters, der Wohnhausanlage in der Brunner Straße und der Hauptschule am Kinkplatz, abzulesen ist. Peter Cook hat diese Architektur als „Hand-Tailored Tech“ bezeichnet. Sie ist exklusive Maßarbeit, im Unterschied zum britischen und französischen Hightech, der auf große Ingenieurbüros und ausführende Firmen mit Stahlbautradition zurückgreifen konnte. Richter und sein Ingenieur, Lothar Heinrich von Vasko und Partner, entwickelten Konstruktionen, die ihrer Zeit 20 Jahre voraus waren. Scheinbar serielle Industrieprodukte, die aber nicht aus der Fabrik, sondern aus der Schlosserei stammen.

Dass diese Bauten heute, nach 20 Jahren, dringend saniert werden müssen, ist keine Überraschung. Sie teilen dieses Schicksal mit dem Centre Pompidou, dessen erste Generalsanierung 20 Jahre nach der Eröffnung begann. Mit heutigen Technologien lassen sich Richters Bauten warm und dicht machen, ohne ihre Qualität zu zerstören. Am 15. Juni ist Helmut Richter nach langer Krankheit verstorben. Wien sollte das Andenken an diesen stillen, fast scheuen Architekten ehren, indem es seine Bauten weitersprechen lässt. Die Stadt hat nicht viele Räume in dieser Qualität zu bieten.

Spectrum, Sa., 2014.07.05



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Richter Helmut

10. Mai 2014Christian Kühn
Spectrum

Das Museum wird lebendig

150 Jahre auf dem Buckel, und es tritt nicht leiser – im Gegenteil: Sensationelle Installationen, spektakuläre Werkpräsentationen, provokante Themenausstellungen gab es schon, nun liegt der Schwerpunkt auch auf Design. Zur Geschichte eines Sonderfalls: das Wiener MAK.

150 Jahre auf dem Buckel, und es tritt nicht leiser – im Gegenteil: Sensationelle Installationen, spektakuläre Werkpräsentationen, provokante Themenausstellungen gab es schon, nun liegt der Schwerpunkt auch auf Design. Zur Geschichte eines Sonderfalls: das Wiener MAK.

Im Film „Nachts im Museum“ muss die von Ben Stiller gespielte Hauptfigur ein New Yorker Museum bewachen, in dem die Exponate nach Sonnenuntergang zum Leben erwachen. Untertags zeigt sich das Museum im Normalbetrieb als ein Ort für Dinge, die mit der Gegenwart nicht viel zu tun haben: tote Tiere, Alte Meister, längst obsolete Maschinen, Zeug von gestern. Was im Schatzhaus des Museums eingeschlossen ist, soll möglichst still halten und uns Erholung vom Alltag bieten.

Dieses Bild des Museums ist freilich längst obsolet geworden. In einem Vortrag, der vergangene Woche im Rahmen der Wiener Vorlesungen im Wien Museum zu hören war, referierte der in Zürich lehrende Kulturwissenschaftler Bernhard Tschofen über Alternativen zur Metapher des Schatzhauses. Museen seien Institutionen der Gegenwart, in denen Menschen und Dinge ein „epistemisches Gefüge“ bilden würden, also eine besondere Situation des Erkenntnisgewinns – am Objekt und im Raum. In einem guten Museum würde heute die Reflexion im Mittelpunkt stehen und nicht die Affirmation, der das Museum als Erfindung des Bürgertums im späten 18. und vor allem im 19. Jahrhundert seine Existenz verdankte. Das Museum hätte schon immer Geschichte konstruiert, aus der Perspektive von Klassen und Nationen; heute müsse es sich dessen bewusst sein und deutlich machen, wer hier für wen spricht.

Das zweite Museumszeitalter sei in den Jahren nach 1968 angebrochen, als Museen begannen, sozial- und alltagsgeschichtliche Aspekte aufzugreifen. Heute müsse ein Museum sich als Generator verstehen, als Produzent von kulturellen Aussagen, die bewusst auf den Prüfstand der Öffentlichkeit gestellt werden. Dass diese Öffentlichkeit heute alles andere als homogen ist, nämlich geprägt von kulturellen Differenzen, ist ein wichtiger Faktor. Die klassische Arbeitsteilung von Kuratoren, Gestaltern und Vermittlern sei unter diesen Umständen nicht mehr ausreichend. Das Museum müsse zur „Trading Zone“ werden, und seine Mitarbeiter müssen zu Maklern werden, die zwischen unterschiedlichen Wissensordnungen vermitteln.

Universalmuseen wie das Wien Museum sind – so Tschofen – für diese Aufgabe besser gerüstet als klassische Kunstmuseen, da sie den kulturhistorischen Kontext aus ihren Beständen beistellen könnten. Ob das Wien Museum jemals geeignete Räume für diese Aufgabe bekommen wird, muss sich in nächster Zeit klären. Nachdem die Standortentscheidung für den Karlsplatz gefallen und die Erweiterungsmöglichkeit im Groben skizziert ist, sollte noch vor den nächsten Wiener Wahlen ein Architekturwettbewerb zeigen, ob die Gemeinde Wien imstande ist, einen Kulturbau zu realisieren, der einer Millionenstadt angemessen ist.

Diese Sorge hat das Museum für angewandte Kunst, das kommende Woche seinen 150. Geburtstag feiert, nicht. Für Sammlungen und Wechselausstellungen steht genug Raum zur Verfügung. Das MAK ist von seiner Geschichte her der Sonderfall eines Museums, das sich schon immer als Ort der Produktion verstanden hat, nicht im unmittelbaren Sinn, sondern als Sammlung von vorbildlichen Produkten.

Unter der 25-jährigen Direktorenschaft von Peter Noever entwickelte sich das MAK zu einem Museum, das Gegenwartskunst vor dem Hintergrund der historischen Bestände präsentierte. Die Interventionen, die Noever Ende der 1980er-Jahre im MAK von Künstlern in der Schausammlung des Museums installieren ließ, waren eine Sensation, die – zusammen mit spektakulären Werkpräsentationen und provokanten Themenausstellungen – den Ruf des Hauses neu begründete.

Sein Nachfolger Christoph Thun-Hohenstein, der die Direktion im Herbst 2011 übernahm, hat dem MAK eine neue, weniger schillernde Ausrichtung gegeben. Die Schausammlungen wurden schrittweise neu aufgestellt, zuerst die Bestände zu „Wien 1900“, dann die Asien- und die Teppichsammlung. Das Prinzip, zeitgenössische Künstler in die Neuaufstellung der Schausammlung einzubinden, blieb erhalten, mit einer kräftigen Intervention bei der Asien-Sammlung durch Tadashi Kawamata und einer dezenten in der Teppichsammlung durch Füsun Onur. Kawamata mischt Holzlatten und Exponate zu einem Treibgut, das sich im Raum verfängt und in Dialog mit den „grottesken“ Wandmalereien tritt. Onurs Engelteppich schwebt dagegen unauffällig über der Installation aus fliegenden Teppichen, konzipiert von Michael Embacher. Dass die Kuratoren und Kustoden mehr Mitsprache haben als bisher, ist den Aufstellungen positiv anzumerken. Vor allem die Sammlung zu „Wien 1900“, die nun die Jahre 1890 bis 1938 behandelt, zeigt Überraschungen auch für Besucher, die über dieses Thema schon alles zu wissen glaubten.

Mit dem kommenden Dienstag zum 150. Geburtstag eröffneten Design Labor setzt das MAK das bisher deutlichste Zeichen für eine Neupositionierung. Die vom Wiener Designbüro EOOS unter kuratorischer Beratung des Institute of Design Research Vienna gestaltete Ausstellung ersetzt die bisherige Studiensammlung komplett. Ein Teil des Materials ist geblieben, aber lebendiger präsentiert und thematisch neu geordnet. Ein Raum widmet sich dem Produzieren: Hier stoßen künstlerische Produktion und Design aneinander, mit Franz West auf der einen und einer Zusammenschau aller Staatspreise für Design seit 1962 auf der anderen Seite, vom Damenhut bis zur Aufklärungsdrohne. Weitere Bereiche widmen sich dem Kochen und Essen, der Bekleidung (grandios: das Spezialarchiv Helmut Lang) und der visuellen Kommunikation. Das klingt nach säuberlich getrenntem Sortiment, aber EOOS freuen sich, dass diese „Supermarktaufstellung“ an vielen Punkten zu durchaus überraschenden Begegnungen führt.

Zwei Räume für Wechselausstellungenund das MAK Forum – ein multifunktionaler Vortrags- und Ausstellungsraum, in dem es trotz der Lage im Keller viel Tageslicht gibt – runden das Angebot ab. Besucher, die den direkten Weg in den Zentralraum der Studiensammlung gewohnt waren, werden den neuen Eingang, der die Besucher durchs MAK Forum führt, gewöhnungsbedürftig finden. Wenn der Beitrag des Designs zum „positiven Wandel“, den sich das MAK auf die Fahnen geschrieben hat, dort tatsächlich seinen Ausgang nimmt, lohnt sich der Umweg allemal.

Spectrum, Sa., 2014.05.10

11. April 2014Christian Kühn
Spectrum

Penthouse für alle?

Baugemeinschaften lassen die Genossenschaftsidee im Wohn-bau wieder aufleben. Wie Reich- tum durch Teilen entsteht: so gesehen in Wien-Leopoldstadt.

Baugemeinschaften lassen die Genossenschaftsidee im Wohn-bau wieder aufleben. Wie Reich- tum durch Teilen entsteht: so gesehen in Wien-Leopoldstadt.

Eine Sache zu teilen bedeutet meist, weniger von ihr zu haben. Es gibt aber auch Güter, die sich beim Teilen vermehren. Ein Auto, das von vielen Nutzern geteilt wird, vervielfacht sich zwar nicht physisch, entfaltet aber beim Carsharing einen deutlich vermehrten Nutzwert. Auch wenn es bis heute keiner der großen Automobilkonzerne gewagt hat, statt Autos schlicht Mobilität zu verkaufen, ist abzusehen, dass die Entwicklung in diese Richtung gehen wird. Systeme, in denen geteilt wird, sind grundsätzlich flexibler und effizienter. Individuelles Eigentum wird in solchen Systemen durch den Zugang zu Ressourcen genau dann ersetzt, wenn sie benötigt werden.

Ein verwandter Trend lässt sich im Wohnbau unter dem Begriff „Baugemeinschaften“ beobachten. Der Begriff klingt nicht zufällig nach „Wohngemeinschaft“: Es geht ums gemeinsame Planen, Errichten und Benutzen von Wohnraum. In der Regel wird dabei kein individuelles Eigentum begründet, sondern eine andere Form der Bauträgerschaft gewählt. Die meisten Baugemeinschaften agieren als Vereine, andere als Eigentümergemeinschaften oder als Kooperationsprojekte mit einem Bauträger, bei dem die Projektbetreiber als Mieter auftreten. Das bekannteste Wiener Vorbild für eine „Baugemeinschaft“ ist die sogenannte „Sargfabrik“ im 14. Bezirk, ein Mitte der 1980er-Jahre begonnenes Wohnprojekt, das nach einem Entwurf der Architektengruppe BKK-2 geplant und in der ersten Baustufe 1996 eröffnet wurde. BKK-2 steht nicht von ungefähr für „Baukünstlerkollektiv“: Die Videoaufnahmen der legendären wöchentlichen Diskussionen, in denen das Projekt gemeinsam im Plenum entwickelt wurde, sind Lehrstücke für die Mühen der Basisdemokratie, an denen schon viele ähnliche Projekte gescheitert sind. Die Sargfabrik hat fast zehn Jahre von der Vision bis zur Umsetzung gebraucht.

Die jüngeren Baugemeinschaften, die derzeit in Wien mit ersten Realisierungen auf sich aufmerksam machen, haben aus diesen Erfahrungen gelernt. Beim Wohnbau auf dem Areal des ehemaligen Nordbahnhofs, hinter dem ein Verein mit dem trockenen Namen „Wohnprojekt Wien“ steht, dauerte es exakt vier Jahre von der Vereinsgründung bis zur Fertigstellung. Das Wohnprojekt ist kleiner als die Sargfabrik: 39 Wohnungen, 65 Erwachsene und 27 Kinder. Entscheidungen fallen nicht basisdemokratisch, sondern „soziokratisch“ nach einem in den Niederlanden entwickelten Partizipationsmodell, das Entscheidungen in eigenverantwortliche und mit eigenem Budget ausgestattete Arbeitskreise delegiert. Dass zu den Bauherren auch Unternehmer und Organisationsentwickler gehören, hat dem Projekt offenbar geholfen – was nicht selbstverständlich ist: Auch die Ballung von Expertise hat schon manches Projekt zu Fall gebracht.

Institutionell lehnt sich das „Wohnprojekt“ insofern an die Sargfabrik an, als der Verein als Betreiber eines Heims auftritt. Die Wohnbauförderung für Heime liegt pro Quadratmeter zwar unter jener von Wohnungen, dafür erhalten auch Gemeinschaftseinrichtungen – bis zu einem Ausmaß von 25 Prozent der sonstigen Wohnfläche – eine Wohnbauförderung. In diesem Fall haben die Betreiber das Potenzial fast vollständig genutzt: Seminarräume und Werkstätten liegen in dem über einen großen Spielhof belichteten Keller, eine Gemeinschaftsküche im Erdgeschoß, und anstelle eines Penthouse finden sich im obersten Geschoß eine Sauna, eine Bibliothek und drei Gästezimmer, die nach Bedarf genutzt werden können. Eine große Hürde für Baugemeinschaften ist in Wien die Suche nach einem geeigneten Grundstück. Der Traum von der Baulücke mit begrüntem Hof in einem der inneren Bezirke ist angesichts der aktuellen Preise auf dem Immobilienmarkt illusorisch. Um an ein Grundstück zu kommen, ging der Verein „Wohnprojekte Wien“ eine Kooperation mit einem gemeinnützigen Bauträger ein, mit dem er bei einem von der Stadt Wien ausgelobten Bauträgerwettbewerb für ein Grundstück auf dem Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs teilnahm. Die Genossenschaft Schwarzatal schlug ein Mischprojekt für das Grundstück vor: einen Block mit 51 Wohnungen mit normaler Wohnbauförderung, einen zweiten Block mit 39 Wohnungen als Heimmodell für den Verein.

Den Wettbewerb, der unter dem Schlagwort „interkulturelles Wohnen“ ausgelobt war, konnte das Projekt nicht zuletzt aufgrundder Zusammensetzung der Baugruppe für sich entscheiden: Ihre Mitglieder sprechen 17 Sprachen und kommen aus 40 verschiedenen Berufen. Ein Solidaritätsfond, der für einige Mitglieder den Eigenmittelbedarf auf null reduzierte, ist Teil des Konzepts.

Für den „normalen“ Wohnbau wurden Superblock Architekten verpflichtet, für das Wohnprojekt Katharina Bayer und Markus Zilker, die gemeinsam als Einszueins Architektur firmieren. Das Wohnprojekt ist solide ausgeführt, ein eleganter Baukörper mit gut nutzbaren, zwei Meter tiefen Balkonen aus Sichtbeton vor einer mit Holz verkleideten Fassade. Die Grundrisse sind pragmatisch im guten Sinn. Offenbar haben die Bewohner ihren Architekten im Rahmen des aufwendigen Partizipationsprozesses zu vertrauen gelernt und sich in puncto Gestaltung auf die Auswahl aus sechs unterschiedlichen Fensterformaten beschränkt.

Der Luxus des Projekts besteht – neben den Gemeinschaftsflächen – in zwei tiefen Einschnitten in den Baukörper, die aus einem sonst dunklen Mittelgang eine gut belichtete Erschließungszone machen, einen luftigen Raum mit Sichtverbindungen nach außen und zwischen den Ebenen. Der Verzicht auf die Maximierung der Nutzfläche ist wie so oft Voraussetzung für eine gute Lösung.

Das Projekt ist ein Beweis dafür, dass Baugemeinschaften ein erfolgreicher Weg zu einem selbst gestalteten Wohnen außerhalb der üblichen Spielregeln des Markts sind. Zum Spekulieren ist das Modell nämlich nicht geeignet. Wer auszieht, bekommt seinen Eigenmittelanteil zurück, aber keine etwaige Wertsteigerung. „Penthouse für alle“ beschreibt die Idee des Projekts daher nur unzureichend. Es ist auch ein politisches Projekt, das zu Fragen von Eigentum, Solidarität und Verantwortung für die Polis Stellung bezieht. Die Gemeinde Wien hat sich inzwischen mit der Idee der Wohngemeinschaften so weit angefreundet, dass diese auch ohne Bauträgerwettbewerbe zu Grundstücken kommen. Aktuelle Projekte, vor allem in der Seestadt Aspern, finden sich übersichtlich unter gemeinsam-bauen-wohnen.org zusammengestellt.

Spectrum, Fr., 2014.04.11

07. April 2014Christian Kühn
dérive

»Architektur ist ein Medium gesellschaftlicher Veränderung.«

Christian Kühn, Kommissär der Architekturbiennale 2014 in Venedig, im Gespräch mit Christoph Laimer und Elke Rauth über den Österreichbeitrag Plenum. Orte der Macht. Die Ausstellung im österreichischen Pavillon präsentiert 200 nationale Parlamentsgebäude weltweit und thematisiert Fragen zu Demokratie, Legitimität, Symbolik, Identität und natürlich dem Stellenwert sowie der Rolle von Architektur.

Christian Kühn, Kommissär der Architekturbiennale 2014 in Venedig, im Gespräch mit Christoph Laimer und Elke Rauth über den Österreichbeitrag Plenum. Orte der Macht. Die Ausstellung im österreichischen Pavillon präsentiert 200 nationale Parlamentsgebäude weltweit und thematisiert Fragen zu Demokratie, Legitimität, Symbolik, Identität und natürlich dem Stellenwert sowie der Rolle von Architektur.

dérive: In den Texten zum österreichischen Biennale-Beitrag finden sich zwei Zitate, die widersprüchlich erscheinen: »Architektur spiegelt Gesellschaft wider« und »Die Räume der Macht werden architektonisch nicht mehr erfasst«. Wie ist das zu verstehen?

Christian Kühn: Wir haben lange darüber diskutiert, ob wir die Ausstellung Räume der Macht oder Orte der Macht, also Spaces of Power oder Places of Power nennen sollen. Die traditionellen parlamentarischen Institutionen als Gebäude sind natürlich places. Heute würde man aber viel eher von Spaces of Power sprechen und damit auch ganz andere Räume inkludieren, wie den virtuellen Raum oder den Freiraum rund um ein parlamentarisches Gebäude. Trotzdem wäre es eine völlig unsinnige Aussage, dass Architektur und Städtebau Gesellschaft nicht mehr widerspiegeln. Auch die neuen sozialen Bewegungen suchen sich sehr gezielt ihre Orte im öffentlichen Raum und versuchen, diese Räume anders zu besetzen und damit andere Machtstrukturen zu erzeugen: Sehr oft als Gegenposition zu einem gebauten Parlament, zu einem Ort der Macht, der sich mit Mauern umgeben hat. Natürlich sehr oft auch mit dem Ziel, diese gebauten Orte der Macht für sich zu erobern.

Auch das Ausstellungskonzept scheint die in diesen Krisenjahren deutlich hervortretenden Macht- Verhältnisse wiederzugeben: Im Innenraum des österreichischen Pavillons werden 200 Modelle von Parlamentsgebäuden präsentiert, während im Außenraum ein landschaftsarchitektonisch dichter Wildwuchs entstehen soll, der mit einer Klang-Installation aus Protest-Tweets bespielt wird. Wie nahe können die neuen sozialen Bewegungen der Macht kommen?

Sehr weit kommen die Bewegungen in unserer Gestaltung tatsächlich nicht. Wir wollen natürlich darstellen, dass etwas von außen diese Mauer überwindet, diese existierende Mauer auch bricht und sich der Monumentalarchitektur nähert. Das ist eine dynamische Geste, die geplanten Bäume wachsen ja tatsächlich weiter. Aber natürlich bleibt das auf einer symbolischen Ebene. Wir weisen auf ein Phänomen hin und versuchen es mit dem Medium einer Architekturausstellung erfahrbar zu machen. Selbstverständlich ist geplant den Diskurs hineinzulassen, in Form von Veranstaltungen, mit denen dieses Parlament der Parlamente belebt wird. Aus diesem Blickwinkel ist das Diskursprogramm natürlich ein wichtiger Teil des Ganzen, vielleicht wichtiger als das Bühnenbild, das wir aufbauen.

Wie zeigt sich bei den 200 Beispielen von Parlamentsgebäuden das Verhältnis von Neubauten und bestehenden Gebäuden? Gibt es eine Art Kanon, einen Fundus, aus dem die jeweiligen Zeichen der Repräsentation stammen?
Der überwiegende Teil der Parlamente stammt aus dem 20. Jahrhundert, viele sind Neubauten. Die Recherche bringt natürlich interessante Dinge ans Licht: So haben die kolonialisierten Staaten bald nach ihrer Befreiung vielfach Parlamentsgebäude gebaut und in der Regel verständlicherweise auf Architekten aus Ländern zurückgegriffen, die mit dem Kolonialismus nichts zu tun hatten. Auch in Afrika hat man lieber schwedische oder finnische Architekten beauftragt, als englische oder französische Planer. Man könnte jahrelang Forschung betreiben auf der bauhistorischen, architektonischen, politik- und kulturwissenschaftlichen Seite – da gibt es noch vieles zu entdecken und aufzuarbeiten.
Was die Zeichensprache betrifft, dominiert ganz eindeutig der Klassizismus, bis in die Gegenwart. Es gibt wenige kleinere Staaten, die versuchen autochthone Formen einzuführen, das geht manchmal gut, manchmal wird es katastrophal. Dann natürlich die klassische Moderne, die in einer Phase die Chance hatte, zeitgemäße Architekturen zu realisieren. Gerade bei afrikanischen Parlaments­gebäuden aus der Phase nach der Unabhängigkeit wurde gerne auf die Formen­­­sprache der Moderne zurückgegriffen, mit der Idee autonom an den Fortschritt anzuschließen. Heute finanziert China, ein selbst mehr oder weniger demokratisches bis diktatorisches Regime, in Afrika Parlamentsgebäude, neben vielem anderen. Es ist beispielsweise hoch interessant, dass die Afrikanische Union strukturell zwar nach dem Vorbild der EU modelliert ist, mit Kommission, mit Parlament – also genau dieselbe Idee. Aber das 400 Mio. Dollar­ Gebäude in Addis Abeba, das vor zwei Jahren eröffnet wurde, ist von China geplant, finanziert und zum Teil sogar von chinesischen Arbeitern gebaut worden. Und dann gibt es in einigen überaus reichen Ländern katastrophal kitschige, geradezu unfassbare Gebäude, die eben nicht auf demokratische, sondern auf autokratische Systeme zurückführen.

Im Bewusstsein der Diskussion um die Auflösung der Zeichen, der Rede vom »ornamentalen Setzkasten Architektur«: Kann an der Gebäudesprache die politische Verfasstheit des jeweiligen Staates überhaupt abgelesen werden?

Wenn man genau hinsieht und recherchiert – ja. Wenn nur die Oberfläche betrachtet wird, sieht man gar nichts. Die Knesset in Israel stellt beispielsweise ein Monumentalgebäude dar, dessen erster Entwurf ausgesehen hat wie NS-Architektur – geschuldet der Idee, dauerhafte Strukturen zu schaffen. Und der Klassizismus ist usurpiert worden von totalitären Regimen, ist aber natürlich per se keine totalitäre Geste. Wenn man Architektur als Prozess auffasst und sagt, Architektur ist alles was passiert plus das bauliche Resultat, dann erkennt man sehr viel. Schließlich müssen in diesem Prozess Aufgabenstellungen definiert und Selbstbilder hinterfragt werden. Da kommt einiges zum Vorschein. Im Falle des österreichischen Parlaments kommt ja gerade zum Vorschein, dass man sich einer Debatte nicht stellen möchte. Hier wird hinter einer Sanierung die Frage versteckt, wie eine zeitgemäße parlamentarische Maschinerie aussehen müsste. Ich glaube, dass Architektur tatsächlich ein Medium gesellschaftlicher Veränderungen darstellt, wenn auch ein relativ zähes und langsames. Architektur ist in meinem Verständnis nicht nur Kulisse und nicht nur Spiegel der Gesellschaft, sondern es ist ein Medium, in dem die Gesellschaft sich ausdrückt. Das aktuelle Ziel der österreichischen Politik ist: möglichst keine Veränderung; und das drückt sich auch in der Art und Weise aus, wie mit diesem Sanierungsprozess umgegangen wird, der de facto ein massiver Umbauprozess ist: Nach außen wird die Illusion verkauft, dass alles bleibt wie es ist – man pflegt das Parlament als Bau-juwel von Theophil Hansen und alles andere läuft unter der Bezeichnung kleinere Maßnahmen. Dabei werfen gerade letztere die entscheidenden Fragen auf: Wie geht man in Zukunft hinein in dieses Gebäude als Bürger und Bürgerin? Wie bringe ich eine Arbeitsatmosphäre zustande, die nicht im 19. Jahrhundert oder den 1950er Jahren steckt, sondern modernen Anforderungen entspricht? Das sind wichtige Fragen, die in der Öffentlichkeit gar nicht gestellt werden.

Inwiefern will diese Ausstellung selbst eine Aussage über den Zustand der Institution Parlament treffen?

Wir arbeiten hier mit dem Medium der Ausstellung, es ist keine Konferenz oder Publikation. Was wir versucht haben, ist den Übergang vom Monument zum Ornament darzustellen. Wir bauen diese Modelle im Maßstab 1:500, aber wir stellen sie nicht wie üblich aus, sondern hängen sie wie Schmetterlinge an die Wand. Damit verändern sie sich, es entsteht ein Effekt, als ob die Wand sich aufblähen würde. Die Modelle werden ornamental und darin steckt natürlich auch eine Botschaft von uns als Kuratoren: Man könnte zu überlegen beginnen, wie viel Ornament in dieser Institution Parlament steckt und wie viel reale Macht. Damit will ich nicht sagen, dass alles Ornament ist, aber es ist sehr viel mehr Ornament als noch vor 20 Jahren. Das hat gute Gründe. Das Nachdenken über supranationale Strukturen, die getragen werden von den nationalen Strukturen, wäre das eigentliche Thema, das uns in den nächsten 20 Jahren beschäftigen sollte.

Ein wenig klingt das auch in der Gegenüberstellung der zwei Projekte von Coop Himmelb(l)au an, die ebenfalls präsentiert werden: Zum einen der Entwurf für das albanische Parlament in Tirana, dessen Realisierung auf Eis liegt, zum anderen das Konferenzzentrum in Dalian/China, eine asiatische Ausgabe des Weltwirtschaftsforums Davos.

Das Weltwirtschaftsforum in Davos ist keine politisch legitimierte Struktur, besitzt aber enorme Macht, die von Politikern auch genutzt wird. Die tauchen dort auch reihenweise auf, treffen auf andere Menschen, und natürlich werden dort Netzwerke geknüpft, Entscheidungen vorbereitet und getroffen, die über das Nationalstaatliche deutlich hinausgehen. Ich finde in diesem Zusammenhang den Begriff des »Davos Man«, geprägt durch den Politikwissenschaftler Samuel Huntington, sehr interessant: Die Beschreibung einer eigenen Spezies, die keine nationale Grenzen kennt und sich den Nationen auch nicht verantwortlich fühlt, deren Interesse darin liegt, das Kapital in alle Richtungen hin und her zu verschieben. Es ist uns wichtig gewesen, das in dieser Ausstellung zu zeigen und auch die Dimension sichtbar zu machen, in der dieses Gebäude verwirklicht worden ist. Das ist natürlich ein Versuch, etwas auszudrücken.

dérive, Mo., 2014.04.07



verknüpfte Zeitschriften
dérive 55 Scarcity: Austerity Urbanism

15. Februar 2014Christian Kühn
Spectrum

Furchtlos in Zürich

Architektur, die an nichts erinnern und nichts erzählen will. Adolf Krischnitz' Projekt für die Zentrale der Zurich-Versicherung besticht durch Gelassenheit.

Architektur, die an nichts erinnern und nichts erzählen will. Adolf Krischnitz' Projekt für die Zentrale der Zurich-Versicherung besticht durch Gelassenheit.

Die Stadt der Zukunft muss in Europa in der Stadt der Vergangenheit errichtet werden. Selbst wenn wir in den nächsten 200 Jahren alle Gebäude – mit der Ausnahme einiger weniger Denkmäler – durch Neubauten ersetzen, geht das nur in so kleinen Etappen, dass die alten Strukturen auf die eine oder andere Art in den neuen weiterleben werden. Umso wichtiger sind übergeordnete Ziele, die helfen, auch im Rahmen dieser kontinuierlichen Erneuerung zu einer substanziellen Steigerung der Qualität zu gelangen.

Die Bewohner der Stadt Zürich haben sich in einer Volksabstimmung im Jahr 2008 ein solches Ziel gesetzt: die 2000-Watt-Gesellschaft. Das bedeutet, dass jeder Einwohner der Stadt mittelfristig mit einem Energiebedarf auskommen soll, der einer stetigen Leistung von 2000 Watt entspricht. Derzeit beträgt dieser Wert das Dreifache. Die reiche Schweiz könnte sich einen Verbrauch auf diesem Niveau wohl noch ein paar Jahrhunderte leisten. Wozu also sparen? Hinter der 2000-Watt-Gesellschaft steht nicht die Idee, in den Alpen eine energieautarke Insel der Seligen einzurichten, sondern die Absicht, ein Vorbild für die globale Entwicklung zu setzen. Wenn alle aufstrebenden Schwellenländer das Anspruchsniveau der Industrieländer entwickeln, müssen rasch Wege gefunden werden, dieses Niveau mit geringerem Ressourcenverbrauch zu erreichen.

Mit dem Bauen hat dieses Ziel insofern zu tun, als die Errichtung und der Betrieb von Gebäuden in Mitteleuropa bis zu 50 Prozent des gesamten Energieverbrauchs beanspruchen. Aber hat es auch etwas mit Architektur zu tun? Geht es hier nicht primär um technische Fragen, von den Dämmstoffstärken bis zur Gebäudesteuerung? Sollte man dieses Feld nicht besser den Ingenieuren überlassen und von den Architekten nur noch die Gestaltung schöner Hüllen für die effizienten Green-Buildings der Zukunft verlangen? Es sieht nicht danach aus. Gerade weil Bauen heute so gut wie immer Bauen im Bestand bedeutet, sind architektonische Entscheidungen gefordert, die sich nicht auf Technik plus Hülle reduzieren lassen.

Als die Zurich Versicherung – ein alteingesessener Schweizer Konzern, der seinen Umlaut längst der Expansion zu einer der größten Versicherungsgesellschaften der Welt geopfert hat – die Neugestaltung ihres Hauptquartiers am Zürichsee in Angriff nahm, ging es vorerst um die Frage, welche Teile des Bestands überhaupt zu erhalten waren. Dass der denkmalgeschützte Stammsitz, ein historistischer Prachtbau am Mythenquai, dazu gehörte, war klar, aber für das anschließende Konglomerat aus unterschiedlichen Stilepochen fiel diese Entscheidung schwer.

Alles hätte sich sanieren lassen. Dem Bauherrn ging es aber um eine Qualitätssteigerung nicht nur im thermischen Sinn. In der Ausschreibung zum Wettbewerb, den er für die Sanierung auslobte, stand bei den Beurteilungskriterien der Bereich „Gesellschaft“an erster Stelle, gefolgt von „Wirtschaft“ und „Umwelt“. Als gesellschaftliche relevante Kriterien waren darin die Qualität der Gestaltung der Bauten und ihrer Beziehung zur Stadt an erster Stelle genannt. Dazu kamen ergänzend die Umsetzung der Unternehmenskultur, die Zugänglichkeit für alle sowie die Schaffung von ausreichenden und hochwertigen „Kontemplationsflächen“.

Kontemplation im Sinne von Achtsamkeit ist nicht nur für einen Versicherungskonzern eine wertvolle Übung. Für das hehre Ziel einer 2000-Watt-Gesellschaft dürfte sie überhaupt die Voraussetzung sein. Es wäre naiv zu glauben, dass die Reduktion des Energieverbrauchs auf ein Drittel nur eine technische Frage und nicht eine der Lebensweise ist. In diesem Kontext darf man Ludwig Wittgensteins Bemerkung, die Arbeit in der Architektur sei wie die Philosophie Arbeit „an einem selbst“ ins Kollektive übertragen: Zu welchen Formen gelangt eine Gesellschaft, wenn sie im Medium der Architektur über ihre aktuelle Situation nachdenkt?

Jeder anspruchsvolle Architekturwettbewerb mit guter Ausschreibung und kompetenter Jury ist ein Labor für die Beantwortung dieser Frage. Im Falle des Züricher Wettbewerbs haben 14 internationale Architektenteams in diesem Labor mitgewirkt. Gewonnen hat ein Projekt des Wiener Architekten Adolf Krischanitz, in dem laut Jury alte und neue Teile so eng ineinandergreifen, dass ein Betrachter ohne Vorkenntnis sie im Lageplan nicht unterscheiden könnte. Die historischen Bauten bleiben erhalten und werden teilweise von Zubauten befreit. Als neues Volumen wird ein im Grundriss u-förmiges Gebäude eingesetzt. Seine Trakte sind unterschiedlich breit und können so perfekt auf den Bestand reagieren: Der schmalste Trakt endet im Innenhof in einem verglasten Kopfbau, der vom Mythenquai aus in der Lücke zwischen zwei Bestandsbauten als Turm zur Wirkung kommt. Der neue Haupteingang liegt auf der dem See abgewandten Seite des Blocks, exakt auf der Achse eines niedrigen Bestandsgebäudes, das quer zum Prachtbau in die Tiefe führt.

Das Bemerkenswerte an diesem Projekt ist seine Gelassenheit. Es will an nichts erinnern, will nichts erzählen. Es spinnt Motive früherer Bauten von Krischanitz weiter, etwa die gefaltete Glasfassade, die sich in ähnlicher Form in seinem Laborgebäude für Novartis in Basel findet. Nur ist die Geometrie hier komplexer, horizontal und vertikal gefaltet. So statisch es auf den ersten Blick wirkt, so dynamisch ist das Projekt im Detail. Die diversen Trakttiefen und Hofsituationen erzeugen unterschiedliche, aber immer hochwertige Arbeitsplätze. Die Geschoßhöhen variieren, was zur Spannung der Fassade ebenso beiträgt wie das schrittweise Zurückversetzen ihrer vertikalen Steingewände: Was in den unteren Geschoßen als vertikale Lisene beginnt, endet oben in einem Bandfenster. Die Jury attestiert Krischanitz zu Recht, er hätte die unterschiedlichen Gebäudehüllen „konsequent, ja furchtlos entwickelt“.

Furchtlos ist hier ein treffender Begriff. Krischanitz Architektur war nie gefällig. Sie reagiert auf das, was der Fall ist. Sie vermeidet jede Anbiederung, an den menschlichen Maßstab ebenso wie an die unmittelbar aktuellen Bedürfnisse. Dafür lässt sie Platz für Entwicklung, fürs Reinwachsen und fürs Weiterbauen. Architektur, hat Adolf Krischanitz einmal geschrieben, ist der Unterschied zwischen Architektur. Über diesen Zen-buddhistischen Satz kann man lange nachdenken. Im Getriebe der Sachzwänge hilft er, Gelassenheit zu bewahren.

Spectrum, Sa., 2014.02.15

07. Dezember 2013Christian Kühn
Spectrum

Die Retter der Sofie

Würstel statt Engel, Investoren statt Mäzene: die neu-alten Wiener Sofiensäle, ein Pyrrhussieg der Denkmalpflege.

Würstel statt Engel, Investoren statt Mäzene: die neu-alten Wiener Sofiensäle, ein Pyrrhussieg der Denkmalpflege.

Manche Gebäude sind nicht umzubringen. Nach dem spektakulären Brand der Sofiensäle im August 2001 waren die Hoffnungen gering, dass dieser einzigartige Wiener Veranstaltungsort je wieder seinen Betrieb aufnehmen würde. Das Gerücht, dieser Brand sei nicht zufällig entstanden, hielt sich hartnäckig und wurde durch die Bemühungen des Eigentümers, des „Baulöwen“ Julius Eberhardt, so rasch wie möglich eine Abbrucherlaubnis zu erwirken, nicht gerade entkräftet.

Von den Sofiensälen war tatsächlich wenig mehr übrig als die Fassade zur Marxergasse und die Seitenwände des großen Saals mit Resten von Stuck und einigen Balkongeländern. Die Nebengebäude mit den weiteren Sälen hatten den Brand ebenso wenig überlebt wie das hölzerne Dach über dem Hauptsaal. Auch der Holzboden des Saals war verbrannt und ließ eines der ursprünglichen Besonderheiten des Gebäudes sichtbar werden: das große, aus Ziegeln gemauerte Becken, in dem einmal ein Schwimmbad untergebracht war. Im Winter wurde das Becken überplankt und der Raum darüber als Saal für Bälle und Konzerte genutzt, wobei der große Hohlraum unter dem Boden als Resonanzköper wirkte und zu einer exzellenten Akustik beitrug. Die Pläne, nach denen das Sofienbad in den Jahren 1846 bis 1850 errichtet wurde, stammten von den Architekten der Staatsoper, Eduard van der Nüll und August Sicard von Sicardsburg. Von den Sofiensälen im Plural sprach man seit 1886, als der zweite, kleinere Saal errichtet wurde. 1899 erhielt das Ensemble eine neue, sezessionistisch angehauchte Fassade, entworfen von Ernst Gotthilf-Miskolcz, von dem unter anderem auch die Länderbank und der Anker-Hof im ersten Bezirk stammen.

Bedeutend waren die Sofiensäle aber nicht nur wegen ihrer Architektur. Hier haben zwischen 1850 und 1896 fast 100 Werke von Johann Strauss (Sohn) ihre Uraufführung erlebt; hier wurde 1926 die österreichischen NSDAP gegründet; ab 1938 dienten die Sofiensäle als Sammelstelle für die Deportation jüdischer Bevölkerung. Nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete die DECCA das modernste Aufnahmestudio Europas, das bis in die 1970er-Jahre in Betrieb war. In den 1980er-Jahren waren die Sofiensäle eine beliebte Location für Bälle wie das Elmayer-Kränzchen oder das ÖKISTA-Gschnas und schließlich ab 1990 ein Ort für Clubbings. Investiert wurde in die Säle kaum mehr, was ihnen ein einigermaßen abgewohntes Flair bescherte. Der Brand war das letzte Kapitel eines allmählichen Abstiegs.

Dass die Brandruine nicht sofort abgerissen wurde, ist dem Denkmalamt zu verdanken. Es attestierte den Resten einerseits ausreichende Standfestigkeit, andererseits einen Erhaltungszustand an den Oberflächen, der eine Wiederherstellung rechtfertigen würde. Die Strategie des Eigentümers, in dieser Hinsicht die Zeit für sich arbeiten zu lassen, indem die Wände des Saals der Witterung ausgesetzt blieben, ging nicht auf. Das Denkmalamt konnte gerichtlich durchsetzen, dass der Eigentümer zumindest die Erhaltung der Reste zu finanzieren hätte. Der geplante Hotelneubau auf dem Grundstück war unter diesen Bedingungen nicht zu realisieren.

2006 verkaufte Eberhardt das kulturhistorisch kontaminierte Areal an den Bauträger ARWAG, die hier vor allem Wohnungen errichten wollte und vom Architekten Alfred Wimmer ein Konzept ausarbeiten ließ, das die Erhaltung des Saals mit einer umgebenden Wohnnutzung verbinden sollte. 2010 zogsich die ARWAG teilweise aus dem Projekt zurück. Sie behielt nur den von historischem Ballast freien nördlichen Teil des Grundstücks und verkaufte den Rest samt Brandruine an die ifa, eine Tochterfirma der Soravia-Gruppe. Der Entwurf von Albert Wimmer, der bis zur Einreichplanung gediehen war, wurde von den neuen Eigentümern übernommen. Die Ausführungs- und Detailplanung erfolgte durch den Generalplaner L-Bau-Engineering sowie Söhne und Partner. Zur Wohnnutzung kamen noch ein Hotel, ein Fitnesscenter und ein Restaurant.

Die ifa versammelte eine Gruppe von rund 100 privaten Investoren im Rahmen eines Bauherrenmodells, die nun namentlich auf einer großen Tafel beim Eingang als Retter der Sofiensäle ausgewiesen sind, so wie sich im Musikverein eine Tafel mit Mäzenen findet, die dessen Bau finanziert haben. Die Chuzpe ist beachtlich: Während die Mäzene ihr Geld für den Musikverein gespendet haben, durften die Investoren bei den Sofiensäle ihr Geld vermehren, und das mit beachtlicher Unterstützung aus Steuermitteln. 2,7 Millionen Euro hat die Stadt Wien aus der Wohnbauförderung beigetragen, zwei Millionen aus dem Kulturbudget. Dass eine Wohnbauförderung an diesem zentrumsnahen Standort nicht nötig ist, um die Wohnungen zu verwerten, liegt auf der Hand. Hier könnte man die De-facto-Übernahme des Verwertungsrisikos durch die Stadt noch mit sozialer Durchmischung verteidigen. Der Mix von 49 geförderten und 21 frei finanzierten Wohnungen ist so aber nicht zu begründen. Noch heikler ist die hohe Förderung aus dem Kulturbudget: Würde diese nicht höchste Qualität in der architektonischen Umsetzung und ein ausgereiftes Betriebskonzept für den Saal voraussetzen?

In beiden Punkten schneidet das Projekt denkbar schlecht ab. Mit tatkräftiger Unterstützung des Denkmalamts wurde zwar der Saal blitzblank und goldglänzend rekonstruiert. Er sieht aus wie neu und ist es auch: 90Prozent des Stucks sind neue Ware. Geschichtliche Spuren wurden zugunsten eines scheinbaren Urzustands ausgelöscht. Die Übergänge zwischen Alt und Neu wirkeneher zufällig als geplant, die Details billig. Die künstlerischen Interventionen, etwa Erwin Wurms Würstelmänner, die in einigen Nischen im Saal die früheren Engelsfiguren ersetzen, sind provokant gemeint, wirken in diesem Umfeld aber wie eine Faschingsdeko.

Und was wird hier passieren? Für die Kulturförderung reichte ein sehr schwammiges Konzept der Soravia'schen Kunststiftung SoArt aus, das vom Design bis zur Literatur alles Mögliche und mit den Nachbarn Verträgliche verspricht. Ein Programm ist das nicht, und es ist zu befürchten, dass hier vor allem Firmenfeiern und Promo-Events stattfinden werden. An eine Alternative zu dieser verunglückten Rekonstruktion wollte offenbar niemand denken: ein neuer, multifunktionaler Saal ohne Blattgold, der den Geschichtsfaden weiterspinnt, statt die Geschichte auszulöschen. Wien hat sich, wie schon bei den Redoutensälen, wieder einmal für die Vergoldung der Asche entschieden

Spectrum, Sa., 2013.12.07

23. November 2013Christian Kühn
Spectrum

Ein böses Problem

Ein kooperatives Verfahren, wie es sein sollte: Alle haben dazugelernt, am Ende steht ein Kompromiss, aber kein fauler. Über den aktuellen Stand in der Sache Otto-Wagner-Spital, Ostareal.

Ein kooperatives Verfahren, wie es sein sollte: Alle haben dazugelernt, am Ende steht ein Kompromiss, aber kein fauler. Über den aktuellen Stand in der Sache Otto-Wagner-Spital, Ostareal.

Gute Planer unterscheiden zwei grundsätzlich verschiedene Klassen von Problemen. Auf der einen Seite jene, bei denen die Aufgabenstellung klar definiert und der Lösungsweg weitgehend vorgezeichnet ist. Solche Probleme mögen komplex und knifflig sein, aber man weiß im Prinzip, wie die Lösung aussehen soll und wann man sie erreicht hat. Auf der anderen Seite gibt es Probleme, die sich einer klaren Definition entziehen, viele Lösungswege offenlassen, und bei denen sich die eigentliche Aufgabenstellung oft erst dann klärt, wenn man schon viele Schritte gegangen ist. Im schlimmsten Fall weiß man dann zwar im Nachhinein, was die richtige Lösung gewesen wäre, kann aber nicht mehr an den Start zurück.

Der Planungstheoretiker Horst Rittel hat diese zwei Klassen als „zahme“ und „bösartige“ Probleme bezeichnet und postuliert, dass die meisten Aufgaben der Stadtplanung zur Klasse der bösartigen Probleme zählen. Es ist kein Zufall, dass sein mit Melvin Webber an der Universität Berkeley verfasster Text über „Dilemmas in a General Theory of Planning“ 1973 erschienen ist. Die Stadtplanung dieser Zeit war von der Idee einer rationalen Planung getragen: Ist-Analyse, Zieldefinition und Festlegung der nötigen Schritte von A nach B. Für Technokraten ist jedes Problem „zahm“: Sie fühlen sich im Besitz der Hoheit über die nötigen Mittel und über die Zieldefinition, natürlich immer zum Besten der Betroffenen. Genau diese Hoheit wurde den Technokraten aber seit den späten 1960er-Jahren von den Betroffenen streitig gemacht. Die Politik – bis dahin natürliche Schutzmacht der Technokratie – knickte unter dem Druck der Medien ein, die rasch erkannten, welche Machtposition sie sich durch die Unterstützung und Steuerung von Bürgerinitiativen erobern konnten.

Ein Lehrstück für diese Entwicklung ist die Geschichte der „Steinhofgründe“, einer Erweiterungsfläche für die „Heil- und Pflegeanstalt am Steinhof“, zur Zeit ihrer Errichtung 1907 mit über 2000 Betten eines der größten Spitäler der Welt. Die „Steinhofgründe“ nicht für die Erweiterung des Spitals zu nutzen, sondern als Wohngebiet in bester Grünlage, war naheliegend, gab es doch bereits eine entsprechende Flächenwidmung. Als die Stadt Wien Ende der 1970er-Jahre beschloss, dieses Potenzial zu realisieren und hier 900 Gemeindewohnungen zu errichten, gelang es einer Bürgerinitiative, einen Sturm der Entrüstung gegen die Verbauung auszulösen, der 1981 zu einer Volksbefragung führte. Die Technokraten des Magistrats mussten fassungslos zur Kenntnis nehmen, dass zwar 83 Prozent der Befragten für den sozialen Wohnbau an sich stimmten, aber 53 Prozent die Errichtung solcher Wohnungen auf den Steinhofgründen ablehnten, einem Areal, das davor nicht öffentlich zugänglich war, und dessen Existenz vor der Volksbefragung in der Öffentlichkeit praktisch unbekannt war.

Heute hat sich der Begriff „Steinhofgründe“ so sehr ins kollektive Bewusstsein eingeprägt, dass auch ein aktuelles Projekt in den Medien gern unter diesem Namen geführt wird. Es handelt sich dabei allerdings um das östlich gelegene Wirtschaftsareal der heute auf Otto-Wagner-Spital umbenannten Anlage. Hier wollte die Stadt Wien über den Bauträger Gesiba im Jahr 2012 rund 570 Wohnungen errichten, nach einem Plan von Albert Wimmer unschön eingeklemmt zwischen die bestehenden Pavillons, zum Teil auf Grünflächen, die jeder sensible Planer auch dann freihalten würde, wenn sie nicht auf Otto Wagner zurückgehen. Diese rücksichtslose Verdichtung hatte freilich Gründe: Über den Verkauf der Grundstücke sollte ein Beitrag zur Finanzierung des Wiener Krankenanstaltenverbunds, des Eigentümers des Spitals, geleistet werden. Auch diesmal erhob sich ein Sturm der Entrüstung, zuerst von Anrainern, dann von Kunsthistorikern und schließlich von Architekten. Besonders „bösartig“ wurde das Problem, weil sogar die Interessen der Gegner höchst unterschiedlich waren: Teile der Bürgerinitiative wandten sich gegen jede Bebauung, andere, darunter auch die meisten Architekten, sahen Potenzial für eine sinnvolle Verdichtung. Als die Medien das Thema genüsslich aufzukochen begannen, zog der Bürgermeister die Notbremse und verordnete dem Projekt eine Nachdenkpause.

Im Unterschied zu 1981 hat die Stadt gelernt, dass Probleme dieser Art sich besser durch einen Abgleich von Interessen im Dialog lösen lassen als durch eine Volksbefragung. In einem ersten Mediationsverfahren wurden 2012 die Zielkonflikte erfasst, unter dem Vorsitz von Adolf Krischanitz wurde ein Expertengremium eingesetzt, das im April 2013 eine Empfehlung an die Stadtregierung abgab: keine Neubauten auf den Grünflächen zwischen Haupt- und Ostareal; kein Verkauf der Grundstücke, sondern Vergabe im Baurecht auf Basis genauer Gestaltungsrichtlinien; Entwicklung von Nutzungsszenarien für das Gesamtareal und ehestmögliche Gründung einer entsprechenden Betriebsgesellschaft; Definition eines Parkpflegewerks für das Gesamtareal; Durchführung eines kooperativen Testplanungsverfahrens für das Ostareal unter Einbindung aller Beteiligten.

Dieses Verfahren wurde im Sommer 2013begonnen und das Ergebnis letzte Woche der Öffentlichkeit vorgestellt. Unter dem Vorsitz von Christoph Luchsinger entwickelten sechs Architektenteams unter Einbeziehung von Mitgliedern aus dem Mediations- und Expertenverfahren ein Bebauungskonzept, das zehn quadratische Baufelder vorsieht, die präzise in den Bestand eingepasst sind. Ein elftes, längliches Baufeld markiert den Abschluss nach Norden. Diese Felder dürfen viergeschoßig und zu rund 60 Prozent überbaut werden, wobei an jede der vier Seiten der Feldumgrenzung angebaut werden muss. Als Fassadenmaterial sind, wie in vielen der Bestandsbauten, Sichtziegel vorgeschrieben. Die sechs Planungsteams – Hermann Czech, Jabornegg & Pálffy, königlarch, Werner Neuwirth, Pool und PPAG – haben mit ihren Entwürfen bewiesen, dass diese Vorgaben viel individuellen Spielraum lassen, aber trotzdem ein stimmiges Gesamtbild erzeugen. 160 vermietbare Einheiten lassen sich so realisieren, weitere 100 durch Sanierung des Bestands. Ein Viertel davon soll von der Gesiba an soziale Einrichtungen für betreutes Wohnen vergeben werden.

Maria Vassilakou und Michael Häupl haben sich inzwischen zu diesem Projekt bekannt und seine Umsetzung ab 2014 garantiert. Dass sie die politische Verantwortung übernommen und nicht an die Boulevardmedien delegiert haben, verdient Respekt. Jetzt geht es um die „Zähmung“ des nächsten Problems: für das Kerngebiet des Spitals muss eine sinnvolle Nachnutzung gefunden werden. Nachverdichtung ist dort ausgeschlossen, umso mehr ist Kreativität im Umgang mit dem Bestand gefragt.

Spectrum, Sa., 2013.11.23

25. Oktober 2013Christian Kühn
Spectrum

Und ewig schallt das Opernklo

Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut: Der Sanierung und Neugestaltung der Opern- und Karlsplatzpassage fehlen Witz, Geschmack und der Mut zum radikalen Eingriff in die historische Substanz. Bericht aus einer Unterwelt ohne Schatten.

Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut: Der Sanierung und Neugestaltung der Opern- und Karlsplatzpassage fehlen Witz, Geschmack und der Mut zum radikalen Eingriff in die historische Substanz. Bericht aus einer Unterwelt ohne Schatten.

So viel war klar: Hier muss etwas geschehen. Die unterirdische Verbindung zwischen Karlsplatz und Oper, einer der meist frequentierten Orte Wiens, war zusehends heruntergekommen, die Oberflächen abgenutzt und schäbig, Wasserschäden an der Decke, schlechte Beleuchtung. Irgendwann war der Drogenhandel dazugekommen, der für die Passanten zwar eine mehr gefühlte als reale Bedrohung darstellte, aber das Sicherheitsempfinden erheblich belastete.

Genau genommen handelt es sich um zwei Passagen, die Opernpassage, die seit 1955 existiert, und die Karlsplatzpassage, im Zuge des U-Bahnbaus Anfang der 1970er-Jahre errichtet. Letztere war ein typisches Produkt ihrer Zeit, ein Fußgängerkorridor für eilige Passanten, an dem sich kleine Geschäfte für den Alltagsbedarf angelagert hatten: Blumenläden, günstige Kleidung und Schuhe sowie Fast Food, von den großen Ketten bis zum Sushi-Laden und Süßwarenkiosk. Zwingend notwendig ist dieser Korridor, der Fußgänger aus dem Stadtraum abzieht und an der Oberfläche eine tote Zone schafft, nicht. Aber der Komfortverlust für Fahrgäste, die von den Straßenbahnlinien am Ring in die U-Bahnlinien U2 und U4 umsteigen wollen, wäre ohne ihn doch beachtlich.

Als Passage im engeren Sinn kann man von den beiden nur die Opernpassage bezeichnen. Zu diesem Begriff gehört nämlich untrennbar der Flaneur, für den der gut geschützte Weg vorbei an den Schaufenstern wichtiger ist als das Ziel. Diesem Anspruch wurde die Opernpassage in ihrer ursprünglichen Form durchaus gerecht. Im Jahr des Staatsvertrags und gleichzeitig mit der instand gesetzten Oper eröffnet, sollte sie den Wienern „den unbeugsamen Willen, Weltstadt zu werden“ vor Augen führen, wie es der zuständige Stadtrat zur Eröffnung ausdrückte. Sie war weit mehr als nur ein Verkehrsbauwerk, nämlich ein wichtiges Stück Nachkriegsarchitektur, oder genauer: ein Stück Architektur in der Nachgeschichte des Faschismus. Da gibt es den Neonröhren-Schick der 1950-Jahre, Materialien wie eloxiertes Aluminium, aber auch eine fast klassizistische Doppelreihe aus Säulen und kleine elegante Details, die auf die Wiener Architektur der Zwischenkriegszeit verweisen. Besucher aus den Bundesländern reisten extra nach Wien an, um dieses Ambiente zu erleben, mit der ersten Rolltreppe Österreichs auf und ab zu schweben.

Der Architekt der Passage, Adolf Hoch, 1910 geboren, hatte bei Peter Behrens an der Akademie studiert und von 1929 bis 1938 im Atelier von Behrens und Popp gearbeitet, wo er vor allem an der Planung der Linzer Tabakfabrik beteiligt war. 1938 machte er sich selbstständig. Als Mitglied der NSDAP seit 1933 hatte Hoch nach Kriegsende Berufsverbot, erhielt aber 1947 seine Befugnis zurück und entwickelte sich zu einem der produktivsten Architekten der Nachkriegszeit. Zu seinen Bauten zählen das Unfallkrankenhaus Meidling, das Lorenz-Böhler-Krankenhaus, das Stadion von St. Pölten sowie als exotischer Beitrag das Hotel Palace Ducor in Monrovia, Liberia, ein elegantes Beispiel internationaler Hotelarchitektur. Das Stadtbild am deutlichsten geprägt hat Hoch mit den Verkehrsbauten am Ring, der Opern- und Bellariapassage, von denen an der Oberfläche vor allem die zarten, verglasten Einhausungen der Abgänge in Erscheinung treten.

Für solche Subtilitäten hatten die U-Bahnbauer der 1970er-Jahre wenig Verständnis: Sie ließen ihren Korridor in die Opernpassage einbrechen, als sei diese nicht mehr als ein praktischer Hohlraum zur Aufnahme von Fußgängerströmen. Ein Viertel der Passage wurde auf diese Weise demoliert, der Rest im Lauf der Jahre bis zur Unkenntlichkeit verändert, inklusive des ursprünglich voll verglasten zentralen Cafés, dessen nobles Interieur einer Ankerbrot-Filiale weichen musste. Das Denkmalamt meinte dennoch, dass die restliche Substanz eine Unterschutzstellung gebot. Vor diesem Hintergrund war die Sanierung der beiden Passagen für die Architekten Gerda und Andreas Gerner (gerner°gerner plus; realisiert wurde das Projekt von der Arge gerner°gerner plus, Ritter+Ritter und Vasko+Partner) von Anfang an eine Aktion im Kreuzfeuer unterschiedlicher Interessen: drei Stadtressorts (Verkehr, Kultur und Finanzen); die Wiener Linien; eine Bewilligung nicht nur nach Baurecht, sondern auch nach Eisenbahnrecht; die Interessen der Mieter, für die Ersatzflächen geschaffen werden mussten, so sie keine Ablöse akzeptierten.

Spannungen waren vorprogrammiert: Als bei der Sanierung der Opernpassage entdeckt wurde, dass die Verkleidung der Säulen ursprünglich aus Linoleum mit Marmor-Maserung bestanden hatte, verweigerte der Brandschutz seine Zustimmung zu einer Rekonstruktion. Die unsäglichen Musikersterne auf dem Boden und das kitschige Opernklo, aus dem 24 Stunden am Tag der Donauwalzer in die Passage schallt, erwiesen sich als vertraglich so gut abgesichert, dass an eine Entfernung dieser Peinlichkeiten nicht zu denken war.

Gerner und Gerners Konzept für die Karlsplatzpassage besteht im Wesentlichen darin, das Licht in dieser Unterwelt aufzudrehen. Auch wenn die eingesetzten LEDs in den nächsten Jahren noch etwas nachdunkeln werden, wird der Korridor ein schattenloser Durchgangsraum bleiben, in dem sich die von den Architekten erdachten bunten Lichtstreifen an Boden und Decke mit einem Kunstwerk von Ernst Caramelle in die Haare geraten, einem 70 Meter langen abstrakten Wandgemälde in dezenten Farbtönen, das vor allem nicht stört. Von den kleinen Läden sind eine Trafik und ein Schuhgeschäft geblieben, McDonald's, Starbucks und Ströck dominieren den Raum. Die Drogenszene hat sich an andere, touristisch weniger sensible Standorte verlagert.

Für die Opernpassage wurde mit dem Denkmalamt ein Gestaltungskatalog entwickelt, der irgendwann ein möglichst ursprüngliches Erscheinungsbild inklusive der Neonbeschriftung in den Geschäften herstellen soll. Dass der Denkmalschutz leider oft das Denken abstellt, beweist die Lösung, die für Säulen und Boden gefunden wurde: Erstere erhielten eine teure Glasummantelung mit aufgedrucktem Linoleumdekor, Letztere einen Natursteinbelag, der Linoleum ähnelt. Argument: Das hätte Adolf Hoch 1955 sicher auch gemacht, wenn das Budget gereicht hätte. Dass sich das Denkmalamt dabei explizit auf den französischen Denkmalpfleger des 19. Jahrhunderts, Eugène Viollet-Le-Duc, beruft, der berüchtigt dafür war, gotische Kirchen viel gotischer zu restaurieren, als sie es je waren, ist erstaunlich.

Um aus dem stilistischen Konglomerat der beiden Passagen etwas Substanzielles zu schaffen, hätte es Witz, Geschmack und den Mut zu radikalen Eingriffen in den historischen Bestand gebraucht. Davon ist hier leider nichts zu merken.

Spectrum, Fr., 2013.10.25

14. September 2013Christian Kühn
Spectrum

Karneval der Alphatiere

Fünf Jahre nach dem Wettbewerbsentscheid ist der neue Campus der Wirtschaftsuniversität fertig. Aufgeteilt auf verschiedene Baufelder, entstanden im Wiener Prater schwarz-weiß gescheckte, grellbunte und atemberaubend schräge Gebäude. Gut gelaunte Architektur. Aber ist sie auch ernst zu nehmen?

Fünf Jahre nach dem Wettbewerbsentscheid ist der neue Campus der Wirtschaftsuniversität fertig. Aufgeteilt auf verschiedene Baufelder, entstanden im Wiener Prater schwarz-weiß gescheckte, grellbunte und atemberaubend schräge Gebäude. Gut gelaunte Architektur. Aber ist sie auch ernst zu nehmen?

Eine der schönsten Definitionenvon Urbanität stammt von dem großen amerikanischen Architekten Louis Kahn: Die Stadt ist eine Versammlung von Institutionen, die miteinander im Dialog stehen und einen gemeinsamen Raum bilden. Die Decke dieses Raums ist der Himmel, und seine Wände sind die Fassaden. Die Qualität des Lebens in der Stadt hänge wesentlich davon ab, auf welchem Niveau der Dialog der Institutionen oft über Jahrhunderte in Gang gehalten werde.

Auch der neue Campus der Wirtschaftsuniversität folgt diesem Prinzip. Der Dialog der Institutionen konnte sich hier allerdings nicht über Jahrhunderte entwickeln. Zwischen dem Wettbewerb, der 2008 entschieden wurde, und der Fertigstellung des Campus liegen nur fünf Jahre. Ursprünglich war dieser Wettbewerb auch nicht für einen Campus mit verteilten Baukörpern ausgeschrieben. Die meisten der Wettbewerbsbeiträge sahen große zusammenhängende Strukturen vor, quasi einen Campus aus einem Guss. Das Projekt von Laura Spinadel (BUSArchitektur) teilte dagegen das Areal in Baufelder auf, für die ein zusätzlicher Wettbewerb abgehalten wurde. Die Teilnehmer, die zu dieser Stufe geladen waren, rekrutierten sich überwiegend aus dem Umfeld des Juryvorsitzenden Wolf Prix, was nicht nur den Vorteil hatte, dass drei Pritzker-Preisträger an den Start gingen, sondern auch erwarten ließ, dass es bei aller Eigenständigkeit der Beiträge eine Kohärenz zwischen den architektonischen Ansätzen geben würde.

Ob das gelungen ist, lässt sich inzwischen im Maßstab 1:1 beurteilen. Eigenständig sind die Beiträge, die letztlich realisiert wurden, tatsächlich geworden. Von Kohärenz kann allerdings keine Rede sein. Stararchitekten sind Alphatiere, und Jury und Bauherr entschieden sich im Zweifelsfall für die starke Geste. Die Begegnung der Institutionen findet trotzdem statt, sie tendiert aber anlassmäßig eher zum Gschnasfest als zur Promotionsfeier. Den Preis für das beste Kostüm gewinnt dabei eindeutig das Learning Center von Zaha Hadid, das im Zentrum der Anlage liegt. Das LC ist ausgesprochen fotogen und wird der WU mit Sicherheit eine Präsenz in den Medien garantieren. Man merkt dem Gebäude an, dass sich Detailplaner und Ausführende mit großem Einsatz bemüht haben, eine Idee kompromisslos umzusetzen. Tatsächlich sieht das Ergebnis aus wie die ursprünglichen Visualisierungen, mit einigen angesichts der geometrischen und technischen Komplexität nicht verwunderlichen Abstrichen im Detail.

Zwei Ansichten sind fotografisch besonders zu empfehlen: eine Außenansicht mit den Rennstreifen der Fassade im Vordergrund und dem dramatisch vorkragenden dunklen Bauteil im Zentrum sowie eine Innensicht der Halle, aufgenommen aus dem dritten Stockwerk mit Blick zum Treppenturm der Bibliothek. Die von Fotografen gefürchteten „stürzenden Linien“ sind in diesem Fall unvermeidlich, da alle wesentlichen Bauteile um einige Grade aus der Vertikalen gekippt sind, als hätte das Gebäude sich ein wenig betrunken. Der Begriff „Sick Building“ bekommt hier eine neue Bedeutung, die sich leider auch auf den Besucher überträgt: Selten habe ich ein Gebäude so gern wieder verlassen wie dieses. Aber möglicherweise gibt es auch hier bei Dauerbesuchern einen Gewöhnungseffekt.

Den wird es beim zweiten für die Studierenden wichtigen Gebäude, dem Hörsaal- und Seminarzentrum, nicht brauchen. Die Pläne dafür stammen von BUSArchitektur, die als Generalplaner für dieses Gebäude sowie für den Masterplan und die Freiraumplanung verantwortlich waren. Auch hier ist die Eingangshalle großzügig, aber sie empfängt den Besucher, statt ihn überwältigen zu wollen. Über dem Audimax, das mit 650 Sitzplätzen so groß ist wie bisher an der alten WU, befindet sich ein großer, abgestufter Raum mit studentischen Arbeitsplätzen, an denen man sofort gerne studieren möchte. Den größten Raumgewinn im Vergleich zum bisherigen Angebot gibt es bei den Seminarräumen, von denen nun 53 statt bisher 35 zur Verfügung stehen. Sie liegen in mehreren Geschoßen über dem Niveau des Audimax. Die notwendigen Fluchttreppen haben BUSArchitektur wie große Stahlskulpturen nach außen an die Hinterseite des Gebäudes gelegt. Der Charakter einer freundlichen Maschine wird durch die Verkleidung des Baukörpers mit rostroten Cortenstahlplatten unterstrichen.

Den Instituten gehören auf dem Campus drei Bauteile, die jeweils von Hitoshi Abe, Carme Pinós und Peter Cook entworfen wurden. Abes Bauteil liegt dem Hörsaalzentrum gegenüber und trägt ein schwarz-weiß geschecktes Kostüm. Seine gekurvten Baukörper umschließen einen attraktiven Außenraum und bieten im Inneren die interessantesten Institutsräume mit hellen, teilweise mehrgeschoßigen Erschließungszonen. Um die gepixelte Fassade von Carme Pinós' Institutsgebäude wurde wegen der speziellen Fensterzuschnitte lange gestritten. Das Ergebnis ist überzeugend, gerade in den Büroräumen, die durch die Fenster einen individuellen Charakter bekommen. Insgesamt ist dieses Institutsgebäude das disziplinierteste unter den dreien. Die langenInnengänge hätten wesentlich davon profitiert, wenn sich die WU an innovativen Unternehmen orientiert und zumindest Glaswände zu den Gängen installiert hätte. Die traurigen Mattglasschlitze in den Türen symbolisieren, dass Wissenschaftler hier lieber Einzelkämpfer bleiben wollen.

Der grellbunte Kakadu unter den Alphatieren ist das Institutsgebäude von Peter Cook, das mit seinem Fassadendekor aus Holzlatten für den meisten Gesprächsstoff auf dem Campus sorgt. Was aussieht, als sei dem Bauherrn das Geld ausgegangen, ist in Wahrheit vom Architekten explizit so geplant und war äußerst aufwendig umzusetzen. Dasselbe gilt für die offen geführten Leitungen im Inneren, die ausschauen, als hätten mehrere Pfuscherpartien fröhlich Kabel und Lüftungsrohre gezogen, wo es ihnen gerade passt. Um sich solche Witze leisten zu dürfen, müsste man ein exzellenter Architekt sein, und das ist Cook leider bei Weitem nicht. Hier hätte der Bauherr den billigen Effekten eine Grenze ziehen müssen. Dass er ihm stattdessen auch noch die Innenausstattung übertragen hat, die an Laubsägearbeiten aus den späten 1970er-Jahren erinnert, ist unverständlich.

Trotz solcher Teilaspekte ist der neue WU-Campus in Summe ein Erfolg. Er bringt eine Universität an einen der besten Standorte der Stadt, zwischen zwei U-Bahnstationen, direkt am grünen Prater. Er wurde zeitgerecht und im Kostenrahmen umgesetzt, was wesentlich den Generalplanern Vasko & Partner und BUSArchitektur zu verdanken ist. Angesichts der Komplexität mancher Bauteile und der speziellen Lösungen bei Brandschutz und Haustechnik ist das eine beachtliche Leistung. Die Bundesimmobiliengesellschaft als Bauherrin wird sich überlegen müssen, welche Lehren sie aus diesem Projekt zieht. Zurück zur Mittelmäßigkeit der Zeit vor der Gründung der BIG sollte die Devise jedenfalls nicht lauten.

Spectrum, Sa., 2013.09.14



verknüpfte Ensembles
Campus WU

31. August 2013Christian Kühn
Spectrum

Lässig im neuen Anzug

In Eisenstadt ist Pichler und Traupmann einer der besten Kulturbauten Ostösterreichs gelungen. Ihr Medienzentrum in Wien hat dagegen kaum mehr Chancen auf Realisierung.

In Eisenstadt ist Pichler und Traupmann einer der besten Kulturbauten Ostösterreichs gelungen. Ihr Medienzentrum in Wien hat dagegen kaum mehr Chancen auf Realisierung.

Ursprünglich sollten sie alle gleich aussehen: Acht Kulturzentren wollte der 1972 gegründete „Verein zur Planung, Errichtung und Erhaltung von Kultur- und Bildungszentren“ gleichmäßig über das Burgenland verteilen, alle geplant nach einem Grundkonzept des Architekten Matthias Szauer. Das erste entstand 1976 in Mattersburg, eine kraftvolle Sichtbetonarchitektur; bei wohlwollender Betrachtung ein Bau im Geist des „Brutalismus“, jener Architekturströmung der 1960er-Jahre, für die roher Beton, starke Plastizität und robuste Konstruktion charakteristisch waren.

Das 1981 fertiggestellte Kulturzentrum in Eisenstadt stammte zwar vom selben Architekten, dieser war aber in der Zwischenzeit vom Virus der historisierenden Postmoderne infiziert. Das Gebäude versuchte sich zum Stadtzentrum hin als abstrahierter Palast zu tarnen und war im ersten Obergeschoß über eine im Grundriss gekrümmte Brücke mit dem benachbarten Hotel verbunden.

Von dieser grotesken Anlage ist heute nichts mehr zu erkennen. 2009 gewannen die Architekten Johann Traupmann und Christoph Pichler den internationalen Wettbewerb für die Sanierung und Erweiterung des Kulturzentrums. Erhalten blieben vom Vorgängerbau der an sich gut funktionierende Saal und ein Treppenhaus. Die Brücke zum Hotel wurde abgebrochen, ein großer Gewinn für den Stadtraum, der so seinen selbstverständlichen Fluss wiedergewinnen konnte und das Kulturzentrum als eigenständigen Baukörper besser zur Wirkung kommen lässt.

Der Besuchereingang liegt am Franz-Schubert-Platz, zu dem sich auch die Hauptfassade des Gebäudes öffnet. Die Architekten haben dem Haus einen neuen Anzug aus Aluminium geschneidert, eine Netzhaut, die Altbau und Neubau geschickt zusammenfasst. Das glänzende Metall kommt dabei in unterschiedlichen Konfektionen zum Einsatz, einerseits als Streckmetallgitter, andererseits als Baumaterial für die Lamellen, die vor den Glaswänden des Foyers im Erdgeschoß und im ersten Stock als regulierbarer Sonnenschutz dienen. Lebendig wird die Fassade nicht zuletzt dadurch, dass hinter den scheinbar einheitlichen Oberflächen ganz unterschiedliche Ebenen zu erkennen sind.

An manchen Stellen ist das Streckmetall nur eine Verblendung, hinter der die schwarz gestrichenen Oberflächen des Altbaus zu sehen sind; an anderen Stellen sind die Außenwände hinter dem Gitter verglast und lassen die Tiefe des Hauses erahnen. Bei Nacht wird dieser Effekt naturgemäß verstärkt, und da sich die Betreiber eine recht aufwendige LED-Beleuchtung geleistet haben, die Farbenspiele aller Art möglich macht, darf das untertags silbergraue Haus bei Nacht auch ab und zu ein buntes Festkleid anlegen.

Stadträumlich klug ist die Idee, die Fassade zur Platzmitte hin niedriger zu machen und eine Terrasse anzuordnen, der ein vorkragender Baukörper im ersten Stock entspricht: ein erweitertes Foyer vor dem großen Saal und zugleich ein Regenschutz für den Eingang ins Haus. Auch die Terrasse ist kein isoliertes Element, sondern Teil eines komplexen Wegesystems, das vom Eingang über eine großzügige innere Treppe bis hinauf zu einer Dachterrasse mit wunderbarem Blick über die Stadt führt.

Neben dem großen Saal gibt es zudem einen neuen kleineren, der bei Bedarf nach einem großen zusammenhängenden Raum mit dem Foyer verbunden werden kann. Ein Geschoß tiefer als die Eingangsebene liegt die Burgenländische Landesgalerie, zu erreichen über eine breite Treppe mit Sitzstufen, die auch die Möglichkeit bietet, Vorträge abzuhalten. Mehrere Schichten von Glas garantieren die sichere und unabhängige Benutzung der einzelnen Bereiche, erlauben aber viele Durchblicke dazwischen und zum umgebenden öffentlichen Raum.

Pichler und Traupmann ist hier einer der besten Kulturbauten nicht nur des Burgenlandes, sondern ganz Ostösterreichs gelungen. Dass es sich um einen Umbau handelt, macht das Projekt noch bemerkenswerter, vor allem wegen des gelassenen Umgangs mit der alles anderen als hochwertigen Altsubstanz. Besonders an der Nordseite, wo der neue Anzug etwas lockerer sitzt, blitzen nicht nur die Oberflächen des Bestandsgebäudes hervor, sondern auch die Reste gestalterischer Absichten aus den 1980er-Jahren: etwa dick in Vollwärmeschutz gepackte Erker, die hinter dem Metallgitter wie abstrakte Skulpturen wirken.

Ob Pichler und Traupmann solche zufälligen Zusammenstöße tatsächlich mit Sympathie sehen, ist fraglich. Ihre Architektur hat sich in den letzten Jahren deutlich in Richtung eines organischen Determinismus entwickelt, der Bewegungsströme und städtebauliche Faktoren zum Anlass für fließende skulpturale Formen nimmt. Es ist kein Zufall, dass Johann Traupmann an der Universität für angewandte Kunst an der Klasse von Zaha Hadid unterrichtet. 2012 gewannen Traupmann und Pichler den Wettbewerb für das neue Medienzentrum der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien, den Schlussstein in der Verwandlung der ehemaligen Veterinärmedizinischen Universität im dritten Bezirk in einen Campus für diese künstlerischen Bereiche.

Der Entwurf war ein Raumkunstwerk, das die Jury ins Schwärmen brachte: „Einprägsame Raumsequenzen und die geschmeidige Abfolge von Wegen, kaskadenförmiger Treppe und kommunikativen Aufenthaltszonen inspirieren den Alltag der Studenten und das Raumerlebnis der Besucher.“ Die zukünftigen Nutzer zeigten sich weniger erfreut und brachten das Projekt zu Fall, nicht zuletzt mit der Forderung nach mehr Flexibilität und nach rechteckigen statt „dynamisch sinusförmigen“ Probesälen. In einem aktuellen Urteil bestätigte das Bundesvergabeamt in erster Instanz den Widerruf des Wettbewerbs durch die Bundesimmobiliengesellschaft.

Dass die Universität die Nutzer nicht von Anfang an ausreichend in die Planung einband und deren eigentliche Anforderungen erst zutage kamen, nachdem 84 teilnehmende Büros in Summe einen Millionen-Euro-Betrag in den Wettbewerb investiert hatten, ist ein Skandal für sich. Unabhängig davon wirft der Fall aber eine prinzipielle architektonische Frage auf, der sich jede Architektur Zaha-Hadid'scher Prägung stellen muss: Wie viel Spielraum bleibt den Nutzern in ihren nur auf den ersten Blick so „geschmeidigen“ Räumen?

Spectrum, Sa., 2013.08.31

06. Juli 2013Christian Kühn
Spectrum

Drei Jahre danach

2010 habe ich an dieser Stelle behauptet, „einen der wichtigsten Beiträge zum Wiener Wohnbau der letzten Jahre“ vorzustellen. Und wie ist der Eindruck heute? Tokiostraße, Wien-Donaustadt: ein Wiedersehen.

2010 habe ich an dieser Stelle behauptet, „einen der wichtigsten Beiträge zum Wiener Wohnbau der letzten Jahre“ vorzustellen. Und wie ist der Eindruck heute? Tokiostraße, Wien-Donaustadt: ein Wiedersehen.

Architekturkritik kommt meistens zu spät. Ein Theater bleibt leer, wenn sich die Verrisse häufen, ein lau kritisiertes Buch verkauft sich schlecht. Schlechte Architektur dagegen bleibt, von Kritik weitgehend ungerührt, jahrzehntelang im Weg stehen. Architekturkritiker behaupten daher gerne, für die Zukunft zu schreiben, in der Hoffnung, dass gute Beispiele zum Vorbild werden und ein Verriss die Wiederholung von Fehlern verhindert.

Insofern kommt Architekturkritik aber auch zu früh. Sie erfolgt meist unmittelbar nach der Fertigstellung, bevor ein Bauwerk beweisen musste, dass es alltagstauglich ist und von den Nutzern in seinem Potenzial auch verstanden und angenommen wurde. Wenn ein Gebäude nach seiner Eröffnung wieder als Architektur in die Zeitung kommt, dann meistens Jahrzehnte später, wenn die nicht mehr vorhandene Alltagstauglichkeit die Substanz gefährdet und das Denkmalamt gegen einen Abriss oder Umbau einschreitet.

Der Wohnbau in der Tokiostraße von Artec-Architekten wurde 2010 fertiggestellt und hat bis zur denkmalpflegerischen Behandlung noch einen Weg vor sich. Ich habe das Haus im Jahr 2010 an dieser Stelle im Spectrum als „einen der wichtigsten Beiträge zum Wiener Wohnbau der letzten Jahre“ vorgestellt und mit Lob nicht gespart: ein genialer Mix aus gestapelten Wohntypen sei hier zu finden; hohe Dichte, aber trotzdem viel Licht und Luft; raffinierte Übergänge zwischen öffentlichen und privaten Bereichen; viele Terrassen und Loggien als wohnungsnahe Freiräume, die sich die Benutzer noch gärtnerisch gestalten würden; viel soziale Infrastruktur, etwa ein doppelgeschoßiger Partyraum, Schwimmbecken mit Liegewiese auf dem Dach und eine offene Erdgeschoßzone, die sich die Bewohner für Feste aneignen könnten. Dieses Programm ist in einer baukünstlerischen Eigenart umgesetzt, die aus der Wohnhausanlage einen urbanen Ort macht, den man sich merkt. Ein warmgrauer Verputz und Sichtbeton an der Fassade stehen im Kontrast zu kräftigen Rot- und Gelbtönen in den Hallen und Treppenhäusern. Die Fassade zur Tokiostraße hin ist ein dreidimensionales Vexierspiel aus schrägen Stahlrohren in einem raffinierten Muster, und abends leuchtet der Partyraum an der Stirnseite wie eine rote Laterne in den Straßenraum.

Nicht alle Leser teilten diese Meinung. Die Fotos zeigten das Haus unmittelbar vor der Besiedlung, und es gab den üblichen Leserbrief, der mich darauf hinwies, dass nur Architekten Sichtbeton schön finden, aber auch einen anderen, der das Haus als formalistisch und am Leben vorbeigeplant kritisierte. Gegen diese Fundamentalkritik muss sich das Haus selbst wehren, dachte ich mir damals, und notierte mir eine Besichtigung nach ein paar Jahren im Kalender.

Letzte Woche war es so weit. Begleitet von einem der Geschäftsführer der Wohnbaugenossenschaft „Neues Leben“, Johann Gruber, durfte ich das Haus nach drei Jahren Betrieb besuchen. Von der Betreiberseite hat das Haus die Erwartungen erfüllt; einzige Ergänzung war der zusätzliche seitliche Abschluss einer Erschließungshalle durch ein Kunststoffgewebe, da im Winter an windigen Tagen Flugschnee in die Halle geweht wurde.

Dass die Bewohner das Haus in Besitz genommen haben, ist deutlich zu sehen. Die privaten Kleinstgärten auf den Terrassen und Balkonen sind begrünt, je nach gärtnerischem Talent mit unterschiedlicher Dichte. Auch in der Erschließungshalle sind die Vorbereiche vor den Wohnungen genutzt, freilich großteils als Abstellplätze für Fahrräder und Kinderwägen. Nur vor einer Wohnung ist ein kleiner Sitzplatz mit Kaffeehaustisch aufgebaut, der aber eher als symbolische Geste wirkt. Es gibt auch hier einiges an Grün, in den oberen, gut belichteten Ebenen wuchert vor einer Wohnung sogar ein kleiner Empfangsdschungel aus Topfpflanzen. Im öffentlich zugänglichen Hof ist der Rasen gepflegt, die Betonwände werden von Pflanzen erobert und haben ihre Härte verloren. Ein kleines „Nimm ein Sackerl“-Hinweisschild im Rasen weist auf potenzielle Interessenskonflikte in einem halböffentlichen Grünraum hin. Schon mehrmals hätte die Hausverwaltung mit dem Gedanken gespielt, erklärt Johann Gruber, das Problem durch einen Maschendrahtzaun mit Tür zu lösen, sei aber davon zu überzeugen gewesen, dass damit eine wesentliche Qualität des Hauses zerstört würde: die hohe Dichte durch ein Angebot an gut gestalteten öffentlichen und halböffentlichen Freiräumen zu kompensieren.

Zu diesen Räumen gehört auch die Dachterrasse mit Schwimmbecken im Trakt zur Tokiostraße, die allen Bewohnern der in Summe 100 Wohnungen zur Verfügung steht. Die Terrasse ist geteilt, im vorderen Bereich liegt das Becken, dann geht es über ein paar Stufen hinunter auf die Liegewiese. Hier trifft man auf Bewohner, die erzählen, dass sie mit dem Haus sehr zufrieden sind. Es gebe Klagen über Lärmbelästigung durch die Straßenbahn in der Tokiostraße, deren Fahrgeräusch durch die offene Erdgeschoßzone auch in der Halle merkbar sei. Überhaupt: Benutzt werde diese Halle nur als luxuriöser Abstellplatz für Fahrräder, und auch der Partyraum sei kaum in Betrieb. Die übrigen Kritikpunkte beziehen sich auf Details, die Ausführung des Sichtbetons und punktuelle Wasserschäden in der Sockelzone des Verputzes in der zweiten Eingangshalle.

Die Überraschung des Besuchs ist, dass es keine Überraschungen gibt. Das Haus grünt sich unter tatkräftiger Mithilfe der Bewohner ein. Die halböffentlichen Zonen funktionieren nicht, oder genauer: Sie haben in unserer Gesellschaft keinen praktischen Wert mehr, sondern einen symbolischen. Wer in Kagran unter Menschen sein möchte, geht nicht zum Nachbarn, sondern ins Donauzentrum. Abschaffen darf man diese Zonen dennoch nicht: Sie inszenieren den Abstand, den wir zueinander brauchen, und machen das Leben in dichter Packung erst erträglich.

Das Haus in der Tokiostraße hat auch das Glück, in einem der wenigen städtebaulich gelungenen Entwicklungsgebiete Transdanubiens zu liegen. Der Masterplan aus dem Jahr 1993 stammt von Elsa Prochazka, und nach 20 Jahren zeigt sich, dass hier ein urbaner Raum mit Aufenthaltsqualität entstanden ist. Was den meisten Häusern hier dennoch fehlt, ist der Dialog zwischen Haus und Stadt, die subtile Verbindung zwischen öffentlichen und halböffentlichen Zonen. Diese Qualität besaß auch die angeblich so vorbildliche Blockrandbebauung der Gründerzeit nicht oder nur dort, wo sie aufgrund bestehender älterer Bauten dazu gezwungen war. Gerade hier läge aber – wie das Haus von Artec beweist – das Potenzial der heutigen Stadterweiterung.

Der Genossenschaft „Neues Leben“ sind diese Qualitäten offenbar ein besonderes Anliegen. Auf dem Areal des ehemaligen Nordbahnhofs errichtet sie gerade drei Wohnhäuser auf einer quadratischen Parzelle, geplant von den Architekten Sergison und Bates aus London, von Ballmoos Krucker aus Zürich und Werner Neuwirth. Drei Häuser im Dialog, eine fein justierte Mitte, mehr braucht es nicht. Im stadträumlichen Elendsviertel, zu dem der Nordbahnhof leider geworden ist, sind diese Häuser zumindest ein Lichtblick.

Spectrum, Sa., 2013.07.06

07. Juni 2013Christian Kühn
Spectrum

Der lange Marsch

Gegründet, als von Baukultur noch kaum die Rede war: Das Haus der Architektur in Graz wird 25 Jahre alt.

Gegründet, als von Baukultur noch kaum die Rede war: Das Haus der Architektur in Graz wird 25 Jahre alt.

Urteile über architektonische Qualität stehen immer unter dem Verdacht, auf reine Geschmacksfragen hinauszulaufen. Was baukünstlerisch richtig oder falsch, schön oder hässlich ist, lässt sich nicht mit wissenschaftlicher Exaktheit bestimmen. Architektonische Qualität ist eine unscharfe Größe. Das heißt aber nicht, dass man über sie nicht präzise diskutieren könnte. Es ist wie mit der Qualität des Essens: Natürlich geht es hier um individuellen Geschmack, aber es ist möglich, jenseits dieses Geschmacks Konsens über die Qualität der Zutaten und der Zubereitung zu erzielen. Allerdings hat die Kochkunst im Vergleich zur Baukunst den großen Vorteil, dass kaum jemand gezwungen ist, zu essen, was ihm nicht schmeckt, während man missliebiger Architektur großräumig ausweichen muss – und das in der Regel viele Jahrzehnte lang.

Ein gutes Haus zu bauen ist schon deshalb komplexer, als ein gutes Menü zu kochen. Dazu kommt, dass offene, moderne Gesellschaften mehr Handlungsspielraum bieten als geschlossene Gesellschaften und damit auch mehr Fehlerquellen eröffnen. Traditionelle Lösungen, die in geschlossenen Gesellschaften für Stabilität gesorgt haben, funktionieren oft nicht mehr, weil sich die Problemlagen durch Dimensionssprünge radikal verändert haben. Die Moderne muss sich daher ihre Fundamente selbst schaffen. In der Architektur kann das nicht nur im Anlassfall eines Bauprojekts geschehen. Es braucht Institutionen, in denen kontinuierlich verhandelt wird, was unter Qualität zu verstehen ist.

Zu diesen Institutionen gehören Ausbildungs- und Forschungsstätten, also die Universitäten, Berufs- und Fachhochschulen, sowie die Berufsverbände. Neben diesen Institutionen hat sich ein neuer Typus von Institution etabliert, der unter dem Begriff der „Vermittlung“ auftritt. Ganz neu ist der Typus nicht: Schon die Zentralvereinigung der Architekten und der Österreichische Werkbund, 1907 und 1912 gegründet, richteten sich mit dem Ziel einer „Hebung des künstlerischen Geschmacks“ nicht nur an die Produzenten, sondern auch an die Nutzer von Architektur. Die Wiener Werkbundsiedlung Anfang der 1930er-Jahre war wahrscheinlich das größte Projekt der „Architekturvermittlung“, das in Österreich je stattgefunden hat.

Die erste Vermittlungsinstitution im engeren Sinn war die 1965 gegründete Österreichische Gesellschaft für Architektur (ÖGfA). In ihrem Gründungsdokument heißt es explizit, dass „Baukultur nicht allein von Fachleuten getragen wird, sondern von jedem Bürger“, weshalb es nötig sei, „die notwendigen Verbindungen zu den Wissenschaften, Künsten, zu Wirtschaft und Politik aufzuzeigen und zu pflegen“. Wie ihr Name sagt, verstand sich die ÖGfA als bundesweit agierende Institution. Diesem Anspruch konnte sie nie gerecht werden: Sie war und blieb eine Wiener Institution mit gutem internationalem Netzwerk, aber wenig Wirksamkeit in den Bundesländern.

Während die ÖGfA ohne Unterstützung der Politik als Bottom-up-Institution entstanden ist, konnte das Haus der Architektur in Graz von Anfang an auf die Unterstützung durch die steirische Landespolitik – zur Zeit seiner Gründung 1988 insbesondere durch den Leiter der Hochbauabteilung des Landes, Wolf-Dieter Dreibholz – bauen. Das HDA ist bis heute ein Verein, dessen Vorstand zu einem guten Teil von anderen Institutionen nominiert wird und damit unmittelbar in ein Netzwerk von Beziehungen eingebettet ist: Land Steiermark, Stadt Graz, Forum Stadtpark, Architektenkammer, Zentralvereinigung der Architekten, Technische Universität Graz.

Das HDA ist nach der ÖGfA die älteste unter den inzwischen in allen Bundesländern existierenden Institutionen der Architekturvermittlung: das Vorarlberger Architekturinstitut, das aut in Tirol, die Initiative Architektur Salzburg, das Architekturforum Oberösterreich, das ArchitekturHaus Kärnten, der Verein ORTE in Niederösterreich, der Architekturraum Burgenland und das Architekturzentrum Wien. Die Bundesländerinstitutionen haben sich gemeinsam mit der ÖGfA und der Zentralvereinigung der Architekten eine gemeinsame Plattform geschaffen, die Architekturstiftung Österreich.

Die Entwicklung, die das HDA in den letzten 25 Jahren genommen hat, ist typisch. Am Anfang stehen das Engagement einzelner Personen und konkrete Anliegen, für die ehrenamtlich gearbeitet wird. Die Zusammenarbeit mit den öffentlichen Förderern ist geprägt durch persönliche Netzwerke, die nach jeder Verschiebung politischer Machtverhältnisse neu aufgebaut werden müssen. Das HDA hat einige dieser Wechsel überstanden, ohne sich inhaltlich verbiegen zu müssen. Auf seiner Homepage ist das Programm seit 1989 dokumentiert: Die ersten Jahresthemen sind geprägt von der Auseinandersetzung mit der Stadt, ihren peripheren Zonen, ihrer Verbindung zur Landschaft. Eine Phase lang geht es um die Grundlagen der Baukunst: Architektur und Musik, Angemessenheit der Mittel, die Kunst der Linie. Dann um die geänderte Rolle und Funktion der Disziplin: Mehrwert Architektur, das Image des Berufs, seine Standesvertretung und wirtschaftliche Basis im internationalen Kontext. In der nächsten Phase um Region und Ort als prägende Faktoren.

Die ersten 20 Jahre lang wurde das Programm von wechselnden operativen Vorständen entwickelt und umgesetzt. Das garantiert frischen Wind, hat aber den Nachteil, dass jeder Architekt ein Architekturzentrum für sich ist oder das zumindest allen anderen unterstellt. Architekturvermittlung von Architekten für Architekten leistet zwar wichtige Beiträge zur Selbstreflexion und zur Entwicklung der Disziplin, das Verständnis für Baukultur im Allgemeinen hebt sie aber kaum.

Seit 2008 hat das HdA mit Eva Guttmann eine Geschäftsführerin, die das Programm in Abstimmung mit dem Vorstand auch inhaltlich verantwortet. Seither ist das Programm stärker auf das allgemeine Publikum ausgerichtet. Dazu passt, dass das HdA 2008 seinen Standort verlegt hat: von der etwas abgelegenen, sehr großzügigen Villa in der Engelgasse ins Palais Thinnfeld im Zentrum der Stadt, unmittelbar neben dem Kunsthaus, mit einem Bruchteil der Fläche, aber der Chance, neues Publikum zu erreichen.

Die „wilden Jahre“ des HdA müssen damit nicht endgültig vorbei sein. Wenn es seine weit verzweigten Wurzeln pflegt, wird es auch weiterhin Unerwartetes produzieren. Das gilt auch für die anderen Institutionen der Architekturvermittlung in Österreich, die unterschiedlich weit auf dem Weg der „Professionalisierung“ gegangen sind. Mit dem Architekturzentrum Wien, das gerade seine hervorragende Sammlung in der Ausstellung „Das Gold des AzW“ zeigt, ist eine dieser Institutionen gerade auf dem Sprung zum Architekturmuseum. Dass Baukultur wichtig ist und ähnlich gefördert werden muss wie die Musikkultur – von den Philharmonikern bis zur Blasmusik– sollte sich auf allen politischen Ebenen herumgesprochen haben.

Spectrum, Fr., 2013.06.07

11. Mai 2013Christian Kühn
Spectrum

Will das der Markt?

Hauptsache Rendite: wie man Wohnungen verkauft, in die der Käufer nie einziehen würde. Ein Beispiel aus Wien.

Hauptsache Rendite: wie man Wohnungen verkauft, in die der Käufer nie einziehen würde. Ein Beispiel aus Wien.

Wohnen ist, so sagt es die UN-Menschenrechtskonvention in Artikel 25, ein Grundrecht: „Jeder Mensch hat das Recht auf einen Lebensstandard, der ihm und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen.“ Wohnen ist zugleich ein Wirtschaftsfaktor. Im Schnitt wird in Österreich knapp ein Drittel des Haushaltseinkommens für Wohnen, Energie und Wohnungsausstattung aufgewendet.

Wohnen ist daher auch ein Geschäft. Allerdings eines, in das der Staat – zumindest in Österreich – massiv eingreift, durch die Regulierung bestimmter Segmente des Mietwohnungsmarktes, aber auch durch Förderungen. Die Wohnbauförderung erlaubt es, Bauträgern Qualitätsstandards vorzuschreiben, etwa in Bezug auf den Energieeinsatz und die Wohnungsqualität, und zugleich die Baukosten zu begrenzen. Gemeinnützige Bauträger stöhnen zwar gerne über diese Schere. Sie hat aber zumindest in Wien per Wettbewerb zu hoher Qualität und vielen Innovationen geführt: raffinierte Grundrisse mit hoher Flexibilität, großzügige Erschließungs- und Gemeinschaftsbereiche, die das Leben trotz hoher Dichte angenehm machen, begrünte Freibereiche vor den Wohnungen und nicht zuletzt bautechnische Innovationen, die Baukosten reduzieren helfen.

Dass der geförderte Wohnbau in Wien einen höheren Standard hat als der frei finanzierte, ist daher nichts Neues. In meinem jüngsten Beitrag an dieser Stelle des „Spectrums“ („Licht von unten“, 13. April 2013) über einen geförderten Wohnbau in der Raxstraße im zehnten Bezirk habe ich behauptet, dass sich private Wohnungskäufer überlegen sollten, warum sie „für deutlich weniger Qualität das Drei- bis Vierfache jener rund 1400 Euro bezahlen sollen, die eine geförderte Wohnung in der Errichtung kostet“. Die Reaktion folgte prompt: Ich würde hier Äpfel mit Birnen vergleichen, und außerdem sei ein Wohnungspreis von über 4000 Euro im frei finanzierten Bereich in ähnlicher Lage niemals zu erzielen.

Das hat mich neugierig gemacht. Ich bin überzeugt davon, dass man Äpfel sehr wohl mit Birnen vergleichen kann: Einem frischen Apfel wird man den Vorzug vor einer faulen Birne geben. Und was die Wohnungspreise betrifft, hilft ein Blick in den Inseratenteil: „Neubau-Eigentum, Wien 10. Erlachplatz, 45 m², Kaufpreis 180.000 Euro“. Welche Besonderheit hat diese Wohnung, wenn ich für sie trotz der alles anderen als guten Lage 4000 Euro pro Quadratmeter hinblättern muss?

Die Neugier steigt, wenn man vom Makler eine Werbebroschüre zum Projekt zugesandt bekommt. Erstens wird in dieser Broschüre der Standort als „sehr zentral“ dargestellt: „In nächster Nähe befinden sich der Hauptbahnhof und das Schloss Belvedere.“ Sicher, alles ist relativ, und der neue Hauptbahnhof wird auch den zehnten Bezirk aufwerten. Aber bis ins Belvedere ist man doch eine halbe Stunde unterwegs und hat dabei einige nicht unerhebliche Hindernisse wie den Gürtel, Wiens meistbefahrene Straße, zu überwinden. Zweitens springt einem auf dem Grundriss die Erschließung des Hauses ins Auge, ein mehrfach geknickter Mittelgang ohne natürliche Belichtung. Ein Effekt davon ist, dass keine einzige der Wohnungen über Querlüftung verfügt. In einem energietechnisch optimierten Haus mit mechanischer Raumlüftung zur Wärmerückgewinnung wäre das kein Problem. Hier ist es ein echter Mangel an Wohnkomfort. Ein zweiter Effekt ist der Weg zur eigenen Wohnung: Für die oben beschriebene Wohnung (im Plan ganz links hinten) beträgt er vom Lift aus gemessen 25 Meter, zwei 90-Grad-Drehungen inklusive.

Die Wohnung selbst hat einen brauchbaren Zuschnitt und eine ausreichend dimensionierte Loggia. Was auf dem Plan nicht zu erkennen ist: Sie orientiert sich nicht zum begrünten Erlachplatz, sondern zu einem eher tristen Hinterhof, den die Sonne bestenfalls im Hochsommer für ein paar Stunden erreicht. Weniger glücklich dürfen sich die zukünftigen Mieter anderer Wohnungen schätzen: Mehrfach geknickte Erschließungsgänge und dunkle Kochnischen waren für den Planer offenbar kein Problem.
Die nordseitig orientierten Wohnungen, in die mit Sicherheit nie ein Lichtstrahl fallen wird, haben zum Ausgleich einen Balkon, von dem aus sie den Blick ins drei Meter entfernte Schlafgemach ihrer Nachbarn genießen können. Auch für diese Wohnungen werden noch Preise von über 3000 Euro pro Quadratmeter verlangt – im Dachgeschoß bis zu 5000 Euro. Ausführung: Stahlbeton, Polystyroldämmung, Kunststofffenster.

Wie geht das? Eine Rückfrage beim Projektentwickler bringt Aufklärung: Selbst er würde – „Samma uns ehrlich“ – nie in einer solchen Wohnung wohnen wollen. Seine Käufer aber auch nicht. Es handelt sich nämlich um das Modell „Anlegerwohnung“ oder „Vorsorgewohnung“. Der Käufer wird die Wohnung, die er als „Beimischung zu seinem Vermögensportfolio“ gekauft hat, wahrscheinlich nie betreten. Er bezahlt auch nicht die oben genannten Bruttopreise, sondern Nettopreise, da die Wohnung ja gewinnbringend vermietet wird, in der Regel wieder vom Projektentwickler im Auftrag des Käufers. Das Modell funktioniert, solange Wohnungen knapp sind. In Städten wie Wien und Graz mit steigender Bevölkerungszahl wird das mit hoher Wahrscheinlichkeit so bleiben. Daher ist der Projektentwickler vor allem dort aktiv, mit derzeit 2500 Wohnungen in Planung und Bau.

Soll man solche Wohnungen kaufen? Wem es gleichgültig ist, wie seine Mieter wohnen, wird da keine Skrupel haben. Er sollte den Projektentwickler aber auffordern, seine Kalkulation offenzulegen: Wenn, wie in diesem Fall, der Netto-Durchschnittspreis der Wohnungen bei 3300 Euro pro Quadratmeter liegt und die Errichtungskosten bei bestenfalls 1700, bleibt selbst nach Abzug des Grundstücksanteils ein mehr als satter Gewinn übrig. Hoffnung auf eine Wertsteigerung sollte man bei diesem Preis in dieser Lage jedenfalls nicht haben.

Dass privates Kapital in Wohnungen dieser Kategorie fließt, ist trotzdem zu begrüßen. Aber gibt es nicht irgendeine Möglichkeit, den freien Markt so zu justieren, dass die Wohnqualität dabei ein zentraler Faktor wird? Ich weiß es nicht. Anregungen sind willkommen.

Spectrum, Sa., 2013.05.11

13. April 2013Christian Kühn
Spectrum

Licht von unten

Die Verbindung von hoher Dichte und hoher Wohnqualität gelingt nur, wenn Städtebau und Architektur gemeinsam neu gedacht werden. Eine geförderte Wohnanlage im zehnten Wiener Gemeindebezirk holt die Stadt ins Haus.

Die Verbindung von hoher Dichte und hoher Wohnqualität gelingt nur, wenn Städtebau und Architektur gemeinsam neu gedacht werden. Eine geförderte Wohnanlage im zehnten Wiener Gemeindebezirk holt die Stadt ins Haus.

Wie dicht darf's denn sein? Angesichts des aktuellen Wiener Bevölkerungswachstums nähert sich die Bebauungsdichte auch außerhalb des Gürtels immer mehr jener der Innenstadt an. Im Stadtentwicklungsplan (STEP) von 2005 finden sich Zielvorgaben für die urbane Dichte, gemessen an der sogenannten Nettogeschoßflächenzahl, dem Verhältnis der Geschoßfläche eines Hauses zur Fläche des Baulands, auf dem es errichtet wurde. Ein Grundstück mit 500 Quadratmetern, auf dem ein fünfgeschoßiges Haus mit Flächen von je 200 Quadratmetern pro Geschoß steht, ist in einer Dichte von 2.0 bebaut. Dieser Wert war im STEP 2005 als Mindestmaß für das „dicht bebaute Stadtgebiet“ festgelegt, im „Einzugsbereich hochrangiger Verkehrsmittel“ galt ein Wert von maximal 3.0 als Zielvorgabe.

Heute schreiben wir das Jahr 2013 und finden bei aktuellen Projekten weitab von jedem „hochrangigen Verkehrsmittel“ Dichten deutlich über 3.0. Das Areal an der Raxstraße im zehnten Wiener Gemeindebezirk, auf dem nach Plänen der Architekten Rüdiger Lainer, Adolf Krischanitz und Artec ein neuer Wohnkomplex mit einer Dichte von 3.35 errichtet wurde, ist ein Beispiel dafür.

Grundsätzlich ist gegen eine hohe Dichte an diesem Standort nichts einzuwenden. Das Erholungsgebiet Wienerberg ist nicht weit entfernt, und in wenigen Jahren wird die U-Bahnlinie U1 am Verteilerkreis Favoriten eine Station haben, die per Bus in fünf Minuten erreichbar ist. Problematisch ist die Lage an der dicht befahrenen Raxstraße, die das Grundstück südlich begrenzt. Zum Schallschutz wäre es sinnvoll, zu dieser Straße hin einen geschlossenen, lang gestreckten Baukörper zu errichten. Südsonne würde in die dahinter liegenden Höfe dann aber kaum mehr fallen, und umgekehrt würde die Raxstraße noch mehr zu einem Verkehrskanal verkommen.

An einem solchen Standort hohe Dichte und hohe Wohnqualität zu verbinden kann nur gelingen, wenn Städtebau und Architektur gemeinsam neu gedacht werden. In diesem Fall hat die Stadt Wien das durch die Ausschreibung eines Bauträgerwettbewerbs für das gesamte Areal gefördert, bei dem jeweils drei Bauträger mit drei Architektenteams sowohl ein Konzept für den Bebauungsplan als auch für die einzelnen Wohnbauten vorlegen mussten.

Der Plan, den win4wien, ein Konsortium der Bauträger Neues Leben, EBG, Mischek und Neue Heimat, von den Architekten gemeinsam mit den Landschaftsplanern Auböck und Kárász ausarbeiten ließ, stellt die städtebauliche Logik scheinbar auf den Kopf. Statt eines Riegels zur Raxstraße und dahinter liegender, lärmgeschützter Einzelbauten sieht er drei lang gestreckte, quer zur Raxstraße orientierte Baukörper vor, zwischen denen wenige Meter schmale Einschnitte zu Raxstraße offen bleiben, die den Durchblick in beide Richtungen erlauben und Licht von Süden in die zwischen den Baukörpern entstehenden länglichen Höfe fallen lassen. Der Lärmschutz wird durch eine Verglasung dieser Einschnitte bewältigt. Zur Raxstraße hin zeigen die Schmalseiten der drei Trakte ihr jeweils ganz eigenes Gesicht: eine Fassade mit spielerisch versetzten Fensteröffnungen von Rüdiger Lainer, eine strenge Lochfassade mit horizontaler Streifenbemalung von Adolf Krischanitz und an der Ecke ein schmaler, leicht überhöhter Glasturm, in dem ein Treppenhaus und ein Lift zu erkennen sind. Der Glasturm bildet die Schmalseite eines sich konisch nach Norden verbreiternden Bauwerks, der von Bettina Götz und Richard Manahl (Artec) entworfen wurde. Dieser Bau zeigt exemplarisch, wie sich hohe Qualität und hohe Dichte verbinden lassen. Die Formel dafür lautet: die Stadt ins Haus holen. Bei traditionellen Typologien des Wiener Stadthauses ist die Grenze zwischen dem öffentlichen und dem privatem Raum das Haustor. Was sich dahinter abspielt, geht die Öffentlichkeit nichts an. Das Treppenhaus ist in der Regel kein Aufenthaltsort, sondern ein Durchgangsraum, der sowieso nur benutzt wird, wenn der Lift ausfällt.

Für das Wohnhaus in der Raxstraße haben Artec ein Erschließungssystem entwickelt, das ganz andere Verhältnisse herstellt. Es gibt für die insgesamt 110 Wohnungen nur zwei Lifte an den Enden des Baukörpers, jeweils verbunden mit Treppen, die so viel Licht bekommen, dass man sie gern benutzt: Als Pendant zum Glasturm gibt es an der Breitseite des Hauses einen über alle Geschoße reichenden Luftraum, über eine Glasfassade mit der Umgebung verbunden. Von diesen Enden aus erreicht man die Wohnungen über ein System von Erschließungswegen, die je nach Geschoß und Lage im Haus unterschiedlich ausgebildet sind. In den Untergeschoßen des schmäleren Teilssind sie als Laubengänge im Hof geführt, in den Obergeschoßen als zweigeschoßige verglaste Halle mit hoher Aufenthaltsqualität. Im breiteren Teil gibt es eine konisch zulaufende Erschließungshalle mit Stegen und Brücken zu den einzelnen Wohnungen. Hierlassen sich auch die Fenster zur Halle öffnen; im Brandfall sorgt eine Entrauchungsanlage dafür, dass die Fluchtwege sicher erreichbar bleiben.

Zusammengefasst werden alle diese halböffentlichen Verbindungselemente durch eine intensiv gelbe Farbe, die den Raum zusätzlich aktiviert. Die ersten aufgestellten Grünpflanzen scheinen sich jedenfalls wohlzufühlen. Das Gelb zieht sich bis in die Tiefgarage, deren oberstes Geschoß noch zur Hälfte über dem Straßenniveau liegt. Hier fällt die Westsonne tief in den Baukörper und über eine Verglasung bis in den ersten Hof, der so gegen Abend gewissermaßen von unten beleuchtet wird.

Mit diesem Haus haben Artec einen Maßstab für die Entwicklung des Wiener Wohnbaus gesetzt, an dem in Zukunft niemand vorbeikommen wird, der zu einer sinnvollen urbanen Verdichtung Wiens beitragen möchte. Welche Qualität hier wieder einmal im geförderten Wohnbau bei Baukosten von 1410 Euro pro Quadratmeter erreicht wurde, spricht für die Leistungsfähigkeit des Systems. Private Wohnungskäufer sollten sich überlegen, warum sie für weniger Qualität Preise im Bereich des Drei- oder Vierfachen bezahlen. An der Lage allein liegt es sicher nicht.

Spectrum, Sa., 2013.04.13



verknüpfte Bauwerke
Wohn- und Geschäftshaus Raxstraße

02. März 2013Christian Kühn
Spectrum

Salto mortale mit Schlag

Schöner als die Nike von Samothrake: Coop Himmelb(l)au setzt der futuristischen Phase in der rasanten Entwicklung Chinas mit dem Konferenzzentrum in Dalian ein Denkmal.

Schöner als die Nike von Samothrake: Coop Himmelb(l)au setzt der futuristischen Phase in der rasanten Entwicklung Chinas mit dem Konferenzzentrum in Dalian ein Denkmal.

Nach der industriellen Revolution kommt der Futurismus: „Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen“, heißt es in Filippo Tommaso Marinettis futuristischem Manifest von 1909. „Wir wollen die angriffslustige Bewegung preisen, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen . . . ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als dieNike von Samothrake.“

Wer heute China bereist, findet eine Mentalität vor, die in ihrer Euphorie für den rasenden Fortschritt diesem Futurismus gleicht. Sie weist aber auch dessen dunklen Seiten auf, die Verherrlichung des Militarismus und des Rechts des Stärkeren. Die explosive Bautätigkeit des Landes beruht auf einer Goldgräbermentalität, der Tausende alte Stadtviertel geopfert werden. Archäologische Funde, die in Europa Projekte zum Scheitern bringen würden, bremsen die Entwicklung in China höchstens für einen Moment, zumindest wenn die Investoren über gute politische Kontakte verfügen.

Mit ihrem Konferenzzentrum in Dalian, einer Stadt mit dreieinhalb Millionen Einwohnern im Nordosten Chinas, hat Coop Himmelb(l)au der futuristischen Phase in der Entwicklung Chinas ein Denkmal gesetzt. Man muss dieses Bauwerk mit dem Nationaltheater in Peking vergleichen, das nach Plänen des französischen Architekten Paul Andreu errichtet und 2007 eröffnet wurde. Die fünf Jahre Differenz zwischen den beiden Kulturbauten entsprechen im chinesischen Zeitraffer einer ganzen Epoche.

In Raumprogramm und Dimension sind sich die Projekte durchaus ähnlich. Das Nationaltheater enthält im Kern eine Oper, flankiert von zwei großen Sälen, die zusammen unter einer im Grundriss 220 mal 150 Meter überspannenden, teilweise verglasten Kuppel untergebracht sind. Die Kuppel sitzt in einer 250 mal 250 Meter großen Wasserfläche und ist nur über einen unter dem Wasser geführten Tunnel erreichbar – ein Stück Herrschaftsarchitektur, das maßstabslos neben der Verbotenen Stadt aufragt. Mit ihren gigantischen, symmetrisch geordneten Innenräumen symbolisiert sie eine Epoche, in der die chinesische Nomenklatura noch an ihre Allmacht glauben durfte.

Das Konferenzzentrum in Dalian ist mit 200 mal 220 Metern annähernd gleich groß wie sein Pekinger Pendant. Auch hier liegt ein Theater- und Opernsaal für 1600 Personen im Zentrum, allerdings umgeben von sieben unterschiedlich großen Konferenz- und Banketträumen, deren größter für 2500 Personen ausgelegt ist und bei Bedarf die Hinterbühne der Oper mitnutzen kann. Auf Fotos lässt sich die Dimension des Bauwerks nur erahnen: In seinen beiden ersten Geschoßen ließe sich das österreichische Parlament unterbringen, und würde man dann die Staatsoper obendrauf packen, bliebe noch immer Luft für Dutzende Zinshäuser.

Von Symmetrie im üblichen Sinn ist an diesem Bauwerk nichts zu spüren. Es gleicht einer Gewitterwolke, die in einem Moment hoher Turbulenz eingefangen und auf die Erde geholt wurde. Die skulpturale Wirkung ist beeindruckend, sowohl bei Tag, wenn sich in der matt glänzenden Fassade aus Aluminiumblech der Himmel spiegelt, als auch bei Nacht, wenn farbige LEDs die Hülle in wechselndes Licht tauchen. Dennoch ist dieses Bauwerk nicht einfach eine begehbare Skulptur. Seine innere funktionelle Logik ist klar, das Erschließungssystem übersichtlich und der Innenraum erstaunlich differenziert: Neben gigantischen Canyons gibt es zahlreiche ruhigere Zonen, alle gut proportioniert und über den Filter der Aluminiumhülle angenehm belichtet. So geschlossen die Hülle von außen wirkt, erscheint sie durch die verwendeten Lochbleche von innen wie ein dünner Schleier, der das Licht filtert.

In diesen Räumen gibt es keine zentrale Kontrolle mehr. Hinter jeder Ecke lauert eine neue Gelegenheit, alles bewegt sich und wird doch auf eine geheimnisvolle Weise in einem kontrollierten Zustand gehalten, weil die Bewegungen sich ausgleichen wie in der Kurvatur eines Drachenkörpers. Wenn die aktuellen chinesischen Eliten ihr Paradies beschreiben müssten, es würde den endlosen Raumfluchten des Konferenzzentrums in Dalian gleichen.

Nicht nur formal, sondern auch technisch ist Coop Himmelb(l)au mit diesem Bau ein Meisterwerk geglückt. Das selbsttragende Schalentragwerk des Dachs überspannt 85 Meter, der Foyer- und Ausstellungsraum kragt 40 Meter weit aus. 14 vertikale Kerne aus Beton-Stahl-Komposit tragen die Lasten in die Fundamente ab. Das Know-how der örtlichen Schiffsbaufirmen wurde genutzt, um die Konstruktion bis zum Äußersten auszureizen. Als die Struktur im Rohbau trotzdem andere Verformungen zeigte als vorhergesehen, konnten die Detailpläne der Fassade durch den Einsatz neuester CAD-Techniken in wenigen Wochen neu generiert werden.

Wenn die Entwicklung Chinas weiter im Zeitraffer verläuft, wird ihre futuristische Phase bald vorbei sein. In unmittelbarer Nachbarschaft des Konferenzzentrums kann man der Kopie einer europäischen Stadtstruktur mit Loire-Schloss-Türmchen beim Wachsen zusehen. Im Central-Business-District, dessen krönenden Abschluss zum Meer die Aluminiumwolke von Coop Himmelb(l)au bildet, entsteht ein grauer Turm neben dem anderen, bald auch eines der höchsten Häuser Chinas. Was danach kommt, wissen wir nicht. Vielleicht rast China in die ökologische Katastrophe, vielleicht gelingt die Wende zu einer nachhaltigeren Wirtschaft.

Die Architektur dafür muss noch erfunden werden. Dass sie hohes technisches Wissen und systemisches Denken erfordert, ist klar. An Extreme zu gehen, wie es Coop Himmelb(l)au in Dalian und in anderen Projekten wie der Europäischen Zentralbank in Frankfurt und dem Musée des Confluences in Lyon getan hat, hat durchaus seine Berechtigung. Die Architektur der Zukunft wird vielleicht gar nicht futuristisch aussehen. Aber man kann nur hoffen, dass sie sich nicht aufs rein Nützliche glattbügeln lässt: Ohne Begeisterung für Raum und Form hat noch keine Kultur überlebt.

Spectrum, Sa., 2013.03.02

16. Februar 2013Christian Kühn
Spectrum

Alles zum Besten der Narren

Willkommen am Steinhof: In jeder zivilisierten Stadt wäre ein derart grober Umgang mit wertvollem Bestand spätestens am Gestaltungsbeirat gescheitert. In Wien wurschtelt man sich durch.

Willkommen am Steinhof: In jeder zivilisierten Stadt wäre ein derart grober Umgang mit wertvollem Bestand spätestens am Gestaltungsbeirat gescheitert. In Wien wurschtelt man sich durch.

Wer plant Wien? Das gleichnamige Buch von Reinhard Seiss geht inzwischen in die vierte Auflage, die Stadtregierung hat von Rot auf Rot-Grün gewechselt, und noch immer wissen wir die Antwort nicht. Sind es die Beamten des Planungsressorts und die Experten, sind es die Projektentwickler und Investoren, die Politiker oder gar die Bürger?

Wer plant zum Beispiel die Zukunft des Steinhof-Areals, der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke im Westen Wiens, mit über 2000 Betten zur Zeit seiner Entstehung eines der größten Spitäler der Welt? Konnte man bisher davon ausgehen, dass nur ein Teil des Areals, das größer ist als der achte Bezirk, neuen Nutzungen zur Verfügung stehen würde, ist seit Mai letzten Jahres bekannt, dass bis zum Jahr 2020 sämtliche Spitalsnutzungen von hier an andere Standorte in Wien übersiedeln werden.

Eigentümer ist die Gemeinde Wien über ihren Krankenanstaltenverbund (KAV), der noch zu Beginn der 2000er-Jahre größere Summen in die Adaptierung der denkmalgeschützten Pavillons investierte. Drei Architektengruppen, Runser/Prantl, Beneder/Fischer und Sarnitz/Silber/Soyka, erhielten damals den Auftrag, je einen Pavillon umzubauen. Manche der dabei entwickelten Ideen wurden für weitere Sanierungen übernommen. Zur gleichen Zeit begann auch die elf Millionen Euro teure Sanierung der Otto-Wagner-Kirche mit ihrer vergoldeten Kuppel, auf deren vermeintliche Zitronenform der Name Lemoniberg für das Areal zurückgeht.

Die Kirche gilt als Meisterwerk des Jugendstils. Ihr Architekt, Otto Wagner, hätte dieser Zuschreibung allerdings wenig abgewinnen können. Er hatte sich schon um 1890 von allen historischen Stilen losgesagt und bezeichnete seinen eigenen Stil als „modern“, bis er schließlich auch das „modern“ als neuen Stilbegriff verdächtig fand und nur noch von der „Baukunst unserer Zeit“ sprechen wollte. Wagner war ein Rationalist, der auf die „peinlichste Erfüllung des Zwecks“ und die angemessene technische Ausführung größten Wert legte. Die Bezeichnung des Steinhof-Areals als „Jugendstil-Juwel“ führt daher auf eine falsche Fährte, vor allem, wenn man mit dem Begriff Jugendstil die Ornamentik eines Gustav Klimt assoziiert und dahinter Hundertwassersche Goldkringel.

Der Blick auf die Anlage zu ihrer Entstehungszeit in einem Gemälde von Erwin Pendl aus dem Jahr 1907 zeigt eine „weiße Stadt, überragt von der goldenen Kuppel einer weißmarmornen Kirche“, wie es in einem zeitgenössischen Bericht heißt. Sie gliedert sich in das Sanatorium für die wohlhabenden Kranken im Westen, die Heil- und Pflegeanstalt im Zentrum und einen Wirtschaftsbereich ganz im Osten, zu dem auch eine Prosektur mit Kapelle gehört, deren Achse direkt auf die Kuppel der Otto-Wagner-Kirche ausgerichtet ist. Sanatorium und Heilanstalt gliedern sich jeweils symmetrisch in eine Männer- und Frauenabteilung. Zentralgebäude wie Verwaltung und Gesellschaftshaus sind entlang der Symmetrieachsen aufgereiht.

Der ursprüngliche Entwurf der Gesamtanlage stammt – so wie die Entwürfe der Pavillons – von Carlo von Boog, einem beamteten Architekten. Von Boog, ein Jahrzehnt jünger als Otto Wagner, hatte in Niederösterreich zahlreiche Verkehrsbauten und die Krankenanstalten in Gugging und in Mauer-Öhling bei Amstetten errichtet. Er war ein hervorragender Organisator und Techniker, der für seine Familie in der Nähe von Stift Göttweig die „Villa Betonia“ errichtete, ein Haus, in dem er die neuesten Stahlbetontechniken erprobte. Die Anlage von Mauer-Öhling, die bis heute als Krankenanstalt in Betrieb ist und vom Land Niederösterreich hervorragend saniert wurde, war mit ihren Pavillongruppen ein international vorbildliches Projekt. Kaiser Franz Joseph schrieb nach einem Besuch dort an Katharina Schratt: „Alles zum Besten der Narren. Es muß ein Hochgenuß sein, dort eingesperrt zu sein.“

Unmittelbar nach der FertigstellungMauer-Öhlings 1902 fiel der Beschluss für das Nachfolgeprojekt in Wien. Die Planung wurde von Boog übertragen, Otto Wagner erhielt den Auftrag, ähnlich wie bei der Wiener Stadtbahn eine Art künstlerischer Oberleitung zu übernehmen, vor allem für die Gestaltung der Kirche. Wagner legte allerdings einen Gesamtplan vor, der jenen Carlo von Boogs deutlich modifizierte. Er behielt zwar die Hauptachsen und die Anzahl der Pavillons bei, veränderte aber deren Position. Von Boog hatte die Pavillons dem Geländeverlauf folgend platziert, nicht so sehr mit pittoresken Absichten, sondern um Erdbewegungen im steilen Gelände zu sparen. Wagner begradigte dagegen den Raster und legte ein streng orthogonales Achssystem fest, ähnlich dem Stadtplan, den er wenige Jahre später als Musterplanung für eine „unbegrenzte Großstadt“ publizierte.

Im Unterschied zum ursprünglichen Plan von Boogs sah Wagner auch zwei dicht bepflanzte Grünstreifen vor, die in der Darstellung aus dem Jahr 1907 deutlich erkennbar sind: Sie grenzen die Heil- und Pflegeanstalt vom Sanatorium einerseits und vom Wirtschaftsbereich und der Prosektur andererseits ab. Dass diese Streifen als Erweiterungsflächen für zusätzliche Pavillons gedacht waren, ist auszuschließen. Dafür stand genug Land hinter der Kirche zur Verfügung – die Steinhofgründe, die auf dem Bild als weitläufiges Areal innerhalb der Anstaltsmauer zu erkennen sind.

Der Versuch der Stadt Wien, dieses Potenzial für knapp 900 Gemeindewohnungen zu nutzen, führte 1981 zu einer Bürgerinitiative und Volksbefragung, die das Projekt zu Fall brachten. Ein neuer Bebauungsplan gliederte das Areal ins grüne Allerheiligste ein, den Wald- und Wiesengürtel. Für das bereits mit Pavillons bebaute Gebiet bestand aber weiterhin eine flächendeckende Bebaubarkeit in Bauklasse III, also bis zu 16 Meter Traufhöhe. Ein neuer Bebauungsplan 2006 reduzierte die Bebaubarkeit zwischen den Pavillons drastisch auf fünf Prozent, um nur noch kleine Zubauten für den Spitalsbetrieb zu erlauben, und beschränkte die Bauklasse III auf ein kleines Stück im Südwesten und auf das Wirtschaftsareal im Osten. Dieses Areal wurde vom KAV um neun Millionen Euro verkauft, großteils an den Wohnbauträger Gesiba, der hier nach einem Leitkonzept von Albert Wimmer 570 Wohneinheiten plant, teilweise an die Vamed, die ein Rehab-Zentrum errichtet.

In jeder zivilisierten Stadt wäre ein Projekt an diesem Ort einem Gestaltungsbeirat vorgelegt worden, der dann wohl aufgeschrien hätte. Nicht in Wien. Hier stürzt man sich kopfüber ins Schlamassel. Die Gesiba als gemeindenaher Betrieb wird vom Bürgermeister erst zurückgepfiffen, als die „Kronen Zeitung“ sich einschaltet. Das Vamed-Projekt, das jeder Beschreibung spottet, ist inzwischen in Bau. Die Bürgerinitiativen, die sich hier engagieren, haben trotzdem Applaus verdient – auch den der Fachwelt, die weitgehend geschlafen hat.

Seit letztem Herbst versucht eine von der Stadt eingesetzte Kommission unter dem Vorsitz des Architekten Adolf Krischanitz das Schlamassel zu entwirren und aus der Logik des Bestandes heraus eine Zukunft für den Ostteil des Areals zu skizzieren. Im April wird sie Ergebnisse vorstellen. Das kann nur der erste Schritt sein. Wenn 1907 vier Jahre gereicht haben, die komplette Anlage zu bauen, sollte eine auch ökonomisch tragfähige Umnutzung bis zum Jahr 2020 gelingen.

Spectrum, Sa., 2013.02.16

05. Januar 2013Christian Kühn
Spectrum

Ikonen am Berghang

Konkurrenz für Bayreuth: Einer „Verrücktheit“ verdankt sich die Entstehung des neuen Festspielhauses in Erl. Über das Zusammentreffen von Rauheit und Perfektion in der Tiroler Landschaft.

Konkurrenz für Bayreuth: Einer „Verrücktheit“ verdankt sich die Entstehung des neuen Festspielhauses in Erl. Über das Zusammentreffen von Rauheit und Perfektion in der Tiroler Landschaft.

Auffällig war dieser Punkt in der Landschaft schon immer, als hätte jemand mit einem Stift eine aufsteigende Kurve in den Hang gezeichnet und dann mit Deckweiß nachgearbeitet. Die meisten hielten das Gebäude aus der Ferne für eine Kirche, und das war nicht ganz falsch: Hier hatten 1959 die alle sechs Jahre stattfindenden Erler Passionsspiele ein festes Haus für 1500 Zuschauer bekommen. Der Entwurf stammte vom Architekten Robert Schuller, der damit eine Ikone der Tiroler Nachkriegsarchitektur schuf, eine einprägsame Figur mit wenigen Elementen: eine gekrümmte, weiß verputzte Wand, die vor dem Hang zu schweben scheint und Zuschauerraum und Bühnenturm miteinander verbindet; darunter ein konzentrischer Ring rauer Sichtbetonscheiben, zwischen denen die Besucher das Haus betreten; und schließlich eine Menge kleiner, in die Wand des Bühnenturms getupfter quadratischer Öffnungen, die das Haus wie einen großen Lautsprecher erscheinen lassen, aus dem etwas in die Landschaft verkündet wird.

Ende der 1990er-Jahre entdeckte der Musiker und Dirigent Gustav Kuhn dieses Passionsspielhaus für sich und gründete hier die Tiroler Festspiele Erl, die seit 1997 jedes Jahr im Sommer stattfinden, mit Ausnahme der Jahre, in denen das Haus für Passionsspiele belegt ist. Unter Kuhns Leitung entwickelten sich die Festspiele zu einem international beachteten Ereignis mit einem Schwerpunkt auf der Musik Richard Wagners, das begann, Bayreuth Konkurrenz zu machen.

Das Passionsspielhaus ist für den Opernbetrieb eine Herausforderung. Für die Osterzeit ausgelegt, fehlt ihm die Wärmedämmung, wodurch es im Sommer oft heiß und im Winter unbenutzbar ist. Da es keinen Orchestergraben gibt, spielen die Musiker an der Rückwand der Bühne, was in Verbindung mit dem breit gelagerten Zuschauerraum allerdings eine außergewöhnliche Nähe zwischen Sängern und Publikum erlaubt. Die raue, einfache Gestaltung des Raums mit offenem Holzdachstuhl, einem Bühnenportal aus Sichtbeton mit eingelassener Orgel und die Bestuhlung mit Sperrholzsesseln ergeben eine besondere Atmosphäre, die in keinem anderen Opernhaus der Welt zu finden ist.

Man könnte das alte Passionsspielhaus als Musikinstrument mit einer Guarneri vergleichen, deren einzigartiger Klang im Gegensatz zu den Violinen des anderen großen Geigenbauers aus Cremona, Guiseppe Stradivari, angeblich nicht absoluter Perfektion zu verdanken ist, sondern einer genialen, nicht immer regelmäßigen Bearbeitung der Innenflächen des Resonanzkörpers.

Rauheit gegen Perfektion: So könnte auch die aktuelle architektonische Entwicklung um das Festspielhaus charakterisiert werden. Auf den Erfolg der Festspiele folgte bald der Ruf nach einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Das alte Haus aufzurüsten hätte dessen Charakter zerstört und bestenfalls durchschnittliche Bedingungen geschaffen.

Die Erweiterung um eine komplett neue Spielstätte ist das Ergebnis einer „Verrücktheit“, die den in Wörgl geborenen Industriellen Peter Haselsteiner nach seinem ersten Besuch der Festspiele 2004 erfasste. Er erkannte in Gustav Kuhn einen Seelenverwandten: Bayreuth zu übertreffen ist in der kulturellen Arena ein ähnliches Ziel wie in der wirtschaftlichen größter Baukonzern Europas zu werden. Mit der Zusage einer Finanzierung des Projekts mit Nettobaukosten von 13 Millionen Euro konnte 2007 ein Wettbewerb ausgeschrieben werden, an dem einige der besten österreichischen und internationalen Architekten teilnahmen, unter anderem Zaha Hadid, Dietmar Feichtinger und Marte.Marte. Am Ende betrugen die Gesamtkosten 36 Millionen, von denen 20 von Haselsteiner stammen.

Das Siegerprojekt von DMAA (Delugan Meissl Associated Architects) war das einzige, das die Idee des alten Passionsspielhauses weiterdachte und neben die Ikone des Jahres 1959 eine Ikone des Jahres 2007 setzte, ebenfalls mit wenigen klaren Linien in die Landschaft gezeichnet. Formal greifen DMAA auf ein Repertoire zurück, das sie ähnlich bereits beim Porsche Museum in Stuttgart und beim Filmmuseum in Amsterdam benutzt haben. Das Muster passt hier freilich perfekt, und wer dem spitzen Dachwinkel Formalismus vorwerfen möchte, müsste das auch beim Schwung des alten Passionshauses tun. In beiden Fällen liegt der Unterschied zwischen formalistischer Kulisse und Architektur in der Bewältigung des Übergangs zwischen außen und innen, und da bewähren sich die beiden Spielstätten in Erl auf ihre jeweils eigene Art. Das großzügige Foyer des Neubaus verbindet mit seinem leicht geneigten Boden zwei Zugangsniveaus und bietet präzise gefasste Ausblicke in die Umgebung, sowohl von der Eingangsebene als auch von einem Außenbalkon auf dem Niveau der Galerie.

Der Saal, der mit seiner gefalteten Holzvertäfelung die Motive des Baukörpers weiterführt, ist flexibel. So gibt es etwa kein fixes Bühnenportal, wodurch er sich für Konzerte in einen allseits holzvertäfelten Raum verwandeln lässt. Die Sichtbedingungen sind optimal, und die Akustik, für die Karl-Bernd Quiring verantwortlich zeichnet, ist in den ersten Kritiken als hervorragend eingestuft worden. Das Haus für Mozart, das man sich für Salzburg immer gewünscht hat, steht jetzt in Erl.

Für DMAA ist das Projekt ein weiterer Schritt in der Entwicklung einer Formensprache, die sie inzwischen mit höchster Virtuosität bis ins Detail beherrschen. Mit einem ähnlichen, noch stärker ins Skulpturale gesteigerten Entwurf für das Victoria & Albert Museum in Dundee sind sie 2010 in der zweiten Runde eines Wettbewerbs an Kengo Kuma gescheitert, der unter der Ansage des „Anti-Objects“ erfolgreich einen eigenen, diffuseren Formalismus propagiert. Ob die Zukunft der Architektur in noch höherer Perfektion liegt oder in der Fähigkeit, Störungen aufzunehmen und sie in eine positive Kraft zu wenden? Stradivari oder Guarneri: Man darf gespannt sein, wie DMAA sich in diesem Match in Zukunft positionieren.

Spectrum, Sa., 2013.01.05



verknüpfte Bauwerke
Festspielhaus der Tiroler Festspiele Erl

07. Dezember 2012Christian Kühn
Spectrum

Gegen die Wand

Ein schöner Saal, keine Frage. Aber wieso sieht das neue Musiktheater der Wiener Sängerknaben von außen aus wie ein Schiffsunglück?

Ein schöner Saal, keine Frage. Aber wieso sieht das neue Musiktheater der Wiener Sängerknaben von außen aus wie ein Schiffsunglück?

Man muss den Sängerknaben gratulieren. Ihr Traum ist wahr geworden: Am 9. Dezember eröffnen sie ein eigenes Musiktheater im Augarten, nur ein paar Gehminuten von ihrem Stammsitz, dem gleichnamigen Schloss, entfernt. Das neue Haus heißt „MuTh“, was für Musik und Theater steht, aber auch für „Mut zum Neuen“, den man bisher kaum mit den Sängerknaben verbunden hat.

Das ist kein Zufall. Die Sängerknaben haben sich in den letzten Jahren entwickelt, im Schulangebot und auch musikalisch. Das neue Haus, das vor allem junge Menschen für Musik begeistern soll, ist ein Botschafter für diese Modernisierung. Wer den Aufführungssaal betritt, findet eine Atmosphäre vor, die mit dem klassischen, irgendwo zwischen Mozartkugeln und Lipizzanern angesiedelten Image der Sängerknaben denkbar wenig zu tun hat. Der gut proportionierte, sehr intim wirkende Zuschauerraum fasst knapp über 400 Besucher. Er ist asymmetrisch aufgebaut, mit einem breit gelagerten Parterre und einer Galerie, die ein wenig an den Konzertsaal der Berliner Philharmonie von Hans Scharoun erinnert. Herzstück des Saals ist eine zwölf mal neun Meter große Bühne mit versenkbarem Orchestergraben, die den Raum sowohl für Konzerte als auch für Musiktheater und Theateraufführungen verwendbar macht.

Eine Täfelung aus kräftig gemasertem Nussholz zieht sich über die gefaltete Oberfläche von Wänden und Decken und vermittelt das Gefühl, im Bauch eines geheimnisvollen Musikinstruments zu sitzen. Tatsächlich haben Material und Faltungen ihre Gründe nicht nur in der architektonischen Idee eines dynamischen Raums, dem die Holzmaserung noch zusätzlich Tempo macht, sondern auch in akustischen Überlegungen. Im vorderen Teil der Decke verschwindet die Technik hinter einem Streckmetallgewebe aus goldgelb eloxiertem Aluminium, das den oberen Raumabschluss leicht und fast durchlässig wirken lässt. Seine akustische Bewährungsprobe hat der Raum in den ersten Tests zur vollen Zufriedenheit bestanden.

Ein guter Saal, keine Frage. Auch die Erschließungsräume, die ihn umgeben, sind hell und großzügig, und die Verbindungstreppen zur Galerie bieten attraktive Durchblicke und Ausblicke aus dem Gebäude.

Vom äußeren Erscheinungsbild des Hauses war bisher nicht die Rede. Mit gutem Grund. Denn so gelungen das Innere des MuTh in vielen Bereichen ist, sein Äußeres stürzt den Betrachter, der sich ihm von der U-Bahnstation Taborstraße nähert, in größte Verwirrung. Ist hier ein U-Boot von einem Tsunami angeschwemmt und von innen so fest gegen die Mauer des Augartens gedrückt worden, dass seine Stahlnähte aufgeplatzt sind? Oder hat sich der Boden unter einer Lagerhalle gesenkt, die dadurch schräg gegen das barocke Häuschen gefallen ist, das die Ecke des Augartens an dieser Stelle markiert?

Um zu verstehen, welche Kräfte hier am Werk waren, muss man weit in die Geschichte des Projekts zurückgehen. Im Jahr 2000 wird der Augarten unter Denkmalschutz gestellt. 2002 beschließt der Wiener Gemeinderat, für die Südostecke des Augartens anstelle der bestehenden Flächenwidmung, die einen viergeschoßigen Schulbau erlaubt hätte, eine Bebauung auf 30% der Fläche mit niedriger Bauhöhe zuzulassen. Das ist vom historischen Bestand her durchaus legitim, befanden sich hier doch bis in die 1970er-Jahre die ehemaligen Gesindehöfe des Palais. Als voraussichtlicher Nutzer sieht sich das in den erhaltenen, straßenseitigen Gesindetrakten untergebrachte Filmarchiv Austria. Ungefähr gleichzeitig melden die Sängerknaben Bedarf für eine neue Spielstätte an. Ab 2004 haben sie dafür auch einen Mäzen, die Pühringer Privatstiftung POK. Ein erster Entwurf für einen unterirdischen Saal vor dem Palais erweist sich als zu teuer. 2005 beauftragt die POK die Architekten Johannes Kraus und Michael Lawugger (archipel) mit dem Konzept eines Kulturforums auf einem ungenutzten Areal annähernd auf der Achse des Palais. Das Projekt, eine Art Landschaftsrelief, das an bestehende Erdwälle anschließt, soll als kulturelle Infrastruktur mit großzügigem Vorbereich gemeinsam von den Sängerknaben und dem Filmarchiv genutzt werden.

Im Februar 2006 diskutieren die beteiligten Institutionen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zwei von archipel ausgearbeitete Alternativen: eine Weiterentwicklung des Kulturforums im Park und eine Variante am Augartenspitz, die den Saal in einen schmalen Streifen an der Parkmauer zwängt. Das Denkmalamt lehnt kategorisch jeden Neubau in der Tiefe des Parks ab. Dafür wird den Sängerknaben explizit zugesagt, am Augartenspitz ein Gesindehaus und die Mauer durch den Neubau ersetzen zu dürfen.

Als die Pläne der Öffentlichkeit vorgestellt werden, melden sich Bürgerinitiativen zu Wort, die unter dem Slogan „Der Augarten darf kein Baugarten werden“ alle Pläne verhindern wollen. Zu einem ersten Erfolg verhilft ihnen das Denkmalamt, das seine Zusage für das Schleifen von Gesindehaus und Mauer zurückzieht. Die Bürgerinitiative hofft, das Projekt damit buchstäblich an die Wand gefahren zu haben.

Doch archipel planen weiter. Das Barockhaus wird integriert, der Neubau hinter der Mauer versteckt. Der großzügige Eingang geht verloren, die Besucher müssen nun seitlich die Augartenmauer entlang, dann rechts durch ein Tor und betreten das MuTh durch einen Nebeneingang. Die von Anfang an problematischen Aspekte des Bauplatzes – zu niedrige Bauhöhe und fehlendes Vorfeld – machen sich noch deutlicher bemerkbar. Die Bauskulptur bäumt sich verzweifelt hinter der Mauer auf, und für die Fassade zum Augarten und die Integration des Gesindehauses bleibt den Architekten nur noch die Option „Augen zu und durch“.

Architekturkritik greift hier zu kurz. Die Schwächen dieses Hauses sind Schwächen einer Kultur, die sich zwanghaft ans Alte klammert und das Neue nur als notwendiges Übel akzeptieren kann. Dass es anders geht, haben etwa Next Enterprise mit ihrem Wolkenturm in Grafenegg bewiesen, der zur musikalischen Attraktion ersten Ranges geworden ist. Dort war es allerdings auch Teil der Wettbewerbsaufgabe für die Architekten, den besten Standort im Park zu finden.

Dem MuTh und seinem schönen Saal wünsche ich viel Erfolg. Aber ein echtes „Happy End“ dieser Geschichte hätte anders ausgesehen: ein Kulturforum im Park mit einem gestalteten grünen Vorfeld für Feste und Filmvorführungen, ein Kinderspielplatz am Augartenspitz und dazwischen ein öffentlicher Durchgang in den Park, den es – nicht zuletzt durch den Widerstand der Sängerknaben, ihren Park zu öffnen – nach wie vor an dieser Stelle nicht gibt.

Spectrum, Fr., 2012.12.07



verknüpfte Bauwerke
„Muth“ - Konzertsaal der Wiener Sängerknaben

24. November 2012Christian Kühn
Spectrum

Stadthaus mit Buckeln

Eingepasst zwischen Biedermeier und Gründerzeit: Das neue „Theoriegebäude“ der Universität Wien ist ein Lern- und Begegnungsort für Wissenschaftler und Studierende.

Eingepasst zwischen Biedermeier und Gründerzeit: Das neue „Theoriegebäude“ der Universität Wien ist ein Lern- und Begegnungsort für Wissenschaftler und Studierende.

Es knirscht wieder vernehmlich im Gebälk des österreichischen Universitätssystems. Gerade werden die Budgets für die nächsten drei Jahre verhandelt, und trotz allen politischen Beteuerungen, wie wichtig Bildung und Wissenschaft für unsere Zukunft sind, bleiben die Universitäten demselben Spardruck ausgesetzt wie andere öffentliche Institutionen. Die Kluft zwischen der steigenden Zahl an Studierenden und den beschränkten Ressourcen wird dadurch immer dramatischer. Den Universitäten fehlt es an Personal und Raum, wobei veränderte Anforderungen für zusätzlichen Druck sorgen. Neben den Räumen für Forschung und Lehre werden zunehmend auch Räume fürs Lernen benötigt, nicht im Sinne von Studierzimmern, sondern als Lern- und Begegnungsorte, an denen Wissen erarbeitet und in Teams ausgetauscht werden kann.

Das neue „Theoriegebäude“ der Universität Wien in der Währinger Straße ist ein Hybridgebäude, das alle diese Funktionen in einer hohen Dichte zur Verfügung stellt. Es geht auf einen Wettbewerb aus dem Jahr 1999 zurück, den die Architektengruppe NMPB für sich entscheiden konnte. Sasa Bradic, der für das B im Büronamen steht, hat das Projekt auf der Basis der damals festgelegten Bebauungsbestimmungen ab 2005 weiterentwickelt. Der Projektname „Theoriegebäude“ deutet schon an, dass man eine eindeutige Festlegung für bestimmte Studienrichtungen vermeiden und eine flexibel nutzbare Struktur schaffen wollte. Das Raumkonzept sieht im Untergeschoß einen Hörsaal und größere Seminarräume vor, in den ersten drei Geschoßen Bibliotheksräume und Arbeitsräume für Studierende, darüber Büroräume mit Kommunikationszonen. Besiedelt wurde das Haus mit Beginn des aktuellen Herbstsemesters von den Fakultäten für Informatik und Publizistik, stark nachgefragten Studien, von deren Unterbringung in einem gemeinsamen Haus man sich über den Bereich der Medientechnologie auch Synergien erwartet.

Der Wunsch, in diesem Haus nicht nur unabhängige Nutzungen zu stapeln, sondern möglichst miteinander zu vernetzen, hat viele Entwurfsentscheidungen beeinflusst. Schon beim Betreten der Eingangshalle fächert sich der Blick in die Tiefe des Gebäudes auf, linker Hand zur Bibliothek, rechts daneben zur breiten Treppe, die ins Untergeschoß zu den Seminarräumen und zum großen Hörsaal führt, und schließlich wieder hinaus in den Innenhof, der öffentlich durchgängig bleibt und eine Verbindung zu den Fakultätsgebäuden des Alten AKH bietet. Die Verglasungen im Erdgeschoß und im ersten Stock lassen den Raum äußerst großzügig wirken, obwohl hier jeder Quadratmeter intensiv genutzt wird. Erweitert wird der Raum durch einen gläsernen Zubau, über den der Vorbereich zu den Seminarräumen im Untergeschoß belichtet wird.

Das Gebäude wurde unter maximaler Ausnutzung der Bebauungsbestimmungen auf das Grundstück gesetzt. Es füllt die Baulücke zur Währinger Straße mit einem bis zu achtgeschoßigen Trakt aus, ein zweiter Trakt in derselben Höhe schließt an der südlichen Grundgrenze L-förmig an. Durch seine Höhe unterliegt das Gebäude bereits den Bestimmungen für Hochhäuser, mit allen zusätzlichen Komplexitäten für den Brandschutz, die aus einem einfachen Stiegenhaus eine Hightech-Maschine mit speziellem Feuerwehraufzug machen. Trotzdem bekommt auch dieses Stiegenhaus nicht nur Licht über Fenster zum Nachbargrundstück, sondern ist auch nach innen zu den Kernzonen der Institutsräume hin verglast. Das Brandschutzglas, das hier verwendet wurde, ist teuer, aber gut investiert: Das Stiegenhaus wirkt hell und großzügig, und die Vorbeigehenden können einen Blick in die Kommunikationszonen ihrer Nachbarn werfen.

Aus- und Einblicke bestimmen auch die Fassade des Gebäudes, die eine Lücke zwischen zwei Gründerzeitbauten ausfüllt, deren Straßenfluchten in einem leichten Winkel zueinander stehen. Die neue Fassade greift beide Fluchten auf, nimmt sich aber in der Mitte die Freiheit, mit den Ebenen zu spielen und sie in verschiedenen Geschoßen schräg miteinander zu verschränken. Dieser Effekt macht die Fassade lebendig und einigermaßen verträglich zu den Nachbarn, die sie zwangsläufig an Höhe überragen muss. Mit kleinen Details – etwa einer gläsernen seitlichen Verkleidung über dem vierten Obergeschoß – wird den Baumassen Gewicht weggenommen, mit dem sie visuell das viergeschoßige Nachbargebäude erdrücken würden. Annähernd im Zentrum der Fassade zeigt eine über zwei Geschoße reichende Verglasung, dass es sich hier nicht um ein normales Bürogebäude handelt. Dahinter liegt eine Arbeits- und Aufenthaltszone für Studierende mit einem aufs absolute Minimum reduzierten, aber trotzdem effektvollen Luftraum, der zumindest einmal auch in den Bürogeschoßen eine höhere Vertikalspannung erzeugt.

Effektvoll ist außerdem die Oberfläche der geschlossenen Fassadenelemente. Es handelt sich um Fertigteile aus Sichtbeton mit einer speziell gestalteten, leicht buckeligen und sehr glatten Oberfläche, die je nach Licht ganz unterschiedlich zur Wirkung kommt: eine dezente graue Haut, die plötzlich lebendig wird, sobald direktes Sonnenlicht auf sie fällt. Ein halbes Jahr haben die Architekten an diesem Element gearbeitet und mit Materialien experimentiert, unter anderem mit einem neuartigen Leichtbeton, der ohne zusätzliche Wärmedämmung auskommt. Am Ende kam doch ein konventioneller Beton zum Einsatz, mit einer harten, wie poliert wirkenden Oberfläche.

Hinter der Oberfläche verbergen sich bei diesem Projekt zahlreiche Komplexitäten der Fundierung und Statik, die vom Tragwerksplaner Robert Schedler von FCP zu lösen waren. Es ist umso bemerkenswerter, dass das Gebäude im geplanten Kosten- und Zeitrahmen errichtet wurde. Das Zusammenspiel von Bundesimmobiliengesellschaft als Bauherr, den universitären Nutzern und den Architekten und Fachplanern hat hier offensichtlich gut funktioniert.

Wer von den Universitäten Innovation einfordert, muss ihnen auch Raum und Personal geben. Dass sich die Politik im Moment vorsichtig der Tatsache zu stellen beginnt, dass das Missverhältnis zwischen Ressourcen und Studierenden in vielen Studienrichtungen untragbar ist, darf als positives Zeichen gewertet werden. Mit einem Plan in Richtung Studienplatzfinanzierung und der Ankündigung, in stark nachgefragten Studien wie Wirtschaftswissenschaften und Architektur sofort knapp 100 neue Professuren zu schaffen, sind zumindest erste Schritte gesetzt. Es bleibt zu hoffen, dass die Geldgeber in den Ministerien die Finanzkrise nicht zum Anlass nehmen, billige Lösungen einzufordern, wo kreative, nachhaltige und damit letztlich preiswerte gefragt sind.

Spectrum, Sa., 2012.11.24

27. Oktober 2012Christian Kühn
Spectrum

Wenn der Sachzwang baut

Zwei Jahrzehnte wurde um dieses Projekt gestritten, 490 Millionen Euro wurden investiert. Im November steht die Eröffnung an. Hat sich der Aufwand gelohnt? Wien Mitte, ein Lokalaugenschein.

Zwei Jahrzehnte wurde um dieses Projekt gestritten, 490 Millionen Euro wurden investiert. Im November steht die Eröffnung an. Hat sich der Aufwand gelohnt? Wien Mitte, ein Lokalaugenschein.

Vor 150 Jahren war hier der „Bauchvon Wien“: Nach dem Vorbild der Pariser Markthallen errichtete die Stadt 1864 an der Landstraßer Hauptstraße eine Großmarkthalle, die später um eine Fleisch- und eine Viktualienhalle ergänzt wurde. Sie bildeten ein Ensemble beiderseits einer Brücke, die über die damals noch offenen Gleisanlagen und den Wienfluss Richtung Stadtzentrum führte.

Von diesem Ensemble ist längst nichts mehr übrig. 1957 wurde hier das erste Shoppingcenter Wiens eröffnet, das „Ausstellungs- und Einkaufszentrum“ (AEZ), mit der längsten Rolltreppe Österreichs und einem Autolift, der bis auf die Dachterrasse führte. Als Pendant entstand gegenüber das wegen seiner blauen Parapetbänder so genannte „Blaue Haus“, ein Bürogebäude mit den Abgängen zu U- und Schnellbahn. 1979 wurde die letzte verbliebene Markthalle abgerissen, und an ihrer Stelle wurde ein düsteres Markt- und Garagengebäude errichtet, das den schon seit Jahren spürbaren Niedergang des Areals besiegelte.

1985 entwickelten Roland Rainer und Hermann Knoflacher im Auftrag der Stadt einen Plan für die Sanierung des Areals, der eine Blockrandbebauung mit 94000 Quadratmeter Bruttogeschoßfläche vorsah. Damit war für die ÖBB als Eigentümer ein erstes Maß für die Verwertbarkeit des Areals vorgegeben. Wie alle Europäischen Bahnen träumten auch die ÖBB seit Ende der 1980er-Jahre davon, ihre wertvollen zentrumsnahen Grundstücke zu Geld zu machen. 1990 wurden diese Hoffnungen in einem ersten Wettbewerb für das Areal konkretisiert, den die Architekten Laurids und Manfred Ortner für sich entscheiden konnten: Aus den ursprünglich 94000 Quadratmetern wurden 11.0000, verteilt auf mehrere schlanke Türme, die sich in der Höhe am benachbarten Hotel Hilton mit 65 Metern orientierten. Obwohl 1993 ein entsprechender Bebauungsplan im Gemeinderat beschlossen wurde und mit der B.A.I. ein Investor gefunden war, kam es zu keiner Realisierung. Die Absage der Weltausstellung EXPO 95 hatte zu einem Sinken der Büromieten in Wien geführt, die das Projekt wirtschaftlich zu riskant erscheinen ließen.

1998 legten die Projektentwickler einen neuen Plan vor, in dem die Nutzfläche nochmals auf 13.6000 Quadratmeter und die Türme auf bis zu 120 Meter gewachsen waren. Trotz massiver Proteste von Bürgerinitiativen wurde im Mai 2000 im Gemeinderat ein Bebauungsplan beschlossen, der den Investoren ein Projekt mit einem 42 Meter hohen Sockel und vier Türmen zusicherte, drei davon 87 und einer 97 Meter hoch. Auch das Planungsteam änderte sich: Zu Ortner und Ortner kamen die Büros Neumann und Steiner sowie Lintl und Lintl.

Gestoppt wurde das Projekt nicht von der Bürgerinitiative, der sich inzwischen auch Altbürgermeister Helmut Zilk angeschlossen hatte, nicht von namhaften Architekten, die weniger gegen die Höhe an sich als gegen die miserable Qualität des Projekts protestierten, und auch nicht von der Tatsache, dass die UNESCO 2001 die Innere Stadt zum Weltkulturerbe erklärte. Das waren für die Investoren nur Vorwände, sich von einem riskanten Projekt mit niedriger Rendite zu verabschieden. Das beste Indiz dafür ist, dass der 87 Meter hohe Turm des Justizzentrums an der Marxergasse, jener Teil des Projekts, der baurechtlich und technisch die geringsten Probleme aufwarf und einen zahlungskräftigen Mieter in Aussicht hatte, 2003 ohne Skrupel realisiert wurde.

Für den Rest des Areals hieß es aber 20 Jahre nach den ersten Planungen wieder zurück an den Start. Die B.A.I. wurde mit sanftem Druck der Stadt wieder ins Boot geholt und sollte mit ihrem neuen Geschäftsführer, Thomas Jakoubek, der sich unter anderem mit der Entwicklung des T-Center in St. Marxeinen Namen gemacht hatte, den „Sauhaufen“ (Bürgermeister Michael Häupl) in Ordnung bringen.

2003 kam es zu einem städtebaulichen Wettbewerb, den die Architekten Henke und Schreieck für sich entscheiden konnten. Das Projekt überzeugte durch eine u-förmige Blockrandbebauung, im Erdgeschoß durchlässig und mit mehrgeschoßigen Stadtfoyers zur Umgebung geöffnet, ergänzt durch eine dichte Bebauung im Inneren, die sich Richtung Justizzentrum in die Höhe schraubt und an der Marxergasse eine Art Skyline ausbildet.

Dass dieses Projekt nicht 1:1 realisiert werden konnte, war jedoch von Anfang an klar: Es hatte von allen Einreichungen die geringste Nutzfläche und lag 20.000 Quadratmeter unter der Vorgabe. Ohne Henke und Schreieck – die ja nur den städtebaulichen Wettbewerb gewonnen hatten – weiter einzubeziehen, knetete das Team um Ortner und Neumann so lange am Projekt, bis die 12.0000 Quadratmeter wieder erreicht waren. Der dafür sinnvollste Weg, den Turm Richtung Justizzentrum um ein paar Geschoße zu erhöhen, war leider versperrt: DerKotau der Stadt Wien gegenüber den Welterbe-Fundamentalisten, die Qualität in Höhenmetern messen, war schon damals vollkommen. Verloren haben die öffentlichen Flächen und Durchgänge im Erdgeschoß, die zugunsten der Shoppingmall auf ein Minimum reduziert wurden, und die Proportion der Blockrandbebauung, die höher ausfiel als ursprünglich vorgesehen.

Trotzdem ist Wien Mitte deutlich besser als das, was ein Projekt nach den Plänen des Jahres 2000 der Stadt beschert hätte. Der architektonisch interessanteste Bereich, die Staffelung der Baumassen im Innenhof, ist für die breitere Öffentlichkeit kaum sichtbar, da anstelle des von Henke und Schreieck vorgesehenen Glasdachs nur ein ovaler Deckendurchbruch ausgeführt wurde. Die Obsession der Planer fürs Ovale macht sich auch in der Fassade zur Gigergasse mit ihren großen, unmotivierten Bullaugen bemerkbar. Zur Landstraße hin bemühen sich hinterleuchtete Stützen aus Mattglas und eine von der Künstlerin Esther Stocker gestaltete schräge Decke aus Sichtbeton, einen Hauch von Las Vegas zu verbreiten, und in der Mall wird die Besucher eine 7,5 Meter hohe, schwebende Aluminiumskulptur von Louise Bourgeois empfangen.

Diese Kunstwerke runden das Bild ab, das Wien Mitte heute bietet: ein Monstrum – im ursprünglichen Wortsinn eines Mahnzeichens –, dem die über Jahrzehnte angehäuften Sachzwänge in allen Gliedern stecken. Ins 19. Jahrhundert, in die lebendigen Viktualien- und Fleischmärkte, führt kein Weg zurück. Wir müssen uns Frankenstein als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Spectrum, Sa., 2012.10.27

29. September 2012Christian Kühn
Spectrum

Die breite Spitze der Baukunst

Sichtbeton, rostroter Stahl und Kalkstein aus Istrien: Hubmann und Vass gestalteten den neuen Zugang zum Schloss Rivoli in Turin. Was macht dieses Projekt zu einem von Europas besten Bauten?

Sichtbeton, rostroter Stahl und Kalkstein aus Istrien: Hubmann und Vass gestalteten den neuen Zugang zum Schloss Rivoli in Turin. Was macht dieses Projekt zu einem von Europas besten Bauten?

Bergsteiger wissen, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten nur selten die gerade Linie ist. Sobald man sich nicht im abstrakten Raum, sondern in der wirklichen Welt von A nach B bewegt, wird der Begriff „kurz“ vieldeutig und bezeichnet nicht nur eine gemessene Länge, sondern auch die Anstrengung einer durchschrittenen Zeit und das mehr oder weniger „kurzweilige“ Erlebnis einer zurückgelegten Wegstrecke.

Das Schloss Rivoli in Turin, ein Palazzo aus dem 18. Jahrhundert, liegt auf einem Hügel, der ursprünglich als monumentale Terrassenanlage geplant war. Nach der Einstellung des Baus blieb davon nur ein Schüttkegel, über den eine schmale Straße in Serpentinen nach oben führte. Der Hauptzugang zum Schloss, das heute als Museum für zeitgenössische Kunst genutzt wird, lag bisher seitlich, abgewandt vom Zentrum der Stadt Turin, von wo aus die Alleestraße des Corso Francia kilometerlang auf das von Weitem sichtbare Schloss zuläuft.

2002 schrieb die Stadt einen Wettbewerb für die Neugestaltung des Zugangs aus, der die Schlossterrasse mit dem Straßengewirr am Fuß des Hügels und mit einer in Zukunft hier mündenden U-Bahn-Station verbinden sollte. Erich Hubmann und Andreas Vass, die bereits den Vorbereich zur Alhambra im spanischen Granada gestaltet haben, konnten den Wettbewerb mit einem Projekt für sich entscheiden, das den Berg gewissermaßen mit dem Seziermesser aufschneidet und ihm ein System von Rolltreppen, Rampen und Überdachungen implantiert, das die Besucher in Etappen von Ausblick zu Ausblick und schließlich auf die Schlossterrasse führt.

Die Konsequenz, mit der dieser Grundgedanke umgesetzt wurde, ist eine Meisterleistung. Der Steilhang wurde mit Spannankern gesichert, die Bergflanke unterfangen, mit Auskragungen, die bis zu fünf Meter betragen. Der Weg führt über unterschiedliche Bodenbeläge: Kalkstein, buckelige Kieselflächen, Asphalt. Die Überdachungen sind in Cortenstahl ausgeführt, Stützmauern in unterschiedlich eingefärbtem Beton und Naturstein. Aus der banalen Aufgabe, einen Weg zwischen zwei Punkten herzustellen, ist hier ein architektonisch durchgestalteter Raum geworden, der in den Hügel hineinführt und streckenweise unter der Serpentinenstraße durchtaucht. Der Weg ist eine Erweiterung des Museums, das nun nicht erst oben auf dem Berg beginnt, sondern schon unten in der Stadt. Dass jedes Element beinahe Innenraumqualität hat, ist aus dieser Perspektive betrachtet keine Verschwendung, sondern konsequent.

Der neue Zugang zum Schloss Rivoli ist – gemeinsam mit dem Museumseinbau in Stift Altenburg von Jabornegg & Palffy – eines von zwei Projekten österreichischer Architekten, das aus insgesamt 343 nominierten in die engere Wahl für den aktuellen Mies-van-der-Rohe-Preis aufgenommen wurde. Der Auswahlprozess für diese wichtigste, mit 80000 Euro dotierte europäische Auszeichnung für Architektur ist so komplex wie die EU selbst: Architektenkammern, Architekturzentren und -museen haben ein Nominierungsrecht, sowohl direkt für Projekte als auch indirekt durch die Nennung weiterer Experten; Architekten aus allen Ländern der EU können für den Preis vorgeschlagen werden, auch mit Projekten außerhalb Europas; Norwegen, Island und Liechtenstein sind dabei, ebenso die Kandidatenländer aus Ex-Jugoslawien und die Türkei, die Schweiz nicht (was für einen europäischen Architekturpreis einen Schönheitsfehler darstellt). Eine Jury aus sieben Personen, zu der neben früheren Preisträgern auch Architekten und Kritiker gehören, die von außerhalb der EU kommen, nimmt aus den Einreichungen rund 40 Projekte in die engere Wahl und wählt daraus sieben Finalisten. Diese Projekte werden von der Jury besucht, und unter ihnen werden schließlich zwei Preise vergeben, ein Hauptpreis und einer für das beste junge Büro. Eine Ausstellung der Projekte der engeren Wahl reist danach durch Europa und ist noch bis 8.Oktober im Architekturzentrum in Wien zu sehen.

Der Preis, der seit 1988 alle zwei Jahre vergeben wird, ist ein Gradmesser für den Stand der architektonischen Kultur Europas. Er ist nicht objektiv, sondern das Ergebnis zahlreicher Annahmen und Vorurteile über das, was architektonische Qualität ausmacht: Die Homepage www.miesarch.com gibt einen faszinierenden Überblick über die Geschichte der neueren Architektur im Spiegel ihrer Selbstkritik. Dass heuer mit David Chipperfields Neuem Museum in Berlin und dem Collage-Haus von Boch und Capdeferro in Girona zwei Projekte die Hauptpreise erhielten, die vom Bestand leben – einmal im großen Maßstab eines Museums und einmal im kleinen eines Wohnhauses –, ist bezeichnend. Hier schiebt sich derzeit ein europäisches Klischee des vorsichtigen Weiterbauens in den Vordergrund, das sich bei genauerer Betrachtung als zumindest problematische – weil in erster Linie ästhetische – Antwort auf die Forderung nach Nachhaltigkeit im Bauen erweist.

Ist Chipperfield nun der beste Architekt Europas? Diese Frage geht an der Intention des Preises vorbei. Dessen Ziel ist es, architektonische Projekte höchster Qualität auf eine Spitze hin auszurichten und damit die Qualitätsdiskussion anzuregen. Summiert man die Ergebnisse der nationalen und internationalen Architekturpreise, zeigt sich, wie breit diese Spitze in Wahrheit ist. Für die österreichische Szene liegt nun schon in der dritten Ausgabe ein Buch vor, das genau diese Zusammenschau leistet: der von Kulturministerin Claudia Schmied alle zwei Jahre in Auftrag gegebene Band „Best of Austria“. Hier sind so gut wie alle Ergebnisse österreichischer und die renommiertesten internationalen Preise berücksichtigt und in kurzen Projektdarstellungen auf 270 Seiten präsentiert. 430 Namen zählt die Liste der Architekten und Architektinnen. Dieses Buch gehört in jeden Haushalt, vor allem in die öffentlichen, die sich fragen müssen, warum trotz dieser breiten Spitze noch immer so viel Mist in diesem Land gebaut wird.

Spectrum, Sa., 2012.09.29

08. September 2012Christian Kühn
Spectrum

Was hält uns zusammen?

Die Architekturbiennale in Venedig nimmt sich diesmal die ganz großen Fragen vor. Und überhebt sich dabei gewaltig.

Die Architekturbiennale in Venedig nimmt sich diesmal die ganz großen Fragen vor. Und überhebt sich dabei gewaltig.

In den Sprachwissenschaften versteht man unter „Common Ground“ die gemeinsame Vorstellungswelt, die es Gesprächspartnern erst erlaubt, sich zu verständigen. David Chipperfield hat diesen Begriff aus zwei Gründen als Leitthema für die heuer von ihm kuratierte Architekturbiennale gewählt. Einerseits sei es ihm um den „Common Ground“ zwischen Architektur und Gesellschaft gegangen: Ist die Architektur als Profession hellhörig genug für das, was die Gesellschaft von ihr erwartet, und kann sie umgekehrt ihre Anliegen verständlich machen? Andererseits müsse sich die Architektur der Frage nach ihrem eigenen „Common Ground“ stellen, nach der Summe an Erkenntnissen und Erfahrungen, die sie von anderen Professionen unterscheidet, die sich ebenfalls der Gestaltung der gebauten Umwelt widmen.

Das sind wichtige Fragen, und man durfte gespannt sein, ob Kazuo Sejimas fabelhafte Biennale von 2010 heuer eine angemessene Fortsetzung finden würde. Sejima hatte unter dem Leitthema „People Meet in Architecture“ eine sehr gelassene Ausstellung kuratiert, die faszinierende Rauminstallationen mit historischen Rückblicken und Beiträgen aus der Kunstszene verband und auch ihr eigenes Werk ohne falsche Bescheidenheit in Szene setzte. Auch damals ging es um einen „Common Ground“, allerdings um jenen, zu dem Architektur wird, wenn sie Menschen hilft, sich in ihr zu begegnen.

Wer David Chipperfields Architektur kennt, durfte eine systematischere, empirisch ausgerichtete Ausstellung erwarten, die an Chipperfields eigener Vorstellung eines architektonischen „Common Ground“ Maß nehmen würde: einem tiefen Verständnis der Architektur- und Kulturgeschichte, das nicht zur Kopie verleitet, sondern zum souveränen Umgang mit Referenzen fähig macht. Um dieses Konzept umzusetzen, hätte es freilich eine selektive Einladungspolitik und klare Vorgaben gebraucht, zu denen sich Chipperfield aber nicht durchringen wollte oder konnte. So begegnet man jetzt weitgehend den üblichen großen Namen und vielen Freunden aus Chipperfields Netzwerk, die in ihren Beiträgen recht beliebig über den „Common Ground“ spekulieren dürfen. So richtig Feuer haben dabei nicht einmal die Akteure gefangen, deren bekannt konservative Positionen hier einmal Gelegenheit gehabt hätten, sich in der ersten Reihe zu präsentieren. Hans Kollhoff zeigt Projekte von Studierenden, die über die Jahre seiner Lehrtätigkeit an der ETH Zürich entstanden sind, ein Gipsmuseum klassizistischer Langeweile, Vittorio Magnano Lampugnani den „Novartis Campus“ in Basel, als Privatstadt eines Pharmakonzerns ein zweifelhaftes Vorbild für einen harmonischen Städtebau.

Gleich daneben finden sich Beiträge von Norman Foster, Zaha Hadid und Herzog & de Meuron, was durchaus interessant sein könnte, da sie ja für ganz andere Vorstellungen eines „Common Ground“ stehen: Foster für eine technoide Spätmoderne, die weiterhin an eine weltweit verständliche Sprache glaubt, Hadid für einen biotechnischen Determinismus, der sich inzwischen unter dem von Patrik Schumacher geprägten Begriff „Parametrismus“ als neuer globaler Stil zu verkaufen versucht, und Herzog & de Meuron als Kontextualisten, die nicht am Urgrund der Architektur interessiert sind, sondern in jeder Situation ein spezielles Potenzial entdecken und aktualisieren wollen. Stattdessen sieht man in allen drei Fällen entweder oberflächliche oder desinteressierte Präsentationen, die wenig zum Thema beitragen. In Fosters Installation füllen Projektionen von Architektennamen in kleiner, fast unleserlicher Schrift den Raum und scheinen wie Ameisen über das Publikum zu laufen, während großformatige Projektionen an den Wänden abwechselnd aufgeregte Menschenmassen im öffentlichen Raum und ruhige Architekturszenen zeigen. Hadid/Schumacher präsentieren schöne Modelle, Herzog & de Meuron ihre Elbphilharmonie in Hamburg als Pressespiegel ohne weiteren Kommentar.

Dazwischen gibt es viel und auch manches Interessante zu sehen, in Summe bleibt der Besucher der von Chipperfield kuratierten Beiträge aber ratlos zurück. Erinnern wird man sich an Thomas Demands großformatige Fotos von Modellen des Architekten John Lautner, winzige Details in praller Materialität, daneben gespensterhafte Originalfotos von Modellen aus den russischen WchUTEMAS der 1920er-Jahre. Im Dachgeschoß des Hauptpavillons zeigen Rem Koolhaas/AMO eine Dokumentation über scheinbar anonyme „Beamtenarchitektur“ aus mehreren europäischen Ländern, erstaunlich experimentelle Projekte mit wechselvoller Geschichte. Nur für Insider eine Reise wert ist Valerio Olgiatis Beitrag: Er lud Kollegen ein, ihm jeweils bis zu neun Abbildungen aus ihrem Bilderkosmos zur Verfügung zu stellen, Bilder, die ihnen wichtig sind, nicht unbedingt von eigenen Arbeiten. Auf einem großen Tisch unter niedriger Decke aufgelegt, wird daraus ein Spiel von Identitäten, denen nachzurätseln durchaus ein Vergnügen ist.

Unter den Länderpavillons stechen die Niederlande mit einer Rauminstallation der Architektin und Künstlerin Petra Blaisse hervor, einem beweglichen Vorhang, der alle paar Minuten seine Position verändert und den Raum anders teilt. Im französischen Pavillon werden drei Stadtentwicklungsgebiete an der Pariser Peripherie präzise und unaufgeregt präsentiert, im englischen geht es um Inspiration durch Projekte aus anderen Ländern. Der deutsche Pavillon setzt zum Thema reuse/reduce/recycle auf eine bewusst unspektakuläre Gestaltung: Ein an die Seite verlegter Eingang, raumhohe Fotos von intelligenten Zu- und Umbauten, verbunden durch die Stege, die in Venedig bei Hochwasser den Gehsteig ersetzen: Viel mehr hat es nicht gebraucht, um dem Pavillon sein Pathos zu nehmen und ihn zu einem angenehmen Alltagsort zu machen.

Im österreichischen Pavillon hat man das Gegenteil versucht: Eine bedeutungsschwangere Inszenierung von Wolfgang Tschapeller, die auch auf die Kunstbiennale gepasst hätte. Es geht um die Frage, was uns zusammenhält, wenn der menschliche Körper selbst zum gestalteten Objekt geworden ist. Ästhetisch ist die Installation durchaus gelungen: Eine Spiegelwand teilt den Raum, Projektionen zeigen schwebende, computeranimierte Figuren, die sich teilweise zu einem Knäuel zusammenballen, teilweise allein oder in Zweiergruppen einen „danse macabre“ aufführen und sich an ihren Extremitäten auflösen.

Nach der Marktschreierei, die Eric Owen Moss als Onkel aus Amerika letztes Jahr im österreichischen Pavillon aufführen durfte, ist man hier am anderen Ende der Skala angekommen: beim tiefgründigen Geraune, zu dessen Aufklärung auch der Katalog nichts beitragen will. So wie die gesamte Biennale hat sich auch dieser Beitrag mehr vorgenommen, als in der kurzen Vorbereitungszeit zu leisten war. Um wieder zu einem Zentrum des Architekturdiskurses zu werden, wird die Biennale wohl tatsächlich einen Neuanfang brauchen.

Spectrum, Sa., 2012.09.08

18. August 2012Christian Kühn
Spectrum

Mit leichtem Schwindel

Er wird wohl noch jahrelang die Gerichte beschäftigen, der Terminal 3 am Wiener Flughafen, vormals Skylink. Architektonisch ist er ein neuer Typus von Terminal, in dem man sich erst zurechtfinden muss.

Er wird wohl noch jahrelang die Gerichte beschäftigen, der Terminal 3 am Wiener Flughafen, vormals Skylink. Architektonisch ist er ein neuer Typus von Terminal, in dem man sich erst zurechtfinden muss.

Zum Trost gibt es Berlin: Offensichtlich war der Wiener Flughafen nicht der einzige, der sich bei der Errichtung eines Gebäudes überhoben hat. Der weitgehend neu errichtete Flughafen Berlin-Brandenburg in Schönefeld, der heuer im Mai mit einer Verzögerung von bereits zwei Jahren hätte in Betrieb gehen sollen, konnte seine Brandschutztechnik nicht in den Griff bekommen. Die Eröffnung wurde auf 2013 verschoben, die Kosten sind von 2,5 Milliarden Euro auf 4,2 Milliarden Euro gestiegen, für das Terminalgebäude allein von 630 Millionen auf voraussichtlich eine Milliarde. Das aktuelle Passagieraufkommen der beiden Flughäfen ist durchaus vergleichbar: 21 Millionen in Wien und 25 Millionen in Berlin, sobald dort die drei bisherigen Standorte in Schönefeld zusammengefasst sind.

Muss man den Skylink – der inzwischen vom Flughafen nur noch Terminal 3 genannt wird – vielleicht am Ende gar als kostengünstiges Projekt bezeichnen? Wohl kaum. Er wird noch jahrelang ein Fall für die Gerichte bleiben. Allein die Summe der Planungshonorare betrug überproportionale 120 Millionen Euro, von denen rund 40 in die Haustechnik und 20 in die Architekturplanung geflossen sind. Der Rest von 60 Millionen ging an rund 160 Sonderplaner, Konsulenten und Projektsteuerer, die der Reihe nach von den wechselnden Vorständen gerufen wurden, um das stockende Projekt wieder flottzumachen. Zum verlorenen Aufwand gehört auch der Schadenersatz, den Architekt Sepp Frank, der beim Wettbewerb im Jahr 1999 einen der beiden ersten Preise erhalten hatte, wegen Verletzung von Nutzungsrechten seiner Pläne vom Obersten Gerichtshof im Jahr 2011 zugesprochen bekam, immerhin in der Höhe von 20 Prozent des Vorentwurfshonorars. Im Lauf der Zeit hatte sich das Projekt in mehreren Punkten, unter anderem der Lage des Piers, seinem Konzept aus dem Jahr 1999 angenähert.

Wie der Mix aus Fehlplanung, Misswirtschaft, Korruption und Parteienfinanzierung bei diesem Projekt tatsächlich ausgesehen hat, wird sich wohl erst klären lassen, wenn ein Insider sein Wissen preisgibt. Die schwierige Projektgeschichte hatte aber auch Ursachen, die außerhalb des Einflussbereichs des Flughafens lagen. Vor allem 9/11 führte zu drastischen Veränderungen des Projekts, da man einerseits mit einer Stagnation der Passagierzahlen rechnete, andererseits neue Sicherheitsstandards einführen musste. Genau in solchen Situationen zeigt sich die Qualität des Projektmanagements. Im Unterschied zum Flughafen Berlin, wo das nun geschasste Büro Gerkan, Marg und Partner auch Generalplaner war, blieb das Projektmanagement in Wien aber immer in der Hand des Flughafens selbst, der sich nach Vorstands- und nachfolgenden Konsulentenwechseln immer mehr in eine Sackgasse manövrierte. Erst mit der Bestellung von Norbert Steiner, dem ehemaligen Projektleiter des Regierungsviertels in St. Pölten und der ÖBB-Bahnhofsoffensive, gelang 2009 ein Neustart, bei dem alle Verträge gekündigt und neu verhandelt wurden. Es ist Steiners Verdienst, dass die Kostensteigerung gestoppt, das Projekt mit einem realistischen Terminplan fertiggestellt und ohne Pannen in Betrieb genommen werden konnte.

Und das Ergebnis? Ein Terminal ist in erster Linie eine Verteilungsmaschine, in der Menschen und Gepäckstücke möglichst flüssig und stressfrei an ihr Ziel gelangen sollen. Zugleich ist er eine ästhetische Visitenkarte für die Stadt und ein Maßstab für deren Fähigkeit, komplexe Probleme zu lösen. Als ästhetische Visitenkarte ist der neue Terminal jedenfalls der maximale Kontrast zum bisherigen, dessen konturloses Innenleben wirkte wie das Badezimmer eines Lottogewinners mit einem Faible für Naturstein und Bronze. Die Architekten des neuen Terminals, Baumschlager-Eberle in Partnerschaft mit Itten/Brechbühl, haben für den Skylink dagegen einen neuen Typus entwickelt, der mit seinen beiden konzentrisch geführten Hallen, einer viergeschoßigen für die Ankunft und einer dreigeschoßigen für den Check-In, jedenfalls Eindruck macht. Die Ankunftshalle – durch die freilich auch ein guter Teil der abfliegenden Passagiere muss, nämlich alle, die mit Bus oder Bahn anreisen sowie die meisten Parkhausbenutzer – ist introvertiert und schluchtartig, ein Raum, der aufgrund seiner Krümmung einen leichten Schwindel erzeugt. Einem stressfreien Reiseantritt ist das nicht förderlich, vor allem, wenn man unter Zeitdruck die versteckt liegenden Rolltreppen und Lifte nach oben zum Check-In sucht.

Die Abflughalle und der „Pier“ – das 450 Meter lange Steggebäude mit den einzelnen Abflug–Gates – bieten dagegen durchgängig einen Blick nach außen und folgen einer klaren Logik. Der Pier ist mit seinen drei Ebenen das eigentliche logistische Wunderwerk des Flughafens. Begriffe wie „Passagiergefäß“ und „Vereinzelungsanlage“ deuten schon an, dass Menschen in dieser von 2000 Kameras überwachten Welt betrachtet werden wie Wassermoleküle in einem Leitungssystem. Vor allem bei der Ankunft wirken die Gänge und Rolltreppen in diesem System beengend, ein Seiteneffekt der optimierten Logistik, die alle Wege trennt, während sich in anderen Flughäfen oft mehrere Bewegungsströme einen Weg teilen müssen,der dann subjektiv großzügiger wirkt.

Eine Fehlentscheidung wird der Akzeptanz des neuen Terminals aber dauerhaft zu schaffen machen: der schwarze Boden aus Kautschuk. Von den Architekten war ein weißer, leicht gesprenkelter Kunststeinboden vorgesehen, der intensiv auf Belastbarkeit und Verschmutzung getestet wurde. Wie im Rechnungshofbericht zum Skylink nachzulesen ist, entschied der Vorstand auf Empfehlung eines Konsulenten – nach 18 Monatedauernder Diskussion –, den Boden stattdessen aus Kautschuk auszuführen. Die minimalgeringeren Materialkosten wurden durch die nötige Verstärkung der Unterkonstruktion des Doppelbodens aufgewogen. Ästhetisch ist die Entscheidung ein Desaster. Selbst die bequemen, von Gregor Eichinger entworfenen „Soft-Tables“, die ähnlich wie die Enzis im Museumsquartier zum bequemen Sitzen einladen, können den schwarzen Sumpf nicht wohnlicher machen.

Ein Seiteneffekt der minimalistischen Ästhetik lässt sich dagegen vielleicht noch korrigieren. Die Architekten haben die Plakatwerbung, die in vielen Flughäfen visuell dominant ist, auf wenige Flächen konzentriert. Dort wirkt sie freilich jetzt noch dominanter: Im Vorfeld des Terminals gelingt es drei beleuchteten Werbequadern, der Fassade den Rang abzulaufen, und in der Eingangshalle lassen schmale, aber vor dem neutralen Hintergrund umso auffälligere Fahnen vermuten, man sei nicht in Österreich, sondern bei SPAR angekommen. Wennnach der Schlussrechnung für den Skylink noch etwas Geld übrig bleibt, sollte der Flughafen als Visitenkarte Wiens auf diese Zusatzeinnahmen verzichten können.

Spectrum, Sa., 2012.08.18

07. Juli 2012Christian Kühn
Spectrum

Eine Stadt sieht rot

Ein Betonmonster in der Altstadt? Oder vielleicht doch ein ganz normales Bauprojekt, das manchen einfach unbequem ist? Bericht aus dem Herzen Salzburgs.

Ein Betonmonster in der Altstadt? Oder vielleicht doch ein ganz normales Bauprojekt, das manchen einfach unbequem ist? Bericht aus dem Herzen Salzburgs.

Für das deutsche Feuilleton ist die Stadt Salzburg üblicherweise nur zweimal im Jahr von Interesse: im Sommer und zu Ostern, zur Festspielsaison. Im Jahr 1986 veröffentlichte die Hamburger „Zeit“ allerdings einen euphorischen Artikel zu einem Thema, das nichts mit den Festspielen zu tun hatte: „Einzigartig in Europa: Politik mit guter Architektur. Der Erfolg des Stadtrats Johannes Voggenhuber.“ Es ging um das „Salzburg Projekt“, den Versuch des 1982 ins Amt gekommenen grünen Stadtrats, die verkommene Architekturlandschaft Salzburgs zu reformieren. Voggenhuber hatte aus dem Himmelfahrtskommando, in dem ihn die Mehrheitsparteien verheizen wollten, einen Erfolg gemacht, der weit über die Grenzen Österreichs ausstrahlte.

Damals haben die Salzburger erkannt, dass gute neue Architektur auch im historischen Umfeld möglich ist, und sich mit dem Gestaltungsbeirat eine Institution Qualitätssicherung geschaffen, die international zum Vorbild wurde. Voggenhubers Ära währte freilich nur kurz. Nach fünf Jahren wählten ihn die Salzburger ab, nicht zuletzt wegen seiner vehementen Unterstützung für ein Projekt des späteren Pritzker-Preisträgers Alvaro Siza Vieira, den Umbau des Casino Winkler auf dem Mönchsberg, zu dem ein außen an der Felswand geführter Panoramaaufzug gehörte. Das war des Neuen denn doch zu viel. Die Grünen verloren die Gemeinderatswahlen, Voggenhuber verließ Salzburg Richtung Wien und Brüssel.

Sein Projekt hat dennoch überlebt, nicht zuletzt durch den Einsatz seines Nachfolgers Johann Padutsch, der nun schon seit 20 Jahren die politische Verantwortung für die Stadtentwicklung Salzburgs trägt. Nach fünf Jahren in der Opposition konnte er die Grünen 1992 wieder in die Stadtregierung bringen, und seither steht er für einen pragmatischen Kurs, bei dem architektonische und stadtplanerische Qualität aber immer im Mittelpunkt steht. Das gelang manchmal leicht und unter allgemeinem Applaus, wie etwas beim Makart-Steg, manchmal nur gegen heftige Proteste, wie beim Heizkraftwerk Mitte. Manches ist wenig spektakulär, aber für die Entwicklung der Stadt umso bedeutsamer, wie etwa die „Deklaration Geschütztes Grünland“ oder die Stadtentwicklungsprojekte für die Science City Itzling und die Neue Mitte Lehen. Manche Projekte, denen Padutsch sich zu widersetzen versuchte, konnte er nicht verhindern, wie das Haus für Mozart nach dem Entwurf von Wilhelm Holzbauer und das Kongresshaus. Zuletzt hat er mit verkehrsplanerischen Maßnahmen wie der Altstadtsperre für den motorisierten Verkehr ein klares Signal für den Vorrang des öffentlichen Verkehrs gesetzt, mit dem man sich naturgemäß nicht nur Freunde macht.

Auf den Prüfstand kommt das „Salzburg Projekt“ der vorsichtigen Erneuerung derzeit auf dem Dr.-Franz-Rehrl-Platz am Fuß des Kapuzinerbergs. Entsteht hier, wie Salzburger Zeitungen unisono berichten, tatsächlich ein Betonmonster, bei dem die Prinzipien der Bürgerbeteiligung mit Füßen getreten werden? Fällt die Stadt in die Zeit vor 1982 zurück, wie Johannes Voggenhuber in unerwarteter Allianz mit Bischof Laun und ausgerechnet jenen Wutbürgern, die ihn 1987 aus dem Amt gejagt haben, verlauten lässt? Eine emotionslose Betrachtung fördert im Projekt selbst wenig zutage, das diese Aufregung rechtfertigt. Der Bauplatz ist charakterisiert durch eine sehr heterogene Umgebung: einen massiven, teilweise achtgeschoßigen Krankenhausbau, Stadtvillen an der Salzach und kleine Häuser, die sich in den ansteigenden Hang des Kapuzinerbergs schmiegen. Im Wettbewerb, der im Dezember 2011 entschieden wurde, reagierten manche Projekte – wie etwa die beiden mit Ankäufen ausgezeichneten von Max Rieder und Flöckner/Schnöll – auf diese Situation mit markanten, eigenständigen Baukörperfiguren. Die Jury war sich offenbar bewusst, dass am selben Ort bereits 1995 ein Projekt von Dominique Perrault mit dieser Strategie an Bürgerprotesten gescheitert ist. Den ersten Preis erhielt daher ein Entwurf des deutschen Büros SEP-Architekten, das mit dem Uni-Park Nonntal, einem Erweiterungsbau für die Universität, ein respektables Projekt in Salzburg vorzuweisen hat. Das Projekt gliedert die beachtliche Baumasse kleinteilig und lässt Querblicke auf das Nachbargrundstück zu – kein genialer, aber ein guter Entwurf mit gut vermarktbaren Wohnungen und Geschäftslokalen.

Der von den Zeitungen angefachte Proteststurm dürfte denselben Hintergrund haben wie 1995. Die unmittelbaren Nachbarn haben verständlicherweise wenig Freude damit, dass in ihren Privatpark in Zukunft erst ab Mittag Sonne fällt und die neuen Nachbarn aus dem fünften Stock in ihren Garten blicken. Das ist legitim, aber durch die Bauordnung geregelt, die immer Interessen gegeneinander abwägen muss.

Die im Stadtplan als Rehrl-Platz bezeichnete Stelle ist heute eine Asphaltfläche mit abgestellten Nutzbauten, einer Tankstelle und einem kleinen pilzartigen Rundbau. Niemand, der Salzburg liebt, wird daran zweifeln, dass dieser Platz Besseres verdient. Wenn es gelingt, hier einen privaten Investor zu finden, der Geschäftsflächen schafft und den öffentlichen Raum verbessert, ist das kein Ausverkauf der Stadt ans Kapital, sondern normale Stadtentwicklung. Dass der Bebauungsplan erst aufgrund eines in einem Wettbewerb bestimmten Projekts erfolgt, hat nichts mit Korruption zu tun – das ist heute unter dem Schlagwort Vertragsraumplanung etabliert. Das Salzburg Projekt war in dieser Hinsicht Pionier: Von Johannes Voggenhuber wird der Satz kolportiert, für ihn sei der schlechteste Bebauungsplan der beste, weil so der Bauherr mit der Stadt in Verhandlung treten muss, wodurch sich neue Spielräume eröffnen.

Wenn die Aufregung um den Rehrl-Platz wieder auf ein normales Niveau heruntergekocht ist, sollten sich die Salzburger fragen, ob ihre Architekturentwicklung nicht doch wieder „einzigartig in Europa“ sein könnte. Vergleichbare Städte wie Innsbruck nutzen das Potenzial zeitgenössischer Architektur jedenfalls deutlich stärker, auch in der historischen Altstadt.

Spectrum, Sa., 2012.07.07

09. Juni 2012Christian Kühn
Spectrum

Ach, Baukultur, wo willst du hin?

Architekturtage in ganz Österreich, ein Baukulturreport im Parlament. Und doch: Es ist noch immer nicht genug.

Architekturtage in ganz Österreich, ein Baukulturreport im Parlament. Und doch: Es ist noch immer nicht genug.

Anders als gewohnt, so lautete das Motto der Architekturtage 2012, die am ersten Juni-Wochenende in ganz Österreich stattfanden. Zwei Tage Architektur mit einem Programm, das für ein paar Wochen gereicht hätte: Selbst der leidenschaftlichste Architekturfan konnte nur einen Bruchteil der Führungen, Vorträge und Feste genießen, wie sie auf der Homepage der Architekturtage – übersichtlich nach Bundesländern geordnet – zu finden sind. Der leidenschaftliche Fan, für den ja eh jeder Tag ein Architekturtag ist, ist aber gar nicht die vorrangige Zielgruppe der Architekturtage. Sie richten sich an die lokale Bevölkerung, die aufgefordert ist, ihre alltägliche Umgebung einmal anders wahrzunehmen, besser informiert, mit Einblicken, die sonst nicht einfach zu erhalten sind. Der große Zustrom zu den Architekturtagen hat bewiesen, dass die Neugier und das Interesse, sich mit Fragen der Architektur und des Wohnens auseinanderzusetzen, nicht nur vorhanden sind, sondern zunehmen.

Die Rahmenbedingungen haben sich freilich geändert. Die ersten Architekturtage 2002 standen unter dem Motto „Jetzt ist alles offen!“, womit nicht nur die schlichte Tatsache gemeint war, dass Gebäude und Architekturateliers offen standen, sondern auch die Zukunft. Das kräftige Rufzeichen am Ende des Slogans kündet in dieser Hinsicht von beachtlichem Optimismus. Zehn Jahre später hat sich die Offenheit bestätigt, allerdings nicht in die Richtung, die man erhofft hatte. Heute werden Veranstaltungen wie die Architekturtage als Luxus gesehen, dessen Finanzierung nur mit Mühe aus immer knapper werdenden Quellen gelingt. Angesichts angeblich leerer Kassen und Auftragsbücher ist Baukultur ein schönes Extra, aber niemandes Kerngeschäft.

Es sollte allerdings zu denken geben, dass an der Wurzel der Finanzkrisen der vergangenen Jahre in der Regel das Bauen stand, nicht als Ursache, aber gewissermaßen als Medium des Bankrotts. Die US-amerikanischen Subprime-Krise nahm ihren Ausgang bei Krediten für Eigenheime an Kunden mit geringer Bonität und der darauf folgenden Spekulationsblase; die spanische Bankenkrise hat ihren Ursprung in einem Bauboom, dessen hemmungslos in die Landschaft gesetzte Produkte irgendwann keine Abnehmer mehr finden konnten.

Beide Phänomene konnten sich nur in einem Umfeld entwickeln, in dem die Baukultur niedrig ist. Natürlich gibt es auch in den USA ambitionierte Architektur, und Spanien hat eine der interessantesten Architekturszenen Europas hervorgebracht. Aber Baukultur ist keine Frage der Eliten, sondern ein Breitenphänomen. Sie setzt voraus, dass Bürger das Bewusstsein und das Vertrauen haben, mitgestalten zu dürfen, nicht so sehr, indem sie basisdemokratisch über Fassadenfarben abstimmen, sondern indem sie ihre Anforderungen an die gebaute Umwelt artikulieren können und wissen, dass ihre Interessen in einer fairen Weise mit anderen Interessen abgeglichen werden.

Bauen ist voller Zielkonflikte, zwischen Investoren und der öffentlichen Hand, zwischen alten und jungen Menschen, zwischen Bewahrern des kulturellen Erbes und Innovatoren, die auch einmal schöpferische Zerstörung zulassen wollen. Baukultur ist daher zu großen Teilen Gesprächs- und Konfliktkultur, also die Fähigkeit, fremde Interessen anzuerkennen und in geregelten Prozessen mit den eigenen abzustimmen.

Was die Sache bei der Baukultur so vertrackt macht, ist der Zeithorizont. Die Häuser und Städte, deren Errichtung und Entwicklung wir heute zu verantworten haben, sind eine wichtige Lebensgrundlage der nächsten Generationen, die aber heute keine eigene Stimme haben. Entscheidungsträger bei dieser Entwicklung sind wir alle, und wir alle laufen Gefahr, rücksichtslos zu agieren. Wer sein harmloses, vielleicht sogar energetisch optimiertes Häuschen im Speckgürtel einer Großstadt baut und dann als Pendler den Ausbau der Autobahn um ein paar weitere Spuren verlangt, ist genauso verantwortlich wie der Bürgermeister einer Landgemeinde, der noch ein paar Äcker in Bauland umwidmet, damit sich der Supermarkt in seiner Gemeinde ansiedelt und nicht in der nächsten.

Ein Bericht zum Stand der Baukultur wird in Österreich alle fünf Jahre in einem Baukulturreport vorgelegt, den die Bundesregierung in Auftrag gibt. Verstand sich der erste Report aus dem Jahr 2006 noch als umfassende Bestandsaufnahme zu allen relevanten Themen, so ist der jüngste, die Jahre bis 2011 betreffende Bericht auf drei Themenbereiche fokussiert: zukunftsfähiges Bauen, bürgernahe Verfahren auf Gemeindeebene sowie Bildung und Vermittlung, wobei unter letzterem Punkt sowohl der Bau von Bildungseinrichtungen als auch die Architekturvermittlung für junge Menschen in Schulen behandelt wird. Statt mehr als 500 Seiten beim letzten Mal hat der aktuelle Report nur 160 Seiten und wurde in einer Auflage von 6000 Stück gedruckt, was vom Optimismus zeugt, dass mit dem Report ein gut lesbares und nützliches Dokument vorliegt, von dem nicht nur Politiker und Beamte profitieren können.

Der Bericht stellt der österreichischen Situation ein durchaus kritisches Zeugnis aus, weist aber in vielen Praxisbeispielen darauf hin, dass es auch hier ausreichend Initiativen mit Vorbildwirkung gibt, auf denen man aufbauen kann. Dazu gehören nicht nur Vorzeigebauten, sondern auch strategische Konzepte zur Gemeindeentwicklung. Die im vergangenen Jahr im Nationalrat beschlossene Erleichterung für Gemeindekooperationen könnte ein wichtiger Impuls sein, Architektur- und Raumplanungspolitik auf dieser Ebene zu verbessern.

Die 45 Empfehlungen, die der Report zu den behandelten Bereichen benennt, sind eine Aufforderung an die Politiker, ihren Wählern und sich selbst etwas zuzumuten. Als Querschnittsmaterie verhakt sich das Thema Baukultur zwangsläufig an neuralgischen Punkten der Republik: beim Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, bei der Raumplanung als Landessache, der unterstützende Komponenten auf Bundesebene fehlen, oder beim Balanceakt, Wirtschaftsförderung mit langfristiger ökologischer Politik zu verbinden. Eines ist klar: Niemand gewinnt mit den Themen Architektur und Stadtplanung die nächsten Wahlen, bestenfalls die übernächsten.

Kommende Woche wird der Baukulturreport im Plenum des Parlaments behandelt. Wenn dessen Mitglieder ihn gelesen haben, sollten sie merken, dass die Politik auf allen Ebenen kontinuierlich, und nicht nur alle fünf Jahre, mit Baukultur befasst ist. Vielleicht wäre es ja Zeit, die Empfehlung Nummer 18 aufzugreifen: eine Baukulturdeklaration des Bundes, wie andere Länder sie sich schon längst gegeben haben.

Spectrum, Sa., 2012.06.09

12. Mai 2012Christian Kühn
Spectrum

Vom Blockrand zum Campus

Erste Schritte zu einer neuen Lernkultur: Otmar Haslers Erweiterung und Sanierung der HTL Spengergasse im fünften Wiener Gemeindebezirk.

Erste Schritte zu einer neuen Lernkultur: Otmar Haslers Erweiterung und Sanierung der HTL Spengergasse im fünften Wiener Gemeindebezirk.

Die Höhere Technische Lehranstalt in der Spengergasse im fünften Wiener Gemeindebezirk gehört mit 1350 Schülern und 170 Lehrern zu den größten Schulen Wiens. Sie geht auf eine Gründung Maria Theresias im Jahr 1758 zurück, die den Mangel an Fachkräften im Bereich der textilen Gewerbe beheben sollte und ab 1881 unter dem Namen „Lehranstalt für Textilindustrie“ geführt wurde. Ihren Bezug zum Textil hat sie bis heute behalten, und so bietet sie neben textiltechnischen Ausbildungen auch eine Ausbildung für Kunst und Design an, die aus dem „Musterzeichnen“ hervorgegangen ist. Mehr als die Hälfte der Schüler besucht heute aber die Abteilung für EDV und Organisation, die an der Schule seit Mitte der 1970er-Jahre als zweites Standbein aufgebaut wurde.

Dieser über 250-jährigen Geschichte entsprechend, ist die Schule in einem sehr heterogenen Gebäudebestand untergebracht, der drei Seiten einer Blockrandbebauung einnimmt. Der älteste, nach Norden gerichtete Teil an der Ecke Spengergasse/Siebenbrunnengasse stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert. Die längere Front zur Spengergasse wird von einem mächtigen, teilweise in Sichtziegelmauerwerk ausgeführten Gebäude aus dem Jahr 1898 dominiert, dem ehemaligen „Landwehrmonturdepot“, ursprünglich ein Uniformlager der Armee. Abgeschlossen wurde diese insgesamt 140 Meter lange Front von einem weiteren gründerzeitlichen Gebäude, das vom Uniformlager durch eine neobarocke Toreinfahrt getrennt war. Zu dieser Toreinfahrt gab es am anderen Ende des Gebäudes ein symmetrisch angelegtes Pendant, wodurch das Uniformlager als frei stehender Monumentalbau zur Geltung kam. Nach 1945 wurden diese städtebaulich wichtigen Zäsuren wie Zahnlücken mit viergeschoßigen Einbauten geschlossen, die sich mehr schlecht als recht an den historischen Bestand anzupassen versuchten.

Im Jahr 2006 lobte die Bundesimmobiliengesellschaft einen EU-weit offenen Wettbewerb zur Erneuerung des Schulkomplexes aus. Man entschied sich dafür, den südlichsten Teil komplett abzubrechen und hier einen Neubau mit zwei Turnsälen und Klassenräumen zu errichten. Das desolate Uniformlager sollte saniert, und die Werkstätten im Hof sollten erneuert werden.
Nach dreijähriger Bauzeit konnte die nach dem Entwurf des Wiener Architekt Otmar Hasler erneuerte Schule heuer wieder bezogen werden. Sein Konzept zeichnet sich durch die Idee aus, die Blockrandbebauung aufzubrechen und die Schule zumindest stadträumlich wieder nach außen zu öffnen. Diese Öffnung war in der ursprünglichen Anlage durch die Freistellung des Uniformlagers bereits angelegt. Hasler geht aber einen Schritt weiter, indem er den Straßenraum ohne Barrieren direkt in den Hofraum hineinzieht, um die Schule als „Campus“ erlebbar zu machen. Zwei überdeutlich angebrachte Überwachungskameras signalisieren allerdings, dass hier auf Kontrolle großer Wert gelegt wird, und auch der verschiebbare Schranken, mit dem der Zugang am Abend gesperrt werden kann, ist kein leichtes Gitterwerk, sondern wirkt eher wie eine Panzersperre. Dass auf deren Ende noch das Verkehrszeichen für „Einfahrt verboten“, also ein roter Kreis mit weißem Querbalken, prangt, und die Altstoffcontainer dort stehen, wo man eigentlich ein paar Sitzbänke erwarten würde, konterkariert die einladende Botschaft der Architektur nochmals deutlich. Die Schulleitung scheint diesem zusätzlichen Eingang in ihr Reich also noch etwas reserviert gegenüberzustehen. Von den Nutzern wird er aber gut angenommen, und bei einer 140 Meter langen Anlage dürften die Vorteile doch deutlich überwiegen.

Der freigestellte neue Trakt zeichnet sich durch eine glänzende Aluminimumhaut aus, die aus vertikalen Lamellen vor einer großteils verglasten Fassade besteht. Die Lamellen werden computergesteuert dem jeweiligen Sonnenstand nachgeführt, können aber auch von Hand justiert werden. Nur vor den tragenden Betonstützen in der Fassade sind die Lamellen fix, wobei die Anzahl dieser fixen Lamellen von Geschoß zu Geschoß variiert, um den Eindruck vertikaler Bänder zu vermeiden. Die Frage, ob es sinnvoll ist, eine südseitige Fassade in Glas auszuführen und dann wieder mit Lamellen zu schließen, liegt nahe. Die Lichtstimmung in den Klassen ist jedenfalls gut, und da Hasler die Parapethöhe der Fenster auf nur 60 Zentimeter gesetzt hat, wirken die Räume großzügig und offen.

Auch zum Gang hin gibt es neben jeder Klassentüre eine fast gleich breite raumhohe Verglasung, die zur Belichtung der Innenzone beiträgt und einen Einblick in den Unterricht zulässt. Man kann das als vorsichtigen Schritt zu einer veränderten Lernkultur betrachten, in der nicht nur das einzelne Klassenzimmer, sondern das ganze Schulhaus ein Ort des Lernens ist und eine Lerngruppe sich auch einmal „am Gang“ aufhalten kann. Falls sich irgendwann die Idee durchsetzen sollte, eher im Team zu lehren und zu lernen – wofür es eine andere Raumstruktur mit unterschiedlich großen Vortragsräumen und mehr offenen Lernräumen bräuchte –, ist der Neubau in der Spengergasse dafür jedenfalls gerüstet: Es gibt keine tragenden Innenwände, die einer Neuordnung des Grundrisses im Wege stünden. Im Altbau wurde vor der Bibliothek zumindest ein solcher offener Lernraum eingerichtet.

Die Lastabtragung ohne innere Stützen ermöglichte es, die beiden Turnsäle im Keller des Neubaus unterzubringen. Hasler ist es gelungen, von mehreren Seiten natürliches Licht in diese Säle zu bringen, ein nicht gering zu schätzendes Kunststück. Geholfen hat dabei die Idee, den lang gestreckten Hof gegen das Gefälle abzusenken, wodurch eine zusätzliche Belichtung möglich wurde.

Im Hof sind an der Längsseite alle Labors und Werkstätten aufgereiht. Sie werden von oben belichtet und über einen langen Gang erschlossen, der als gedeckte Erweiterung des Hofs wirkt. Erst die Durchgängigkeit quer durch alle Trakte verdeutlicht die Einheit der Schule, deren Teile sich mit ihren unterschiedlichen Qualitäten zu einem gelungenen Ensemble ergänzen.

Spectrum, Sa., 2012.05.12



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Neubau und Sanierung HTBLVA Spengergasse

14. April 2012Christian Kühn
Spectrum

Stadt ohne Körper

„Architektur als Gebäude spielt hier überhaupt keine Rolle mehr“: Wolfgang Tschapeller über seinen Beitrag für die nächste Architekturbiennale in Venedig und das Wettbewerbsprojekt für die Universität für angewandte Kunst in Wien. Ein Gespräch.

„Architektur als Gebäude spielt hier überhaupt keine Rolle mehr“: Wolfgang Tschapeller über seinen Beitrag für die nächste Architekturbiennale in Venedig und das Wettbewerbsprojekt für die Universität für angewandte Kunst in Wien. Ein Gespräch.

Wolfgang Tschapeller, der österreichische Beitrag bei der nächsten Architekturbiennale wird unter dem Titel „Reports from a City Without Architecture“ stehen. Was darf man sich darunter vorstellen?

Gemeinsam mit dem Kurator Arno Ritter haben wir uns die letzten österreichischen Beiträge zur Biennale angesehen. Die waren auf Personen und deren Werk bezogen, also retrospektiv. Wir verstehen den österreichischen Pavillon dagegen als räumliches Instrument der architektonischen Forschung, mit dem wir utopisch klingende Fragen behandeln wollen, unter Einbeziehung von Naturwissenschaften und neuesten medialen Technologien. Eine Stadt als Summe von „Gebäuden“ zu sehen ist ja als Konzept eine Voreingenommenheit. Letzten Endes geht es darum, Situationen zu schaffen, die uns das Leben erlauben, „sympathische Umgebungen“. Wir untersuchen, wohin es führt, wenn wir Architektur aus dieser Richtung her denken und nicht als die Realisierung von Baukörpern.

Das sind ja nicht unbedingt neue Ideen. Yona Friedman hat schon Ende der 1950er-Jahre Architektur als Infrastruktur verstanden, in die man dann erst über Membranen und Interfaces solche „sympathischen Umgebungen“ implantiert.

Die Recherche, gleich, ob historisch, tektonisch, technisch oder topografisch, ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit, nicht nur für Venedig. Aber es stimmt, dass um 1960 viel in diese Richtung gedacht wurde. Ein Schlüsselbeispiel für uns ist ein Film, den Charles und Ray Eames zwischen 1968 und 1977 realisiert haben, „Powers of Ten“, der von einer Alltagsszene ausgeht, einem jungen Pärchen beim Picknick auf einer Decke, von oben gefilmt, und dann zoomt die Kamera schrittweise hinaus, man sieht die Erdkugel und dann das Universum, und danach geht es zurück in den Mikrokosmos bis auf die molekulare Ebene. Was Charles und Ray Eames hier als Architekten thematisieren, muss man im Vergleich zur Vitruvschen Figur sehen, die in die Quadratur des Kreises eingespannt ist, oder zu Le Corbusiers berühmtem Modulor-Mann.

Bei „Powers of Ten“ ist es nicht nur ein Mann, sondern ein Paar, und die Figuren stehen nicht, sondern liegen auf einer horizontalen Fläche. Die Betrachtung bleibt auch nicht beim Körper stehen, sondern führt den Blick nach innen, in das Innere von Körpern und Materialien. Das sind Perspektiven, mit denen wir in der Architektur bisher wenig arbeiten, aber wir stehen an einer Schwelle. Wir müssen, vereinfacht gesagt, unser Verhältnis zum umgebenden Raum und zur Materie neu klären.

Wie wird das in Venedig umgesetzt?

Der Pavillon wird im Innenraum an den Längsseiten Projektionen digitaler Figuren mit interaktiven Fähigkeiten zeigen, die wir mit Martin Perktold und Rens Veltmann entwickeln. Mit diesen Figuren, die teilweise als Avatare funktionieren, erzeugen wir eine Stadt, die auf die Beziehung zwischen Figuren reduziert ist. Architektur als Gebäude spielt hier überhaupt keine Rolle mehr.

Wir beziehen uns dabei nicht nur auf Elemente der Science-Fiction, obwohl dieser Aspekt eine große Rolle spielt, sondern auch auf scheinbar ganz anders gelagerte Überlegungen wie die von Bernard Rudofsky, der sich als Architekt ebenfalls weniger fürs Bauen und mehr für eine neue Lebensweise interessiert hat. Sein Buch über den „Unfashionable Human Body“ erschien 1971, als sich parallel die Cultural Studies zu formieren begannen und dort die Körperdiskussion in voller Breite losbrach. Die bildende Kunst hatte die Leinwand verlassen und sich im Aktionismus dem Körper zugewendet, und etwas Ähnliches geschah in der Architektur, in den Arbeiten von Walter Pichler, den Haus-Ruckern und Coop Himmelb(l)au, die Architekturen als Erweiterung des Körpers dachten.

Auch dem Projekt, mit dem Sie den Wettbewerb für die Erweiterung der Universität für angewandte Kunst gewonnen haben, merkt man ein Interesse für die Ideen aus dieser Zeit an.

Ja, natürlich, offensichtlich greift dieses Projekt gezielt auf Themen und Versprechungen, die auch um 1960 relevant waren, zu. Wir haben diesen direkten Zugriff gründlich diskutiert, etwa anhand der Kugelformen oder der Ballons oder der vorgestellten Erschließungselemente, und haben entschieden, dieses Potenzial zu aktivieren. Viel mehr hat mich aber die serielle Qualität des Bestandsgebäudes von Karl Schwanzer aus dem Jahr 1962 interessiert, ein Stahlbetonraster parallel zum Wienfluss, der nur durch zwei Stiegenhäuser unterbrochen wird. Diese Stiegenhäuser sind die eigentlichen Schlüssel zur Lösung der Bauaufgabe. Wir nehmen sie aus dem Raster heraus und setzen sie hofseitig vor das Gebäude, und damit haben wir eigentlich schon den Raum erreicht, den wir brauchen: Etagen mit 86 Meter Länge und 17 Meter Breite so gut wie ohne fixe Einbauten.

Der Schwanzer-Bau wird damit das, was er vorgibt zu sein, nämlich reine Konstruktion, nur Decken und Stützen, und davor steht die Erschließung, vergleichbar dem Prinzip des Centre Pompidou oder der Versorgungstürme für Raketen in Cape Caneveral, wenn man die Verbindungsstege betrachtet. Zusätzlich zu diesen Sicherheitsstiegenhäusern und Lifttürmen gibt es noch ein verbindendes, breites Stiegenelement, das wie ein Broadway diagonal über den Fassadenraster führt. Diese Treppe ist einer der gemeinsamen Räume für alle Studios, und im Untergeschoß gibt es die neue Verbindung zum Ferstel-Bau am Ring, wo in Zukunft auch der Haupteingang sein wird.

Im Vergleich zu früheren Projekten geht ihr mit dem Altbau eher sanft um, ohne die „schönen Kollisionen“, die für den Dekonstruktivismus typisch waren.
Mag sein, tatsächlich nutzt dieses Projekt die Erfahrung einer langen Reihe von Experimenten, die wir mit seriellen Elementen und Rastern durchgeführt haben. Im Gegensatz zu anderen, ähnlich gelagerten Projekten suchen wir hier nicht die Kollision, sondern legen den Raster frei, fast im archäologischen Sinn, und fügen zu den drei bestehenden Rastern einen vierten hinzu, der sich wie eine Haut an die neuen Bauteile anschmiegen wird. Wenn Sie wollen: schmiegen statt splittern.

Spectrum, Sa., 2012.04.14



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Tschapeller Wolfgang

17. März 2012Christian Kühn
Spectrum

Wie im Wilden Westen

„Generationen Wohnen“ am Mühlgrund in Wien-Donaustadt: drei architektonische Antworten auf die Frage, wie sich Zusammenleben flexibel organisieren lässt.

„Generationen Wohnen“ am Mühlgrund in Wien-Donaustadt: drei architektonische Antworten auf die Frage, wie sich Zusammenleben flexibel organisieren lässt.

Architekturkritik als Fortsetzungsroman, monatlich ein Grundstück weiter: Wenn sich auf diese Art eine spannende Reihe ergibt, ist das ein Glücksfall. Vor ein paar Wochen habe ich im „Spectrum“ einen Bau von ARTEC vorgestellt, ein sechsgeschoßiges Wohnregal an der U-Bahnlinie U2 in Stadlau. Das Gebäude dient nicht nur dem Wohnen, sondern bildet zugleich die Schallschutzwand für eine zwei- bis dreigeschoßige Verbauung auf dem nach Süden angrenzenden Grundstück.

Gemeinsam ist diesen niedrigen Häusern nicht nur das einheitliche Fassadenmaterial, eine raue Holzverschalung mit vertikalen Brettern, sondern auch das Thema „Generationen Wohnen“, das der Bauträger EBG von den Architekten behandelt wissen wollte. Die Frage, wie man das Zusammenleben mehrerer Generationen unter einem Dach durch intelligente Wohntypologien unterstützen kann, ist nicht neu, hat aber durch die demografische Entwicklung an Brisanz gewonnen.

Die kleinen Wohnhäuser, die in drei Bauteilen jeweils von Hermann Czech, Adolf Krischanitz und Werner Neuwirth geplant wurden, zeigen Grundrisslösungen, die über das Konzept der „Einliegerwohnung“, also einer Kleinwohnung als Annex an die Hauptwohnung, deutlich hinausgehen. Am konventionellsten in dieser Hinsicht sind die Häuser von Adolf Krischanitz, bei denen die Zusatzeinheiten als kleine Ateliers ausgebildet sind, die den Wohnungen des ersten Obergeschoßes zugeschlagen werden können. Die Wendeltreppen nach oben befinden sich in Vorräumen, die komplett abgetrennt oder Teil der Hauptwohnung sein können. Falls die kleine Atelierwohnung für die ältere Generation gedacht ist, muss sie aber rüstig genug zum Treppensteigen sein: Die Aufzüge in Krischanitz' Bauteil führen nur auf die zweite Ebene.

Dieses Problem hat Hermann Czech, der Komfort in der Architektur nie als anrüchigen Begriff betrachtet hat, anders gelöst. Seine Kleinwohnungen liegen zwar auch im dritten Stock, sind aber über einen per Lift erreichbaren Laubengang erschlossen. Auch hier gibt es, ähnlich wie bei Krischanitz, eine Kombinationsmöglichkeit zwischen dem zweiten und dritten Geschoß, während auf ebener Erde quasi normale Wohnungen angeboten werden.

„Normal“ ist Czechs Wohnbau allerdings überhaupt nicht, auch wenn sich das erst bei genauerer Analyse zeigt. Im Schnitt erkennt man die Verschränkung zwischen Räumen unterschiedlicher Höhe, einem Wohnraum mit 4,05 Metern und Nebenräumen, die das Minimum von 2,5 Meter Höhe aufweisen. Die hohen Wohnräume können von den Bewohnern selbst umgestaltet werden, indem etwa eine Empore mit einem Arbeitsplatz eingezogen wird. Seit der Besiedlung haben die Bewohner schon vielfach von dieser Option Gebrauch gemacht, und kaum eine der Wohnungen gleicht heute noch den Fotos, die nach der Fertigstellung gemacht wurden. Räume mit dieser Höhe und entsprechend großformatigen Verglasungen haben eine besondere Atmosphäre, die durch die Komposition der Treppe noch gesteigert wird. Werner Neuwirth hat in seinen sechs jeweils aus unabhängigen „Häusern“ zusammengesetzten Baukörpern das Konzept der „Einliegerwohnung“ insofern überwunden, als er die Hierarchie zwischen Haupt- und Nebenwohnung komplett auflöst. Durch einen Knotenpunkt im Zentrum jedes Baukörpers lassen sich die Geschoßebenen sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Hinsicht frei zusammenschalten, wodurch Wohntypen möglich werden, die auch ohne großen Aufwand neu kombiniert werden können.

Wichtig für die räumliche Wirkung von Neuwirths Entwurf nach außen sind die unterschiedlichen Seitenlängen der Quadrate, aus denen die Baukörper im Grundriss zusammengesetzt sind. Sie erzeugen durch leichte Vor- und Rücksprünge eine gestalterische Varianz ohne funktionale Begründung, ein Prinzip, das auch Adolf Krischanitz in seinen Projekten gern anwendet. Der Rationalismus seiner Architektur lässt sich am besten mit der Definition beschreiben, die Adolf Behne 1923 gegeben hat: „Während der Funktionalist das Haus zum Werkzeug machen will, sieht es der Rationalist (was nur zunächst überrascht) mit der gleichen Bestimmtheit als Spielzeug.“

Die spielerische Grammatik der Bauteile von Neuwirth und Krischanitz sind offensichtlich verwandt und lassen einen Außenraum entstehen, in dem die Grenzen zwischen öffentlichem und halb öffentlichem Raum nicht leicht zu finden sind. Die Freiraumplanung von Anna Detzlhofer vermeidet es, diese Grenzen durch gärtnerische Gestaltung festzulegen. Im ersten Jahr der Besiedlung beginnen die Bewohner vorsichtig, ihre Claims im Freiraum abzustecken.

Eine besonders raffinierte Versuchsanlage zu diesem Thema hat Hermann Czech für seinen Bauteil entwickelt, der den Bewohnern beider Hauptgeschoße Eigengärten anbietet. Für die Erdgeschoßwohnungen liegen diese Gärten an der Westseite, für die oberen Wohnungen an der Ostseite, wo sich auch die Erschließungstreppen für diese Wohnungen befinden. Damit die erdgeschoßigen Wohnungen nicht direkt an den Eigengarten der oberen grenzen, ist ihnen ein schmaler Distanzstreifen vorgelagert, der über eine Art Stichweg mit der Straße verbunden ist. Durch diese Lösung sind an der Ostseite des Hauses die Freiräume der Bewohner eng miteinander verschränkt. Das fördert das nachbarliche Gespräch, birgt aber auch Konfliktpotenzial.

Ob diese Lösung in einem Wildwuchs von Schilfwänden enden wird oder in einem entspannten Miteinander, wird sich zeigen. Der städtebauliche Masterplan von Henke und Schreieck hatte hier eine dichte Bebauung mit privaten Höfen nach dem Vorbild von Roland Rainers Siedlung in Puchenau bei Linz vorgeschlagen, intime Höfe, in denen man aber gerade als älterer Bewohner leicht vereinsamen kann. Dass Czech sein Projekt als „Wildweststadt“ bezeichnet, liegt nicht nur am Fassadenmaterial, sondern auch an dieser besonderen Exponiertheit, die sich am ehesten Pioniere leisten können: im Wilden Westen wie in Stadlau.

Spectrum, Sa., 2012.03.17

25. Februar 2012Christian Kühn
Spectrum

Draußen an der U-Bahn

Die Peripherie als Chance, Stadt neu zu denken: Ein Wohnhaus im 22. Wiener Gemeindebezirk beweist, wie spannend es sein kann, unter der Brücke zu wohnen.

Die Peripherie als Chance, Stadt neu zu denken: Ein Wohnhaus im 22. Wiener Gemeindebezirk beweist, wie spannend es sein kann, unter der Brücke zu wohnen.

Verkehrsgünstig gelegen: In der Sprache der Immobilienmakler ist diese Formulierung ein beliebter Euphemismus für das Wohnen an Bahntrasse oder Autobahn. Auf den ersten Blick scheint auch das Grundstück an der Mühlgrundgasse im 22. Wiener Gemeindebezirk in diese Kategorie zu fallen. Es liegt direkt neben der in Hochlage geführten U-Bahnlinie U2, unweit der Stelle, an der die Autobahn nach dem Knoten Kaisermühlen kurz parallel zum Gleiskörper der Laaer Ostbahn verläuft.

Der Stadtplan ist hier geprägt von den Kurven dieser Verkehrssysteme, die mit Radien von mehreren Hundert Metern ihrer eigenen Logik folgen. In sie eingebettet, finden sich andere Strukturen, kleinteilige Raster von Einfamilienhaussiedlungen, Wohnhausscheiben der Nachkriegszeit, Hofhäuser und Teppichsiedlungen der 1980er-Jahre neben Großformen wie dem Sozialmedizinischen Zentrum Ost. Es ist typisch für die Wiener Stadterweiterungsgebiete, dass diese Strukturen einander weitgehend ignorieren. Manche Stadtplaner nennen das Ergebnis liebevoll „Patchwork-City“ und übersehen dabei, dass ein Patchwork ohne Nähte in zusammenhanglose Teile zerfällt.

Wie viel Spannung entsteht, wenn man die Nahtstelle zwischen unterschiedlichen Strukturen artikuliert, zeigt sich dagegen am Wohnbau, den ARTEC – das Team der Architekten Bettina Götz und Richard Manahl – für die Siedlung am Mühlgrund entworfen haben. Als schmaler, knapp hundert Meter langer Riegel folgt er dem Verlauf der U-Bahn, die hier auf zwei Brücken in zwölf Meter Höhe in einer sanften Kurve vorbeifährt. Von der U-Bahnstation sind es nur wenige Schritte, und Besucher, die von dort kommen, laufen auf die Schmalseite des Gebäudes zu, die eher an ein Stück Infrastruktur – etwa eine Trafostation – denken lässt als an ein Wohnhaus: gezackte Kontur, schwarze Industrieverblechung, fensterlos.

Auf der Südseite blitzen allerdings schon andere Materialien hervor, und sobald man um die Ecke biegt und die Südfassade in ihrer vollen Länge erfassen kann, ist klar, dass es sich um einen Wohnbau handelt. Durchlaufende Balkone mit verschiebbaren Sonnensegeln prägen das Bild, an dem allerdings eine leichte Irritation auffällt: alle seitlichen Begrenzungsebenen, also sowohl die Balkonbrüstungen aus Metallgittern als auch die Fassadenebene dahinter, sind aus dem rechten Winkel verdreht. Die Balkonbrüstungen neigen sich nach außen, und die Fassade springt in einer leichten Zickzacklinie vor und zurück. Beides hat durchaus praktische Vorteile. Ein guter Balkon muss tief genug sein, um einen Tisch aufstellen zu können, aber nicht so tief, dass er die Räume dahinter zu sehr verschattet. Statt ein Kompromissmaß anzubieten, sind die Balkone hier vor den Wohnräumen tief und verjüngen sich dann kontinuierlich, sodass in die Schlafräume noch viel Licht fallen kann. Auch die geneigten Brüstungen machen den Balkon dort breiter, wo es die Nutzer tatsächlich brauchen.

Wie bei jeder guten Architektur gibt es aber, untrennbar mit solchen pragmatischen Aspekten verbunden, einen formalen Aspekt, der eigenen Regeln gehorcht, die keine rationale Begründung brauchen. Aus dieser Perspektive darf man das Bauwerk durchaus mit Kunstwerken wie der berühmten „endlosen Säule“ des Bildhauers Constantin Brancusi vergleichen, die eine ähnlich gezackte Kontur aufweist. Am deutlichsten wird diese skulpturale Wirkung auf der Nordseite, wo das Gebäude tatsächlich als große Skulptur erscheint, ein schwarzer Monolith, der sich wie eine gespannte Sehne in den leichten Bogen der U-Bahntrasse hineinschiebt.

Hinter dieser schwarzen Wand verbirgt sich einer der schönsten Innenräume, die im Wiener Wohnbau in den letzten Jahrzehnten entstanden sind. Er ist tatsächlich ein Meisterwerk von ARTEC, in dem viele Prinzipien ihrer bisherigen Arbeit elegant und scheinbar mühelos umgesetzt sind. Wer die Zwänge kennt, denen der soziale Wohnbau heute ausgesetzt ist, weiß, wie viel Knochenarbeit dahintersteckt, um eine solche Detailqualität zu vertretbaren Kosten zu erhalten. Als Verschärfung kam noch hinzu, dass es sich bei diesem Projekt um ein Passivhaus handelt, mit Anforderungen an die Dichtigkeit der Gebäudehülle, die bei diesen speziellen Geometrien eine besondere Herausforderung darstellt. In Abstimmung mit dem Bauträger, der BUWOG, wurden die Leistungen zuerst nach Gewerken ausgeschrieben, um die Kosten möglichst exakt bestimmen zu können, und erst danach an einen Generalunternehmer beauftragt.

In der Erschließungshalle wird sofort klar, dass die Zickzacklinie der Gebäudehülle im Innenraum eine völlig andere Wirkung entfaltet als von außen. Das liegt nicht nur an der Farbkombination von Gelb und Grün, sondern vor allem daran, dass sie hier nicht als Körper erscheint, sondern als leichte, raumbegrenzende Membran. Die inneren Laubengänge sind keine reinen Verkehrsflächen, sondern vor den Eingängen zu den Wohnungen auf die doppelte Breite erweitert. Hier werden sich die Bewohner gerne aufhalten und sich über das Gedeihen ihres privaten Dschungels austauschen: In mächtigen Betontrögen, die in der Erschließungshalle schweben, haben die Landschaftsarchitekten Maria Auböck und János Kárász zahlreiche exotische Pflanzen eingesetzt, die gerade beginnen, eine vertikale Landschaft zu bilden.

Man darf über das Wohnhaus von ARTEC nicht berichten, ohne es als Teil eines Ensembles zu besprechen, zu dem – nach einem Bebauungsplan der Architekten Henke und Schreieck – eine niedrigere Bebauung gehört, die in drei Teilen nach Entwürfen von Hermann Czech, Adolf Krischanitz und Werner Neuwirth entstanden ist. Deren raffiniert zugeschnittene Wohnungen eignen sich durch das Kombinieren von kleineren Einheiten gut für das Zusammenleben mehrerer Generationen. Vom Wohngefühl her könnte der Kontrast zwischen diesen Beinahe-Einfamilienhäusern und dem Wohnregal von ARTEC kaum größer sein. Gerade darin liegt die Chance des Städtebaus an der Peripherie: nicht alte urbane Muster zu kopieren, sondern aus scheinbaren Widersprüchen Symbiosen zu erzeugen.

Spectrum, Sa., 2012.02.25



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Generationen Wohnen am Mühlgrund

21. Januar 2012Christian Kühn
Spectrum

Das Erlebnis Bad

Wiens schönstes Bad wird soeben saniert. Jetzt muss nur noch das Becken dicht werden. Ein Baustellenbesuch.

Wiens schönstes Bad wird soeben saniert. Jetzt muss nur noch das Becken dicht werden. Ein Baustellenbesuch.

Beinahe wäre es Roland Rainers Stadthallenbad vor zwei Jahren an die Substanz gegangen. Für die längst notwendige Sanierung des denkmalgeschützten Baus, der 1974 fast zeitgleich mit dem ORF-Zentrum am Küniglberg fertiggestellt wurde, lag eine Planung vor, die Kopfschütteln auslöste. Sie erfüllte zwar die neuesten Anforderungen der Bäderhygiene; dass man es hier mit einem Werk der Baukunst zu tun hatte, das nicht zuletzt von feinen Details lebt, war den Planern aber wohl nicht bewusst. Auch die Idee, den bisherigen Eingang exklusiv den Leistungssportlern zu überlassen und für den Breitensport einen zusätzlichen Eingang zur Hütteldorfer Straße zu öffnen, war zwar durchaus zu begrüßen; die hilflose architektonische Antwort auf diese Vorgabe ließ allerdings Schlimmes befürchten.

Bei der Sanierung von Nutzbauten mit komplexen Funktionen lauert nämlich an jeder Ecke ein „Sachzwang“, ausgelöst von verschärften Bestimmungen des Brandschutzes, des barrierefreien Zugangs oder der Bäderhygiene. Hier ist hohe gestalterische Kompetenz gefragt, die mit der präzisen Analyse und Bewertung des ursprünglichen Bestandes und späterer Veränderungen beginnen muss. In der Planung geht es dann an vielen Stellen nicht um die Erhaltung des ursprünglichen Zustands, sondern um ein Weiterdenken von bestehenden Konzepten unter neuen Bedingungen.

Gerade das Stadthallenbad stellt hier höchste Anforderungen. Auf einem äußerst knapp bemessenen Grundstück hat Roland Rainer die Architektur organisch aus den Hauptfunktionen entwickelt: zwei Becken, ein Sprungturm, Tribünen für Zuschauer. Der Sprungturm gibt dem Projekt im Grundriss wie im Schnitt Dynamik. Er staffelt die Fassade nach außen und fächert die mächtigen Stahlträger nach oben weg, und auch die Tribünen sind leicht schräg in die rechteckige Halle gesetzt, um eine bessere Sicht auf die Springer zu erlauben. Dass man bei einer solchen Anlage Dutzende Regeldetails entwickeln kann und trotzdem an vielen Punkten spezielle Lösungen finden muss, liegt auf der Hand.

Es ist der Stadt Wien und ihren zuständigen Organen hoch anzurechnen, dass sie mit Georg Driendl einen Architekten gefunden haben, der dieser Aufgabe gewachsen ist. Offiziell konnte Driendl zwar nicht mehr mit der Entwurfs-, sondern nur mit der Ausführungsplanung beauftragt werden. In deren Verlauf wurde aber auch der Entwurf neu und auf dem Niveau des Rainerschen Bestands aufgerollt und mit der Haustechnikplanung von Vasko und Partner abgestimmt.

Driendl, der bei Roland Rainer an der Akademie der Bildenden Künste studiert hat, musste sich auch mit Veränderungen auseinandersetzen, die bei bisherigen Renovierungen des Bades erfolgt waren, in den 1980ern und 1996, zu Lebzeiten und teilweise unter Mitwirkung Rainers. Bei der Fassadensanierung wurden damals Verglasungen, die bis zum Boden gereicht hatten, mit geschlossenen Füllungen versehen, und die schlanken Stahlstützen erhielten plumpe Sockel, um Dichtheitsprobleme an den Fußpunkten in den Griff zu bekommen. Auch die „finnische Rinne“, die Rainer verwendet hatte, um den Wasserspiegel auf dasselbe Niveau zu legen wie den umliegenden Hallenboden, musste in einer Form wiederhergestellt werden, die den heutigen Richtlinien entsprach.Eine besondere Herausforderung stellte die Lüftungsanlage dar, deren Leitungen seit der Inbetriebnahme des Bads nicht mehr gereinigt wurden. Für runde und eckige Querschnitte gibt es dafür Lösungen bis hin zum Einsatz von kleinen Reinigungsrobotern. Da Rainer spezielle Querschnitte verwendet hatte – an beiden Seiten abgerundete Rechtecke –, musste dafür eine ebenso spezielle Lösung gefunden werden: fix in den Leitungen installierte Vorspannseile, an denen Reinigungsdüsen entlanggezogen werden. Die einfachste Lösung wäre gewesen, die alten Leitungen quasi als Dekoration zu erhalten und parallel dazu neue, leistungsfähige Weitwurfdüsen zu installieren. Die Entscheidung, den Bestand auch in seiner Funktion zu erhalten, erfolgte erst nach langen Diskussionen und aus Sorge vor Zugerscheinungen durch stärkere Düsen. Dass sich die Erhaltung aber auch ästhetisch gelohnt hat, zeigt sich vor allem im Bereich hinter den Tribünen, wo Rainer aus diesen Leitungen und der rot gestrichenen Stahlkonstruktion ein beachtliches technisches Gesamtkunstwerk entwickelt hat.

Überhaupt hat Rainer im ganzen Gebäude auf Verkleidungen und abgehängte Decken so weit wie möglich verzichtet. Bei der Sanierung wurde dieses Prinzip beibehalten, obwohl durch neue Anforderungen zahlreiche Leitungen dazukamen. Unter anderem mussten in das Edelstahlbecken, das 1996 installiert worden war, zusätzliche Einströmöffnungen gelegt werden. Die Leitungsdichte ist beachtlich und für Badebesucher, die eine „Wellnessoase“ suchen, sicher eine Überraschung. Als Teil eines Hochleistungsraums für Sportler ist diese Lösung aber schlüssig. Die neu gestalteten Duschen bringen eine elegantere Note in den Garderobenbereich, und über den sehr übersichtlichen Zugang von der Hütteldorfer Straße gibt es sogar noch etwas Licht und eine Blickbeziehung zur Außenwelt.

Die Fertigstellung des Bads war ursprünglich für letzten Dezember geplant. Bei einem Sanierungsprojekt ist man vor Überraschungen aber nie sicher, und so erwies sich das Edelstahlbecken trotz vorheriger Saugglockentests bei der Befüllung als undicht. Skandal ist das keiner, sondern unangenehme und zeitraubende Routine, bis die Schweißnähte gefunden sind, an denen nachgebessert werden muss. Ob die Eröffnung noch im Februar stattfinden kann, wird sich zeigen. Viel wichtiger ist, dass das Stadthallenbad die Sanierung bekommen hat, die es verdient. Mit 400.000 Besuchern pro Jahr war es schon bisher eines der erfolgreichsten Bäder der Stadt. Die meisten von ihnen werden nicht wissen, dass sein Entwurf von Roland Rainer stammt. Es wird sie auch kaum interessieren, wie viel Mühe investiert wurde, um das Bad nicht nur technisch, sondern auch ästhetisch auf dem höchsten Niveau zu halten. Aber unbewusst werden alle Besucher davon profitieren. Und das ist den Aufwand wert.

Spectrum, Sa., 2012.01.21

24. Dezember 2011Christian Kühn
Spectrum

Bilder, die Bauten machen

„Erschaute Bauten“ in Wien, „italomodern“ in Innsbruck: Zwei Ausstellungen zeigen eindrucksvoll, wie Architektur in der Fotografie entsteht.

„Erschaute Bauten“ in Wien, „italomodern“ in Innsbruck: Zwei Ausstellungen zeigen eindrucksvoll, wie Architektur in der Fotografie entsteht.

Seit dem frühen 20. Jahrhundert steht die Architektur unter dem Einfluss der Bilder, die Fotografen von ihr machen. Die meisten Architekten der frühen Moderne orientierten sich durchaus bewusst an den speziellen Qualitäten der Schwarz-Weiß-Fotografie, die ihnen für Publikationen zur Verfügung stand. Wer, wie etwa Bruno Taut, auf eine raffinierte Farbigkeit setzte, hatte es in der medialen Vermittlung deutlich schwerer als die Proponenten der weißen Moderne des „internationalen Stils“.

Nach 1945, mit der Entwicklung der Farb- und der Werbefotografie, wurde auch Architektur oft als perfekt inszenierte Ware dargestellt, etwa durch Julius Shulman, der jahrzehntelang die US-amerikanische Architektur als ihr wichtigster Fotograf begleitete. Zwischen 1945 und 1970 war ein Bauwerk in den USA erst dann bedeutend, wenn es „shulmanized“, also von ihm fotografiert worden war. Viele dieser Bauten sind heute abgerissen oder massiv verändert und in der allgemeinen Wahrnehmung vor allem durch seine Fotografien präsent.

Die beiden derzeit im Wiener Museum für Angewandte Kunst und im „aut. Architektur und Tirol“ in Innsbruck laufenden Ausstellungen kommentieren auf unterschiedliche Art den aktuellen Stand der Beziehung zwischen Architektur und Fotografie. Im „aut“ erfinden die Kuratoren, der Architekt Martin Feiersinger und sein Bruder, der Bildhauer und Fotograf Werner Feiersinger, einen neuen Stilbegriff – „italomodern“ –, dessen Berechtigung sie durch zahlreiche oberitalienische Beispiele aus der Zeit zwischen 1946 und 1976 belegen.

Seit 2004 haben sich die beiden in einer intensiven Recherche mit mehr oder weniger bekannten Bauten aus dieser Zeit beschäftigt. In der Ausstellung und im Katalog sind sie durch Werner Feiersingers Fotografien des aktuellen Zustands und durch sparsame, aber immer das Wesentliche zeigende Grundriss- und Schnittzeichnungen Martin Feiersingers repräsentiert. Das Konzept geht vor allem im Katalog auf, der zu den besten Architekturpublikationen der letzten Jahre gehört. Die Fotografien und Zeichnungen werden ergänzt durch einen Text von Otto Kapfinger, der in 13 Notizen nicht nur die gezeigten Projekte, sondern auch autobiografisch den Einfluss der „Italomodernen“ auf die österreichische Szene der 60er-/70er-Jahre reflektiert. Die grafische Gestaltung mit einer eigens nach einem zeitgenössischen italienischen Vorbild für den Katalog entwickelten Schrift stammt von Willi Schmid. Das Projekt der Feiersingers zeigt einen architektonischen Kosmos, der die doktrinäre Moderne bald nach 1945 hinter sich gelassen hat, lange bevor der Begriff der Postmoderne in Mode kam. Manche Architekten sind aus der Architekturgeschichte zwar bekannt, wie Angelo Mangiarotti, Gino Valle, Pier Luigi Nervi, Marco Zanuso oder Vittorio Viganò, aber die Projekte, mit denen sie hier vorgestellt werden, sind großteils echte Entdeckungen. Da finden sich etwa ein Hochhaus von Mangiarotti und ein raffinierter Stahlskelettbau von Zanuso in Mailand aus den frühen 60er-Jahren, die absolut aktuell wirken, oder ein Sommerhaus von Viganò in Portese, das so ruppig ist, wie man sich ein Landhaus nur wünschen kann – zumindest in den Fotografien von Werner Feiersinger, der sich diesen Häusern aus einer heutigen Perspektive nähert und dabei nicht unbedingt das freilegt, was die Architekten als wichtig an ihren Werken erachtet haben, sondern das, was ihn interessiert. Dass Feiersinger dabei nicht seinen formalen Idiosynkrasien folgt, sondern Aspekte zeigt, die für die aktuelle Architekturdebatte relevant sind, macht ihn zu einem der wichtigsten heutigen Architekturfotografen.

Es ist daher kein Zufall, dass Feiersinger auch in der im MAK laufenden Ausstellung über „Erschaute Bauten“ mit mehreren Fotoarbeiten vertreten ist. Die Ausstellung ist die erste unter der Direktion von Christoph Thun-Hohenstein und musste unter großem Zeitdruck entwickelt werden, weil eine noch unter Peter Noever geplante Retrospektive über Helmut Lang nicht zustande kam. Das ist insofern ein Glücksfall, als eine Ausstellung über „Architektur im Spiegel der zeitgenössischen Kunstfotografie“ sonst kaum das Hauptgeschoß des MAK zur Verfügung gestellt bekommen hätte. Der Kurator Simon Rees hat diese Chance genutzt, großformatigen Arbeiten viel Raum gegeben und sie mit Filmarbeiten kombiniert, die in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Architektur eine immer größere Rolle spielen. Zuweilen entstehen dabei neue Räume, wie in der Installation von Jane und Louise Wilson, die auf vier Bildschirmen ein desolates Denkmal aus Stahlbeton im britischen „New Town“ Peterlee zeigen, das von Jugendlichen in Besitz genommen wird.

Brüchige Utopien sind überhaupt ein zentrales Thema der Ausstellung: Eine eigener Block von Bildern des deutschen Fotografen Tobias Zilony zeigt nächtliche Aufnahmen einer neapolitanischen Trabantenstadt und ihrer Bewohner, die ahnen lassen, wie aus hochfliegenden architektonischen Träumen von einer besseren Welt ein alltäglicher Alptraum wurde. Ähnlich kritisch zeigen Sabine Bitter und Helmut Weber in ihren invertierten Schwarz-Weiß-Fotografien den IIT-Campus in Chicago von Ludwig Mies van der Rohe, aus dessen Geschichte der Abriss eines funktionierenden „schwarzen“ Viertels gerne ausgeblendet bleibt.

Viel Raum bekommt in der Ausstellung auch das Schindler-Chase-Haus in Los Angeles, das zum MAK gehört. Neben Arbeiten von Candida Höfer und Hiroshi Sugimoto, die das Haus als Ikone betrachten, findet sich eine Arbeit der dänischen Künstlerin Pia Rönicke, in der quasi im Familienalbum geblättert wird, begleitet von einer Tonspur, auf der der Konservator des Hauses, Robert Sweeney, über dessen Geschichte berichtet. Auch zu dieser Ausstellung existiert eine ausgezeichnete Publikation in Form eines MAK/ZINEs zum moderaten Preis von knapp zehn Euro. Im Doppelpack mit dem Katalog zu „italomodern“ sollte er Architekturversessene auch durch den verschneitesten Weihnachtsurlaub retten.

Spectrum, Sa., 2011.12.24

29. Oktober 2011Christian Kühn
Spectrum

Wo ist denn hier das Welterbe?

Nach zehn Jahren Weltkulturerbe ist die Wiener Innenstadt mehr „Collision City“ als davor. Entsteht Baukultur jetzt dort, wo keiner sie sieht?

Nach zehn Jahren Weltkulturerbe ist die Wiener Innenstadt mehr „Collision City“ als davor. Entsteht Baukultur jetzt dort, wo keiner sie sieht?

Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Erklärung der Wiener Innenstadt zum „Weltkulturerbe“ überraschte mich ein Kollege vor Kurzem mit einer Frage: Wird man in 100 Jahren einen Beitrag der Architektur aus der Zeit zwischen 1990 und 2010 nennen können, der diesem Erbe auch nur annähernd gleichwertig ist? Die Frage ist natürlich hinterhältig: Wenn es das Prinzip des UNESCO-Welterbes ist, besondere Orte möglichst so zu erhalten, wie sie sich zum Zeitpunkt der Unterschutzstellung präsentieren, oder sie durch Restaurierung vor dem Verfall zu bewahren, dann haben es zeitgenössische Aktivitäten hier per se schwer.

Nun ist die Wiener Innenstadt als UNESCO-Welterbe aber ein Sonderfall. Hier wurde kein Monument geschützt, sondern ein lebendiges Stadtzentrum, in dem seit Jahrhunderten eine Epoche die andere überlagert, der Barock die Gotik, der Historismus den Barock und der Jugendstil den Historismus. Weltkultur ist dieses Ensemble nicht aufgrund seines aktuellen Zustands, sondern aufgrund der Chronologie seiner Verwandlung, die man nicht im Jahr 2001 stoppen kann, ohne genau das zu zerstören, was man zu schützen vorgibt.

Der UNESCO war dieses Dilemmas immerhin insofern bewusst, als sie 2005 in Wien eine Konferenz veranstaltete, bei der das „Wiener Memorandum“ formuliert wurde, ein Versuch, Kriterien für den qualitätvollen Weiterbau geschützter städtischer Ensembles aufzustellen. Kurz: Für Bauführungen in solchen Ensembles wird großes historisches Fachwissen auf der einen und kreative Potenz auf der anderen Seite gefordert. Man muss viel über die Geschichte und den Kontext hochwertiger Substanz wissen, um auf hohem Niveau an ihr weiterbauen zu können. Und man muss dafür einen Gestaltungswillen haben, der sich nicht am Gestern, sondern am Heute orientiert.

Wien hat in den letzten Jahren gezeigt, dass es weitgehend unfähig ist, ein entsprechendes Niveau im Umgang mit der historischen Bausubstanz seiner Innenstadt zu erreichen. Es gibt positive Einzelfälle wie die Gestaltung des Judenplatzes durch Jabornegg/Pálffy mit dem Holocaust Mahnmal von Rachel Whiteread, den Neubau des Kaipalastes von Henke/Schreieck oder die nur an einer Schmalseite nach außen spürbare virtuose Sanierung des Urbani-Hauses am Platz am Hof durch Hermann Czech. Es mag ein paar weitere versteckte Sanierungen geben, ein paar geglückte Lokale, aber in Summe sind der Stadtraum und seine Möblierung planlos und provinziell. Die Fußgängerzonen sind halbherzig auf Stand gebracht, bei der Beleuchtung blieb man bei den Maiglöckerl-Laternen. Der Umgang mit Dachausbauten ist auf einem beschämenden Niveau. Dass die zuständigen Beamten seit Jahren auf die Frage, wie Derartiges möglich sei wie der mit dem Schriftzug der Generali-Versicherung gekrönte Dachausbau auf dem Platz am Hof, nichts anderes zu sagen haben, als dass die Projekte ohne ihr Eingreifen noch schlimmer wären, spricht für sich.

In einem der einflussreichsten Texte zur Architektur des 20. Jahrhunderts, „Collage City“, haben Colin Rowe und Fred Koetter 1974 die Collage als bessere Alternative sowohl zur funktionalistischen Großstadt der Moderne als auch zum Disneyland, das sich schon damals als gewinnträchtig-putziges Modell für einen neuen Urbanismus abzeichnete, empfohlen. Eines ihrer Beispiele war die Wiener Innenstadt, fokussiert auf den Heldenplatz mit seinen großen Gesten und fein gekitteten Brüchen. Dort, wo an dieser Stadt in den letzten Jahren weitergebaut wurde, entspricht sie leider einem anderen Begriff von Rowe und Koetter: der „Collision City“, der gröbsten Form der Collage. Die meisten der neuen Dachausbauten, aber auch etwa der Aufgang zur Albertina entsprechen diesem Muster. Es fehlt offensichtlich am Willen und an der Kompetenz, die Stadtgestaltung in Wien auf ein zeitgemäßes Niveau zu heben.

Der Status des Weltkulturerbes hat dazu in zehn Jahren nichts beigetragen und möglicherweise sogar die Diskussion so sehr auf den Canaletto-Blick verengt, dass man das Ganze einer lebendigen Stadt nicht mehr wahrnimmt. Den Welterbestatus wird man dennoch nicht zurücklegen wollen. Sich dem Anspruch, der damit verbunden ist, ernsthaft zu stellen, wäre aber hoch an der Zeit.

Auf die hinterhältige Frage meines Kollegen nach zeitgenössischen Beiträgen habe ich nur eine ausweichende Antwort gefunden. Wenn ich dir in Wien ein Bauwerk zeigen kann, das niemand sieht und bei dem trotzdem alles daran gesetzt wurde, es auch ästhetisch auf ein hohes Niveau zu bringen – wäre das nicht ein Beitrag?

Ein solches Bauwerk gibt es, eine neue Brücke über den Donaukanal in Simmering, unweit von Kläranlage und Müllverbrennung, knapp vor der Einmündung des Kanals in die Donau. Sie ist das Ergebnis eines Wettbewerbs, den das Ingenieurbüro PCD, vertreten durch Gerald Foller und Michael Kleiser in Kooperation mit zeininger Architekten und der Architektengruppe U-Bahn, gewonnen hat. Sie ist eine Brücke aus einem Stück, eine der längsten „Integralbrücken“ Europas und daher auch konstruktiv eine Innovation. Die Fahrbahnplatte verwandelt ihren Querschnitt zum Brückenscheitel hin in eine Addition schmaler Balken, die ihre Lasten über Stützenbündel auf zwei Fundamentpunkte am Ufer abtragen. Jeder Punkt an dieser Brücke ist zugleich präzise konstruiert und formal durchgearbeitet. Das Ergebnis ist höchst elegant und international konkurrenzfähig, auch wenn es außer ein paar Joggern und den Passagieren der Touristenschiffe, deren Route hier verläuft, kaum jemand zu Gesicht bekommen wird.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Hier geht es nicht darum, Ingenieure als die besseren Gestalter darzustellen. Ohne die gute Zusammenarbeit von ambitionierten Tragwerksplanern und Architekten wäre diese Brücke nie entstanden, und es hätte genug Planer gegeben, die sie einfacher und billiger konstruiert hätten. Bemerkenswert ist hier vor allem, dass dieses Ergebnis einem Auftraggeber, dem städtischen Grund- und Brückenbau, gelungen ist, der jahrzehntelang für sein Desinteresse an Gestaltung berüchtigt war. In diesem Fall ist die Stadt glücklich über sich hinaus gewachsen. Das darf man sich für ganz Wien und seinen Magistrat wünschen.

Spectrum, Sa., 2011.10.29

08. Oktober 2011Christian Kühn
Spectrum

Schützen an der Halfpipe

Wie man ein Denkmal von Missverständnissen befreit: der neu gestaltete Landhausplatz im Zentrum von Innsbruck.

Wie man ein Denkmal von Missverständnissen befreit: der neu gestaltete Landhausplatz im Zentrum von Innsbruck.

Der Hauptplatz von Innsbruck? Auf diese Frage wussten selbst Einheimische bisher keine befriedigende Antwort. Es gibt zwar Plätze in der Stadt, den Bahnhofsplatz oder den Bozner Platz, aber das sind Transiträume mit wenig Aufenthaltsqualität. Andere, wie der Sparkassenplatz, sind erweiterte Straßenräume, und selbst das Rathaus ist ohne Vorplatz an die Maria-Theresien-Straße postiert.

Der einzige Platz, der von der Dimension und der Bedeutung der dort angesiedelten Institutionen die Bezeichnung Hauptplatz verdient, wäre niemandem in den Sinn gekommen: der Landhausplatz, heute nach dem Altlandeshauptmann Eduard Wallnöfer benannt. Der Platz war ein Unort, Aufmarschplatz, verwahrloster Grünraum, Zuflucht für Obdachlose und Drogenhändler.

Der Platz ist vergleichsweise jung. Er wurde nach dem „Anschluss“ Österreichs als Vorplatz des neu errichteten Gauhauses angelegt. Das Gebäude, heute Sitz der Landesregierung, ist ein typisches Produkt der NS-Architektur, errichtet im Stil eines gedrungenen Klassizismus, in dem sich Biederkeit und latente Brutalität verbinden. Auffällig ist der Mittelrisalit mit Pfeilern aus Naturstein und drei Balkonen, deren mittlerer als Führerbalkon hervorsticht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auf Initiative der französischen Besatzer auf dem Platz ein Befreiungsdenkmal errichtet, das formal eine frappante Ähnlichkeit mit dem Mittelrisalit des Gauhauses hat. Die Planung stammt von einem französischen Militärarchitekten, dem der Klassizismus so sehr ins Blut übergegangen war, dass ihm diese Spiegelung nicht weiter auffiel. Die Partner auf Tiroler Seite hatten nichts gegen diese ästhetische Entscheidung einzuwenden, auch nicht gegen die mehrdeutige Inschrift in lateinischer Sprache, die das Denkmal den Opfern für die Freiheit Österreichs widmete, ohne den Faschismus und seine ortsansässigen Parteigänger explizit als Täter zu erwähnen.

Auf dem Gesims des Denkmals durfte ein meterhoher, aus Kupferblech getriebener Tiroler Adler Platz nehmen. Die fünf Durchgänge wurden mit Eisengittern versehen, in die die Wappen der österreichischen Bundesländer so eingearbeitet waren, dass sich die Form eines großen Kreuzes ergab.

Angesichts dieser symbolischen Gemengelage darf man es den Innsbruckern nicht verübeln, dass sie das Denkmal mit dem 1928 auf persönliche Initiative Mussolinis errichteten Bozener Siegesdenkmal in Verbindung brachten und die Gittertore des vermeintlichen Innsbrucker Pendants und deren religiöse Symbolik für eine spätere Zutat hielten. Daran konnten auch die weiteren, auf dem Platz abgestellten Denkmäler – etwa für die jüdischen Opfer der Novemberpogrome von 1938 – nicht viel ändern.

Es ist vielleicht nur Zufall, dass der Wettbewerb für die Neugestaltung des Platzes 2008 stattfand, als es in Südtirol zu massiven Protesten gegen die nach wie vor stattfindende Nutzung des Bozener Siegesdenkmals durch italienische Rechtsparteien kam. Die Sensibilität für die besondere geschichtliche Bedeutung des Innsbrucker Landhausplatzes war jedenfalls geweckt. Und so war im Wettbewerb nicht nur die Funktionssanierung eines heruntergekommenen Stadtraums gefordert, sondern auch die Klärung seiner kulturhistorischen Bedeutung.

Das Team, das den Wettbewerb für sich entscheiden konnte – die Innsbrucker Architekten Kathrin Aste und Frank Lugin, die unter dem Kürzel LAAC firmieren, Johannes Stiefel vom Wiener Büro Stiefel/Kramer und der Künstler Christopher Grüner –, hat beide Aufgaben vorbildlich gelöst. Anstelle der Zweiteilung des Platzes in einen „harten“ und einen begrünten Teil ist eine durchgängige Gestaltung getreten, die auf die symmetrischen Monumentalfassaden aus der NS-Zeit mit einer plastisch gestalteten Landschaft reagiert, in die an geeigneten Punkten Bepflanzungen eingelassen sind. Als fliegender Teppich aus hellem Beton folgt sie den Bewegungsströmen der Passanten, deren meist genutzter diagonal über den Platz zur Maria-Theresien-Straße führt.

Die Abgänge und Zufahrten für die Tiefgarage unter dem Platz sind nahtlos in diese Landschaft integriert, wobei sich an der Ostseite des Platzes über der Hauptzufahrt ein kleiner Hügel ergibt, von dem aus man den Platz überblicken kann. Die drei kleineren Denkmäler wurden neu positioniert und mit zusätzlichen Elementen ergänzt, unter anderem mit einer kleinen Brunnenkaskade am Südende des Platzes. Den Aufmarschplatz vor dem Landhaus gibt es nach wie vor, aber wenn die Tiroler Schützen gerade nicht aktiv sind, verwandelt er sich in ein Wasserspiel, das aus zahlreichen Düsen kleine Wasserbögen in die Luft schießt, durch die im Sommer die Kinder laufen.

Und das Befreiungsdenkmal? Es hat nicht viel mehr gebraucht als die Gittertore zu öffnen und die Betonwellen sanft an seine Stufen gleiten zu lassen, um es vom Fremdkörper zu einem integralen Teil des öffentlichen Raums werden zu lassen. Bei Nacht bleibt es, wie die Aufmarschfläche vor dem Landhaus, nur schwach beleuchtet. Da gehört der Platz den Stadtbewohnern, vor allem den jüngeren, die hier ein Skaterparadies entdeckt haben. Konflikte unter den Nutzern gibt es kaum, weil alle spüren, dass ihnen hier etwas geschenkt wurde, das man teilen muss: einen präzise gestalteten Stadtraum außerhalb kommerzieller Interessen, ohne Zweifel den schönsten Platz der Stadt.

Dass es jüngeren Tiroler Architekten gelungen ist, ein solches Niveau im Entwurf zu erreichen und in der Ausführung durchzusetzen, ist ein gutes Zeichen für die Baukultur des Landes. Wien kann sich an diesem Platz ein Beispiel nehmen, gerade in der nun anbrechenden Diskussion um die Gestaltung von Morzin- und Schwedenplatz.

Spectrum, Sa., 2011.10.08



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Neugestaltung Eduard Wallnöfer Platz - Landhausplatz

06. August 2011Christian Kühn
Spectrum

Die Schlucht in der Stadt

Kommerzielle Bauaufgabe, virtuos gelöst: Henke und Schreieck konzipierten eine „gläserne Box mit schrägem Anschnitt“ als Büro- und Geschäftshaus. Zu finden in der Mariahilfer Straße, Wien-Neubau.

Kommerzielle Bauaufgabe, virtuos gelöst: Henke und Schreieck konzipierten eine „gläserne Box mit schrägem Anschnitt“ als Büro- und Geschäftshaus. Zu finden in der Mariahilfer Straße, Wien-Neubau.

Die Mariahilfer Straße boomt. Wenn das Wort „Menschenstrom“ irgendwo angebracht ist, dann hier an einem sonnigen Nachmittag, wenn sich die Massen langsam an den Geschäften und Lokalen dieser größten Einkaufsstraße Wiens vorbeiwälzen wie ein Fluss durch ein breites Bergtal. Nirgendwo sonst ist Wien so dicht bebaut wie hier. Der Straßenraum wird begrenzt von einer bis zu 25 Meter hohen, beinahe kompakten Blockbebauung, in der die wenigen Höfe gerade das erforderliche Minimum an Belichtung herstellen.

Aufgebrochen wird diese Typologie an einigen Stellen durch sogenannte Straßenhöfe, scheinbar Quergassen, in Wirklichkeit aber auf privatem Grund liegende Hofräume an der Grundstücksgrenze, die in der Regel auch öffentlich zugänglich sind. Da sie im Unterschied zu „echten“ Straßen keinen weiteren Durchgang anbieten, wirken sie wie ein Talschluss im Gebirge: Man kann sie bewandern, muss sie aber auf demselben Weg wieder verlassen.

Mit dem Büro- und Geschäftshaus in der Mariahilfer Straße 36 haben die Architekten Marta Schreieck und Dieter Henke diesen Typus des Straßenhofs neu interpretiert. Zur Verfügung stand ihnen dafür eine extreme schmale Parzelle mit 17 Metern Breite und 65 Metern Tiefe, deren Bebauungsplan ein Vorderhaus, einen Innenhof mit Seitentrakt und ein Hinterhaus vorsah.

Henke und Schreieck entwickelten dazu eine raffinierte Alternative, die aus dem verfügbaren Raumvolumen eine Art Schlucht, die vom Straßenniveau aus über eine Rolltreppe zugänglich ist, herausschneidet. Über diese Treppe erreicht man auf der Ebene des dritten Geschoßes eine lang gestreckte Terrasse mit Blick auf die Mariahilfer Straße, die der Weinhandlung und Bar auf diesem Geschoß als Außenbereich dient.

Begleitet wird dieser Weg auf der einen Seite von einer Stahlbetonwand, in die kreisrunde Leuchtkörper eingelassen sind, auf der anderen Seite von der leicht geneigten Glasfassade der Bürogeschoße, die am Ende der Schlucht im rechten Winkel an die Stahlbetonwand anschließt. Die Glasfassade ist hier deutlich nach hinten geneigt, um den Abschluss weniger abrupt wirken zu lassen und mehr Licht in den Raum zu bringen. Zusätzliche Dramatik (und vermietbare Flächen) bringen drei Querspangen, die die Schlucht überspannen beziehungsweise den oberen Abschluss des gesamten Ensembles bilden.

Von der Mariahilfer Straße aus betrachtet, wirkt das Gebäude als einprägsame Figur, eine gläserne Box mit schrägem Anschnitt. Die Querspangen ziehen den neugierigen Blick in die Tiefe der Parzelle und laden ein, die Schlucht näher zu erforschen. Kommerziell hat sich diese Lösung jedenfalls bewährt: Die Weinhandlung, die nur über die Rolltreppe und einen Lift zu erreichen ist, floriert, und die Büros sind komplett vermietet. Das ist trotz guter Adresse keine Selbstverständlichkeit: Ein Blick in die umliegenden Höfe zeigt einen beachtlichen Leerstand, der nicht zuletzt durch die ungünstige Hinterhoflage vieler Büros begründet ist.

So wie bei früheren Projekten, etwa dem Büro und Geschäftshaus k47 am Franz-Josefs-Kai, gelingt es Henke und Schreieck den Ort zu respektieren, aber zugleich neue konstruktive und bautypologische Möglichkeiten auszunutzen, um eine Lösung zu finden, die den konventionellen Typologien in wichtigen Punkten überlegen ist.

Das Material- und Detailspektrum, das dabei zum Einsatz kommt, orientiert sich an der klassischen Moderne: Sichtbeton, Stahl- und Aluminiumprofile, raumhohe Verglasungen. Wem dieses Vokabular nicht „aktuell“ genug ist oder zu langweilig, der geht von einem Architekturbegriff aus, der sich vor allem im fotografischen Abbild möglichst plakativ bestätigt sehen möchte. Die Projekte von Henke und Schreieck sehen stattdessen auf Fotos zurückhaltend und elegant aus. Ihre spezielle Qualität erschließt sich erst im direkten Erlebnis: die leicht in den Straßenraum hinausgeschobene Fassadenlösung mit der verglasten Ecke, die einen famosen Blick in die Tiefe der Mariahilfer Straße bietet; der Effekt der schräg gestellten Glaswände über der Terrasse; die Büroräume, die auch noch tief im Baublock von der Öffnung zur Mariahilfer Straße profitieren; und schließlich die Verbindung all dieser Eindrücke zu einem eindrücklichen Ganzen, das sich nicht auf ein Foto komprimieren lässt.

Was am Ende so selbstverständlich und leicht wirkt, ist das Ergebnis einer minutiösen Planung unter höchst komplexen Rahmenbedingungen, die sich den Planern als Verknotung von Haustechnik und Statik, Baurecht und Kosten darstellen. Wer hier als Architekt keine anderen Kompetenzen einbringen kann, als hübsche Bilder zu erzeugen, ist auf verlorenem Posten und endet als Dekorateur von Standardlösungen, die andere entwickelt haben.

Henke und Schreieck beweisen mit diesem Projekt einmal mehr ihre Kompetenz im Blick aufs Ganze, vom städtebaulichen Konzept bis zum konstruktiven Detail. Dass sie auch mit feinen Zwischentönen umzugehen wissen, zeigt sich in der Bar der Weinhandlung, in der sie in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Ursula Aichwalder die Inneneinrichtung gestaltet haben. Das Vokabular erweitert sich hier mit einer differenzierten Palette von Farben und einfachen Materialien in edler Verarbeitung, die der Aufgabe, eine Bar zu schaffen, die sowohl untertags als auch am Abend funktioniert, elegant gerecht wird.

Damit bei einer trivialen Bauaufgabe wie dieser eine derart hohe Qualität gelingt, braucht es aber mehr als nur gute Architekten und Fachplaner. Es braucht dazu einen Bauherren, der sich nicht mit der einfachsten Lösung zufrieden gibt: Hier war es die Palmers AG, die schon auf einer benachbarten Parzelle ein Projekt mit Adolf Krischanitz realisiert hat. Und es braucht Beamte und Politiker im Bezirk, die mit dem in anderen Fällen zu traurigem Ruf gekommenen Ausnahmeparagrafen der Wiener Bauordnung verantwortungsvoll umgehen. Hier ist er jedenfalls nicht nur im Sinn des Investors zum Einsatz gekommen, sondern vor allem im Interesse der Stadt und ihrer Bewohner.

Spectrum, Sa., 2011.08.06



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Büro- und Geschäftshaus Mariahilfer Straße

09. Juli 2011Christian Kühn
Spectrum

Schlag den Star

Die Stararchitektur ist tot, es lebe der neue, der andere Star? Über die fantastischen Szenerien des Alexander Brodsky und eine Ausstellung seines Werks im Architekturzentrum Wien.

Die Stararchitektur ist tot, es lebe der neue, der andere Star? Über die fantastischen Szenerien des Alexander Brodsky und eine Ausstellung seines Werks im Architekturzentrum Wien.

Vor knapp einem Jahr verkündete Dietmar Steiner, Direktor des Architekturzentrums Wien, anlässlich der Biennale in Venedig das Ende der Stararchitektur. Dreißig Jahre lang hätte diese einen Jahrmarkt der Eitelkeiten bedient, dessen solitäre Objekte nichts anderes darstellten als eine Demonstration wirtschaftlicher oder politischer Macht.

So gut wie überall auf der Welt, das beweise nun die von Kazuo Sejima kuratierte Biennale, hätte eine Gegenbewegung dazu eingesetzt, charakterisiert durch die Verwendung „armer“ Materialien, lokale Bezüge und Traditionen, Wiederverwendung und Umnutzung, experimentelle Auseinandersetzung mit Atmosphären. Nur in Österreich hätten diesen Trend die Verantwortlichen für den Beitrag zur Biennale noch kaum begriffen, der sich tatsächlich als einfältige Leistungsschau der heimischen Stararchitektur präsentierte. Der Widerspruch aus der himmelblauen Ecke folgte prompt: Die Biennale, so Wolf D. Prix, sei insgesamt langweilig geraten und würde in ihrer Stimmungsverliebtheit von aktuellen gesellschaftlichen Problemen ablenken. Diese könne der Star – im Gegensatz zum Stimmungskünstler – durch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit etwas beeinflussen.

Nun schlägt das Architekturzentrum Wien zurück, nicht mit einer systematischen Ausstellung über den angeblichen neuen Trend, sondern mit seinem eigenen Star, dem Russen Alexander Brodsky. 1955 in Moskau in eine Künstlerfamilie geboren, studierte Brodsky am renommierten MArchI, dem Moskauer Architektur Institut, wurde nach seinem Abschluss aber vor allem als Mitglied einer losen Gruppe von „Papier-Architekten“ bekannt. Zusammen mit seinem Partner Ilya Utkin reagierte er auf die Stagnation der Breschnew-Ära mit Wettbewerbsbeiträgen zu öffentlichen Bauaufgaben, die statt der normierten sowjetischen Ästhetik fantastische, von Piranesis Kupferstichen inspirierte Szenarien zeigten.

Mit diesen Gegenentwürfen zum Mainstream des Bauens lagen Brodsky und Utkin Anfang der 1980er-Jahre mitten im Trend jenes Zweigs der Postmoderne, der sich durch eine Rückbesinnung auf die Architekturgeschichte neu zu orientieren versuchte. Ihre Arbeiten wurden auch außerhalb Russlands bekannt, selbst in Japan, wo sie 1982 mit einem solchen Piranesischen Kupferstich einen von der Zeitschrift Japan Architect ausgeschriebenen Wettbewerb gewannen.

1989 wurden Brodsky und Utkin zum ersten Mal zu einer Ausstellung nach New York eingeladen, wo sie sich rasch als bildende Künstler etablierten, vor allem mit Installationen, mit denen sie ihre Piranesischen Visionen vom Papier in den Raum übersetzten. Auch das Herzstück der Ausstellung im Architekturzentrum Wien ist eine Weiterentwicklung eines Projekts, das Brodsky und Utkin 1991 für die Ausstellung „Between Spring and Summer: Soviet Conceptual Art in the Era of Late Communism“ entwickelten und an drei Standorten in den USA zeigten. Es handelt sich um einen lang gestreckten Raum, dessen Boden mit einer schwarzen, spiegelnden Flüssigkeit bedeckt ist. Nur am Rand dieser Spiegelfläche bleibt ein schmaler Umgang für die Besucher. Auch die Wände sind schwarz und mit mattem, Licht schluckenden Filz bedeckt. Umso dramatischer ist der Blick nach oben, wo in mehreren Schichten Alltagsgegenstände zu schweben scheinen, Flaschen, Haushaltsgeräte, Fahrradteile. Alle Gegenstände sind matt-schwarz lackiert, der künstliche Himmel über ihnen leuchtet wie an einem grauen Herbsttag. Durch ein umlaufendes Spiegelband entsteht der Eindruck, als würde diese Woge aus verbrauchten Gegenständen die ganze Welt überspannen. Der glänzende Boden verdoppelt dieses Bild nach unten, mit einer starken Verfremdung: Während der Blick nach oben vom Schwarz-Weiß-Kontrast lebt, wirkt seine Spiegelung wie ein Gemälde in unterschiedlichen Schwarztönen, da ihm die dunkle, aus einer dünnen Schicht Altöl bestehende Spiegelfläche beinahe alles Licht entzieht.

So beeindruckend dieser Raum ist, findet sich die eigentliche Überraschung der Ausstellung in einem Nebenraum, in dem Fotos jener Arbeiten präsentiert werden, die Brodsky seit 2000 als Architekt geschaffen hat, nach der Auflösung der Partnerschaft mit Utkin und der Rückkehr nach Russland nach einem vierjährigen Aufenthalt in New York. Der Titel der Ausstellung im Architekturzentrum – „It still amazes me that I became an architect“ – bezieht sich auf diese überraschende Wende in Brodskys Biografie. Er hätte, so Brodsky, eines Tages bemerkt, dass Architektur zu machen für ihn ganz einfach sei, so wie man Auto fährt, obwohl man gar nicht weiß, wie das Auto wirklich funktioniert. Eine wichtige Rolle spiele auch die Tatsache, dass er zur modernen und zeitgenössischen Architektur, die er trotz aller Mühe lange nicht verstanden hätte, heute einen Zugang gefunden habe. Als historische Referenzpunkte nennt er Sigurd Lewerentz und Gunnar Asplund, als aktuelle Peter Zumthor oder Peter Märkli. Aber auch ein Raum wie der von Norman Foster überdachte Hof des British Museum in London könne ihn heute begeistern.

Viele der Projekte seit 2000 bewegen sich an der Grenze zur Installation, aber sie haben alle einen Gebrauchswert. Es sind Restaurants darunter, Pavillons für Kunstausstellungen, Einfamilienhäuser und Bauten für einen Golfklub. Alte Materialen spielen eine Rolle, etwa beim Wodka-Pavillon, der aus Holzfenstern einer ehemaligen Fabrik besteht, oder bei einer Rotunde mit Türen verlassener Häuser. In diesen Projekten ist Brodsky zweifellos ein Melancholiker, der den historischen Städten nachtrauert, die wie in Moskau nur noch in der Erinnerung existieren. Aber es sind auch durchaus optimistische, gelassene Projekte darunter, neben denen die gängige Hochglanzarchitektur verkrampft und müde aussieht. Ob die Zukunft der Architektur aus dieser Richtung kommt? Oder nur die nächste Mode mit neuen Stars? Im Architekturzentrum kann man diesen Sommer zumindest darüber meditieren.

Spectrum, Sa., 2011.07.09

11. Juni 2011Christian Kühn
Spectrum

Die Stadt im Flow

Peking: eine Stadt, die internationale Konkurrenz als Vorbild und nicht als Bedrohung versteht.Noch dominieren ausländische Kreative das architektonische Geschehen. Noch.

Peking: eine Stadt, die internationale Konkurrenz als Vorbild und nicht als Bedrohung versteht.Noch dominieren ausländische Kreative das architektonische Geschehen. Noch.

Wenn über China gesprochen wird, dreht sich schnell alles um Zahlen: 1,3 Milliarden Einwohner, rund 45 Prozent davon in Städten. Im Jahr 2025 wird es in China voraussichtlich 220 Städte mit mehr als einer Million Einwohnern geben. Heute sind es 42, gegenüber 31 in Europa. Schanghai und Peking sind mit 19,2 beziehungsweise 15,8 Millionen Einwohnern die beiden bevölkerungsreichsten Städte der Welt. Schanghai hat mit 400 Kilometern das längste U-Bahnnetz, seine erste Linie wurde erst 1995 eröffnet. Die Pekinger U-Bahn ist zwar nur 228 Kilometer lang, dafür besitzt die Stadt den nach Atlanta, USA, leistungsfähigsten Flughafen, dessen neuer, von Norman Forster entworfener Terminal drei mit einer Nutzfläche von 1,3 Millionen Quadratmetern das flächenmäßig größte Gebäude der Welt ist.

Auch die zeitgenössische Architektur Chinas konnte man bis vor Kurzem unter der Perspektive der Massenproduktion abhandeln. Als China in den 1990er-Jahren begann, massiv in Infrastruktur und Wohnbau zu investieren, drehte sich die architektonische Diskussion in der Regel um das Dekor, mit dem sich standardisierte Hochhäuser in der Sockel- und Dachzone als „chinesisch“ artikulierten, soweit sie nicht ohne jeden ästhetischen Anspruch als technische Gebilde hochgezogen wurden.

In den vergangenen Jahren hat sich die Situation deutlich geändert. Der Immobilienmarkt hat zumindest in einem Segment, das sich immer noch in Millionen von Quadratmetern bemessen lässt, ein Niveau erreicht, das den höchsten internationalen Standards entspricht. Preise und Nutzfläche von Wohnungen bewegen sich dabei in einem exklusiven Bereich: Im „MOMA Linked Hybrid“, einer Anlage mit 620 Apartments und einem Hotelturm in Peking, entworfen vom New Yorker Architekten Steven Holl, kostet der Quadratmeter umgerechnet rund 6000 Euro, die Wohnungsgröße bewegt sich zwischen 140 und 400 Quadratmetern. Ein Skywalk auf der Ebene des 17. bis 20. Stockwerks verbindet die Türme als halb öffentliche Zone mit Clubs und Schwimmbad. Im Zentrum der Anlage befindet sich eine Wasserfläche, auf der ein kleines Programmkino mit einer begrünten Terrasse als zweite Gartenebene zu schweben scheint. Auch ökologisch versucht das Projekt zu punkten: Heizung und Kühlung erfolgen durch Bauteilaktivierung über eine geothermische Anlage und Wärmepumpen, Brauch- und Trinkwasser werden in getrennten Systemen geführt.

Bereits 2005 haben die österreichischen Architekten baumschlager.eberle auf einem Grundstück gegenüber für denselben Developer einen Wohnbau projektiert, der in ökologischer Hinsicht Maßstäbe setzte. Formal weniger spektakulär als der „Linked Hybrid“, zeichnete sich dieses Projekt durch den ersten außen liegenden Sonnenschutz bei einem Wohnturm in China, mechanische Belüftung und einen Heizwärmebedarf aus, der bei einem Drittel des damals üblichen lag. Verkleidet sind die Türme zum Teil mit Kupferblech, einem edlen Material, das in China zur Errichtungszeit vergleichsweise billig zu haben war.

Ein solcher Pragmatismus ist bei den aktuellen Projekten, die in Peking nach Entwürfen von internationalen Großarchitekten entstehen, nicht zu bemerken. Stattdessen wird zumindest in der Erklärung versucht, sich an Merkmale der traditionellen chinesischen Architektur anzunähern. Steven Holl etwa leitet die Farbgebung auf der Fassade seines „Linked Hybrid“ von den polychromen Holzbemalungen ab, die für die chinesische Tradition charakteristisch sind. Dass den neuen Wohnbauten ein traditionelles Hutong-Viertel nach dem anderen weichen muss, bleibt dabei unerwähnt.

Beim Olympiastadion, dem „Vogelnest“, für dessen Entwurf die Architekten Jaques Herzog und Pierre de Meuron mit dem Künstler Ai Wei Wei zusammengearbeitet haben, findet sich die Konfrontation perfekter Symmetrie mit exzentrischen Mustern, die in der chinesischen Ästhetik immer wieder thematisiert wurde. Diese Exzentrik ist keine oberflächliche Angelegenheit: Ai Wei Wei hat sie zu leben versucht und als Recht auf Kritik interpretiert. Der chinesischen Regierung ist die Botschaft des „Vogelnests“ wohl zu spät aufgefallen. Selbst nach der Inhaftierung Ai Wei Weis steht dieses prominent auf der zentralen Achse der Stadt, und das Gerücht, es könnte wieder abgerissen werden, angeblich um den Stahl zu verwerten, ist vielleicht nicht aus der Luft gegriffen.

Kritisches Potenzial haben auch Rem Koolhaas und Ole Scheren, die Architekten des Gebäudes für den staatlichen Fernsehsender CCTV, für ebendieses beansprucht. Noch sind die öffentlichen Bereiche des Gebäudes nicht zugänglich, weder der offene Platz unterhalb des Hochhauswinkels noch die Skylobbys und Terrassen, die es in den obersten Geschoßen enthalten soll. Welche Art von zumindest potenziell kritischer Öffentlichkeit dort jemals entstehen kann, wird sich erst zeigen. Im Moment spielt das Gebäude seine irritierende skulpturale Qualität in der Fernwirkung aus. Von vielen Punkten der Stadt aus sichtbar, wirkt es weniger wie ein Bürohaus, sondern eher wie eine technische Infrastruktur, die alles andere als harmlos aussieht.

Dass diese Projekte ausnahmslos von internationalen Architekten stammen, spricht eher für das aktuelle Selbstbewusstsein der Chinesen, die an dieser Konkurrenz wachsen wollen. Gab es in China 1985 noch gezählte acht Universitäten, an denen man Architektur studieren konnte, sind es heute 250. Die Studierenden dort sind so motiviert, wie man es nur in einem Land sein kann, das in den nächsten 15 Jahren sein Bauvolumen zumindest verdoppeln wird. Auf ausländische Kreativität wird man hier nicht mehr lange angewiesen sein.

Spectrum, Sa., 2011.06.11

30. April 2011Christian Kühn
Spectrum

Wir sind Welterbe

Geniert sich wirklich niemand? Zum Zehn-Jahr-Jubiläum des Welterbes Wien Innere Stadt: Lokalaugenschein zum Thema Bauen im Bestand.

Geniert sich wirklich niemand? Zum Zehn-Jahr-Jubiläum des Welterbes Wien Innere Stadt: Lokalaugenschein zum Thema Bauen im Bestand.

Im Jahr 2005, vier Jahre nach der Entscheidung, die Wiener Innenstadt zum Welt(kultur)erbe zu erklären, verabschiedete die UNESCO bei einer Konferenz im Wiener Rathaus das „Wiener Memorandum“, einen programmatischen Text unter dem Titel „World Heritage and Contemporary Architecture – Managing the Historic Urban Landscape“. Inhalt des Memorandums ist die Frage, wie das historische Erbe nicht nur bewahrt, sondern zeitgenössisch ergänzt und erweitert werden soll. Dass dieses Memorandum gerade in Wien inauguriert wurde, ist kein Zufall, hat man es doch hier mit dem Präzedenzfall einer lebendigen, in Entwicklung begriffenen Innenstadt zu tun, die man nicht dauerhaft in einem bestimmten Zustand konservieren kann.

Das Memorandum gibt dafür eine Reihe durchaus brauchbare Ratschläge: Jede Entscheidung sollte auf einem tiefen Verständnis für Geschichte, Kultur und Architektur eines Orts aufbauen, Typologie und Morphologie untersuchen, um rechtzeitig die Gefahren, aber auch die Chancen einer Veränderung zu erkennen. Pseudo-historische Anpassung sei zu vermeiden, oberstes Ziel sei die kulturelle Kontinuität durch Interventionen auf höchstem zeitgenössischem Qualitätsniveau. Wenn man den Bruch kultureller Konventionen, wie er in der Wiener Innenstadt zwischen Barock, Historismus und Jugendstil selbstverständlich ist, als Kontinuität des Stilbruchs auffasst, lässt diese Definition einiges zu, zumindest solange der Stilbruch auf einem hohen Niveau passiert.

Genau das kann man von der Wiener Innenstadt zu ihrem zehnjährigen Jubiläum als UNESCO-Welterbe allerdings nicht sagen. An den Stilbrüchen auf unterstem Niveau, die die Innenstadt schon vor 2001 zu ertragen hatte, etwa in der Stadtmöblierung, hat sich außer einer halbherzig auf mittlerem Niveau verunglückten Sanierung der Kärntner Straße nichts verbessert. Dafür hat der Entwicklungsdruck auf die innerstädtischen Immobilien voll durchgeschlagen. Das jüngste Beispiel dafür befindet sich am Platz Am Hof gerade in Fertigstellung: Ein Dachaufbau auf der Schmalseite des Platzes, im Auftrag der Generali Versicherung vom Architekten Gert M. Mayr-Keber verantwortet. So knallprotzig und provinziell hat sich lange niemand mehr auf einem Dach der Innenstadt breitgemacht. Das Haus selbst war schon zu seiner Entstehungszeit 1882 zu hoch und in seiner strengen Symmetrie kein besonders glücklicher Abschluss für einen der historisch bedeutendsten Plätze der Stadt. 1933 wurde die neubarocke Fassade nach Plänen der Architekten Schönthal und Hoppe modernisiert und das bombastische Dach durch eine ruhige, ebenflächige Lösung ersetzt. Nach Kriegsschäden in ähnlicher Form wiederaufgebaut, erhielt das Haus bei der letzten Renovierung seine neubarocke Fassade in leicht veränderter Form zurück, wobei man aber aus gutem Grund darauf verzichtete, das Haus wieder zu seiner alten Höhe aufzubauen. Die jüngste Renovierung setzt nun wieder ein lukratives Geschoß drauf und krönt die Fassade mit einer freien Interpretation der Kommandokapsel des Raumschiffs Enterprise.

Auch außerhalb des Welterbes beweist die Stadt im Umgang mit ihrem denkmalgeschützten Bestand keine glückliche Hand. Der neue Westbahnhof geht seiner Fertigstellung entgegen, und langsam wird das ganze Ausmaß an Skurrilität offenbar, mit dem die alte, denkmalgeschützte Halle aus dem Jahr 1951 umrahmt wird. Wer die Pläne kennt, mit denen die Architekten Neumann und Steiner im Jahr 2002 den Wettbewerb für den Um- und Zubau gewonnen haben, traut seinen Augen nicht. An der sensiblen Ecke zur Mariahilfer Straße präsentiert sich ein schmalbrüstiger Wolkenbügel mit schrägem Standbein, wo in der Wettbewerbsperspektive noch ein gut proportionierter Bauteil mit durchaus akrobatischer Statik zu sehen war, aber logisch aus der Stadtstruktur entwickelt und mit der Schaffung einer „Stadtloggia“ begründet, die an dieser Stelle als neuer Eingangsbereich in den Bahnhof dienen soll. Auch das Raumvolumen einer solchen „Loggia“ braucht aber eine Proportion, und die ist in der Weiterentwicklung des Projekts völlig verloren gegangen. Welchen Interessen das Büro Neumann und Steiner im Zuge der Planung nachgegeben hat, um zu diesem Resultat zu kommen, sollte Gegenstand einer öffentlichen Debatte werden, sobald das Projekt fertiggestellt ist.

Die alte Bahnhofshalle steht nun eingeklemmt neben diesem Stadtungeheuer, und man fragt sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, ihr dieses Schicksal zu ersparen und sie gleich abzureißen. Die Qualitäten ihrer 1950er-Jahre-Architektur kommen zwar im Detail durchaus zum Vorschein, von einem spannungsvollen Ensemble kann aber beim besten Willen nicht die Rede sein, und auch die ungeschickten Einbauten im Inneren der Halle zeigen, dass sie eigentlich niemandem ein echtes Anliegen war.

Aus diesen Beispielen zu schließen, dass Wien ein besseres Management für sein bauliches Erbe bräuchte, wie es das Wiener Memorandum im Titel anregt, wäre ein Irrtum. Im Gegenteil: Die UNESCO sollte das Raumschiff Am Hof zum Anlass nehmen, der Innenstadt endlich den Status des Welterbes abzuerkennen. Diese Schocktherapie hätte auf die Wiener Szene jedenfalls eine in vielfacher Hinsicht heilsame Wirkung. Man könnte dem Welterbe-Beauftragten der Stadt, Rudolf Zunke, eine andere Aufgabe im Magistrat zuweisen, und man müsste sich nicht länger mit der Frage aufhalten, ob der durch die Hochhäuser am neuen Hauptbahnhof veränderte Blick von der Türmerstube des Steffl eine Beeinträchtigung des Welterbes darstellt, während nebenan wieder ein bedeutender Platz durch einen Dachaufbau zu einer Gegend wird, die man meiden muss.

Die Netzwerke aus Großarchitekten, Vielfachbeiratsmitgliedern und potenten Investoren, die in Wien fast jedes Projekt durchsetzen können, lassen sich auch ohne Hilfe der UNESCO sprengen, am besten durch den Aufbau einer soliden zeitgenössischen Baukultur. Die beginnt dort, wo man die Mitglieder dieser Netzwerke nicht mehr für ihre Cleverness bewundert, sondern für die Denkmäler bedauert, die sie sich setzen. Und man sollte ihnen durch klare Regeln und transparente Verfahren den Boden entziehen, auf dem sie gedeihen.

Spectrum, Sa., 2011.04.30

02. April 2011Christian Kühn
Spectrum

Klasse mit Katze

Das Siegerprojekt für den Bildungscampus Gudrunstraße auf dem Wiener Hauptbahnhofgelände: eine kleine Revolution im Wiener Schulbau, die auch international Furore machen könnte.

Das Siegerprojekt für den Bildungscampus Gudrunstraße auf dem Wiener Hauptbahnhofgelände: eine kleine Revolution im Wiener Schulbau, die auch international Furore machen könnte.

An guten Absichten hat es der Stadt Wien beim Thema Schulen und Kindergärten nie gefehlt. Jahrzehntelang ging es ihr darum, sauber standardisierte Schulen in den Stadterweiterungsgebieten zu errichten und im Altbestand für Betriebsfähigkeit zu sorgen. In den 1990er-Jahren erregte das „Schulbauprogramm 2000“ auch international Aufsehen: Architekten, die bei der Biennale in Venedig ausgestellt hatten, erhielten Direktaufträge für neue Schulen, die bunter und räumlich interessanter waren als das bis dahin übliche Repertoire. An der Typologie der klassischen Gangschule mit aneinander gereihten Klassen im Format von neun mal sieben Metern änderte sich aber nichts, denn für die Unterrichtsbereiche der Schulen galt nach wie vor ein genaues Regelwerk, das von der Raumgröße bis zur Lage des Waschbeckens und zur Anzahl der Vorhangschienen so gut wie jedes Detail vorschrieb.

Mit dem Antritt von Vizebürgermeisterin Grete Laska mussten sich die Proponenten des Schulbauprogramms 2000 der kritischen Frage stellen, was Kinder davon haben, in bunteren Schulen unterrichtet zu werden, die an jedem Standort anders aussehen. Wozu mehr Geld für Architektur ausgeben, wenn das am Unterricht nichts ändert? Laska – selbst ausgebildete Volksschullehrerin – ließ die Idee des „Bildungscampus“ entwickeln, der bis heute die Basis der Wiener Schulbaupolitik darstellt. Er fasst an einem Standort mehrere Bildungsstätten, vom Kindergarten über die Volksschule bis zur Hauptschule und in Zukunft auch zur „Neuen Mittelschule“, zusammen und bietet ihnen eine gemeinsame Infrastruktur von den Turnsälen bis zum Speisesaal und zur Bibliothek. Nach Laskas Vorstellung sollten dafür wieder Standardtypologien entwickelt werden. In der Praxis entschied man sich für individuelle Wettbewerbe, allerdings unter Beibehaltung der bisherigen Richtlinien, die kaum Innovationen zulassen.

Inzwischen sind zwei dieser Einrichtungen in Betrieb, eine im Stadterweiterungsgebiet Monte Laa, eine weitere auf dem ehemaligen Gelände des Nordbahnhofs am Rudolf-Bednar-Park, kompakte utilitaristische Gehäuse für jeweils rund 700 Kinder und ihre Lehrer und Kindergärtner. Sie sehen modern aus, die Klassen sind hell und die Gänge leicht zu reinigen. Dass hier eine Welt für Kinder entstanden ist, würde aber niemand ernsthaft behaupten. Es ist trotz allem Bemühen der Planer eine Welt, in der die Bürokratie regiert, Hygienevorschriften und Betriebskosten, Arbeitsinspektorat und Lüftungstechnik. Natürlich braucht es auch all das, um eine Schule gut zu führen. Es geht aber darum, wessen Interessen im Mittelpunkt stehen: die der Kinder und Lehrer oder die der Bürokratie.

Beim neuen Campus für das Areal des ehemaligen Südbahnhofs, dem Sonnwendviertel, einem Stadtteil mit geplanten 5000 Wohnungen, hat sich die Stadt zu einem Neustart entschlossen, zu dem einiges an Mut gehört. Statt für den Architekturwettbewerb auf die bisherigen Richtlinien für den Wiener Schulbau zurückzugreifen, haben diezuständigen pädagogischen Magistratsabteilungen für Schulen und Kindergärten gemeinsam mit dem Österreichischen Institut für Schul- und Sportstättenbau die räumlich-pädagogischen Anforderungen in Form eines„Qualitätenkatalogs“ zusammengefasst. Raumgrößen sind darin nur als ungefähre Werte angegeben, die einzig verbindliche Zahl ist die Gesamtnutzfläche der Schule, die einen Rahmen darstellt, innerhalb dessen die Architekten zu arbeiten hatten. Der Qualitätenkatalog legt keine Lösungen fest, sondern einige grundsätzliche Konfigurationen und die Leistung, die sich die Auftraggeber davon in pädagogischer Hinsicht erwarteten. Die Grundeinheit bilden nach wie vor Klassenräume, die sich jeweils zu viert zu einem „Cluster“ um einen gemeinsamen „Marktplatz“ in der Mitte gruppieren und mit diesem flexibel verbunden sind. Zu jedem Cluster gehört auch ein „Projektraum“ und ein eigener „Teamraum“ für die Lehrerinnen.

Sensation, nicht nur für Wien

Das Ergebnis des Wettbewerbs ist nicht nur für Wiener Verhältnisse eine Sensation. Anna Popelka und Georg Poduschka – kurz PPAG – haben in ihrem Siegerprojekt eine großteils nur zweigeschoßige, in einem Raster von 4,1 Metern in die Fläche ausgreifende Struktur entwickelt, die eine Vielzahl gut proportionierter Innen- und Außenräume schafft. Die Klassen haben zwar alle dieselbe quadratische Grundfläche, differenzieren sichaber durch die Anordnung von jeweils zwei kleinen, im Niveau versetzten Annexräumen und durch ihre Beziehung nach außen: Jeder Klasse ist eine Freiklasse zugeordnet, entweder im Gartenhof oder auf einer Terrasse. Die Wände der Klassen lassen sich zum inneren „Marktplatz“ hin auffalten und schaffen so eine durchgängige Lernlandschaft mit vielfältigen Nutzungsoptionen.

Die Idee, von einer kleinen Raumeinheit auszugehen, sie zu variieren und zu einem größeren Gebilde zu addieren, entspricht dem strukturalistischen Denken der 1960er-Jahre. Es wird bei diesem Projekt viel davon abhängen, dieses Denken auch im Detail durchzuhalten. PPAG schlagen eine einfache Konstruktion mit Stahlbetonstützen und Flachdecken vor, die im Innenausbau mit leichten Trennelementen möbliert ist. In der Fassade soll dieWärmedämmung mit einer Hülle aus Schichtstoffplatten geschützt werden, die teils als beschreibbare Tafeln ausgebildet sind, teils mit Kletterpflanzen bewachsen sollen. Der Vorschlag der Architekten, in diese Fassade Nistkästen für Gebäudebrüter einzubauen, also Vögel als Mitbewohner einzuladen, wird der Gebäudeverwaltung noch einige Fragen aufzulösen geben. Überhaupt setzen PPAG darauf, die Pragmatiker und Utilitaristen von Anfang an auf die Probe zu stellen. Auf den Dächern ist Platz für Hochbeete, Brieftauben und Bienenzucht, und Katzen in der Schule kommen zumindest im Erläuterungsbericht vor, der aus der Perspektive einer Schülerin abgefasst ist: „Einmal ist dem Murat bei der Schularbeit eine Katze aufs Heft gesprungen, und alle haben gelacht.“

Dass nicht alle diese Ideen die Mühen der Umsetzung überstehen werden, ist klar. Aber vielleicht gelingt es damit, Begeisterung für eine Schulatmosphäre zu erwecken, die der natürlichen Neugier und dem Bewegungsdrang von Kindern ebenso Raum gibt wie der konzentrierten Arbeit an einer Sache. In zwei Jahren wird man sehen, ob der Mut gereicht hat, die Schule hier wirklich neu zu denken.

Spectrum, Sa., 2011.04.02

19. März 2011Christian Kühn
Spectrum

Die Utopie im Reservat

Transparenz, Wettbewerb und eine ganzheitliche Stadtplanung hat Wiens Stadträtin Vassilakou angekündigt. Utopie oder Illusion? Ein Stadterweiterungsprojekt in Bozen zeigt, dass es möglich ist. In Wien regiert noch die Macht des Faktischen.

Transparenz, Wettbewerb und eine ganzheitliche Stadtplanung hat Wiens Stadträtin Vassilakou angekündigt. Utopie oder Illusion? Ein Stadterweiterungsprojekt in Bozen zeigt, dass es möglich ist. In Wien regiert noch die Macht des Faktischen.

Als die neue Wiener Planungsstadträtin und Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou auf Einladung der Plattform für Architekturpolitik und Baukultur vor vier Wochen eine Grundsatzrede unter dem Titel „Zehn Thesen zur Stadtplanung“ hielt, war der Andrang im Architekturzentrum Wien gewaltig. Das Publikum wurde nicht enttäuscht. Vassilakou skizzierte vor den versammelten Architekten und Planern die Prinzipien einer zeitgemäßen Stadtplanung mit klaren Schwerpunkten und messbaren Zielen: Vorrang der inneren Verdichtung vor der Stadterweiterung; die Schaffung besser nutzbarer und attraktiverer öffentlicher Räume; die Umkehrung des Trends zur Stadtflucht unter jungen Familien; höhere Energieeffizienz, nicht nur als Sparmaßnahme mit Umweltschutzbonus, sondern als Strategie, langfristig die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu reduzieren und damit Freiheit zu gewinnen. Auf der operativen Ebene bekannte sich Vassilakou zu Transparenz und Wettbewerb, Bürgerbeteiligung und zum kritischen Dialog mit der Fachöffentlichkeit. Die abschließende Aufforderung, Mut zur Utopie zu haben, war mehr als eine rhetorische Floskel: Schon davor war zwischen den Zeilen herauszuhören, dass sie – von der Verkehrsplanung bis zur Abschöpfung von Widmungsgewinnen – zu radikaleren Ideen bereit wäre, als sich im Moment politisch umsetzen lassen.

Das Fachpublikum reagierte begeistert. An den Thesen selbst lag das nicht: Vereinzelt hatte man sie in ähnlicher Form schon von ihrem Vorgänger hören können. Der Unterschied lag in der Art, in der diese einzelnen Punkte in einen Zusammenhang gebracht wurden. War das Ideal der Wiener Stadtplanung bisher die Patchwork-City, also gewissermaßen die Utopie im Reservat, von der Bike-City bis zur Frauen-Werk-Stadt, so klang bei Vassilakou das Ideal einer ganzheitlichen Stadtplanung an, bei der in großen räumlichen und zeitlichen Zusammenhängen gedacht wird.

Dass die Zunft der Planer diese Ansage mit Begeisterung aufnimmt, ist nicht weiter verwunderlich. Immerhin darf sie sich dadurch in ihrer Bedeutung gestärkt fühlen. Aber ist sie auch realistisch? Ist das, was wir heute unter „Stadt“ verstehen, überhaupt noch ganzheitlich planbar? Sind es nicht doch die Einzelprojekte, mit denen man im Stadtkörper Akupunktur betreiben muss, in der Hoffnung, dass sich dieser Körper, von solchen Nadelstichen gestärkt, auf geheimnisvolle Weise zum Besseren entwickelt? Und muss man sich beim Planen im großen Maßstab nicht damit abfinden, dass das Resultat zwangsläufig eher auf die Interessen der Investoren als auf jene der Stadtbewohner zugeschnitten ist?

Tatsächlich wäre es schwer, in Wien Beispiele einer solchen Stadtplanung zu finden. Die Großprojekte, vom Hauptbahnhof über den Westbahnhof bis zur Seestadt Aspern, sind von „Sachzwängen“ aller Art bestimmt, was sie nicht schlechter macht als viele andere Projekt auf der ganzen Welt. Aber für eine Stadt, die sich gern als die „lebenswerteste“ der Welt verkauft, ist das nicht wirklich zukunftsfähig.

Wie man in der internationalen Städtekonkurrenz auch ohne Kniefall vor den gängigen Maßstäben der Investorenarchitektur punkten kann, lässt sich an einem aktuellen Projekt für Bozen zeigen. Die Südtiroler Hauptstadt ist mit rund 100.000 Einwohnern zwar in der Dimension nicht mit Wien vergleichbar, das Projekt einer inneren Stadterweiterung im Umfeld des bestehenden Bahnhofs erreicht aber eine Dimension von 30 Hektar – für eine Stadt wie Bozen eine gewaltige Kraftanstrengung.

Als eine der pro Kopf reichsten Städte Italiens ist Bozen einem hohen Entwicklungsdruck ausgesetzt, dem auf der stadtplanerischen Seite bisher kein Konzept gegenüberstand. Die Idee, durch eine Reduktion und Verlegung von Gleisanlagen Entwicklungsfläche zu gewinnen, ist bereits einige Jahre alt, ein erstes Projekt war jedoch an Bürgerprotesten gescheitert.

Der städtebauliche Ideenwettbewerb, der Ende Februar entschieden wurde, sollte unter internationaler Beteiligung eine Vision hervorbringen, die auch die Stadtbewohner und nicht nur die Investoren begeistert. Die Jury unter dem Vorsitz von Dietmar Eberle und Christoph Ingenhoven, der als Architekt des Bahnhofs Stuttgart Erfahrung sowohl mit Visionen als auch mit Bürgerprotesten gemacht hat, wählte aus dem Kreis der Bewerber zehn aus, zu denen als prominenteste Daniel Liebeskind, Ben van Berkel, Cino Zucchi, Stefano Boeri, Cruz und Ortiz, Kees Christiaanse-KCAP und Boris Podrecca gehörten, jeweils in Kombination mit zahlreichen Partnern und Fachplanern.

Das Rennen gemacht hat das Projekt von Boris Podrecca und seinem Team, zu dem unter anderem das Schweizer Büro von Theo Hotz gehörte. Podrecca hat schon mehrere Projekte in Bozen bearbeitet, etwa das Hotel Greif oder die Neugestaltung des Kellereigeländes am Grieser Platz. Vielleicht ist ihm deshalb eine derart nahtlose Einbindung in das bestehende Stadtgefüge gelungen. Wie alle Projekte, die in die engere Wahl kamen, verschwenkt Podrecca die Bahntrasse um 45 Grad, um einen Großteil des Areals ohne Barriere an die Altstadt anbinden zu können. Sein Projekt belässt aber auch das alte Bahnhofsgebäude, einen respektablen, aber alles andere als spektakulären Bau aus den 1930er-Jahren, das weiterhin als einer der Zugänge zum Verkehrsterminal dienen darf. Dahinter überspannt allerdings ein 150 mal 50 Meter großes, mehrfach geknicktes Flugdach quer die Gleisanlagen und verbindet die Altstadt mit dem südöstlichen Teil der Stadterweiterung. Ein ähnliches Dach mit großen pneumatischen Kissen aus PTFE-Folie hat Podrecca vor Jahren als Überdachung des Wiener Pratersterns vorgeschlagen.

Die Qualität das Bozener Projekts liegt aber nicht an Detailformen, sondern an der präzisen, an jedem Punkt gut proportionierten Ausformung der Stadträume und ihrer Verbindung. Deutlich wird das vor allem im Vergleich mit den anderen eingereichten Projekten, die mit Ausnahme des Projekts von KCAP durchwegs auf große Figuren setzen. Bei Podrecca liegt das Hauptaugenmerk auf dem öffentlichen Raum, eine große Piazza im Bahnhofsbereich, ein grüner Hügel mit Punkthäusern für den kommerzielleren Teil im Süden, Baublöcke mit grünen Innenhöfen im gemischten Baugebiet, verbunden durch einen Grünzug, der sich bis zu den Weinbergen im Norden fortsetzt.

Man kann dieses Projekt als ein fast naives Bekenntnis zur europäischen Stadt lesen, von der Dietmar Eberle einmal gesagt hat, sie sei die größte Erfindung, die Europa überhaupt hervorgebracht hätte. Das ist eine gewagte These, denn gut funktionierende Großstädte mit Hunderttausenden Einwohnern gab es in China schon vor 2000 Jahren. Die Idee der Polis – als politische und zugleich stadträumliche Struktur – ist aber tatsächlich etwas Einzigartiges: Sie ist um den öffentlichen Raum herum errichtet, nicht um Burg oder Tempel und auch nicht um die Hochhäuser der Banken, Investoren und Bauträger.

Wie viel dieses Bekenntnis zur Stadt wert ist, wird die Umsetzung zeigen, sowohl bei Podreccas Plänen für Bozen als auch bei Vassilakous Thesen für Wien. Wenn Transparenz und Wettbewerb für die Grünen eine zentrale Rolle spielen, sind sie allerdings gerade dabei, ihren ersten Kredit zu verspielen. Die von den Grünen mitgetragene neue Wohnbauoffensive, bei der mit öffentlichem Geld ein Sektor von frei finanzierten Billigwohnungen geschaffen wird, überlässt die architektonische Qualität dem Gutdünken der Wohnbaugenossenschaften. Der Protest der Fachöffentlichkeit, die auch für diesen Sektor Qualitätswettbewerbe einfordert, ist massiv. Der erste Anlass für den versprochenen kritischen und konstruktiven Dialog wäre damit wohl gefunden.

Spectrum, Sa., 2011.03.19

18. Februar 2011Christian Kühn
Spectrum

Radikal neu?

Interpretation versus Implantat: zwei neue Bauten, zwei unterschiedliche Ergänzungen zum Weltkulturerbe „Wien – Innere Stadt“.

Interpretation versus Implantat: zwei neue Bauten, zwei unterschiedliche Ergänzungen zum Weltkulturerbe „Wien – Innere Stadt“.

Das Areal rund um die Börse am Schottenring gehört nicht zuletzt deshalb zu meinen Lieblingsvierteln, weil ihm alles Gemütliche fehlt. Wenn sich Wien irgendwo zur Weltstadt aufgeschwungen hat, dann hier: Die Straßen sind großzügig, die Häuser monumental, ihre Fassaden klar gegliedert und nicht zu üppig dekoriert - kraftvolles 19. Jahrhundert im Unterschied zum schillernden Gemisch aus Barock und Biedermeier, Ringstraße und Jugendstil, als das sich die Stadt ansonsten touristisch vermarktet.
Obwohl es nicht ins Klischee passt, gehört das Gebiet zur Kernzone des UNESCO Weltkulturerbes „Wien - Innere Stadt“ und steht daher unter besonderer Beobachtung. Dass hier in den letzten Jahren überhaupt Neubauten entstehen konnten, ist nur dann erstaunlich, wenn man sich unter einem Welterbe ein geschlossenes Ensemble von einheitlich hoher Qualität vorstellt. Das trifft für die Wiener Innenstadt - im Unterschied etwa zu den UNESCO-geschützten Altstädten von Salzburg und Graz - keineswegs zu. Kriegsschäden und deren Reparatur haben in der Wiener Innenstadt zahlreiche Implantate zweifelhafter Qualität hinterlassen, die nun durch Neubauten ersetzt werden.

Wie unterschiedlich man sich zum Weltkulturerbe positionieren kann, zeigen zwei jüngst fertiggestellte Projekte, die neue Zentrale der Volksbank in der Kolingasse, entworfen vom deutschen Architekten Carsten Roth, und das Wohn- und Geschäftshaus in der Werdertorgasse, das die Wiener Architektengruppe Rataplan für eine Tochter der Erste Bank geplant hat. Beide liegen im Kerngebiet des Weltkulturerbes, annähernd gleich weit von der Börse entfernt. In beiden Fällen galt es, geschützte Teile des Altbestands zu erhalten, wobei ein ähnlicher Weg eingeschlagen wurde, nämlich die Erhaltung des Bestands von der Fassade bis zur Mittelmauer. Im Vergleich zu der beliebten Praxis, nur Fassaden zu erhalten und dahinter mit niedrigeren Geschoßhöhen mehr Rendite zu erzielen, ist diese Lösung jedenfalls ein Fortschritt.

Hier enden aber die Gemeinsamkeiten. Im Umgang mit dem Kontext verfolgen sie zwei deutlich unterschiedliche Strategien. Während Carsten Roth sich vom Genius Loci inspirieren lässt und eine Neuinterpretation des gründerzeitlichen Blocks versucht, brechen Rataplan dessen Kontur auf und entwickeln ihr Projekt formal ohne tiefere Verbeugungen vor dem Bestand. Das hat offensichtliche Vorteile. Rataplan stand nur eine große Eckparzelle eines äußerst dicht verbauten Blocks zur Verfügung, bei dem sich bei normaler Verbauung ein dunkler Innenhof ergeben hätte. Durch eine Verschwenkung der Fassade hinter die Baulinie wurde dieser Hof gewissermaßen nach vorne an die Straße geholt, was einerseits Belichtung und Ausblick in den Wohnungen verbessert, andererseits dem öffentlichen Raum auf der Straße zu einem durchaus respektablen Vorplatz verhilft.

Ursprünglich waren für das Grundstück drei unabhängige Häuser geplant, zwei Bürohäuser und ein Wohnhaus. Rataplan konzipierten stattdessen ein horizontal gegliedertes Gebäude, das in den unteren Geschoßen Geschäfts- und Büroräume aufnimmt, wodurch die besser belichteten obersten vier Geschoße ausschließlich dem Wohnen zur Verfügung stehen. Drei Treppenhäuser versorgen diese vielfältigen Nutzungen und erlauben sowohl im Büro- als auch im Wohnbereich unterschiedliche Kombinationen und Grundrisszuschnitte.

„Geheimnisvolles Zentrum“

Carsten Roth stand für die neue Zentrale der Volksbank ein ganzer Baublock zur Verfügung, der etwa zur Hälfte von einem Gründerzeitbau eingenommen war. Die übrigen Gebäude stammten aus der Nachkriegszeit und waren mit dem Altbau zu einem labyrinthischen Geflecht verwachsen, in dem die Volksbank schon bisher residierte. Den innerstädtischen Standort aufzugeben und einen repräsentativen Signalbau zu errichten hätte dem Selbstverständnis der Bank nicht entsprochen. Sie entschloss sich daher zu einer radikalen Sanierung und Erneuerung, bei der die Nachkriegsbauten abgerissen und vom historischen Bestand nur der Bereich zwischen Fassade und Mittelmauer erhalten blieb. Diese erhaltene Raumschichte gibt die Tiefe vor, in dem auch der Rest des Blockrands bebaut wird, wodurch ein großzügiger überdachter Innenhof entsteht, in den die Erschließung sowie Besprechungs- und Sanitärräume als Türme ausgelagert werden. Nur zur Schmalseite an der Kolingasse wird die Trakttiefe verdoppelt, um mehr Nutzfläche zu erhalten.

Typologisch ist diese Lösung effizient und auch räumlich attraktiv, da sie einen großen, von oben belichteten gemeinsamen Innenraum erlauben würde, der alle Bereiche eines Unternehmens zumindest visuell miteinander verbindet. Erstaunlicherweise hat Carsten Roth weitgehend auf diese Möglichkeit verzichtet und die Transparenz im Innenraum der fragwürdigen Idee eines „geheimnisvollen“ Zentrums, eines „Innenraums, der mit unbändiger Kraft nach oben strebt, keine Begrenzungen zulassen will und keine Auskunft gibt über seine Endlichkeit“, wie der Architekt in seinen Erläuterungen zum Projekt formuliert. Konkret bedeutet das, dass so gut wie alle potenziellen Durchblicke in diesen Innenraum durch blickdichte weiße Folien versperrt sind, hinter denen man zwar teilweise Besprechungs- und Pausenräume vermuten kann, aber niemanden sieht. Die Auftraggeber dürfte der Architekt mit dem Gedanken überzeugt haben, dass sie sich hier eine Skyline ins Haus holen können: „Während Banken in der ganzen Welt davon träumen, an der Skyline zu partizipieren, werden hier sechs Türme zu einer ganz eigenen Skyline im Inneren des gesamten Bankgebäudes umschlossen.“ Das aus solchen hohlen Phrasen eine entsprechende Architektur werden muss, ist nicht weiter verwunderlich. Immerhin taugen die Folientürme als guter Malgrund für eine Riesenmalerei von Otto Zitko, die vom Künstler gerade aufgetragen wird und dem vermeintlich magischen Vertikalraum einen ironischen Kontrapunkt entgegensetzt.

Gescheitert auf hohem Niveau ist auch Carsten Roths Versuch, eine Gründerzeitfassade neu zu interpretieren. Das spielerische Eingehen auf horizontale und vertikale Linien und das Erzeugen von Tiefe durch zufälliges Vor- und Zurücksetzen von Ziergliedern kann an den logischen Aufbau einer guten Gründerzeitfassade niemals heranreichen. Da ist Rataplans Blechfassade allemal ehrlicher, oder gar das von der Kolingasse aus gut sichtbare Juridicum, Ernst Hiesmayrs Erinnerung an die Wiener, dass ihre Stadt auch radikal Neues durchaus verträgt.

Spectrum, Fr., 2011.02.18



verknüpfte Bauwerke
Wohn- und Bürohaus Neutorgasse

22. Januar 2011Christian Kühn
Spectrum

Adieu, Avantgarde

Ist die Zeit gekommen für die Entsorgung des Avantgarde-Begriffs? Oder braucht er nur eine neue Ausrichtung, die den Herausforderungen der Gegenwart gerecht wird?

Ist die Zeit gekommen für die Entsorgung des Avantgarde-Begriffs? Oder braucht er nur eine neue Ausrichtung, die den Herausforderungen der Gegenwart gerecht wird?

Bruno Kreiskys 100. Geburtstag geht auch an der Kunstszene nicht unbemerkt vorüber. Vergangenen Sonntag lud das Wiener Burgtheater unter dem Titel „Avantgarde Ges.m.b.H.“ zu einer Revue von Podiumsdiskussionen, in denen Künstler, die sich in den 1970er-Jahren zur Avantgarde zählten, mit jüngeren Künstlern und Kulturwissenschaftlern über ihre Einschätzung des damaligen kulturellen Aufbruchs und über den Avantgardebegriff an sich diskutierten.

Der Titel bezog sich auf eine Episode der Kulturpolitik Ende der 1970er-Jahre. Hans Hollein und Adolf Frohner war es damals gelungen, Kreisky von der Idee einer Ausstellung neuer österreichischer Kunst in den USA zu überzeugen, um das Bild des Landes international aufzupolieren. Der Kanzler beauftragte den Wiener Galeristen John Sailer mit der Umsetzung, der daraufhin die „Avantgarde Ges.m.b.H.“ gründete, fünf internationale, renommierte Kuratoren einsetzte und von diesen je einen Künstler nominieren ließ. Hollein, der gewieftere Taktiker, war am Ende dabei, mit ihm Walter Pichler, Günter Brus, Hermann Nitsch, Peter Kubelka und Arnulf Rainer. Die Ausstellung „Rituals. An Austrian Phenomenon“ kam aber nie zustande. Nach heftigen Protesten von Kulturbeamten und Künstlern, die sich übergangen fühlten, blies Kreisky das Unternehmen ab.

Aus heutiger Sicht, erklärte John Sailer bei der Podiumsdiskussion, finde er sich in seiner Wahl insofern bestätigt, als Hollein, Pichler, Rainer und Brus als Mitglieder des Kunstsenats gewissermaßen staatstragende Künstler geworden seien – was freilich in erster Linie deren nachhaltiges Genie im Knüpfen von Seilschaften beweist. Peter Weibel, ebenfalls Gast im Burgtheater, brachte es in einer von Sailer nur zaghaft widersprochenen Replik auf den Punkt: Schon damals hätten sich die nominierten Künstler über den Umweg des Oberkurators Sailer ihre Kuratoren selbst ausgesucht.

Mit „Avantgarde“ nicht mehr zu bezeichnen als die jeweils aufstrebende Gruppe von jüngeren Künstlern, die sich gegen das Establishment auflehnt, um dann selbst an dessen Stelle zu verkalken, wird dem Begriff freilich nicht gerecht. Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts verstanden sich immer als künstlerischer Teil gesellschaftlicher Bewegungen, als kriegerisches Ende der Kunst, das ohne Rücksicht auf Verluste einer Sache dient, deren Schwerpunkt außerhalb der Kunst liegt. Dass dazu auch totalitäre Avantgarden zählen, die – etwa im Italien des Faschismus oder in der frühen Sowjetunion – herausragende Kunst und Architektur hervorgebracht haben, ist kein Zufall. Machtkonzentrate sind das Grundnahrungsmittel der Avantgarde, wobei es fürs Erste gleich ist, ob sie einer demokratischen Massenbewegung oder einer Diktatur entspringen. – Die österreichische Avantgarde der Ära Kreisky ernährte sich in dieser Hinsicht von den Reserven der 1968er-Bewegung und fühlte sich berufen, die „verkrusteten, vereisten, betonierten Verhältnisse“ der österreichischen Nachkriegszeit aufzubrechen, wie Peter Weibel, Elsa Prochazka und Wolf D. Prix in ihren Beiträgen zu den Podiumsdiskussionen im Burgtheater dokumentierten.

Dass die jüngeren Diskutanten mit dem Avantgarde-Begriff nur wenig anfangen konnten, liegt nicht nur am Fehlen klarer Feindbilder, sondern vor allem an der dunklen Ahnung, als Künstler nur noch wirkungslose Scheinkämpfe führen zu können. Bei den Architekten unter den Avantgardisten ist das besonders evident. Man braucht nur im Katalog des legendären, von Peter Noever 1992 im Museum für angewandte Kunst unter dem Titel „Architektur am Ende?“ organisierten Symposiums nachlesen, was Frank Gehry im Vorwort den selbst ernannten Kämpfern im „nicht erklärten Krieg gegen die Architektur“ wie Zaha Hadid und Coop Himmelblau – damals noch ohne freigestelltes (l) firmierend – ins Stammbuch schreibt: „Ich kann mich daran erinnern, genauso gedacht zu haben wie sie, aber jetzt stellen sich die Dinge einfacher dar. Ich bin Architekt geworden, weil ich bauen wollte, und um bauen zu können, muss ich innerhalb des gesellschaftlichen Systems bauen.(...) Ich bin letzten Endes zuversichtlich, dass sie (die Teilnehmer am Symposium, CK) alle Aufträge erhalten und wunderbare Bauten errichten werden, und nicht herumsitzen und sich Gedanken über das Ende der Architektur machen müssen.“ Wie recht er mit dieser Prophezeiung hatte, erstaunt Gehry heute wahrscheinlich sogar selbst.

Für Avantgarde im klassischen Sinn ist in diesem Denken aber kein Platz. Die Massenbewegung, in deren Dienst es sich stellt, ist die Akkumulation von Kapital. Die jüngeren Bauten und Projekte von Hadid und Coop Himmelb(l)au verkörpern das dazu passende Ideal, die Synthese fließender Bewegung und solider Objekthaftigkeit: Der Dagobert-Duck'sche Geldspeicher hätte heute die Form eines verdrehten Doppelkegels. Dass sich diese Architektur totläuft, sobald der Markt gesättigt ist und seine Lust am Objekthaften verliert, ist offensichtlich.

Die kommende Architektengeneration steht vor der Aufgabe, beim Bauen nicht das Objekt, sondern den Prozess in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn sie Avantgarde sein möchte, wird sie sich mit der letzten verbliebenen Massenbewegung, der Ökologiebewegung, verbünden müssen, allerdings ohne die Weltprobleme durch Wärmedämmung, Lehmbauweise oder biotechnologische Zauberformeln lösen zu wollen. Dafür wird sie neue und oft widersprüchliche Qualitäten brauchen: Liebe zum Kurzfristigen und Geschick im Umgang mit dem Zufall ebenso wie einen langen Atem in der Verfolgung von Zielen, deren Erreichung vielleicht erst ihre Urenkel erleben dürfen. Sie wird die Geduld und Ausdauer von Gärtnern mit der Präzision von Raumfahrtingenieuren vereinen müssen. Ob diese Perspektive der skeptischen jungen Generation ausreicht, um sich der Sache Architektur mit der gleichen unbedingten Leidenschaft zu verschreiben wie die Generation der Coop Himmelb(l)aus, werden die nächsten Jahre zeigen.

Spectrum, Sa., 2011.01.22

24. Dezember 2010Christian Kühn
Spectrum

Esse mit Ausblick

Die Zeiten, als Industriebauten nur noch als konturlose Blechcontainer auftauchten, sind vorbei. Eine neue Sichtbarkeit ist angesagt. Auf welchem Niveau, zeigt der aktuelle Staatspreis für Industrie und Gewerbearchitektur.

Die Zeiten, als Industriebauten nur noch als konturlose Blechcontainer auftauchten, sind vorbei. Eine neue Sichtbarkeit ist angesagt. Auf welchem Niveau, zeigt der aktuelle Staatspreis für Industrie und Gewerbearchitektur.

Als der große deutsche Architekt Karl Friedrich Schinkel 1826 England bereiste, zeigte er sich tief beeindruckt von den Veränderungen, denen Städte und Landschaften durch die Industrialisierung ausgesetzt waren: „Um 9 Uhr kommen wir mit der Extrapost in Dudley an und fahren nach dem Frühstück und Tee gleich zu den Eisenwerken. Grandioser Anblick von Tausenden von Obelisken, welche rauchen. Größtenteils Förderungsmaschinen, um Steinkohlen, Eisen und Kalk aus den Gruben zu bringen.“ Gebäude, „so lang als das Berliner Schloss und ebenso tief, ungeheure Baumasse von nur Werkmeistern ohne Architektur und fürs nackteste Bedürfnis aus rotem Backstein ausgeführt“, Beispiele jener über 400 Fabriken, die damals in kurzer Zeit in der Region errichtet wurden, ließen Schinkel erahnen, welche Folgen die Industrialisierung für die Architektur mit sich bringen würde. Die Ingenieurkunst des 19. Jahrhunderts setzte erste Impulse für eine neue Ästhetik der Zweckmäßigkeit, und die Klassische Moderne des frühen 20. fand schließlich in den industriellen Bauaufgaben ein reiches Experimentierfeld.

Aus den Baumassen für das „nackteste Bedürfnis“, die Schinkel so unheimlich erschienen waren, entwickelte sich die Vision einer neuen Architektur, in der die Sphären von Produktion, Konsum, Wohnen und Erholung zwar räumlich getrennt, aber ästhetisch verbunden sein sollten. Eine moderne Architektursprache für alle Lebensbereiche sollte helfen, eine für alle gemeinsame Welt herzustellen.

In der heutigen postindustriellen Gesellschaft sind die rauchenden Schlote – zumindest in Europa – weitgehend verschwunden. Aber auch die Vision der Moderne von einer verbindenden und verbindlichen Ästhetik hat sich spätestens in den 1970er-Jahren aufgelöst, als die negativen sozialen und ökologischen Folgen der Industrialisierung und der streng nach Funktionen getrennten Stadt nicht mehr länger zu leugnen waren.

Architektur gilt seit damals wieder als Disziplin für besondere Anlässe, für Museen und den gehobenen Wohnbau, und sie hat in diesem Marktsegment eine bisher unerreichte Vielfalt an gleichzeitig auftretenden Stilrichtungen hervorgebracht. In der Architekturdiskussion spielte der Industriebau bis zur Jahrtausendwende – mit Ausnahme einiger weniger britischer Beispiele aus dem „High-Tech“-Bereich – nur eine untergeordnete Rolle. Das lag nicht allein an den Architekten.

Fast hat es den Anschein, als ob die Industrie selbst unter dem Druck des Umweltschutzes nicht nur die rauchenden Schlote zum Verschwinden bringen wollte, sondern insgesamt unter die Tarnkappe einer neutralen, aus konturlosen Blechcontainern gebildeten Ästhetik außerhalb jedes architektonischen Anspruchs zu schlüpfen versuchte. – Diese Situation änderte sich Ende der 1990er-Jahre, als Unternehmen begannen, ihre Produktionsstätten aus der Perspektive des Marketings zu betrachten. Wenn sich die Produkte selbst immer ähnlicher werden, dann wird die „Story“, die den subjektiven Wert einer Marke für den Konsumenten steigern soll, immer wichtiger. Warum soll nicht auch eine Fabrik oder ein Forschungszentrum zu dieser Fantasie beitragen? Die „Gläserne Fabrik“ in Dresden von VW oder die BMW-Welt in München sind spektakuläre Ergebnisse dieses Kalküls, das dem Industriebau in der postindustriellen Gesellschaft zu einer neuen Sichtbarkeit verholfen hat.

Diese neue Sichtbarkeit hat aber nicht nur mit Marketingüberlegungen zu tun. Unternehmen sind sich heute stärker der Verantwortung bewusst, die sie für die Gestaltung von Stadt und Landschaft und für die Lebensqualität ihrer Mitarbeiter tragen. Gute Planung im Industriebau bezieht Mitarbeiter und Nachbarn ein, sie berücksichtigt die Integration in den Stadt- oder Landschaftsraum und denkt an Betreuungseinrichtungen für die Kinder von Mitarbeitern.

Der alle drei Jahre vergebene Staatspreis für Industrie- und Gewerbearchitektur, der vom Ministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend zusammen mit der Architekturstiftung Österreich, der Architekten- und Ingenieurkammer, der Wirtschaftskammer und der Industriellenvereinigung ausgelobt wird, ist ein Gradmesser für den Entwicklungsstand dieses Sektors in Österreich. Zu den sieben nominierten Projekten gehören durchaus spektakuläre Beispiele, wobei Größe dafür keine Rolle spielt. Spektakulär ist auch das kleinste Projekt, die Schmiede Steindl in Osttirol von den Architekten Peter Jungmann und Markus Tschapeller in Innervillgraten. Sie ist ein Marketinginstrument im fast wörtlichen Sinn, ein überdimensionales schwarzes Alphorn inmitten traditioneller Bauernhöfe, gut belichtet von oben und überseitliche Bandfenster, durch die der Blick auf die Hänge gegenüber fällt: Eine Esse mit Ausblick hat nicht jeder Schmied.

Spektakulär in einem gänzlich anderen Maßstab ist das Verkaufs- und Finanzzentrum der Voestalpine Stahl GmbH in Linz, errichtet nach einem Entwurf von Dietmar Feichtinger, dem hier nach der Donauuniversität in Krems und dem Landeskrankenhaus Klagenfurt sein bisher eindrucksvollster Bau gelungen ist, Signalarchitektur mit Witz und sehr gelungenen Büroräumen im Inneren, diean großzügigen, begrünten Atrien liegen.

Die beiden Preisträgerprojekte des Staatspreises, Swarovski Optik in Absam und Sohm Holzbautechnik in Alberschwende im Bregenzer Wald, sind dagegen beinahe kontemplativ. Wolfgang Pöschl hat mit seinem Team für Swarovski ein bestehendes Werksareal schrittweise erneuert. Aus der Einfahrt wurde ein von Zubauten mit üppigen Gründächern gerahmter Hof, den zu überqueren jeden Tag Freude macht. Alle Büros wurden unter Einbeziehung der Mitarbeiter gestaltet, ein Kindergarten wurde eingerichtet und ein neuer Parcours für Werksführungen inszeniert, der dem Image des Unternehmens gerecht wird.

Den architektonisch komplexesten Beitrag hat Architekt Hermann Kaufmann mit der banalsten Bauaufgabe, einer Lagerhalle mit Bürotrakt für Sohm Holzbautechnik, geliefert. Statt der skulpturalen Geste setzt Kaufmann auf die Auflösung des Baukörpers in seine konstruktiven Bestandteile. Die Fassade zur Straße hin ist aus schmalen, beinahe lamellenartigen Tragelementen gebildet. Im Inneren tragen drei mächtige, diagonal in den Raum gestellte Holzsäulen einen Hauptträger, auf dem die Deckenelemente balancieren. In seiner starken Präsenz ohne starke Form ist dieses Projekt richtungsweisend. Man würde sich von manchem sogenannten „Kulturbau“ in Österreichs Gemeinden ein annähernd so hohes Niveau wünschen.

Spectrum, Fr., 2010.12.24



verknüpfte Auszeichnungen
Staatspreis für Architektur 2010

27. November 2010Christian Kühn
Spectrum

Die Quadratur des Dreiecks

Wie ein Kunstgriff zur Raumkunst wird: Borealis hat in Linz ein neues „Innovation Headquarter“ bekommen – eine Großraumlösung mit einem radikalen Ansatz.

Wie ein Kunstgriff zur Raumkunst wird: Borealis hat in Linz ein neues „Innovation Headquarter“ bekommen – eine Großraumlösung mit einem radikalen Ansatz.

Obwohl zwischen ihnen oft nicht unterschieden wird, sind Erfindung und Innovation zwei sehr verschiedene Dinge. Eine kreative Idee ist die Voraussetzung für beide, aber Innovation ist der umfassendere Begriff, der alle weiteren Anstrengungen einschließt, durch die sich kreative Ideen erst in der Welt behaupten.

Innovation ist auch das eigentliche Thema in dem Gebäude, das die Architekten Dieter Henke und Marta Schreieck in Linz für das Chemieunternehmen Borealis entworfen haben. Hier entwickeln rund 350 Mitarbeiter neue Produkte und Verfahren für die Kunststoffe, die etwa in der Automobilindustrie oder für Verpackungsmaterialien eingesetzt werden. Der Konzern beschäftigt rund 5200 Mitarbeiter, 1600 davon in Österreich und die überwiegende Zahl in acht weiteren Ländern mit Produktionsstandorten von Finnland über Abu Dhabi bis in die USA. Entsprechend international sind auch die Forschungsgruppen, die im neuen Gebäude in Linz zusammenarbeiten.

Als das Unternehmen Ende 2007 einen Wettbewerb für sein neues „Innovation Headquarter“ auslobte, war klar, dass dieses Gebäude optimale Voraussetzungen vor allem für die Zusammenarbeit von Forschern bieten sollte. Das Siegerprojekt von Henke und Schreieck verfolgt in dieser Hinsicht einen radikalen Ansatz: Anstelle der üblichen Zellen- oder Gruppenbüros bietet es eine Großraumlösung an, die alle Arbeitsebenen auch in der Vertikalen durch ein Atrium verbindet, das den Blickkontakt zwischen sämtlichen Business Units ermöglicht. Es gibt im gesamten Gebäude kein Einzelbüro mehr, selbst die Chefs haben ihre Schreibtische im Großraum.

Dass eine solche Lösung den Kontakt zwischen den Mitarbeitern fördert und damit zur Innovation als einer Teamleistung beiträgt, die über die individuelle zündende Idee hinausgeht, steht außer Frage. Trotzdem gab es unter den Mitarbeitern zu Beginn verständliche Skepsis. Würden die Vorteile des Großraums nicht durch die bekannten Nachteile aufgewogen: Fehlende Möglichkeit zur individuellen Gestaltung der eigenen Arbeitsumgebung und vor allem akustische Störungen, die ein konzentriertes Arbeiten unmöglich machen würden?

Die Umsetzung der zündenden Idee des „Forschungsturms“ mit umlaufenden Arbeitsplätzen und großem Atrium wurde für die Architekten daher selbst zu einer Innovationsaufgabe, bei der sie die späteren Nutzer, aber auch viele Fachplaner und Ausführende ins Boot holen mussten. Als Grundform wählten sie ein Dreieck mit abgerundeten Ecken, an denen nicht die Chefbüros, sondern jeweils ein mittelgroßer Besprechungsraum für bis zu zehn Personen und zwei abgetrennte Zonen für ungestörte Telefonate liegen, die von keinem Arbeitsplatz mehr als 30 Schritte entfernt sind.

Dass jedes Geschoß seinen eigenen Grundrisszuschnitt besitzt, verdankt es einem speziellen Kunstgriff: Statt die Öffnungen des Atriums einfach übereinander zu setzen, haben die Architekten sie in jedem Geschoß um 20 Grad verdreht. Diese Lösung ist so simpel und zugleich effektvoll, dass man sich wundert, warum sie nicht schon längst erfunden wurde. Die Halle des Guggenheim-Museums in New York werden Henke und Schreieck sicher vor Augen gehabt haben, auch wenn dort eine Rampe und keine horizontalen Ebenen das Atrium begrenzt. Aber selbst Frank Lloyd Wright hätte seine Freude an der räumlichen Dramatik gehabt, die sich im Borealis-Gebäude aus dieser simplen Drehung ergibt. Die Herausforderung steckt – wie bei jeder scheinbar einfachen Idee – im Detail: Erst die leichte Neigung der Brüstungen und die feine Abstimmung von Proportionen, Materialien und Farben macht aus dem Kunstgriff Raumkunst.

In Kombination mit versetzt angeordneten raumbildenden Elementen – Glasboxen für Besprechungen, Sanitärbereichen, Fluchttreppen und offenen Kaffe- und Besprechungszonen – entsteht so ein differenzierter Großraum, in dem man sich wohl und gut aufgehoben fühlt. Dass dieser Raum auch akustisch funktioniert, hat einiges an Überlegung bedurft. Akustikdecken konnten nicht eingesetzt werden, da die zur Kühlung nötige Bauteilaktivierung weder abgehängte Decken noch Akustikputze zuließ. Teppichböden sind daher in allen Obergeschoßen selbstverständlich, aber auch die meisten Möbel sind aus speziellen, mit feinen Bohrungen versehenen schallschluckenden Platten hergestellt. Und selbst die Espressomaschinen in den Kaffeezonen sind keine Standardprodukte, sondern spezielle Geräte mit Schalldämpfern.

Eine weitere Besonderheit ist das mehrlagige pneumatische Foliendach des Atriums, das eine extrem zarte Konstruktion erlaubt. Derartige Dächer sind heute zwar keine Sensation mehr, um witterungsgeschützte Bereiche zu erzeugen. Die Funktionsfähigkeit seines Gebäudes davon abhängig zu machen, dass die nur 0,3 Millimeter starke ETFE-Folie auch einem Hagelgewitter standhält, beweist großes Vertrauen in innovative Kunststofftechnik, wie es von diesem Bauherren wohl nicht anders zu erwarten ist.

Energietechnisch erreicht das Gebäude trotz kompakter Form mit seiner Glasfassade nur durchschnittliche Werte. Angesichts der Prozesswärme und -kühlung der umgebenden Anlagen, die das Bürogebäude mitnutzen kann, wäre das Erreichen eines höheren Standards eine wenig sinnvolle Übung gewesen. Dass trotz eindrucksvoller Gebäudetechnik im Untergeschoß Heizung und Kühlung nicht individuell für einzelne Arbeitsplätze oder zumindest eine größere Anzahl von Zonen pro Geschoß geregelt werden können, wird von den Nutzern als einziger Kritikpunkt angemerkt. In diese Richtung darf man sich in Zukunft noch einiges an Innovationen erhoffen. Mit dem neuen Typus für die Bauaufgabe des „Innovation Headquarters“, der Henke und Schreick mit diesem Projekt geglückt ist, sind dafür jedenfalls die besten Voraussetzungen geschaffen.

Spectrum, Sa., 2010.11.27



verknüpfte Bauwerke
Borealis Innovation Headquarters

30. Oktober 2010Christian Kühn
Spectrum

Orgien, Mysterien, nüchtern gerahmt

Kunst des Wiener Aktionismus: Die Sammlung Friedrichshof im Burgenland hat ihre Bestände neu arrangiert und sich von Adolf Krischanitz ein Minimalmuseum dafür errichten lassen.

Kunst des Wiener Aktionismus: Die Sammlung Friedrichshof im Burgenland hat ihre Bestände neu arrangiert und sich von Adolf Krischanitz ein Minimalmuseum dafür errichten lassen.

Das Nordburgenland gilt unter Alpenbewohnern als Deprivationslandschaft, deren größter Reiz in ihrer völligen Reizlosigkeit besteht. Dass ausgerechnet hier, in Zurndorf, ein paar Autobahnminuten vom wild wuchernden Designer-Outlet in Parndorf entfernt, seit 30 Jahren eine der besten und ursprünglich auch umfangreichsten Sammlungen von Kunst des Wiener Aktionismus zu sehen ist, hat eine besondere Geschichte. Der Ursprung der Sammlung, die über 100 Arbeiten von Günter Brus, Hermann Nitsch, Otto Muehl und Rudolf Schwarzkogler enthält, geht auf die Zeit zurück, als Zurndorf Sitz einer Kommune war, die sich um Otto Muehl gebildet hatte. Die Kommune war ein Experiment einer radikal-utopischen Lebensform, das sich an den amerikanischen Westcoast-Kommunen, aber auch an der Kibbuzim-Bewegung und an den großen Sozialexperimenten des 19. Jahrhunderts orientierte. Sie erwarb ab 1972 erste Gebäude auf dem Areal des Friedrichshofs, eines ehemaligen Landguts, und errichtete im Lauf der Jahre weitere Anlagen, unter anderem einen eher anspruchslosen Werkstättentrakt, in dem auch die Kunstsammlung untergebracht wurde.

Die Verurteilung Otto Muehls zu sieben Jahren Haft wegen sexuellen Missbrauchs von Unmündigen 1991 hat die öffentliche Wahrnehmung der Kommune bis heute bestimmt. Der Ermittlungen gegen Muehl wurden bereits 1987 aufgenommen und hatten die autoritäre Struktur der Kommune bereits so weit aufgeweicht, dass sie sich schon 1989 in eine Genossenschaft umwandelte, in der die beträchtlichen, nicht zuletzt durch Brokertätigkeiten von Mitgliedern erwirtschafteten Vermögenswerte eingebracht wurden. Die Genossenschaft überlebte die offizielle Auflösung der Kommune 1990 und blieb auch Eigentümerin der Kunstsammlung, die ursprünglich weit umfangreicher war.

Im Lauf der Jahre wurden Teile verkauft, zuerst an die Sammlung Essl, dann an die Sammlung Leopold und schließlich ans Wiener Museum Moderner Kunst (MuMoK),wo sich heute die umfassendsten Bestände zum Wiener Aktionismus befinden.

Dass gerade heuer eine Neuaufstellung der Sammlung unternommen wurde, mag mit dem 20-jährigen Jubiläum der Auflösung der Kommune zu tun haben, deren ehemalige Mitglieder vorsichtig in Erinnerung rufen wollen, was die Kommune für sie bedeutete: ein Leben nach den Prinzipien von „gemeinsamem Eigentum, freier Sexualität ohne feste Paarbeziehungen, kollektivem Kinderaufwachsen und direkter Demokratie“.

Beim 20-Jahr-Fest am Friedrichshof waren 400 ehemalige Kommunarden anwesend, ein Zeichen dafür, dass die Zeit für eine differenzierte Aufarbeitung der Geschichte der Muehl-Kommune gekommen ist. Im offiziellen Pressetext zur Neuaufstellung der Kunstsammlung ist wohl nicht zufällig ein interdisziplinäres Forschungsprojekt angekündigt, das untersuchen soll, wie eine anarchistisch-libertinäre Gruppe in ein autoritäres System kippen konnte. Die Ansätze für eine Erklärung werden gleich mitgeliefert: Man hätte die Komplexität des Vorhabens unterschätzt, dem um eine Generation älteren Muehl zu viel Bewunderung geschenkt und damit zu dessen Selbstüberschätzung beigetragen. Explizit „distanziert sich die Sammlung Friedrichshof von den Verfehlungen Muehls, bedauert das entstandene Leid und ist bestrebt, die Opfer bei der Bewältigung des Geschehenen zu unterstützen.“ Zugleich wird aber auch der Gesinnungswandel Muehls anerkannt und dessen Bemühen um Versöhnung, das in einem jüngst veröffentlichten Entschuldigungsschreiben zum Ausdruck komme.

Kunst des Wiener Aktionismus zu sammeln war für die Kommune nahe liegend, nicht nur weil Muehl zu dessen Exponenten gehörte, sondern auch, weil die Kommune in Anspruch nehmen konnte, den künstlerischen Aktionismus in eine gesellschaftspolitische Praxis umgesetzt zu haben, während die individuellen Künstler zwar einiges an politischer Reaktion auslösten, aber letztlich Reibebäume im geschützten Garten der Kunstproduktion bleiben mussten. Als die Sammlung Friedrichshof ab 1980 durch den in der Kommune lebenden Künstler Theo Altenberg aufgebaut wurde, war der Aktionismus selbst bereits Teil der Kunstgeschichte, wenn auch ein außerhalb Österreichs – bis auf Arbeiten Günter Brus‘ – wenig bekannter.

Nach der Auflösung der Kommune wurde der Ausstellungsmacher Hubert Klocker mit der Betreuung der Sammlung beauftragt, die in den 1990er-Jahren vor allem durch Leihgaben für Ausstellungen in Los Angeles, Tokyo und Paris zur besseren internationalen Positionierung des Wiener Aktionismus beitrug.

Die Neugestaltung der Sammlungsräume erfolgte durch Adolf Krischanitz, der schon in den 1980er-Jahren für eine Dependance der Kommune auf den Kanarischen Inseln ein Haus entworfen hatte. Krischanitz hat den Räumen ein neues Entree vorgesetzt – einen Glaszubau mit zwei X-förmigen Stützen aus massiven Holzbalken –, die Räume für die Sammlung beruhigt und mit einem Einbau für Projektionen ausgestattet. Ergänzt werden diese Räume durch einen Bereich für temporäre Installationen mit einem Längsraum als Übergang zur Dauerausstellung. Ohne großen Aufwand ist so ein hochwertiger Kunstraum entstanden, eine „kleine Monumentalität“, wie sich Krischanitz ausdrückt, die sehr selbstbewusst im alles andere als monumentalen Bestand ihren Platz findet.

Ihre erste Bewährungsprobe besteht die Raumfolge gerade mit einer Ausstellung von Paul McCarthys Videoinstallation „Carribean Pirates“, die bis Ende März 2011 in der Wechselausstellung zu sehen sein wird. In Mehrfachprojektionen zeigt Mc Carthy ein wildes Satyrspiel mit aktuellen Bezügen, das an ein Nitsch'sches Orgien-Mysterien-Theater erinnert, bei dem die Macher der US-Fernsehserie Southpark die Regie übernommen haben. Die großen Durchbrüche, mit denen Krischanitz Wechselausstellung und Sammlung verbunden hat, offenbaren so die heimliche Absicht, Letztere ein wenig zu durchlüften: Im Kontrast mit Mc Carthys absurdem Spektakel kommt der tief verspannte katholische Ernst, der den Werken des Wiener Aktionismus anhaftet, drastisch zum Vorschein.

Spectrum, Sa., 2010.10.30

16. Oktober 2010Christian Kühn
Spectrum

Der Schwank von Schwaz

Die Proteste gegen den Neubau des Stuttgarter Bahnhofs sind in aller Munde. Freilich: Im Vergleich zu dem, was sich rund um das Stadtgalerien-Projekt im Tiroler Schwaz ereignet, ist das Stuttgarter Bahnhofsvorhaben ein Muster an Transparenz.

Die Proteste gegen den Neubau des Stuttgarter Bahnhofs sind in aller Munde. Freilich: Im Vergleich zu dem, was sich rund um das Stadtgalerien-Projekt im Tiroler Schwaz ereignet, ist das Stuttgarter Bahnhofsvorhaben ein Muster an Transparenz.

In österreichischen Gemeinden ist der Bürgermeister die erste Instanz in allen Bau- und Planungsangelegenheiten. Das ist grundsätzlich zu begrüßen: Je näher bei den Bürgern Entscheidungen über die Qualität ihres Lebensraums fallen, desto besser. Das gilt zwar nicht für Fragen der Raumordnung, wo Österreich durchaus übergeordnete Planungsinstanzen mit Machtbefugnissen bräuchte. Aber die Verantwortung für Architektur und Stadtgestaltung ist auf lokaler Ebene richtig angesiedelt und kommt gut ohne eine übergeordnete, etwa auf Landesebene organisierte Schönheitspolizei aus. Von oben verordnete Schönheit passt nicht zu einer Demokratie: Hier muss über Qualität so lange diskutiert werden, bis eine tragfähige Mehrheit gefunden ist.

Wie schwierig das ist, kann man derzeit in Stuttgart verfolgen, wo eine Bürgerbewegung aus Denkmal- und Umweltschützern das vier Milliarden Euro teure Projekt des neuen Bahnhofs stoppen möchte. An Transparenz hat es in Stuttgart allerdings nie gefehlt: Seit 1998 war das Neubauprojekt im alten Bahnhof ausgestellt, und es gibt gute Argumente für die Auflassung des Kopfbahnhofes, der – unter Beibehaltung des Großteils der denkmalgeschützten Bahnhofshallen – mit neuen, quer zum Bestand verlaufenden Gleisanlagen unterfahren werden soll. Die Ursache des spät und eher plötzlich aus einem diffusen Unbehagen auskristallisierten Bürgerprotests dürfte hier in einem Misstrauen gegen alle Lösungen zu finden sein, die man früher stolz als „großen Wurf“ bezeichnet hätte. Hier prallen Welten aufeinander: Ingenieure und Politiker, die Berge versetzen möchten, und Bürger, die dieser Haltung misstrauen und am Bestand nichts ändern wollen.

Eine auf den ersten Blick ähnliche Situation ist derzeit – wenn auch in ganz anderem Maßstab – in der Kleinstadt Schwaz in Tirol zu beobachten. Auch hier haben tatkräftige Männer einen großen Wurf vor: Der langjährige Bürgermeister Hans Lintner und der einflussreiche ortsansässige Unternehmer Günther Berghofer träumen von einem innerstädtischen Einkaufszentrum, den Stadtgalerien. Das Grundstück dafür liegt am Rand der Altstadt, direkt am Inn, auf dem Gelände der ehemaligen Tabakfabrik, eines denkmalwürdigen Industriebaus, der 2007 praktisch über Nacht abgerissen wurde.

Wie es sich für tatkräftige Männer gehört, mussten sich der Bürgermeister und der Financier erst zusammenraufen: Geplant war zuerst ein multifunktionales Zentrum mit Wohnungen, Büros, Hotel und einem Stadtsaal als Ergänzung zur Shoppingmall. Hotel und Wohnungen mussten fast vollständig Geschäften weichen, und der Stadtsaal wurde schließlich – nicht gerade bürgernah – ins zweite Obergeschoß verdrängt, wo er den Umsatz nicht stört. Wie schlecht dieses Projekt tatsächlich ist, wissen die meisten Bürger von Schwaz erst seit vergangenem Dienstag, an dem eine offizielle Vorstellung stattfand. Einer „ergebnisoffenen“ Diskussion hat diese Veranstaltung nicht gedient: Tatsächlich wurden die Bauarbeiten bereits vor zwei Wochen mit dem Aushub des Kellergeschoßes begonnen, wobei die fast vollständige Fällung der imposanten Kastanienallee, die das Grundstück am Inn begleitet, den Auftakt bildete.

Natürlich sind alle Pläne vom Bürgermeister als erster Bauinstanz bewilligt. Selbst der von den Grünen gestellte Umweltreferent steht hinter dem Projekt, Alleefällung inklusive. Dass die Pläne nie an die Öffentlichkeit gelangten, liegt daran, dass sich die angrenzenden Grundstücke im Gemeindeeigentum befinden und daher nur wenige Anrainer außer der Gemeinde selbst Parteienstellung im Bewilligungsverfahren hatten. Einer Umweltverträglichkeitsprüfung entzog sich die Gemeinde elegant, indem sie auf die an sich sinnvolle und ursprünglich geplante Verbindung der neuen Tiefgarage mit einer bestehenden verzichtete, womit die Anzahl der Stellplätze unter der kritischen Größe blieb.

Schon 2007 hatte es einen geladenen Architekturwettbewerb für das ursprüngliche Raumprogramm gegeben, den die Architekten Henke und Schreieck gewannen. Man muss das damalige Wettbewerbsergebnis mit dem aktuellen Stand vergleichen, um zu erkennen, welche Chance hier verschenkt wird: Aus einer gegliederten Bebauung mit viel Luftraum und Terrassen ist ein ungeschlachter Fremdkörper geworden, der rücksichtslos alle Reserven aus dem Grundstück quetscht. Der Vorplatz, von dem aus Außentreppen zum Stadtsaal führen, liegt beschattet an der Nordseite, während Henke und Schreick für den Platz eine südwestseitige, zum Inn hin offene Terrasse vorgesehen hatten. Von der offenen Passage im Inneren sind nur ein paar Lichtschächte geblieben, und dass die Alleebäume im damaligen Wettbewerb nicht angetastet werden durften, versteht sich fast von selbst.

Als Henke und Schreick im Herbst 2008 ausgebootet wurden, um einem Wiener Spezialisten für Shoppingmalls Platz zu machen, konnte man den Beitrag, der hier im „Spectrum“ das Geschehen kommentierte, noch unter den Titel „Wenn Stümper Städte planen“ stellen. Stümperei trifft den Sachverhalt heute nicht mehr. Die politischen Akteure bewegen sich hart am Rande des Amtsmissbrauchs. Sie sollten zur Einschätzung der Lage nicht nur nach Stuttgart blicken: Im Vergleich zu den Schwazer Stadtgalerien ist das dortige Bahnhofsprojekt ein Musterbeispiel an Transparenz.

Viel eher entspricht die Schwazer Provinzkomödie mit tragischem Ausgang den Vorgängen um den Wiener Riesenradplatz, wo aus einer ähnlich überheblichen Haltung heraus alle Warnungen von Fachleuten und die Kritik von Bürgern ignoriert wurden. Hier wie dort gab es Versuche, durch unsauber abgewickelte Wettbewerbsverfahren die eigentlichen Absichten zu verschleiern. In Wien war das Projekt letztlich mitverantwortlich dafür, dass die Wiener vergangenen Sonntag der SPÖ nicht mehr die alleinige Verantwortung für ihre Stadt übertragen wollten. Auf die Pointe des Schwanks von Schwaz darf man gespannt sein.

Spectrum, Sa., 2010.10.16



verknüpfte Bauwerke
Stadtsaal „SZentrum – Schwaz“

04. September 2010Christian Kühn
Spectrum

Steine im Glashaus

Ein großes Haus des Lernens: Die neue Krankenpflegeschule im Kaiser-Franz-Josef-Spital von Andreas Lichtblau und Susanna Wagner beweist, dass Offenheit und Sicherheit kein Widerspruch sein müssen.

Ein großes Haus des Lernens: Die neue Krankenpflegeschule im Kaiser-Franz-Josef-Spital von Andreas Lichtblau und Susanna Wagner beweist, dass Offenheit und Sicherheit kein Widerspruch sein müssen.

Das Kaiser-Franz-Josef-Spital im zehnten Wiener Gemeindebezirk, das seit einigen Jahren unter dem Namen „Sozialmedizinisches Zentrum Wien Süd“ firmiert, ist ein klassisches Pavillonkrankenhaus, ein Anlage mit großem Park und zahlreichen frei stehenden Gebäuden. Dieser Typus des Krankenhauses ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, die auf einem Irrtum beruht: In der Annahme, dass Erreger vor allem über die Luft übertragen würden, rückte man die Abteilungen der Krankenhäuser auseinander, um eine möglichst große Durchlüftung zu erreichen, und nahm dafür den praktischen Nachteil langer Wege im Freien in Kauf.

Dass Ignaz Semmelweis schon in den 1840er-Jahren nachweisen konnte, dass Krankheiten im wörtlichen Sinn auf Händen von einer Abteilung in die nächste getragen wurden, blieb lange heftig umstritten. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich die Erkenntnis durch, dass hygienische Maßnahmen wie Desinfektion und Sterilisation ausreichen, um die Übertragung von Keimen zu verhindern. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschwand der Typus des Pavillonkrankenhauses zugunsten kompakter Lösungen, zuerst in England und etwas später auch im deutschen Sprachraum.

Wie viele Irrtümer in der Architektur hatte auch dieser einen positiven Seiteneffekt: Es gibt kaum Krankenhäuser mit großzügigeren Grünräumen und Bezügen nach außen als die alten Pavillonspitäler, obwohl man den Außenräumen anmerkt, dass sie nie als schöne Gärten, sondern als hygienisches Abstandsgrün gedacht waren. Das Kaiser-Franz-Josef-Spital ist da keine Ausnahme, auch wenn die Pavillons im Lauf der Jahre auf Kosten des Grünraums immer wieder erweitert wurden. Eine wesentliche Ergänzung der letzten Jahre war das geriatrische Zentrum nach Plänen von Anton Schweighofer, der für den Komplex auch eine neue Eingangslösung entwickelte.

Nun hat das Krankenhaus eine neue Erweiterung erfahren, diesmal für junge Menschen: Die Architekten Andreas Lichtblau und Susanna Wagner haben an der anderen Seite des Geländes eine Krankenpflegeschule entworfen, in der auf rund 6200?Quadratmetern künftig 600 Schülerinnen und Schüler eine dreijährige Ausbildung absolvieren werden. Das Gebäude liegt am Rand des Geländes an einer der meistbefahrenen Straßen Wiens, der Triester Straße. Der lange und schmale Bauplatz bedeutete, dass zu dieser Straße hin eine Front von rund 120 Metern vorzusehen war. Die naheliegende Lösung wäre, die Fassade an dieser Seite möglichst zu schließen. Allerdings ist diese Fassade zugleich die südöstliche Front des Gebäudes, und so wäre auch über den Großteil des Tages das direkte Sonnenlicht aus der Schule ausgesperrt geblieben.

Die Architekten entwickelten daher eine Lösung, die auf den ersten Blick das genaue Gegenteil versucht. Die Fassade zur Triester Straße ist eine durchgehende Glasfassade, eine der größten Wiens, 120 Meter lang und aufgrund des abfallenden Geländes zwischen zwölf und 16 Meter hoch. Sie wird aus knapp 200 Scheiben im liegenden Format von 1,8 mal 4,3 Metern gebildet, schwere Schallschutzgläser, die vom Straßenlärm nur noch ein fast unhörbares Rauschen in den Innenraum dringen lassen.

Hinter dieser Fassade liegt eine dreieinhalb Meter tiefe Raumschicht, die man sich als großes Regal mit eingehängten, unregelmäßig verteilt Boxen vorstellen kann, wie Edelsteine in einen Setzkasten platziert. Darin befinden sich Sanitärbereiche, kleine Gruppenräume für selbstorganisiertes Lernen sowie Pausenräume für Schüler und Lehrer. Bis auf die Sanitärräume sind diese Boxen nach oben und teilweise seitlich offen, was viel Durchblicken zwischen den Bereichen zulässt.

Hinter diesem verglasten Regal liegen als weitere lang gestreckte Raumschichten ein Erschließungsgang und dann die eigentlichen Klassenräume, die sich funktionell von normalen Schulklassen nicht unterscheiden, außer, dass in einigen von ihnen auch Krankenbetten für den praktischen Unterricht Platz finden müssen. Die Architekten haben dem Rechnung getragen, indem sie aus dem langen Baukörper einzelne Abschnitte wie Schubladen in den Innenbereich des Krankenhauses herausziehen. Während die Schule zur Triester Straße hin glatt und hermetisch wirkt, ist sie daher auf der anderen Seite plastisch gegliedert und nimmt mit den angrenzenden Pavillons einen freundschaftlichen Dialog auf.

Überhaupt ist der geschickte Umgang mit dem Kontext eine besondere Qualität des Projekts. Das abfallende Gelände haben die Architekten noch weiter modelliert und teilweise abgegraben, wodurch auch ein großer Hörsaal im Untergeschoß noch Tageslicht erhält. Die Niveausprünge des Geländes wirken bis in die Eingangshalle hinein, deren Boden als leichte Buckelfläche die unterschiedlichen Ebenen im Erdgeschoß verbindet, was punktuell höhere Aufmerksamkeit beim Gehen erfordert. Auf den Boden zu achten fällt einem angesichts dieser Eingangshalle allerdings nicht leicht. Sie ist lichtdurchflutet und erlaubt schon von außen einen Blick quer durch das Gebäude hindurch, der dann im Inneren in die Längsrichtung umgelenkt wird: ein 100 Meter langer Passagenraum, in dem die Schule als zusammenhängende Einheit erlebt werden kann.

Dass diese Einheit erlebbar bleibt, ist keine Selbstverständlichkeit. Kaum ein anderer Bereich des Bauens ist von den Anforderungen des Brandschutzes derzeit so geprägt wie der Schulbau. Hier ist es in Zusammenarbeit mit den Behörden gelungen, eine Lösung zu finden, die Offenes mit Sicherheit verbindet. Im Brandfall fallen die Türen zu den drei Erschließungstreppen zu, automatisch ausfahrende Schiebewände mit eingebauten Fluchttüren trennen den Passagenraum in drei Abschnitte, und die mechanische Belüftung des Gebäudes wird so gesteuert, dass der Brandrauch auf den Gängen selbst im schlimmsten Fall eine zwei Meter hohe Luftschicht zum Flüchten übrig lässt. Die Computersimulation dieses Brandverhaltens hat sich - zur großen Erleichterung aller Beteiligten - bei einem Rauchversuch im ausgeführten Objekt bestätigt.

Dass diese Schule das Potenzial hat, ein gutes Haus des Lernens zu sein, liegt auf der Hand. Der Erfolg hängt letztlich von den Nutzern ab, die eine gewisse Toleranz brauchen werden, um die teilweise heiklen Oberflächen und nicht leicht zu reinigenden horizontalen Flächen der Boxen in den Regalen mit Gelassenheit zu betrachten. So weiß wie heute wird diese Schule in ein paar Jahren sicher nicht mehr sein. Ob Gebrauchsspuren in einem schönen Raum besser sind als sauber geputzte Tristesse, ist freilich eine Frage, auf die jede Institution selbst eine Antwort finden muss.

Spectrum, Sa., 2010.09.04

30. August 2010Christian Kühn
Die Presse

Biennale: Neue Urhütte, Klangraum, künstliche Wolken

„People meet in architecture“, unter diesem auf den ersten Blick banalen Motto zeigt Kazuyo Sejima eine der eindrucksvollsten Biennalen bisher. Österreich bietet die etwas beliebige Ausstellung „Under Construction“.

„People meet in architecture“, unter diesem auf den ersten Blick banalen Motto zeigt Kazuyo Sejima eine der eindrucksvollsten Biennalen bisher. Österreich bietet die etwas beliebige Ausstellung „Under Construction“.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Die Presse“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

07. August 2010Christian Kühn
Spectrum

Auf nach Tirol!

Innsbruck: inzwischen eine der interessantesten Architekturregionen Europas. Ein Stadtspaziergang abseits des „Goldenen Dachls“.

Innsbruck: inzwischen eine der interessantesten Architekturregionen Europas. Ein Stadtspaziergang abseits des „Goldenen Dachls“.

Dass Tirol einmal zu einer der architektonisch interessantesten Regionen Europas gehören würde, hätte vor zehn Jahren niemand gedacht. Erste Anzeichen, dass hier etwas Besonderes im Entstehen war, zeigten sich im Herbst 2002, als in Innsbruck praktisch zeitgleich die von Dominique Perrault in Zusammenarbeit mit ATP geplante Rathauspassage und die Bergisel-Schanze von Zaha Hadid eröffnet wurden. Die Innsbrucker überstanden diese Stararchitekten-Doppelattacke anstandslos und zeigten sich parteiübergreifend so begeistert, dass sie sich von Hadid gleich um viele Millionen Euro mit einem weiteren Wahrzeichen beglücken ließen, den Stationen der Hungerburgbahn, die 2007 eröffnet wurden.

Dem Phänomen der aktuellen Tiroler Architektur wird diese verkürzte Darstellung freilich nicht gerecht. Das Bemerkenswerte an der Entwicklung sind nämlich nicht die einzelnen Highlights, die sich gut auf die Titelseiten der Zeitungen bringen lassen, sondern die Dichte an Qualität, wie sie heute etwa in Innsbruck zu erleben ist. Erst wenn ambitionierte Einzelprojekte auf Rufweite miteinander ins Gespräch kommen, entsteht ein attraktiver Stadtraum, der mehr ist als die Summe seiner Teile.

Um diesen Stadtraum erfassen zu können, macht man sich am besten zu Fuß auf den Weg. Meine Routenempfehlung beginnt im Zentrum beim Stadtforum der Bank für Tirol und Vorarlberg von Heinz Tesar, einem Eckgebäude an der Gilmstraße, und endet auf der anderen Seite des Inns beim Q West an der Höttinger Au, einem noch in Bau befindlichen neuen Stadtteilzentrum mit Geschäften und Büros in den Untergeschoßen und einem Gymnasium auf dem Dach, entworfen von den Architekten Helmut Reitter und Eck & Reiter. Die sehenswerten Bauten, die sich an dieser Strecke von rund zwei Kilometer Länge finden, zeichnen sich nicht zuletzt durch öffentlich zugängliche Innenräume von besonderer Qualität aus.

Beginnen wir mit Heinz Tesars BTV-Stadtforum, dessen viergeschoßige, nach oben voneinem geblähten Betonsegel abgeschlosseneEingangshalle eine fast sakrale Atmosphäre besitzt. Schräg gegenüber in der Erlerstraße liegt der Eingang zum Kaufhaus Tyrol, das David Chipperfield im Auftrag des Projektentwicklers René Benko entworfen hat.

Dass es sich lohnt, um den besten Entwurfzu kämpfen, bestätigt sich hier eindrucksvoll. Die Aufteilung der Funktionen wird bei den umstrittenen Vorprojekten nicht anders gewesen sein, Chipperfield hat daraus Architektur gemacht, eine logische und räumlicheEinheit, die sich meilenweit über das allgemeine Niveau bei dieser Aufgabe erhebt. Museumsatmosphäre ist dabei zum Glück keineentstanden: Das Tyrol ist der perfekte „ThirdPlace“ fürs entspannte Shoppen. Bei einer Rolltreppenfahrt durch die zentrale Halle kannman die raffinierte Wegführung und Staffelung der Räume nach oben bewundern.

Der Haupteingang des Tyrol führt auf die Maria-Theresien-Straße, auf der gerade die Neugestaltung der Fußgängerzone nach Plänen der Architektengruppe awg – ein Akronym für „Alles wird gut“ – abgeschlossenwurde. Auf das W-Profil der Straße hatten die Architekten keinen Einfluss, auch nicht auf die Unsitte, den Straßenraum mittig mit Schanigärten zu verstellen. Immerhin gibt es sehenswerte Bronzekandelaber und eine brauchbare Stadtmöblierung.

Überquert man die Straße, gelangt man nach ein paar Schritten zum nächsten überdachen Raum, der Perraultschen Rathauspassage. Vom Tyrol verdorben, wird man die Mall hier etwas weniger beeindruckend finden als bei früheren Besuchen, aber der Turm des Rathauses mit den von Peter Kogler gestalteten Glasflächen kann immer noch überzeugen, wie überhaupt die Funktionsmischung von kommerziellen und kommunalen Flächen, die hier auch außerhalb der Amtsstunden für Leben sorgt.

Nimmt man von hier aus den linken Ausgang Richtung Anichstraße, erreicht man nach einigen Minuten einen Ort, den man in dieser Reihe eher nicht vermuten würde, das Medizinzentrum in der Anichstraße, entworfen von Michael Loudon und Josef Habeler. Bereits 2001 eröffnet, steht es den oben den genannten Projekten architektonisch nicht nach, angesichts der Aufgabe, 40.000 Quadratmeter Krankenhausfläche in die Stadt zu implantieren, eine besondere Leistung. Auchhier bestechen die Innenräume, von der Eingangshalle mit ihrem gedämpften, über zwei Höfe einfallenden Licht bis zu den Stationsgängen mit Blick auf die Berge.

Das Medizinzentrum ist gewissermaßen der Fels, an dem der Strom der Anichstraße Richtung Inn zur Universitätsbrücke gelenkt wird. Hier befindet sich linker Hand die gerade eröffnete neue Universitäts- und Landesbibliothek der Architekten Eck & Reiter, gemeinsam mit Dieter Rossmann. (Genau: Das sind dieselben Eck&Reiter wie oben, diesmal in anderer Kombination. Die Fähigkeit zu projektweise wechselnden Partnerschaften scheint eine der Qualitäten der jüngeren Tiroler Architektengeneration zu sein). Aus einem Abstandsgrün wurde hier eine raffinierte, schwellenlose Verbindung von Universität und Stadt geschaffen.

Überquert man die Brücke, trifft man linker Hand auf ein Wohnhaus der Architekten Manzl, Ritsch und Sandner, der letztes Jahr fertiggestellt wurde. Es enthält vor allem Kleinwohnungen, die in der Regel als Geldanlage erworben und vermietet werden. Dass für diese triviale Aufgabe ein so beachtliches Projekt entstehen konnte, verdankt sich dem Architekturwettbewerb, zu dem der Bauherr sich verpflichten musste, um die nötigen Änderungen am Bebauungsplan zu erhalten. Auch hier besteht eine besondere Qualität in einem öffentlich zugänglichen Binnenraum, dem mit Holzlatten verkleideten Innenhof.

Wer durch diesen Hof auf die andere Seite schlüpft, erreicht nach wenigen Gehminuten das Bischof-Paulus-Studentenheim von Johannes Wiesflecker, zwei schwebende Schatzkisten, die das Thema der Verbindung von halböffentlichen und privaten Flächen ein wenig verspielt ausloten. Ab Herbst wird man diesen Spaziergang mit einem Besuch im Q West abschließen und erforschen können, wie gut sich die Kombination von Schule und Shopping bewährt.

Ganz gleich, wie das Ergebnis ausfällt: Den Innsbruckern ist es gelungen, ihre Stadt zum Projekt zu machen und eine architektonische Kultur zu entwickeln, die vorbildlich ist. Bürgermeister und Beamte von Eisenstadt westwärts: Auf nach Tirol.

Spectrum, Sa., 2010.08.07

10. Juli 2010Christian Kühn
Spectrum

Kultur des Sprudelns

Das Schloss Belvedere und seine Gärten gehörten schon immer zu den schönsten Orten Wiens. Seit die Brunnen des Prinzen Eugen saniert und wieder in Betrieb sind, lohnt sich ein Besuch doppelt.

Das Schloss Belvedere und seine Gärten gehörten schon immer zu den schönsten Orten Wiens. Seit die Brunnen des Prinzen Eugen saniert und wieder in Betrieb sind, lohnt sich ein Besuch doppelt.

Letztlich gehorcht alles in der Architektur den Gesetzen der Schwerkraft. Häuser stehen, weil sie ihre Lasten über Balken und Säulen ins Fundament abtragen. Die Fachgebiete, die sich mit diesem Thema befassen, heißen im Bauwesen bezeichnenderweise Statik und Festigkeitslehre: Architektur soll sich nicht bewegen und daher aus möglichst festen Baustoffen bestehen.

Es gibt allerdings eine leichtlebigere Schwester der Baukunst, die zwar auch den Gesetzen der Schwerkraft gehorcht, allerdings nicht jenen von Statik und Festigkeitslehre. Als „schöne Wasserleitungskunst“ ist sie etwa von Arthur Schopenhauer auf eine Stufe mit der Baukunst gestellt worden. So wie deren „Werke die Ideen der starren Materie entfalten“, würde jene durch „schäumend und brausend über Felsen stürzende Wasserfälle, still zerstäubende Katarakte, als hohe Wassersäulen emporstrebende Springbrunnen und klar spiegelnde Seen die Ideen der flüssigen schweren Materie offenbaren“.

Das Ansehen der „schönen Wasserleitungskunst“ war freilich schon zu Schopenhauers Zeiten eher gering. Sein 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der Ingenieure, die Brunnen bestenfalls als dekorativen Abschluss zu nützlicheren Werken der Wasserleitungskunst betrachteten. Springbrunnen und andere Wasserspiele gelten bis heute als Spielerei, mit der sich ernst zu nehmende Architekten besser nicht befassen. Die tanzenden Fontänen vor dem Hotel Bellagio in Las Vegas haben es zwar zu einer schönen Nebenrolle in Steven Soderberghs Film „Ocean's Eleven“ gebracht, aber wer möchte schon als Baukünstler mit solchem Kitsch in Verbindung gebracht werden?

Weniger Berührungsangst hat in dieser Hinsicht die bildende Kunst. In Olafur Eliassons Arbeiten finden sich viele Beispiele für einen Umgang mit flüssigen und auch gasförmigen Materien, die als Wasserschleier und Nebelvorhänge raumbildend sind. Die Künstlergruppe Gelitin schuf 2000 für die Gemeinde Staatz einen „Schlürfbrunnen“, der die Gesetze der „schönen Wasserleitungskunst“ umkehrte und Wasser nicht nach oben schäumen ließ, sondern laut schmatzend über eine trichterförmige Vertiefung im Boden zurück in die Erde saugte. Ebenfalls von Gelitin stammt auch der letzte Brunnen, der in Österreich für Furore sorgte: 2003 entstand er in Salzburg als temporäre Installation auf dem Max-Reinhardt-Platz unter dem Namen „Arc de Triomphe“, eine kleine, in einen Plastilinriesen eingebaute Fontäne, die aus dessen Mitte zurück in die Mundöffnung spritzte. Die deutlich sichtbare Erregung der Skulptur löste eine ebensolche öffentliche aus und hätte die damalige Direktorin des Museums der Moderne Salzburg beinahe ihr Amt gekostet.

Die großen Zeiten der „schönen Wasserleitungskunst“ liegen jedenfalls schon einige Jahrhunderte zurück. Im Barock war sie integraler Teil der künstlerischen Großunternehmungen, mit denen sich die Könige und Fürsten Europas in ihren Schlossanlagen gegenseitig zu übertreffen suchten. Das Wiener Belvedere, nach Plänen von Johann Lukas von Hildebrandt zu Beginn des 18. Jahrhunderts für den Prinzen Eugen von Savoyen erbaut, gehört zu den großartigsten Beiträgen in diesem Wettbewerb, der nicht zwischen Nationen, sondern letztlich zwischen architekturverrückten Einzelpersonen ausgetragen wurde. Exakt zeitgleich mit dem Belvedere entstand etwa in St. Petersburg die Sommerresidenz Peters des Großen mit gigantischen Wasserkaskaden, Grotten und einem 400 Meter langen Stichkanal zum Meer, auf dem sich Besucher in Barken dem Schloss näherten. – Das Belvedere in Wien ist in den Ausmaßen bescheidener, in der feinen Abstimmung zwischen Gebäuden, Gärten, Skulpturen und Wasserkunst aber unübertroffen.

Ursprünglich sollte das Untere Belvedere, zwischen 1714 und 1716 errichtet, das Hauptgebäude der Anlage werden, während das Obere Belvedere nur als Abschlusspavillon des Gartens gedacht war. Die ab 1717 bis 1723 ausgeführte Lösung für das Obere Belvedere kehrte die Verhältnisse um und machte auch eine Umplanung des Gartens erforderlich, der zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon mit einer Grotte im Zentrum ausgestattet war. Prinz Eugen lieh sich von einem befreundeten Regenten, dem Kurfürsten Max Emanuel von Bayern, den Gartenarchitekten Dominique Girard aus, deram Nymphenburger Schlosspark als maître fontainier wirkte, zwischen 1717 und 1722 mehrmals in Wien war und mit Lukas von Hildebrandt an den Entwürfen arbeitete.

Auch wer das Belvedere schon seit Jahren kennt, wird überrascht sein, wenn er heute den Park zu den Betriebszeiten der Brunnenanlagen (10–12 und 14–17 Uhr) betritt. Die Fontänen des Kaskadenbrunnens sind tatsächlich Architektur aus Wasser, schaumige Säulen und Bögen, die aus dem nassen „Fundament“ der Wasserflächen in der Kaskade und aus den Skulpturen hervorsprudeln. Gartenhistoriker interpretieren diese Kaskade als den Übergangspunkt, an dem das dionysische Thema des Parks kulminiert und sich mit dem apollinischen Thema im oberen Bereich verschränkt. Dieser Themenwechsel ist auch in der Bepflanzung markiert, die mit üppigen begrünten und beschatteten Bereichen vor dem unteren Belvedere beginnt und unmittelbar vor dem Schloss in einer streng ornamentierten Kieslandschaft endet.

Dass dieser Park heute wieder weitgehend erlebbar ist wie zur Zeit seiner Entstehung, ist ein Glücksfall. Die Grundlage für die Rekonstruktion der Gartenanlagen bildete ein Parkpflegewerk, das 1991 von den Landschaftsarchitekten Maria Auböck und János Kárász im Auftrag der Bundesgärten erstellt wurde. Die Brunnen selbst ressortieren zur Burghauptmannschaft der Hofburg und damit zum Wirtschaftsministerium, das die seit 2005 laufende Sanierung finanziert, deren Nettobaukosten sich auf stolze 7,7 Millionen Euro belaufen. Betreut hat die Sanierung dasBüro von Architekt Manfred Wehdorn, dem es gelungen ist, auch viel von der ursprünglichen Bautechnik zu rekonstruieren. Die Wasserspiele selbst werden heute allerdings über Pumpen betrieben. Zu Prinz Eugens Zeiten kam der Wasserdruck aus dem großenBecken an der anderen Seite des Schlosses, das derzeit noch restauriert wird.

Die Besucherströme, die sich täglich erwartungsvoll vor dem Einschalten der Brunnen im Park einfinden, beweisen jedenfalls das ungebrochene Interesse des Publikums an der „schönen Wasserleitungskunst“ und damit auch am zwecklos Schönen. Spielraumdafür würde man sich auch an anderen Orten wünschen. Und die Bauherren, Künstler und Architekten, die ihn zu nutzen wissen.

Spectrum, Sa., 2010.07.10

14. Juni 2010Christian Kühn
Die Presse

Architektur: Erneuerer, Vollender?

Ein Kongress zu Ehren von Raimund Abraham kam zu keiner einhelligen Einschätzung. Abraham galt nie als bequem, und er hat sich zeitlebens bemüht, in dieser Hinsicht keine Zweifel aufkommen zu lassen.

Ein Kongress zu Ehren von Raimund Abraham kam zu keiner einhelligen Einschätzung. Abraham galt nie als bequem, und er hat sich zeitlebens bemüht, in dieser Hinsicht keine Zweifel aufkommen zu lassen.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Die Presse“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

12. Juni 2010Christian Kühn
Spectrum

Autonomie und Inbrunst

Vom Anspruch, Erfinder der Architektur zu sein: über eine Konferenz „in Abwesenheit von Raimund Abraham“ und eine Ausstellung auf der Suche nach neuen Grenzen.

Vom Anspruch, Erfinder der Architektur zu sein: über eine Konferenz „in Abwesenheit von Raimund Abraham“ und eine Ausstellung auf der Suche nach neuen Grenzen.

Im März dieses Jahres ist der Architekt Raimund Abraham im Alter von 76 Jahren in Los Angeles bei einem Autounfall ums Leben gekommen, auf dem Heimweg von einem Vortrag, den er als Gastprofessor am Southern California Institute of Architecture gehalten hatte. Man habe, so erklärte dessen Direktor Eric Owen Moss, mit Abraham einen„unersetzlichen, einzigartigen und kraftvollen Fürsprecher der Architektur“ verloren. Sein gebautes Werk ist vergleichsweise schmal: ein Stadthaus in Berlin, ein Teil einerkompakten Reihenhaussiedlung in Wien-Inzersdorf, eine Bankfiliale in seiner Heimatstadt Lienz in Osttirol. Sein bekanntester Bau ist das Österreichische Kulturinstitut in New York, das der Architekturkritiker Kenneth Frampton bei der Eröffnung 2001 als das „signifikanteste Beispiel moderner Architektur“ bezeichnete, das in New York „seit dem Seagram Building und dem Guggenheim Museum errichtet wurde“.

An diesem Wochenende veranstalten das Museum für angewandte Kunst und die Universität für angewandte Kunst eine Architekturkonferenz „in Abwesenheit von Raimund Abraham“, die in ihrem Anspruch mit einer Seligsprechung des verstorbenen Architekten zu vergleichen ist. Eröffnet wird die Konferenz mit einem Einleitungsreferat von Thom Mayne, in Österreich bekannt als Architekt der Hypo-Alpe-Adria-Zentrale in Klagenfurt. Danach erinnern sich Absolventen der „Angewandten“ in einem Podiumsgespräch an Begegnungen mit Raimund Abraham und seinen Einfluss auf ihr Denken und ihre Praxis. Die eigentliche Zeremonie findet im zweiten Teil der Veranstaltung satt. Kenneth Frampton hält eine Laudatio, Bundeskanzler Werner Faymann ist mit einem „Plädoyer für zeitgenössische Architektur“ angekündigt, und danach folgt eine Gesprächsrunde mit Vito Acconci, Peter Eisenman, Thom Mayne, Eric Owen Moss, Peter Noever, Wolf D. Prix, Lebbeus Woods sowie den Filmemachern Peter Kubelka und Jonas Mekas.

Dieses Großaufgebot an Prominenz ist nicht allein mit dem Werk Abrahams erklärbar, auch nicht mit seiner langjährigen Lehrtätigkeit am Pratt Institute und an der Cooper Union in New York. Abraham verkörperte in idealer Weise ein Architektenbild, wie es Wolf D. Prix in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des goldenen Ehrenzeichens der Stadt Wien 2005 charakterisiert hat: Abraham gehöre „zur Urgesteinsgeneration der Wiener Verweigerer“ und war „getragen vom Anspruch, Erfinder der Architektur zu sein, und ausgestattet mit dem moralischen Bewusstsein, der Beste zu sein. (?) Seine Architekturen waren Feste, manchmal brutal, manchmal hart, schwer oder einfach nur da wie die Quellenheiligtümer in Sardinien oder die schroffen Tempel in Mexiko. Abrahams Architekturen sind der Raum als Ziel.“ Dass Abraham wenig gebaut hat, liege an seiner kompromisslosen, nur diesem Ziel verpflichteten Haltung, die ihn zwangsläufig in Konflikt mit der „Bequemlichkeit der Bauherren“ gebracht hätte, deren „Ansicht von Architektur niemals Aussicht, sondern nur Einsicht in Rechnungsbücher ist.“

Dieses heroische Architektenbild ist in den 1960er-Jahren als Gegenposition zum vorherrschenden Bauwirtschaftsfunktionalismus entstanden: Architektur als absolute Form- und Raumkunst, niemandem verpflichtet außer sich selbst. Es ist kein Zufall, dass Prix Tempel und Heiligtümer als Referenzen anführt. Abraham hätte wohl noch die „Elementare Architektur“ des alpinen Raums ergänzt, deren Formen für ihn genauso absolut waren wie jene von Bergen oder Pflanzen und der er 1963 ein eigenes Buch gewidmet hat.

Wie relevant diese Vorstellung von der Architektur als autonomer Disziplin heute noch ist, wird bei dem Architekturkongress wohl kaum zur Debatte stehen, zu sehr ist das Podium mit Vertretern der Disziplin besetzt, die diese Vorstellung mit derselben Inbrunst verteidigen wie der Vatikan die unbefleckte Empfängnis. Geändert hat sich seit den 1960er-Jahren allerdings der Rahmen, in dem diese Vorstellung vertreten wird: Nach dem langen Marsch durch die Institutionen ist sie heute der akademische Standpunkt geworden, der mit entsprechendem Selbstbewusstsein vertreten wird. Zaha Hadids Antwort auf den Vorwurf eines Journalisten, dass man es „auf Ihrem Sofa Iceberg keine zehn Minuten aushält“, ist bekannt: „Da müssen Sie noch an Ihrer Sitztechnik feilen.“ Zur Aura der Autonomie gehört auch die Tendenz, Budgetüberschreitungen zur selbstverständlichen Begleiterscheinung jedes architektonischen Geniestreichs zu erklären und entsprechende Kritik gnadenlos als erbsenzählerisches Banausentum zu diffamieren.

Beide Strategien haben eine gewisse Berechtigung: Würde Architektur ausschließlich die aktuellen Bequemlichkeiten bedienen und nicht auch zu Haltungsänderungen auffordern, bliebe jede Entwicklung aus. Und der Schaden, der durch zu knappe Budgets, niedrige Qualität und Gleichgültigkeit gegenüber der Gestaltung unserer Umwelt entsteht, ist sicher um vieles größer als jener durch Budgetüberschreitungen aufgrund überspannter Ambitionen. Offen ist, von welcher Seite man diese Fragen nachhaltiger beeinflussen kann: durch Aufklärung der Bauherren und Nutzer oder durch Institutionalisierung eines architektonischen Hohepriestertums.

Wie verletzlich die letztere Strategie ist, lässt sich an einer Ausstellung ablesen, die derzeit im Zumtobel Lichtforum zu sehen ist. Kuratiert von Florian Medicus, zeigen 28 jüngere Architektenteams, Absolventen von Architekturschulen in Österreich und der Slowakei, zum überwiegenden Teil mit einem Bezug zur Angewandten, was sie als „New Frontiers“ wahrnehmen. Viele der Aussteller können wahrscheinlich besser zeichnen als Raimund Abraham und sind geschickter als Wolf D. Prix im computergestützten Generieren von Formen. Ohne den akademischen Schutzmantel wird hier aber deutlich, wie schmal der Grat zwischen gelungener Provokation und offensichtlicher Peinlichkeit, zwischen Tiefsinn und geistiger Hochstapelei ist. Der Frage, wogegen, wofür und vor allem für wen die meisten dieser Arbeiten geschaffen wurden, bleibt weitgehend unklar. In der Kunstszene würde vieles als „Schmunzelkunst“ untergehen (ein Begriff, den Hermann Czech schon vor 40 Jahren aus ähnlichem Anlass bei seinem Aufruf, Architektur als Hintergrund wirken zu lassen, geprägt hat). Trotzdem scheint in diesen Arbeiten ein Potenzial jenseits der gut einstudierten Provokationen der Väter und Überväter durch. Um dieses Potenzial herauszufordern, bräuchte es freilich etwas Unzeitgemäßes: ein Publikum, dem es wieder darauf ankommt, was gesagt beziehungsweise entworfen und gebaut wird und nicht nur von wem und wo.

Spectrum, Sa., 2010.06.12

08. Mai 2010Christian Kühn
Spectrum

Eine Fahne für Österreich

Als unschlagbare Touristenfalle und nicht gerade klischeefrei präsentiert sich Österreich auf der Weltausstellung in Shanghai. Dafür mit einem hoch komplexen Pavillon, in jeder Hinsicht einprägsam.

Als unschlagbare Touristenfalle und nicht gerade klischeefrei präsentiert sich Österreich auf der Weltausstellung in Shanghai. Dafür mit einem hoch komplexen Pavillon, in jeder Hinsicht einprägsam.

Eines der berühmtesten Gedichte von Ernst Jandl ist der mit dem Titel „Eine Fahne für Österreich“ überschriebene Dreizeiler „rot / ich weiß / rot“. Jandl hätte sicher mehr über das Land zu sagen gehabt, aber der Dreizeiler hat ihm offenbar genügt. Das in die Landesfarben hineingeseufzte „Eh-schon-wissen“ sagt ja tatsächlich mehr über die zähflüssige Substanz der österreichischen Seele aus als viele wortreiche Analysen.

Die Präsentation eines Landes bei einer Weltausstellung ist im Idealfall genauso simpel und zugleich abgründig wie dieses Gedicht. Mehr als eine einfache Aussage hat imallgemeinen Rauschen einer solchen Veranstaltung nicht Platz, und trotzdem muss sie genug Tiefgang haben, um den Besuchern nachhaltig in Erinnerung zu bleiben.

Was Österreich auf der am 1. Mai eröffneten Weltausstellung in Shanghai mit seinem Pavillon zustande gebracht hat, kommt diesem Ideal ziemlich nahe. Zwar triefen die gezeigten Inhalte so von Klischees, dass es beinahe weh tut: „Feel the Harmony“, lautet das Motto, und wer auf der Website einen virtuellen Rundgang unternimmt, begegnet einer Sennerin im Designerdirndl und Mozart vor einer Seenlandschaft mit Bergkulisse. Auch im realen Pavillon verlässt sich das Ausstellungskonzept vor allem auf Projektionen undSoundscapes, die sich kräftig aus dem Fundus der Tourismuswerbung bedienen.

Eingebettet sind diese Inhalte allerdings in ein in jeder Hinsicht einprägsames Objekt, das trotz seiner organischen Konturen mit dem Kürzel „Blob“ nur unzureichend beschrieben ist. Tatsächlich liegt dem von der Gruppe SPAN konzipierten und zusammen mit dem Architekten Arkan Zeytinoglou umgesetzten Pavillon eine komplexe, am Computer entwickelte Geometrie zugrunde, die nicht durch „Aufblasen“ und Anschneiden einer Grundform entstanden ist, sondern durch bruchlose Verformung. Der wissenschaftliche Hintergrund dafür ist die Topologie, ein Teilgebiet der Mathematik, unter dessen Blickwinkel scheinbar unterschiedliche Körper als verwandt identifiziert werden, weil sich ihre Formen kontinuierlich ineinander überführen lassen. Der Entwurfsprozess für den Pavillon in Shanghai lässt sich mit einem Trick vergleichen, bei dem zuerst eine Seifenblase in Schachtelform in die Luft gezaubert wird und danach Löcher in diese Schachtel geblasen werden, die in ihrem Inneren zu Hohlräumen verschmelzen.

Sandra Manninger und Matias del Campo, die 2003 das SPAN-Team gegründet haben, befassen sich seit vielen Jahren mit der Benutzung solcher Verfahren für die Herstellung architektonischer Formen. Die mathematischen Modelle und die Computerprogramme dafür haben sich in den letzten Jahren rasant entwickelt. Man muss sie freilich auch benutzen können. Beim Österreich-Pavillon ist SPAN dabei ein bemerkenswerter Qualitätssprung gelungen, gewissermaßen von Luigi Colani zu Friedrich Kiesler, dessen „Endless House“ immer noch die Sehnsuchtsfigur aller Architekten darstellt, die von der Auflösung von Wänden und Decken in eine kontinuierliche Raumhülle träumen.

Das Ergebnis ist nicht nur ein schönes Objekt, sondern vor allem eine gelungene Verbindung von Raum, Form und Bewegung.Denn der Weg, den die Besucher durch den Pavillon nehmen, hat – gewissermaßen als Leitlinie für die Verformung der Schachtel – die Raumhülle geformt. Er führt zuerst über eine lange Rampe auf das Niveau von 1,5 Metern und von dort in einer S-Schleife wieder abwärts ins zentrale Auditorium. Hierkommt ein zweiter Aspekt des Entwurfs zumTragen: Ursprünglich hatten die Architekten ihr Projekt unter dem Titel „Topology of Sound“ zum Wettbewerb eingereicht und dieGeometrie des Hauptsaals als Verräumlichung von Schallwellen konzipiert. So folgenDecke und Boden des Raums, in dem sich bis zu 300 Menschen aufhalten können, einerleichten, wellenförmigen Bewegung. Hier werden die Besucher mit einem Mix aus Klassik, Pop und elektronischer Musik beschallt und mit Projektionen zu den Themen Berge, Wald, Wasser und Stadt süchtig nach den Schönheiten Österreichs gemacht.

Nach Verlassen des Saals verzweigt sich der Weg, entweder ins Freie oder ins Obergeschoß, wo sich ein Restaurant mit Innenhof befindet, der sich zu einem begehrten Ruhepol in der Hektik der EXPO entwickeln wird. Auch im Restaurant folgt die Geometrie dem Prinzip kontinuierlicher Übergänge. Säulen gibt es nicht, und wo sie statisch notwendig wären, stützt sich einfach die Decke in einer eleganten Bewegung auf dem Boden ab.

Zumindest scheint es so, denn im Inneren der so entstehenden Stalaktiten befinden sichnach wie vor Stahlsäulen, wie überhaupt die kontinuierliche Geometrie nur eine Hülle um ein konventionelles Tragwerk darstellt. Obwohl auch für die Herstellung dieser Hülle computergesteuerte Produktionsverfahrenzum Einsatz kommen, bleibt zwischen der digitalen Welt des Entwurfs und jener der Produktion eine Lücke, die sich vielleicht in Zukunft durch neue Materialien und Bautechniken schließen wird. Beeindruckend istdie von der chinesischen Tochterfirma der Alpine-Mayereder errichtete Konstruktion allemal. Die Geometrie wurde in mehreren Ausbaustufen approximiert: zuerst grob über das Stahltragwerk der Primärkonstruktion, dann mit Stahllamellen, die von rechnergesteuerten Maschinen gebogen wurden, und schließlich mit einer Haut aus gelochten Faserzementplatten, die ebenfalls rechnergesteuert zugeschnitten und über die Lamellen gebogen wurden. Die glänzende Außenschicht besteht aus sechseckigen Keramikplättchen, deren Farbgebung den Baukörper in einem rot-weiß-roten Muster akzentuiert: eine Fahne für Österreich, vielleicht nicht so minimalistisch wie Ernst Jandls Gedicht, aber ähnlich einprägsam.

Im Nationenvergleich behauptet sich der österreichische Pavillon gut. Der deutsche sieht ein wenig aus, als hätte man Coop Himmelb(l)au einen Praktikanten abgeworben und dessen Entwurf mit Waren aller Art vollgestopft. Mehr Mut zur Ironie als Österreich – und mehr Nähe zum Thema der EXPO, „Better City, better Life“ – beweisen die Niederländer mit ihrer „Happy Street“, einer in der Luft schwebenden Achterschleife mit Miniaturhäusern aller Stilrichtungen. Auch Dänemark zeigt mehr Witz, indem es das Original der „Kleinen Meerjungfrau“ in einer Raumschleife von Radfahrern umkreisen lässt und die Chinesen so an ihr früheres ökologisches Hauptverkehrsmittel erinnern will.

Als Touristenfalle ist Österreichs Pavillon aber unschlagbar. Und wir dürfen uns damit trösten, dass „Sinne im Gleichklang“ – so der übersetzte Titel unseres Beitrags – als Kennzeichnung Österreichs nur eine höhere Form der Ironie darstellt.

Spectrum, Sa., 2010.05.08



verknüpfte Bauwerke
Österreichischer Pavillon Expo 2010

17. April 2010Christian Kühn
Spectrum

Lernen im fliegenden Teppich

Ein Gebäude wie eine Dünenlandschaft, ein Innenraum, der nicht durch Wände gegliedert ist: das Rolex Learning Center in Lausanne. Eine Meisterleistung, in der die Benutzer zu Wanderern und Entdeckern werden.

Ein Gebäude wie eine Dünenlandschaft, ein Innenraum, der nicht durch Wände gegliedert ist: das Rolex Learning Center in Lausanne. Eine Meisterleistung, in der die Benutzer zu Wanderern und Entdeckern werden.

Als Kazuo Sejima, die Direktorin der heurigen Architekturbiennale in Venedig, im Jänner das Thema dieser architektonischen Großveranstaltung bekannt gab, war die Architekturszene einigermaßen verdutzt. „People meet in architecture“ – ist das nicht das banalste Motto, unter dem die Biennale je gestanden hat? Jedenfalls besaßen frühere Biennalen eindeutig mehr Zug ins Utopische: Aaron Betskys „Out there – Architecture beyond building“ 2008, Kurt W. Forsters „Metamorph“ 2004, Deyan Sudjic' „Next“ 2002, Hans Holleins „Sensing the Future – The Architect as Seismograph“ 1996. Immer ging es um die Zukunft, um die Überform, um den nächsten Trend.

Und jetzt plötzlich dieser Aussagesatz: „People meet in architecture.“ Auch die Erklärung, die Sejima in ihrem Pressestatement zu ihrem Konzept liefert, klingt nicht gerade weltbewegend: „Die Idee ist, Menschen zu helfen, eine Beziehung zur Architektur aufzubauen, der Architektur zu helfen, sich auf Menschen zu beziehen, und Menschen zu helfen, Beziehungen untereinander aufzubauen.“

Sejima ist die erste Frau als Direktorin der Biennale und – nach einer Reihe von Theoretikern und Kritikern – wieder eine praktizierende Architektin. Dass sie mit ihrem Thema eine gezielte Herausforderung der männlichen Seismografen und Trendsetter beabsichtigt, darf man mit einigem Recht vermuten, hat sie doch alle früheren Direktoren der Biennale eingeladen, für je einen „Architektursamstag“ zur Verfügung zu stehen. Bei Vorträgen und Diskussionen werden die Herren dabei gewissermaßen selbst zu Ausstellungsstücken.

Dass man eine solche Einladung von Kazuo Sejima nicht ausschlagen kann, ist spätestens seit Ende März klar, als sie gemeinsam mit ihrem Partner Ryue Nishizawa, mit dem sie seit 1995 ein gemeinsames Büro unter dem Namen Sanaa (Sejima and Nishizawa and Associates) betreibt, den Pritzker-Preis zugesprochen bekam, quasi den Nobelpreis für Architektur. Die Jury begründete ihre Entscheidung unter anderem damit, Sejima und Nishizawa seien „cerebral architects“, also Architekten mit Hirn. Das ist auf den ersten Blick etwas überraschend, gibt es doch von den beiden Architekten so gut wie keine theoretischen Äußerungen. Dennoch widerlegen Sanaa die verbreitete Meinung, gute Architektur sei eine Sache des Bauchgefühls. Ihre Projekte sind – wiederum ein Zitat aus der Jurybegründung – „das Ergebnis strenger Recherche und starker, klar ausformulierter Konzepte“. Dass diese Konzepte nicht als Text entwickelt werden, sondern in Dutzenden von Modellstudien und Varianten, macht sie nicht weniger „cerebral“, sie folgen aber ihrer eigenen, jeweils aufs Projekt zugeschnittenen Logik.

In ihrer bisherigen Entwicklung hat Sejimaeinige erstaunliche Wendungen genommen. Noch Anfang der 1990er-Jahre konstatierte ihr Mentor Toyo Ito angesichts eines ihrer Projekte, des Frauenwohnheims in Kumamoto, ihre Architektur sei „ein Diagramm des Lebensstils unserer modernen Zeiten“. Das Wohnheim inszeniert die Widersprüche dieses Lebensstils: Japanische Dichte und der Mangel an individuellem Freiraum im Grundriss des Wohngeschoßes werden in Kontrast gesetzt zu einem luftigen „Überbau“, großzügig in der Vertikalen und differenziert im Raumzuschnitt. In späteren Projekten, etwa ihrem 1994 entworfenen Wohnbau in Gifu, dem Projekt, mit dem Sejima internationale Bekanntheit erlangte, verschwinden alle Polaritäten in einer Großform, deren Feingliederung jedoch durch die raffinierte Zusammenschaltung identischer Grundelemente eine enorme Bandbreite an Wohnformen anbietet.

Heute lässt sich die Architektur von Sejimaund Nishizawa nicht mehr als Diagramm vonLebensstilen interpretieren. Sie ist zu einem Medium geworden, das vieles offen lässt unddamit zu Experimenten herausfordert, an deren Ende vielleicht geänderte Lebensstile stehen. Ein exemplarisches Projekt in dieser Hinsicht ist das Anfang des Jahres eröffnete Rolex Learning Center der École Polytechnique im Schweizerischen Lausanne, für das Sanaa 2004 den Wettbewerb gewannen. Sie setzten sich dabei gegen Rem Koolhaas, ZahaHadid und Herzog & De Meuron durch, derenBeiträge ausnahmslos als Wahrzeichen konzipiert waren, als weithin sichtbare Großskulpturen mit komplexen Innenwelten für das geforderte Raumprogramm: eine Bibliothek mit Arbeitsplätzen für knapp 900 Studierende, ein Auditorium für 600 Personen, Café und Restaurant, Seminarräume, eine Buchhandlung und ein Forschungszentrum für neue Medien in der Lehre.

Statt in die Vertikale zu gehen, haben Sanaa alle diese Funktionen auf einer einzigen Fläche untergebracht, die das gesamt Grundstück überdeckt, ein Rechteck im Ausmaß von 166 mal 122 Metern, so groß wie drei Fußballfelder, durchbrochen von runden Lichthöfen. Allerdings ist diese Fläche nicht eben, sondern wie eine leicht gewellte Hügellandschaft angelegt, wodurch der Eindruck eines fliegenden Teppichs entsteht, in und unter dem sich die Nutzer des Gebäudes frei bewegen können. Wo der Teppich vom Boden abhebt, entstehen Durchgänge zu den Lichthöfen, von denen aus das Gebäude betreten wird.

Der Innenraum wird nicht durch Wände gegliedert, sondern durch die Topografie mit ihren Hoch- und Tiefpunkten. Selbst das Auditorium ist ein Teil dieser Dünenlandschaft, kann allerdings mit einer mobilen Trennwand geschlossen werden. Technisch ist das Bauwerk eine Meisterleistung, die sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, was es alles nicht gibt: keine Rasterdecke mit Leuchtstoffröhren, keine Brandschutzwände, keine Sprinkleranlage. Die Benutzer werden in diesem Bau zu Wanderern und Entdeckern. Wo der Hügel zu steil wird, gibt es Aufstiegshilfen, die alle Bereiche auch barrierefrei erschließen.

Der Eindruck dieser offenen Lernlandschaft wirkt wie ein Kommentar zu Sejimas Biennale-Thema „People meet in architecture“. Dieser Raum ist ein Katalysator für Beziehungen, ohne sie zu erzwingen. Er schafft eine gemeinsame Welt, die aber nichtvereinheitlicht, sondern zur Differenzierung geradezu einlädt. Vielleicht muss man Sejimas Satz nur ein wenig anders lesen, damit er an Sprengkraft gewinnt: „Wo Menschen sich begegnen, dort ist Architektur“ Man wird bei der Biennale diskutieren können, ob man mit dieser Definition weiter kommt als mit der Anbetung der spektakulären Form. Wenn sich diese Definition durchsetzt, ist Sanaa mit dem Rolex Learning Center jedenfalls ein Meilenstein in der Architektur der 21. Jahrhunderts gelungen.

Spectrum, Sa., 2010.04.17



verknüpfte Bauwerke
Rolex Learning Center

20. März 2010Christian Kühn
Spectrum

Wien spielt

Eine Stadtbahn-Überbauung, eine Gürtelspange und eine Holzbrücke: Die Stadt Wien begibt sich am Gürtel in eine Spektakelwelt, in der sie nicht wirklich zu Hause ist. Ein Projekt von Studierenden der Universität für angewandte Kunst versucht, andere Wege zu gehen.

Eine Stadtbahn-Überbauung, eine Gürtelspange und eine Holzbrücke: Die Stadt Wien begibt sich am Gürtel in eine Spektakelwelt, in der sie nicht wirklich zu Hause ist. Ein Projekt von Studierenden der Universität für angewandte Kunst versucht, andere Wege zu gehen.

Echte Großstädte brauchen keine Spektakel, sie sind selbst eines. Zumindest gab es Zeiten, in denen niemand auf die Idee gekommen wäre, durch „Installationen im öffentlichen Raum“ ein bisschen Leben in den grauen Stadtalltag zu bringen. Der 1927 entstandene Film „Berlin: Die Sinfonie der Großstadt“ feierte in einer Abfolge von schnell wechselnden Einstellungen den pulsierenden Rhythmus des Stadtlebens, die Menschenströme und die Technik, die dieses Leben erst ermöglicht. An die Stadt als Großereignis wird man derzeit auch gleich zu Beginn einer Ausstellung im Wiener Theatermuseum erinnert, die Gustav Mahler gewidmet ist: „Mahlers Wien“ heißt eine Montage aus Fotos und Filmsequenzen aus den Jahren, die der Komponist in Wien verbracht hat, und sie zeigt eine Stadt im Aufbruch, die sich ihre Vorstädte einverleibt, das Wiental überbaut und mit der Stadtbahn als größtem zusammenhängenden Bauwerk der Stadt eine völlig neue funktionale Geografie für die erwartete Bevölkerungszahl von über zwei Millionen Bewohnern schafft.

Die Zeiten haben sich geändert. Während es früher als Zeichen der Provinz galt, sich in Szene setzen zu müssen, hat das installierte Spektakel inzwischen sogar Metropolen wie New York erreicht. 2008 inszenierte Olafur Eliasson dort die „New York City Waterfalls“, nachts beleuchtete Wasserfälle, die an mehreren Stellen, unter anderem unter der Brooklyn Bridge, in den East River stürzten. Wie es sich für ein richtiges Spektakel gehört, verschlang es die Summe von 15,5 Millionen Dollar und war nach ein paar Monaten Erinnerung, allerdings eine nachhaltige.

Auch kleine Großstädte wie Wien können da nicht nachstehen, und so wurden diese Woche von Planungsstadtrat Rudi Schicker einige neue Überlegungen für den Wiener Gürtel präsentiert, die – so die Presseaussendung – „ab 2012 realisiert werden könnten“. Dass hier im anlaufenden Wiener Wahlkampf eine bestimmte Zielgruppe versorgt wird, so wie anderen Zielgruppen Ordnung und Hausmeister im Gemeindebau versprochen werden, gehört zum politischen Geschäft. Trotzdem sind die Projekte symptomatisch für den geänderten Umgang mit dem Stadtraum.

Die Rückeroberung des Gürtels für die Wiener Bevölkerung, die Mitte der 1990er-Jahre mit einer Zielgebietsförderung der EU einsetzte, geht nun in ihre nächste Phase. Begonnen hatte sie mit einer „parasitären“ Nutzung der Stadtbahn, in deren Bögen eineneue, lebendige Lokalszene entstand. Die Architektin Silja Tillner war für das Leitprojekt verantwortlich und entwickelte unter anderem eine standardisierte Lösung für die Verglasung der Bögen. Die nächsten Meilensteine waren die Wiener Hauptbücherei, die als Überbauung der Stadtbahntrasse im Bereich des Urban-Loritz-Platzes ein mächtiges Signal setzte, und die Überdachung dieses Platzes mit Membrandächern.

Nun soll spektakelmäßig aufgerüstet werden. Drei Projekte sind derzeit in Vorbereitung. Eine Fuß- und Radwegbrücke aus Brettschichtholz am Margaretengürtel von Knippers Helbig KHing GmbH, die Überbauung der Stadtbahntrasse hinter der Hauptbücherei mit einer Spiellandschaft von Vito Acconci mit Tillner/Willinger und sogenannte Gürtelspangen in den Bereichen Thaliastraße und Währinger Straße, für die unter anderem von der Architektengruppe Heri und Salli ein Entwurf für den Bereich vor der Volksoper vorliegt. Auffällig ist bei allen drei Projekten die dekorative Erscheinung. So wirkt etwa die Gürtelspange neben Otto Wagners Brückenbauwerk, als hätte sich deren florales Dekor auf einen LSD-Trip begeben, aus dem es leider kein Erwachen gibt. Vito Acconcis Stadtbahnüberbauung scheintauf den ersten Blick ähnlichen Ursprungs zu sein, könnte aber zu einem fantastischen Raumerlebnis werden, eine Skaterbahn, die in Stahlnetzen über der U-Bahn schwebt und sicher begeisterte Nutzer finden wird. Man merkt, dass Acconci aus der Konzeptkunst kommt und als Dichter begonnen hat. Seine Produkte widersetzen sich erfolgreich dem einfachen Konsum, selbst wenn sie formal oft am höheren Kitsch anstreifen.

Die Zeiten, in denen Stadtplanung dann am besten war, wenn sie unsichtbar blieb und einfach dafür sorgte, dass der Verkehr fließt, Einkaufsstraßen nicht veröden, die Mietpreise leistbar bleiben und soziale Spannungen so weit wie möglich vermieden werden, sind offenbar vorbei. Man merkt derim Grunde an dieser klassischen Auffassung von Planung orientierten Wiener Stadtpolitik an, dass sie in der Spektakelwelt – soweit sie nicht temporäre Ereignisse wie Donauinselfeste und Eisträume betrifft – nicht wirklich zu Hause ist. Zu konzept- und zusammenhanglos stehen die Projekte nebeneinander, und keines davon ist so zwingend, dass es auf Biegen und Brechen gegen die nächste Sparrunde verteidigt würde.

Vielleicht würde es helfen, sich von weniger spektakulären Formen der Stadtgestaltung inspirieren zu lassen. Studierende der Universität für angewandte Kunst stellen derzeit ihre Arbeiten über den „15. Bezirk als Spielplatz“ im NadaLokal in der Reindorfgasse 8 aus. Hintergrund der Projekte, die von der Professorin für Architekturtheorie an der Angewandten, Liane Lefaivre, und von Niels Jonkhans betreut wurden, ist Lefaivres Forschungsarbeit über die zumindest 720 Spielplätze, die der Architekt Aldo van Eyck – einer der bedeutendsten niederländische Architekt seiner Zeit – in Amsterdam seit den 1950er-Jahren geplant hat. Nachdem die ersten dieser Plätze auf leer stehenden Bauparzellen und Verkehrsinseln errichtet worden waren, begannen die Bewohner überall solche Plätze zu fordern, und die Stadtplanung beauftragte Van Eyck über Jahrzehnte mit diesen kleinen Installationen, die nie standardisiert, sondern immer wieder neu für die jeweilige Situation entworfen wurden. Lefaivre, die zum Thema auch mehrere Bücher veröffentlicht hat, charakterisiert diese Spielplätze als polyzentrisch, partizipatorisch und eingewoben in den jeweiligen lokalen Kontext. Vielleicht wäre ein Denken in diesen Kategorien eine Alternative zu den punktuellen Kraftanstrengungen, deren Resultate in einen ansonsten weitgehend unkultivierten urbanen Raum hineinwuchern.

Spectrum, Sa., 2010.03.20

20. Februar 2010Christian Kühn
Spectrum

Bauen nach Gebrüdern Grimm

Was hat ein Wiener Wohnbau mit den Bremer Stadtmusikanten zu tun? Für ihr Projekt in der Tokiostraße haben Bettina Götz und Richard Manahl, kurz Artec, Gruppen von vier unterschiedlichen Wohneinheiten zu einem vertikalen Ensemble verbunden. Vorbildlich.

Was hat ein Wiener Wohnbau mit den Bremer Stadtmusikanten zu tun? Für ihr Projekt in der Tokiostraße haben Bettina Götz und Richard Manahl, kurz Artec, Gruppen von vier unterschiedlichen Wohneinheiten zu einem vertikalen Ensemble verbunden. Vorbildlich.

In meiner Rangliste grausiger Begriffe der architektonischen Fachsprache steht der „Geschoßwohnbau“ weit oben, nur noch übertroffen von der „Nasszelle“. Er bezeichnet nicht den mehrgeschoßigen Wohnbau überhaupt, sondern jenen, in dem identische Geschoße so lange gestapelt werden, bis unter dem Strich ein satter Gewinn übrig bleibt.

Der Doppeldeutigkeit des Begriffs „Geschoß“ wird man damit freilich nicht gerecht. Denn ursprünglich bezeichnet der Begriff nicht die horizontale Ebene, auf der wir wohnen, sondern das Auf- oder Hochschießen einer Konstruktion, weshalb das „Schießen“ ja auch dem Getreide oder dem Spargel erlaubt ist. (Der Begriff „Erdgeschoß“ ist daher ein Widerspruch in sich und sollte besser – wie schon Friedrich Torberg wusste – der Bezeichnung von Fliegerbomben vorbehalten bleiben).

Der neue Wohnbau, den Artec-Architekten in der Nähe der U1-Station Kagran entworfen haben, verdankt seinen Spitznamen – „Bremer Stadtmusikanten“ – dem gelungenen Versuch, den mehrgeschoßigen Wohnbau aus einer vertikalen Bewegung heraus zu entwickeln. So wie sich im Grimmschen Märchen Esel, Hund, Katze und Gockelhahn zu einem „Ungeheuer“ übereinanderstellen, um Räuber zu erschrecken, sind hier Gruppen von vier sehr unterschiedlichen, jeweils zweigeschoßigen Wohneinheiten zu einem vertikalen Ensemble verbunden, das durch eine Vielzahl von Terrassen, Höfen und öffentlichen Passagen aufgelockert ist. Ergänzt werden diese Maisonetten durch einen Trakt mit eingeschoßigen Wohnungen, denen jeweils eine zweigeschoßige Loggia vorgesetzt ist, ein Zaubertrick, der durch abwechselndes Versetzen der Loggien um eine Fensterachse gelingt. Da diese Loggien fünf Meter hoch sind, können sie tief und damit gut nutzbar ausgebildet werden, ohne dass sie die dahinterliegenden Räume verschatten.

Artec verstärkt die eigenwillige, vom geschoßweisen diagonalen Versatz bestimmte Geometrie dieser Straßenfront durch ein zusätzliches skulpturales Element: Kantrohre aus verzinktem Stahl, die – schräg über die Fassade geführt – ein einprägsames Bild ergeben und zum Markenzeichen des Projekts werden dürften. Metallgitter als Balkongeländer bilden eine weitere Schicht, zu der im Lauf der Zeit die Begrünung kommen wird. Die zurückhaltende Farbgestaltung nach außen – warmgraue Putzfassaden und Sichtbeton – muss überhaupt in Erwartung üppigen Grüns beurteilt werden: Vorbild in dieser Hinsicht ist für Artec die Terrassenhaussiedlung der „Werkgruppe Graz“ aus dem Jahr 1978, die wildere und lebendigere steirische Antwort auf den Wohnpark Alt-Erlaa.

Auch Artec erzielt bei seinem Wohnbau in der Tokiostraße eine bemerkenswert hohe Dichte, die allerdings durch eine besondere „Lufthaltigkeit“ kompensiert wird. Zwei großzügige, von oben belichtete Hallen dienen, gewissermaßen als überdachte Straßen, der Erschließung der Wohnungen. Dieser Typus ist zwar nicht neu, wie Artec diese Räume konzipiert, ist allerdings eine Sensation im eigentlichen Wortsinn, die auf Fotos kaum wiederzugeben ist. Diese Hallen sind tatsächlich nutzbar, mit breiten Wegen und Abstellflächen vor den Wohnungen. Das Farbkonzept setzt „leise“ Farben in der Halle in Kontrast zu einem kräftigen Signalrot in den Treppenhäusern, die als halböffentliche Bewegungsräume nicht zur Halle, sondern zum Straßenraum orientiert sind.

Was dieses Projekt zu einem der wichtigsten Beiträge zum Wohnbau der vergangenen Jahre macht, ist überhaupt die subtile Abstufung vom Öffentlichen zum Privaten. Ein guter Teil des überbauten Grundstücks wird der Öffentlichkeit zurückgegeben: als doppelt tiefe Arkade zur Tokiostraße und in Form eines Innenhofs, der parallel zur Straße einen Durchgang durchs Grundstück erlaubt. Das erklärt, warum die Höfe und Terrassen der Wohnungen, die hierher orientiert sind, mit halbhohen Betonwänden vom Hofraum getrennt sind. Die Begrünung dieser privaten Freiflächen wird später nicht nur den Bewohnern, sondern auch den Passanten zugutekommen.

Die inneren Hallen sind auf Straßenniveau nur mit Streckmettalgittern vom öffentlichen Raum getrennt. Diese „Erdgeschoßzone“ bleibt damit offen für zukünftige Entwicklungen: Vielleicht siedelt sich hier irgendwann ein kleiner Wochenmarkt an, oder die Bewohner kommen auf die Idee, hier ihre Hausfeste zu veranstalten. Dieser Raumtypus ist ein echter Aneignungsraum, der nur darauf wartet, von neuen Inszenierungen des Alltags in Besitz genommen zu werden. Der Genossenschaft „Neues Leben“ darf man dazu gratulieren, mit diesem Projekt ihrem Namen gerecht zu werden. Swimmingpool und eine begrünte Dachterrasse, die den Bewohnern der genau 100 Wohnungen zusätzlich zur Verfügung stehen, beweisen, dass architektonische Qualität einen solchen zusätzlichen Luxus nicht ausschließt.

Das Wiener System der Wohnbauförderung hat sich hier wieder einmal als Großlabor für Innovation erwiesen. Dieser Bau ist kein plötzlicher Geniestreich. Er baut auf früheren Erkenntnissen auf, dem eigenen Wohnbau von Artec in der Laxenburger Straße, der Hofgartel-Siedlung von Geiswinkler & Geiswinkler und vielen anderen gelungenen Versuchen, die Qualität des Einfamilienhauses im „Geschoßwohnbau“ zu erzielen. Jetzt müsste man diese Erkenntnisse endlich in den Städtebau und seine Webmuster einfließen lassen. Dass die Stadt als lebendiges Kunstwerk auch heute noch möglich ist, findet sich in der Tokiostraße jedenfalls eindrucksvoll bestätigt.

Spectrum, Sa., 2010.02.20



verknüpfte Bauwerke
Terrassenhaus „Die Bremer Stadtmusikanten“

23. Januar 2010Christian Kühn
Spectrum

Das Asyl im Nirgendwo

Warum die geplante Erstaufnahmestelle im burgenländischen Eberau miserable Architektur werden musste.

Warum die geplante Erstaufnahmestelle im burgenländischen Eberau miserable Architektur werden musste.

Auf die Architektur, erklären die verantwortlichen Beamten und ihre Planer unisono, kommt es bei diesem Projekt wohl am wenigsten an. Wer die Diskussion der letzten Wochen verfolgt hat, ist versucht, ihnen recht zu geben. Wie sich hier Landes- und Bundespolitiker, Bürgermeister und Beamte monatelang, die Landtagswahlen vor Augen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit gegenseitig zu überlisten versucht haben, spottet jeder Beschreibung. Als sich Anfang 2009 Gerüchte über Pläne des Innenministeriums verdichteten, eine – laut Koalitionspakt „im Süden Österreichs“ zu errichtende – zusätzliche Erstaufnahmestelle für Asylwerber ins südliche Burgenland zu legen, brach am rechten politischen Rand stille Freude aus. Korrekt vorbereitet, geplant und abgewickelt, würde ein solches Projekt 2010 ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gelangen. Das Thema Asyl zeitgerecht in die Vorwahlzeit geliefert zu bekommen war aus rechter Perspektive ein Geschenk.

Da weder von der SPÖ noch von der ÖVP, die im Burgenland gemeinsam die Landesregierung bilden, eine offizielle Unterstützung für das Projekt zu erhalten war, begann das Ministerium, auf der Ebene der Gemeinden Werbung zu machen und ohne Einbindung der Landesregierung nach einem Standort zu suchen. Als das auf Landesebene bekannt wurde, reagierte die SPÖ im Herbst 2009 mit einem Antrag auf Änderung des burgenländischen Raumordnungsgesetzes, um für die Errichtung von Erstaufnahmestellen eine Sonderwidmung durch das Land zur Voraussetzung zu machen. Am 28. Oktober 2009 beschloss der von der SPÖ mit absoluter Mehrheit dominierte Landtag diese Änderung. Die achtwöchige Frist bis zu deren Inkrafttreten nutzte das Innenministerium seinerseits für eine geheime Kommandoaktion. Es fand im Bürgermeister von Eberau einen Partner, der bereit war, innerhalb dieses Zeitfensters eine Baubewilligung für die gewünschte Nutzung zu erteilen. Ein privater Mittelsmann, der als Grundstückskäufer und Bauwerber in das Unternehmen einstieg, war ebenfalls rasch gefunden. Was noch fehlte, war ein Planer, der in nur drei Wochen einen Einreichplan für das Projekt mit knapp über 10.000 Quadratmeter Nutzfläche erstellen konnte. Ein befugter Architekt fand sich dafür nicht, aber ein Salzburger Innenarchitekt, der im Burgenland schonmit dem Magna Verwaltungszentrum in Oberwaltersdorf Spuren hinterlassen hat, traute sich die Aufgabe offenbar zu. In Arbeitsgemeinschaft mit einem Ingenieurkonsulenten für Bauwesen entwickelte er ein möglichst unscheinbares Projekt im „burgenländischen Stil“, auf expliziten Wunsch des Eberauer Bürgermeisters, wie auf Nachfrage betont wird. Am 18. Dezember 2009 wurde die Baubewilligung für das Projekt erteilt.

In einem offenen Brief an die Innenministerin haben die führenden Vertreter der österreichischen Architekten- und Ingenieurkammer, Georg Pendl und Walter Stelzhammer, darauf hingewiesen, dass eine solche Vorgehensweise den Mindeststandards einer guten Planung eklatant widerspricht. Schon aus der Perspektive der Raumplanung führe keine Camouflage als „burgenländische Architektur“ an der Frage vorbei, wie eine solche überall ortsuntypische Nutzung in die bestehenden Siedlungsstrukturen, aber auch in die „mentalen Landkarten“ der Bürger einzugliedern wäre. Die weiteren Schritte im Genehmigungs- und Bauverfahren mit Tricks zu umschiffen sei widersinnig, weil sie der Qualitätssicherung und der Einbindung der betroffenen Öffentlichkeit dienten. Schließlich sei auch das architektonische Ergebnis des planerischen Eilverfahrens, das man nur als dumpf-dreiste Anlage mit formalen Ähnlichkeiten zur Lagerarchitektur autoritärer Systeme bezeichnen könne, nicht der Aufgabe angemessen, Flüchtlingen eine würdige Behausung zu geben. – Tatsächlich ist die scheinbare Unscheinbarkeit des Entwurfs höchst signifikant. Die Aufgabe ist ja alles andere als simpel. Funktional umfasst sie einen behördlichen Teil mit Polizeistation, Räumen für die medizinische Versorgung und für die Asylbehörden sowie einen Wohnteil, in dem bis zu 300 Asylwerber unterschiedlicher Nationen, Kulturen und Altersgruppen für einige Wochen unterzubringen sind. Diese Bewohner haben in der Regel eine strapaziöse Reise hinter sich, für die oft sie ihre Ersparnisse in einen Schlepper investiert haben, und sind in den meisten Fällen traumatisiert. Kasernenatmosphäre ist das Letzte, was diese Menschen brauchen. Dass der Entwurf für Eberau mit seinem Appellplatz, dem kleinen Wächterhäuschen und der Blut-und-Boden-Architektur frappant an die Mannschaftsquartiere von NS-Lagern erinnert, mag ein trauriger Zufall sein. Dass sich hinter solchen Fassaden aber keine Räume befinden, die es Menschen erleichtern, den Boden unter den Füßen wiederzufinden, ist aber ebenso offen- wie absichtlich.

Das Innenministerium hat mit dem Bundesjustizzentrum in Leoben, einer Kombination aus Gericht und Strafvollzugsanstalt, bewiesen, dass es für solche Aufgaben neue Wege beschreiten kann, und dafür auch international Anerkennung erhalten. Auch das Leobener Gefängnis sperrt ein, aber die Architektur ist dort keine Strafe, sondern ein Medium der Resozialisation. Um wie viel mehr müsste sich eine neu geplante Erstaufnahmestelle, die eben kein Gefängnis ist, selbst wenn die Innenministerin schließlich doch einen Zaun rundherum errichten will, vom Bautypus der Kaserne abheben.

Das würde allerdings voraussetzen, dass man auf die Art, wie Österreich Asyl gewährt, auch stolz sein will. Nach dem Ungarnaufstand 1956 und dem Prager Frühling 1968 war das kein Problem. Auch heute könnte man darauf verweisen, dass Österreich etwa 2008, gemessen an der Bevölkerungszahl, mehr Flüchtlingen Asyl gewährt hat als jedes andere europäische Land und dafür auch viel Geld aufwendet. Und dass eine neue Erstaufnahmestelle nicht nur die österreichischen Bewohner von Traiskirchen entlastet, sondern auch die Situation der Asylwerber verbessert. Das Argument, niemand dürfe in Österreich Asyl erhalten, solange es noch einen einzigen Obdachlosen mit österreichischem Pass gebe, müsste man dann jedoch den Populisten am Rand des politischen Spektrums überlassen.

Wäre das ein Verlust? Ein neues Erstaufnahmezentrum könnte ein Symbol für eine intelligente, humane und treffsichere Asylpraxis werden. Das zumindest vorerst gescheiterte Projekt in Eberau ist schon heute ein Symbol: für einen armseligen Populismus der Mitte, der in Wirklichkeit nur den Rechten in die Hände arbeitet.

Spectrum, Sa., 2010.01.23

28. Dezember 2009Christian Kühn
Spectrum

Ja nur kein Licht ins All

Ein Bau von höchster Qualität hätte es werden sollen, gar ein „Flagship“ der Wiener Kindergärten. Heißt es in der Ausschreibung. Doch keine der 100 Bewerbungen für den Bau im Stadtpark soll die Vorgaben erfüllt haben. Wirklich nicht? Chronik eines Scheiterns.

Ein Bau von höchster Qualität hätte es werden sollen, gar ein „Flagship“ der Wiener Kindergärten. Heißt es in der Ausschreibung. Doch keine der 100 Bewerbungen für den Bau im Stadtpark soll die Vorgaben erfüllt haben. Wirklich nicht? Chronik eines Scheiterns.

S eit ein paar Jahren gefällt es der Redaktion des „Spectrums“, mich für einen Termin im späten Dezember einzuteilen. Silvester ist leicht: Im Jahresrückblick findet die Kritik immer genug Material. Schwierig ist der Heilige Abend: Welches Architekturthema passt schon zu Weihrauchduft und Wunderkerzen?

Heuer ist mir die ideale Weihnachtsgeschichte quasi in den Schoß gefallen, eine Feel-good-Story über die menschenverbindende Kraft der Baukultur in kleinen Landgemeinden Österreichs. Der Baukultur-Gemeindepreis 2009 wurde zwar schon im November verliehen, aber die schöne Publikation dazu gehört unter den Christbaum jedes österreichischen Bürgermeisters, jeder Bürgermeisterin und aller Architekturinteressierten. Verantwortlich für Preis und Buch ist LandLuft, ein interdisziplinärer Verein unter dem Vorsitz von Roland Gruber, dem ein Beirat zur Seite steht, in dem unter anderem Friedrich Achleitner, Roland Gnaiger und Erich Raith mitwirken.
Das Buch ist eine Revue geglückter Beispiele und glücklicher Bauherren aus zehn preisgekrönten Gemeinden, umflort mit schönen Sätzen wie „Baukultur schafft Freunde“ oder „Baukultur rechnet sich“. Der Bürgermeister der Gemeinde Zwischenwasser in Vorarlberg, die den Hauptpreis gewann, wird mit der Aussage zitiert, Architektur sei „keine Geschmacksfrage“, und Helmut Mödlhammer, der Vorsitzende des Österreichischen Gemeindebunds, nennt in seinem Beitrag Baukultur gar eine „Philosophie des ländlichen Raumes, die soziale Vernetzungen der örtlichen Gesellschaft abbildet und fördert“.

Weil der Gemeindepreis so viel unglaublich wunderbare Stimmung macht, dass es für zwei Weihnachten reichen würde, und er im Übrigen auf der Homepage www.landluft.at umfassend dokumentiert ist, bleibt noch ein wenig Platz, sich der Frage zu widmen, ob sich Aussagen wie „Baukultur schafft Freunde“, „Baukultur rechnet sich“ oder „Architektur ist keine Geschmacksfrage“ auch auf Wien übertragen lassen.

Der Weihnachtsfriede in der Wiener Architekturszene ist nämlich getrübt durch das vorläufige Scheitern eines kommunalen Bauprojekts, dessen Dimension selbst kleinen Landgemeinden üblicherweise keine Probleme bereitet. Es galt, für einen achtgruppigen Kindergarten mit 3,5 Millionen Euro Bausumme einen Entwurf und einen Generalplaner zu finden. Prominent ist die Lage im Wiener Stadtpark, an dessen östlichstem Eck sich bereits ein Kindergarten aus dem Jahr 1948 befindet. Das schlichte Bauwerk hat ausgedient und soll durch ein außergewöhnliches ersetzt werden, „ein Gebäude von höchster Qualität, das der Bedeutung des Ortes Rechnung trägt und als ,Flagship‘ der Wiener Kindergärten wirken soll“, wie es in der Ausschreibung zum Wettbewerb vollmundig hieß.
100 Projekte wurden eingereicht. Die Jury unter dem Vorsitz von Elsa Prochazka tagte zwei Tage lang und gab schließlich zu Protokoll, dass zwar mehrere Einreichungen die hohen Anforderungen „in Teilbereichen ausgezeichnet erfüllt“ hätten. In Summe habe jedoch keine einzige diesen Anforderungen „auch nur annähernd“ entsprochen, weshalb kein erster Preis verliehen werde, sondern nur ein zweiter und dritter. Das Preisgericht wolle mit dieser Entscheidung ein Signal an die Planer setzen, „dem Auslober auf ambitionierte Fragestellungen innovative Konzepte anzubieten“. Nach kurzer Ratlosigkeit beschließt die Stadt, den Wettbewerb als geladenes Verfahren mit fünf Teilnehmern zu wiederholen, der Träger des zweiten Preises, der als bestgereihter ein Anrecht auf Auftragsverhandlungen hätte, wird abgefunden.

Kein einziges Projekt? Unter 100? Die Teilnehmer machen ihrem Ärger in Foren, Aussendungen und wütenden Briefen an die Architektenkammer Luft. Realisierbare Projekte habe es genügend gegeben. Und von einer „ambitionierten Fragestellung“ könne abgesehen von ein paar schönen Worten keine Rede sein. In den konkreten Vorgaben sei nichts anderes als der bisherige Standard gefordert worden.

Tatsächlich beginnt das Elend dieses Wettbewerbs bei der Ausschreibung. Wer Außergewöhnliches will, muss es auch zulassen. Ein paar Schlagworte und das Gerede vom „Flagship“-Gebäude reichen nicht aus. Im Detail wurde explizit auf die Raumbücher der Stadt Wien für Kindergärten hingewiesen, ein Gemeinschaftsprodukt von fünf Magistratsabteilungen, 70 Seiten Vorbemerkungen und 130 Seiten Raumblätter, in denen alles geregelt ist, von Details wie der Anzahl der Wandleuchten bis zum kosmischen Maßstab: „Bei Außenbeleuchtungen ist unnötige Lichtimmission (sic!) in das Weltall zu vermeiden.“ Dass es der Stadt nicht gelungen ist, ihre Erfahrung aus dem Betrieb ihrer Hochbauten in etwas Sinnvolleres zu gießen als solche detailversessenen Regelwerke, ist ein beachtliches Versagen.

Die Enttäuschung der Jury über das Fehlen außergewöhnlicher Projekte hätte also ruhig verhaltener ausfallen können. Vor diesem Hintergrund sind auch die beiden bestgereihten Projekte durchaus akzeptable Entwürfe. Beide stammen von jungen Büros, swap aus Wien und riccione aus Innsbruck. Das swap-Projekt (dritter Preis) erfüllt die funktionellen Vorgaben exakt und zieht sich formal durch eine amöbenartige Kurvatur aus der Affäre. Der zweite Preis von riccione überzeugte die Fachjuroren vor allem durch seine städtebauliche Antwort, die einen Übergang zwischen Stadt und Park erlaubt und den Kindergarten um einen schönen Gartenhof bereichert hätte.

Dass die Vertreter der Stadt – vor allem der stellvertretende Bezirksvorsteher Rudolf Zabrana – lieber eine Amöbe im Park gesehen hätten und ihre Zustimmung zu einer Gartenmauer, der noch dazu ein paar Bäume weichen müssten, kategorisch ausschlossen, ist verständlich, aber genau jenes Geschmacksurteil, das ein Wettbewerbsverfahren verhindern soll. Eine Überarbeitung der beiden Projekte, um ihre Defizite zu korrigieren, wäre in dieser Situation der einzig richtige Schritt gewesen. Offenbar war die Stimmung in der Jury aber bereits so verfahren, dass man mit dem Verzicht auf den ersten Preis die eigentliche Entscheidung an eine höhere Instanz delegieren wollte.

Diese Taktik ist gründlich danebengegangen. Jetzt wurschtelt man sich wie so oft in Wien aus der Affäre. Konsequenzen? Außer Schuldzuweisungen hat man bisher wenig gehört. Vielleicht sollten die Wiener Architekten, Politiker und Beamten gemeinsam nach Zwischenwasser pilgern, um zu lernen, dass Baukultur eine Ressource ist. Wer sie verschwendet, bekommt die Rechnung spätestens bei den nächsten Wahlen.

Spectrum, Mo., 2009.12.28

28. November 2009Christian Kühn
Spectrum

Auftauchen und Luft holen!

Schon wieder soll es einem Werk Roland Rainers an die Substanz gehen: dem Wiener Stadthallenbad. Wird die Sanierung dem bedeutenden Bau gerecht werden?

Schon wieder soll es einem Werk Roland Rainers an die Substanz gehen: dem Wiener Stadthallenbad. Wird die Sanierung dem bedeutenden Bau gerecht werden?

Der Aufruhr in der Szene ist groß: Schon wieder soll es einem Werk Roland Rainers an die Substanz gehen. Nach dem ORF-Zentrum am Küniglberg, dessen Zukunft unklar ist, steht als Nächstes die Sanierung des Wiener Stadthallenbades an, das praktisch zeitgleichmit dem ORF-Zentrum in den Jahren von 1971 bis 1974 realisiert wurde.

Geplant wurde am Stadthallenbad weit länger, der erste Entwurf stammt aus dem Jahr 1962, gut zehn Jahre vor dem ersten „Ölschock“, und so fehlte es dem Bad – wie vielen Bauten aus dieser Zeit – an Wärmedämmung und Isolierverglasung. Dafür war es eines von Rainers schönsten Projekten, nicht so spektakulär wie seine frühen Hallen, aber unglaublich raffiniert in Konzept und Detail. Die schräg geneigten Träger, die sich aus der Höhenstaffelung der Halle Richtung Sprungturm ableiten, geben dem Raum eine besondere Dynamik. Auch der Grundriss, an sich ein einfaches Rechteck, das der Kontur der beiden Schwimmbecken folgt, wird durch das „störende“ Element des Sprungturms in Bewegung gebracht: Die Verglasung weicht ihm in mehreren, mit der Neigung der Dachträger synchronisierten Stufen aus, während die Wettkampftribünen leicht schräg in den Raum gestellt sind, um die Blicke der Zuschauer auf die Springer zu fokussieren. Das Ergebnis ist ein pulsierender Hochleistungsraum, weder Spaßbad noch Wellness-Oase, aber seinem ursprünglichen Zweck, als Trainingsanlage für den Spitzensport zu dienen, in jeder Hinsicht angemessen.

Die architektonischen Qualitäten des Bades wurden über die Jahre in vielen Punkten beschädigt, am massivsten durch eine unglückliche Sanierung Ende der 1980er-Jahre, als die Sichtbetonteile in Vollwärmeschutz verpackt und die Verglasung durch neue Profile und Isolierglas ersetzt wurde. Dazu kommen viele weitere Veränderungen, halb zugemauerte Fenster, abgeklebte Scheiben, Anstriche, die das ursprüngliche Farbkonzept – Rot für die tragenden Stahlteile und Edelstahl für die technische Versorgung – ignorierten, und plumpe Überläufe am Hauptbecken. Jede dieser Maßnahmen mag für sich einen guten Anlass gehabt haben, vom exorbitanten Energieverbrauch bis zu neuen hygienischen Vorschriften. Trotzdem steht man heute vor einem Totalschaden, der laut einem Gemeinderatsbeschluss nun mit einem Aufwand von rund 17 Millionen Euro behoben werden soll. Die Zeit drängt: Die nächste Olympiade findet 2012 statt, und die 50-Meter-Bahnen des Stadthallenbades sind die einzigen, die unserer Schwimmerelite in Wien zur Verfügung stehen.

Als vor wenigen Wochen die Generalplanung für die Sanierung ausgeschrieben wurde, stellte sich heraus, dass keineswegs nach einer Expertise gesucht wurde, dieses Bauwerk entsprechend seinem architekturhistorischen Rang instand zu setzen. Vielmehr lag der Ausschreibung bereits ein Vorprojekt eines Ingenieurbüros zugrunde, das weitreichende Veränderungen, von einer Hebung des Hallenbodens bis zu einer Verlegung des Eingangs vorsieht. Gegenstand der Ausschreibung war dessen technische Umsetzung. Eine Bestandsaufnahme aus baukünstlerischer Sicht, um das Potenzial der Substanz auf Veränderung auszuloten, war nicht gefragt und auch davor, trotz umfangreicher Analysen der technischen Bedingungen, nicht erfolgt.

Dass die Verantwortlichen auf der Nutzerseite, das Sportamt der Stadt Wien, das hässliche, kaputte Bad so schnell wie möglich repariert haben wollen, ist verständlich, auch wenn Körper- und Baukultur vielleicht enger verwandt sind, als dort vermutet wird. Wie es aber so weit kommen konnte, dass die Gemeinde Wien mit ihren vielen Bau- und Kulturabteilungen erst fünf vor zwölf zu überlegen beginnt, wie man mit einem der Hauptwerke eines der wichtigsten österreichischen Architekten des 20. Jahrhunderts angemessen umgeht, ist unverständlich.

An Gelegenheiten, sich mit der Materie auseinanderzusetzen, hätte es in Wien nicht gefehlt. Die Österreichische Gesellschaft für Architektur (ÖGFA), die Gesellschaft für Denkmalpflege der Moderne und das Architekturzentrum Wien (AzW) haben in den letzten Jahren zahlreiche Veranstaltungen organisiert, in denen die Erhaltung von prekären Bauten der Moderne zur Debatte stand. ZumKongress im AzW im Vorjahr existiert eineunter dem Titel „Schadensbilder“ im Heft 39der Zeitschrift „Hintergrund“ erschienene Publikation, in der Bruno Reichlin, einer der kompetentesten Architekturhistoriker auf diesem Gebiet, die Grundzüge eines angemessenen Umgangs mit der jüngeren Moderne darstellt. Am Anfang steht die Bereitschaft, aus dem Meer an Vorurteilen gegenüber einer für viele nach wie vor ungewohnten Ästhetik aufzutauchen, Luft zu holen, wirklich hinzusehen und in Ruhe das Potenzial solcher Bauwerke zu entdecken. Dazu gehört auch, sich mit manchen Dingen zu versöhnen, die den heutigen Anforderungennicht mehr entsprechen. Dabei geht es nicht nur ums Bewahren: Das Erbe, schreibt Reichlin „ist ein Projekt, das sich mit uns verändert“. Gerade die Moderne gelte es nicht einzumotten, sondern zu aktivieren, immer ausgehend von der Substanz, aber mit Bezug auf die Gegenwart, um das Neue ins Alte einzuschmelzen und nicht, wie es die klassische Denkmalpflege vorzieht, durch eine Fuge voneinander zu trennen.

Im Moment scheint die unmittelbare Gefahr für das Stadthallenbad gebannt. Der Aufruhr hat bewirkt, dass die Ausschreibung für die Generalplanerleistung modifiziert wurde. Ohne einschlägige architektonische Expertise und entsprechenden Entwurf für den Umbau sollte kein Konsortium mehr zum Zug kommen können. – Bruno Reichlin und andere Experten zur Denkmalpflege der Moderne sind heute bei einem von ÖGFAveranstalteten, international besetzten Kongress an der Technischen Universität Wien zu hören, der am Abend von einer Podiumsdiskussion mit Stadtrat Rudolf Schicker und dem obersten Denkmalpfleger der Stadt Wien, Friedrich Dahm, abgeschlossen wird. Ob das Sportamt im Publikum sitzt?

Spectrum, Sa., 2009.11.28

31. Oktober 2009Christian Kühn
Spectrum

Wenn der Komet einschlägt

Der Wiener Stadtentwicklungsplan 2005 nennt 13 Zielgebiete, zu denen auch das Wiental gehört. Geplant sind dezentere Maßnahmen wie ein Wiental-Radweg und Kunstprojekte, aber auch massivere – vom Hochhaus bis zum Einkaufszentrum.

Der Wiener Stadtentwicklungsplan 2005 nennt 13 Zielgebiete, zu denen auch das Wiental gehört. Geplant sind dezentere Maßnahmen wie ein Wiental-Radweg und Kunstprojekte, aber auch massivere – vom Hochhaus bis zum Einkaufszentrum.

Stadtplanung ist ein Geschäft für Menschen mit hoher Frustrationstoleranz und einem leichten Hangzur Schizophrenie: Auf der einen Seite steht die Überzeugung, Zukunft gestalten zu können, auf der anderen der nagende Verdacht, dass die Zukunft ganz anders aussehen wird, als man es geplant hat.

Als die Wiener zur Jahrhundertwende begannen, das Wiental vom Naschmarkt stadtauswärts in eine Prachtstraße zu verwandeln,die bis zur kaiserlichen Residenz in Schönbrunn reichen sollte, ahnte niemand, wie balddieser Plan ein abruptes Ende finden würde. Zwar verdanken wir ihm eine Reihe außergewöhnlicher Bauten, deren prominenteste die Majolikahäuser von Otto Wagner sind, aber nach 1918 scheint hier kein Bauherr vonbesonderen architektonischen Ambitionen geplagt worden zu sein. Jede Epoche seither hat beiderseits des kanalisierten Wienflusses, der sich sein Bett mit der U-Bahn-Linie U6 teilt, Bauten von kaum überbietbarer Gleichgültigkeit hinterlassen. Auch am Gürtel, einer anderen Hauptschlagader der Stadt, gibt es hässliche Hotels und gedankenlosen Wohnbau, aber zu jedem negativen Beispiel dort lässt sich im Wiental ein anderes finden, das noch peinlicher ist.

Die Gründe dafür liegen nicht zuletzt in einer nach 1918 veränderten Haltung zur städtischen Infrastruktur. Otto Wagner, der selbst die Regulierung des Wienflusses und den Bau der damaligen Stadtbahn mit ihren Brückenbauwerken von der architektonischen Seite her konzipierte, sah in der Nachbarschaft zu dieser technischen Infrastruktur keineswegs einen Widerspruch zur Idee einer Prachtstraße. Der funktionalistische Städtebau der Moderne setzte dagegen auf die strikte Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr. Ein Verkehrsband wie das Wiental galt ihm per definitionem als minderwertiger Standort. Wer hier baute, rechnete mit niedrigen Mieten, sparte bei der Ausführung und holte sich seinen Gewinn durch die günstigen Grundstückskosten.

Vor diesem Hintergrund erklärte die Stadt Wien in ihrem Stadtentwicklungsplan 2005 das Wiental zu einem von 13 sogenannten „Zielgebieten“, deren Aufwertung sie sich in den nächsten Jahren besonders widmen würde. Planerisch interessant an dieser Festlegung ist, dass das Wiental die üblichen Einteilungen der Stadtverwaltung sprengt: 14,6 Kilometer fließt die Wien durch die Stadt, berührt oder durchquert dabei neun Bezirke und hat eine halbe Million Anwohner.

Auf Initiative einer Arbeitsgruppe, die von den zum Wohnbauressort gehörenden Gebietsbetreuungen der angrenzenden Bezirke 2007 gegründet wurde, fand kürzlich in der Wiener Urania ein Symposium über „Urbane Flusslandschaften“ statt. Neben den zuständigen Vertretern der Stadt waren auch internationale Gäste geladen, die über Projekte zur Transformation städtischer Infrastrukturen berichteten, etwa den Rückbaudes Cheonggyecheong-Flusses im Koreanischen Seoul und den 14 Kilometer langen Parque Lineal de Manzanares in Madrid, der nach den Plänen der holländischen Landschaftsplaner West 8 durch die Tieferlegung und Überplattung einer Madrider Stadtautobahn entstanden ist. Das Cheonggyecheong-Projekt ist im Vergleich dazu ein noch radikalerer Eingriff, da hier zu Projektkosten von rund 600 Millionen Euro eine zweigeschoßige Autobahn, die einen Flusslauf zugedeckt hatte, abgerissen und der Flusswiederhergestellt wurde. Begleitend dazu erfolgte eine Umleitung und Reduktion des gesamten städtischen Individualverkehrs.

Zu den Maßnahmen, die in Wien bisher zur Aufwertung des Zielgebiets geplant wurden, gehört der Wiental-Highway, ein „rot-grünes“ Projekt, das vor allem Radfahrern den Flussraum erschließen soll. 2010 soll um4,8 Millionen Euro ein 3,5 Kilometer langes Teilstück vom Hackinger Steg bis zur Kennedybrücke errichtet werden. Auf der Ebene der Stadterneuerung mit Förderungsmitteln hat die erfolgreiche Basisarbeit der letzten 20 Jahre inzwischen einen deutlichen Anstieg des frei finanzierten Wohnbaus in den Bezirken 4, 5 und 6 bewirkt und wird ihren Schwerpunkt in Zukunft stadtauswärts verlagern können. Dazu kommen zahlreiche Events der Gebietsbetreuungen, vom Filmfestival im Bruno-Kreisky-Park bis zu künstlerischen Projekten: Die „Reise der Steine“, ein als Kunst im öffentlichen Raum gefördertes Projekt, soll nächstes Jahr Dutzende metergroße Steine aus Porenbeton auf eine sechsmonatige Reise von der Stadtgrenze bis zur Einmündung der Wien in den Donaukanal schicken.

Während dieses Projekt das Wiental durch Erhöhung der Aufmerksamkeit aufwerten möchte, betreibt das größte Neubauprojekt – eine Kombination von 78 Meter hohem Büroturm, Hotel und Einkaufszentrum auf den „Komet-Gründen“ bei der U4-Station Meidling – Stadterneuerung mit der Brechstange. Hier wird außer dem Bankkonto der Projektbetreiber und Planer wohl nicht viel aufgewertet, dafür ein maßgeblicher Punkt im Wiental mit durchschnittlicher Architektur verstellt.

Ebenfalls hoch, aber stadtstrukturell wesentlich besser begründet ist ein Büro- und Wohnhaus bei der Station Kettenbrückengasse, entworfen von Elsa Prochazka. Es sollte mit 34 Meter Höhe der Typologie der Prachtstraßenbauten der Monarchie folgen, die in der Nachbarschaft mit ihren Dachaufbauten dieselbe Höhe erreichen. Im soeben aufgelegten Bebauungsplan wurde die Bauhöhe in vorauseilender Beschwichtigung des zu erwartenden Protests um zwei Geschoße reduziert, was die Proportion des Entwurfs schwächt und die Wirtschaftlichkeit des schmalen Bauwerks in Frage stellt. Dass die Stadt hier Angst vor dem eigenen Mut bekommen hat, ist symptomatisch. Als bürgernah gilt, möglichst nichts am Stadtbild zu verändern, ein bisschen mehr Grün, Events im öffentlichen Raum. Und wenn zwischendurch der Komet einschlägt, schautman lieber weg: Das Projekt auf dem gleichnamigen Areal fand während des Symposiums in keinem der zahlreichen Vorträge der städtischen Repräsentanten Erwähnung.

Spectrum, Sa., 2009.10.31

08. August 2009Christian Kühn
Spectrum

Spät? Post? Nur modern?

Eine Ausstellung in Innsbruck führt ein neues Adjektiv in die Architekturgeschichte ein: „konstantmodern“. Über Sinn und Stammbaum eines in die Jahre gekommenen, immer noch schillernden Begriffs – der Moderne.

Eine Ausstellung in Innsbruck führt ein neues Adjektiv in die Architekturgeschichte ein: „konstantmodern“. Über Sinn und Stammbaum eines in die Jahre gekommenen, immer noch schillernden Begriffs – der Moderne.

Wer gern mit Begriffen spielt, wird am Wort „modern“ seine Freude haben. In seiner einfachsten Bedeutung bezeichnet es alles, was gerade in Mode ist. In der Architekturgeschichte steht „die Moderne“ dagegen für einen Stil, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ansetzt und Ende der 1970er seine maßgebende Bedeutung an eine Reihe von „post-modernen“ Strömungen verliert. Wer feinere Nuancen liebt, darf zwischen verschiedenen Modernen unterscheiden, zuerst der „frühen Moderne“, wie sie in Wien etwa von Otto Wagner repräsentiert wird. Dem war der Begriff bereits so unheimlich, dass er seine wichtigste Publikation, ursprünglich 1896 unter dem Titel „Moderne Architektur“ erschienen, in einer späteren Auflage auf „Die Baukunst unserer Zeit“ umbenannte.

Aufhalten ließ sich der Erfolg des Begriffs nicht. Er steht für die Architektur des 20. Jahrhunderts, wobei zwischen der „klassischen Moderne“ der 1920er-Jahre, verbunden mit „Meistern“ wie Walter Gropius, Le Corbusier, Mies van der Rohe und Alvar Aalto, und der „Nachkriegsmoderne“ zu unterscheiden ist, die in Europa mit der Massenproduktion für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden ist und als „Spätmoderne“ bis heute nachwirkt.

Die Moderne in der Architektur verstand sich dabei immer als das Gegenteil des Modischen. Sie verfolgte das Ziel, unabhängig von traditionellen Bindungen und unter Berücksichtigung neuer bautechnischer Möglichkeiten eine rationale, allen Menschen gemeinsame und für alle verständliche Welt zu schaffen. Insofern war sie ein Produkt der Aufklärung und teilte mit dieser auch das Schicksal, in den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts die dunkle Seite ihrer Utopie von einer vereinheitlichten Welt realisiert sehen zu müssen. Stilistisch mögen sich Vor- und Nachkriegsmoderne ähneln, und auch die „Meister“ der klassischen Moderne waren nach dem Krieg noch durchaus aktiv, aber dass die Bewegung nach 1945 nicht an die Utopien der 1920er-Jahre und ihr Versprechen, die Welt durch gutes Bauen von allen Übeln zu erlösen, anschließen konnte, wurde mit jedem Jahr des Wiederaufbaus klarer. Die Avantgarden der 1950er- und 60er-Jahre suchten nach einer anderen Moderne, die weniger rationalistisch, bunter und rauer sein sollte als die nach dem Krieg dominierende glatte Massenware. Le Corbusiers Spätwerk, das sich durch ausgiebige Verwendung von plastisch gestaltetem rohem Beton – „béton brut“ – von seiner Vorkriegsarchitektur abhebt, wurde zum Bezugspunkt einer Bewegung mit dem wenig sympathischen Namen „Brutalismus“, die auf Körperlichkeit und Rauheit setzt. Im Unterschied zur „klassischen Moderne“ sollte diese Architektur wieder Patina ansetzen können und wollte ganz bewusst nicht perfekt, also abgeschlossen, sondern offen für Veränderungen sein.
Die Suche nach einer „anderen“ Moderne wurde spätestens Ende der 1960er-Jahre aufgegeben, als sich post-moderne Bewegungen etablierten, deren Charakteristikum es war, Architektur als Zeichensystem zu praktizieren, entweder zitathaft-ironisch mit klassizistischen Säulen und Elementen der Populärkultur oder dekonstruktiv als Aufbrechen aller Sinnzusammenhänge, um den Bruchstücken ein offenes Spiel neuer Verkettungen zu erlauben. Eine Position hatte man in diesem Kontext, wie es der deutsche Philosoph Odo Marquard in seiner „Apologie des Zufälligen“ formuliert hat, nur „im nautischen Sinn“.

Es gibt in der Architekturszene heute kaum mehr Dissens zur Feststellung, die Moderne sei tot. Diese Überzeugung steht im seltsamen Widerspruch zur Beobachtung, dass die bei Weitem überwiegende Masse der globalen Bauproduktion einer verdünnten, ab und zu auch postmodern dekorierten Spätmoderne zuzurechnen ist, die offenbar auch ohne kulturellen Stammbaum ihr renditeträchtiges Auskommen findet.

Die Ausstellung „konstantmodern“, die Arno Ritter für das Innsbrucker „aut“ (Architektur und Tirol) kuratiert hat, versucht auf eine sehr eigenwillige Art zu zeigen, dass die Moderne noch durchaus lebendig, wenn auch fortgeschrittenen Alters ist (noch zu sehen bis 19. September, Lois-Welzenbacher-Platz 1). Sie stellt, wie es der Untertitel formuliert, „fünf Positionen zur Architektur“ vor, keine nautischen allerdings, sondern eben: konstant moderne. Das Alter der Protagonisten reicht vom 90-jährigen bayrischen Architekten Werner Wirsing über den 84-jährigen Salzburger Gerhard Garstenauer und den 82-jährigen Tiroler Johann Georg Gsteu bis zu dem mit 68 Jahren jüngsten Teilnehmer, Rudolf Wäger aus Vorarlberg. Die fünfte Position wird vom Schweizer Büro atelier 5 aus Bern repräsentiert, dessen Gründergeneration heute in ihren Neunzigern wäre. Gezeigt werden je drei Projekte aus unterschiedlichen Schaffensperioden, begleitet von Videos mit Interviews, die Arno Ritter mit den Architekten geführt hat. Deutlich wird dabei deren Prägung durch die Suche nach einer anderen Moderne in der Zeit von 1950 bis 1970, die schließlich zu sehr individuellen, kontinuierlich beibehaltenen Positionen führt. Neben den Plänen und Fotos aus der Entstehungszeit sind in der Ausstellung Fotoserien von Nikolaus Schletterer, der alle Projekte neu dokumentiert hat, zu sehen. Und hier zeigt sich plötzlich, wie diese Bauten tatsächlich die Zeit überdauert und durch ihre Patina oft noch gewonnen haben: Werner Wirsings genial einfachen Wohnhäuser aus den 1960er-Jahren ebenso wie das Seelsorgezentrum Baumgarten von Johann Georg Gsteu, Gerhard Garstenauers aus dem Berg gehauenes Felsenbad in Bad Gastein und das Würfelhaus von Rudolf Wäger in Götzis, und schließlich die Betonstrukturen des atelier 5, das mit seiner Siedlung in Halen aus dem Jahr 1955 eines der Meisterwerke des Brutalismus geschaffen hat.

Im hervorragend gestalteten Katalog zur Ausstellung sind die Interviews, die Plandokumentation und die neuen Fotoserien von Nikolaus Schletterer nachzustudieren. Was bleibt, ist der Hinweis auf das Potenzial des Einfachen angesichts einer Welt, die auch ohne das Zutun der Architektur kompliziert genug ist. Wie drückt es Werner Wirsing im Gespräch so schön aus: „Ich wollte immer nur das machen, was ich wirklich begriffen habe. Diese Einstellung hat sich dann zum überzeugten Streben nach dem Einfachen verdichtet.“ So viel entspannte Selbstironie und Gelassenheit würde man der Baukunst unserer Zeit oft wünschen.

Spectrum, Sa., 2009.08.08

10. Juli 2009Christian Kühn
Spectrum

Wo schlägt das Herz der Stadt?

Staatstragende Kulturarchitektur oder Witz und Leichtigkeit kleiner Projekte: Was macht den Reiz einer Stadt aus? Linz09 oder: Wie eine Stadt über sich selbst nachdenkt.

Staatstragende Kulturarchitektur oder Witz und Leichtigkeit kleiner Projekte: Was macht den Reiz einer Stadt aus? Linz09 oder: Wie eine Stadt über sich selbst nachdenkt.

Linz als kulturelles Herz Europas: Das hätte vor 20 Jahren kein Bürgermeister zu träumen gewagt. Anders als Graz, das 2003 so sehr in dieser Rolle aufging, dass es bis heute an den finanziellen Folgen seiner Selbstinszenierung laboriert, vermittelt Linz den Eindruck, als würde es ehrlich darüber nachdenken, wie es sich diesen Titel eigentlich verdient hat. Natürlich gibt es die großen Investitionen in Kulturbauten, von der Erweiterung des Ars Electronica Center über die neue Oper bis hin zur Erweiterung des Schlossmuseums, aber Linz 09 lebt wesentlich von der Vielzahl an Einzelprojekten, die sich der Stadt und ihrem Kulturbegriff aus unterschiedlichen Perspektiven annähern.

Ein winziges Beispiel dafür findet sich auf der Terrasse unter dem neuen „Südflügel“ des Schlossmuseums mit ihrem spektakulären Blick über Stadt und Donautal. Hier ist ein Stadtmodell aus Bronze aufgebaut, das die Stadt im Zustand des 18. Jahrhunderts zeigt. Am äußersten Ende des Modells entdeckt man ein mächtiges Bauwerk, die Wollzeugfabrik, im Kern 1726 nach Plänen des Barockbaumeisters Johann Michael Prunner errichtet. Um 1800 waren für das Unternehmen 49.000 Menschen im Umland tätig, bis es zur Tabakfabrik umgebaut und schließlich als wenig einladendes Wohnheim genutzt wurde. Ende der 1950er-Jahre wollte die Stadt das Gebäude nicht mehr erhalten und lancierte die Alternative, entweder das Stadtschloss oder die Fabrik opfern zu müssen. Wie dieser Kampf zwischen der funktionslosen Herrschaftsarchitektur im Stadtzentrum und der ebenso desolaten, aber noch immer grandiosen Industriearchitektur an der Peripherie ausgehen würde, war abzusehen: 1969 wurde die Fabrik unter Protest der Fachwelt gesprengt, während das Stadtschloss saniert und ab 1966 als Erweiterung des Landesmuseums genutzt wurde.

Der soeben eröffnete neue „Südflügel“ des Stadtschlosses schließt dessen historische Figur, wie sie bis zu einem Brand im Jahr 1800 bestanden hatte. In dem 2006 ausgeschriebenen internationalen Wettbewerb war der Spielraum für die Architekten durch die klare Empfehlung, das ursprüngliche Volumen des Schlosses nach außen nachzuzeichnen, einigermaßen beschränkt. Das Siegerprojekt der unter dem Namen HoG – für Hope of Glory – erst 2006 gegründeten Architektengruppe von Martin Emmerer, Clemenss Luser und Hansjörg Luser hielt sich an diese Vorgabe und überzeugte die Jury durchs ein raffiniertes Erschließungssystem und eine große konstruktive Geste: Statt den Vierkanter des Schlosses blockartig zu schließen, ist der Baukörper als mächtiges Brückenbauwerk ausgebildet, das über der Bastei zu schweben scheint und in seinem letzten Drittel frei auskragt. Dabei überdeckts es die Aussichtsterrasse, auf der das kleine Stadtmodell, von dem oben die Rede war, zu bewundern ist. Diese theatralische Konstruktion hat insofern Berechtigung, als sie neben dem Vortragssaal auch die Techniksammlung des Museums aufnimmt. Von diesem Niveau aus führt eine zarte, verglastes Verbindungsbrücke zum Altbau.

Auf den Niveaus unter der Terrasse liegen – in die Bastei eingegraben – die Dauerausstellung zum Thema Natur und eine große Halle für Wechselausstellungen. Verbunden werden diese Ebenen durch eine verglaste Treppenanlage, die den Hofraum sehr großzügig ins Museum einbezieht. Dass sie auf der obersten Ebene etwas abrupt endet, ist schade und Folge einer etwas unsicheren Geometrie, die hier zu einer freieren, aus der Bewegung heraus entwickelten Form finden müsste. Insgesamt ist die Erweiterung aber überzeugend, sowohl in der Verbindung von Alt und Neu als auch im Angebot attraktiver öffentlicher Räume. Die Terrasse wird sich – vom obligaten Museumsrestaurant gastronomisch versorgt – sicher zu einem neuen Treffpunkt im Herzen der Stadt entwickeln.

Aber liegt dieser Ort eigentlich noch im Herzen der Stadt? Seit Linz sich von der Donau aus immer weiter nach Süden ausgebreistet hat, müsste man dem Schloss eher eine Randlage attestieren. Rein geometrisch liegt der aktuelle Schwerpunkt der Stadt weit im Süden, ungefähr dort, wo ein anderes Projekts von Linz 09 Ende Juni seinen Betrieb aufgenommen hat. Autofahrer, die hier auf der Stadtautobahn unterwegs sind, staunen über ein gelbes Haus, das sich über dem Einfahrtspsortal eines Tunnels erhebt. Die Autobahn verschwindet hier seit 2006 unter einer Platte, sdie die beiden zuvor getrennten Stadtteile Spallerhof und Bindermichl verbindet, ein Gebiet, das nach der dominierenden Wohnsbaugenossenschaft auch WAG-Stadt genannts wird. Für die Anrainer hat dieses Verkehrsbauwerk ein kleines Wunder vollbracht: Wer zuvor einen Balkon zur Autobahn hatte, blickts nun auf einen neun Hektar großen Landschaftspark, der nur in der Mitte von einem etwas monumental und humorlos gestalteten Kreisverkehr unterbrochen wird.

Was der Park für die angrenzenden Stadtteile mit ihren 40.000 Einwohnern bedeutet, muss sich erst herausstellen. Vorerst als wohltuende Ergänzung des Bestands wahrgenomsmen, könnte er sich zur neuen Mitte entwickeln, die letztlich das Selbstverständnis des Stadtteils prägt. Genau an diesem Punkt setzts das Projekt an, das Peter Fattinger, Veronika Orso und Michael Rieper für Linz 09 entwickelt haben. Das gelbe Haus ist gewissermaßen das Schloss am Ende des Landschaftsparks, zwischen dessen zwei weit ausladenden Seitenflügeln eine breite Freitreppe nachs oben und durch das Haus führt, auf eine Terrasse, von der man einen – darf man sagen: prachtvollen? – Blick über die Autobahns hat, eine Reminiszenz an die Zeiten, als genaus diese Situation für viele Anrainer Alltag war.

Das Haus beherbergt ein kleines Restaurant, einen Vortragssaal im Obergeschoß unds darüber drei winzige schwebende Zimmer, die gerade von Anrainern zusammen mit dens Architekten tapeziert werden. In den schmaslen Seitenflügeln liegen Nebenräume und Wohnungen für die „artists in residence“, die als Teil des Gesamtprojekts hier wohnen. Zur Aufgabe der Architekten gehört dabei nicht nur das Haus, dessen Baukosten mit knapp 150.000 Euro gegenüber jenen des Schlossmuseums mit 24,4 Millionen eher bescheiden sind, sondern auch dessen Bespielung mit einsem Rahmenprogramm. Bis das Haus in drei Monaten wieder abgetragen wird, sind hier über 180 Veranstaltungen zu erleben, von Talkshows mit den Anrainern bis zu Workshops und Filmvorführungen.
Ob sich die staatstragende Kulturarchitektur irgendwann vom Witz und der Leichtigkeit solcher Projekte anstecken lässt, wird man sehen. Vom „gelben Herz“ ihres Parks werden sich die Anrainer jedenfalls noch in Jahren, wenn es längst wieder der Wiese Platz gemacht hat, Geschichten erzählen.

Spectrum, Fr., 2009.07.10

30. Mai 2009Christian Kühn
Spectrum

Pritzker und Freunde

Wer soll einen Architekturwettbewerb gewinnen: das beste Projekt oder das beste Büro? – Der Entwurf für die neue Wirtschaftsuniversität in Wien. Ein Wettbewerb als Fahrt in der Achterbahn – mit weicher Landung.

Wer soll einen Architekturwettbewerb gewinnen: das beste Projekt oder das beste Büro? – Der Entwurf für die neue Wirtschaftsuniversität in Wien. Ein Wettbewerb als Fahrt in der Achterbahn – mit weicher Landung.

Selten hat die Architekturwelt mit solcher Spannung auf die Präsentation von Wettbewerbsergebnissen gewartet. Das liegt nicht nur am illustren Teilnehmerkreis, zu dem immerhin drei Pritzker-Preisträger und eine Reihe weiterer Architektenstars zählten, sondern auch an der recht turbulenten Entwicklung des Verfahrens selbst. Schon im Mai 2008 hatte BUSarchitektur, also das Team um die aus Argentinien stammende Wiener Architektin Laura Spinadel, den Wettbewerb für den Gesamtplan der neuen Wirtschaftsuniversität (WU) gewonnen. Während die meisten Konkurrenten große, zusammenhängende Strukturen entworfen hatten, plante Spinadel einen locker bebauten Campus mit einer durchlässigen grünen Grenze nach außen und einer geschickt komponierten Abfolge von öffentlichen Plätzen im Innenbereich.

Ins Zentrum der Anlage, deren Länge mit 600 Metern ungefähr der Strecke vom Stephansplatz bis zum Schwedenplatz entspricht, setzte sie das geforderte „Library & Learning Centre“ (LCC), mit einem vorgelagerten, zum grünen Prater hin offenen Platz. Zu beiden Seiten schließen die Institutsgebäude und Sonderbauten wie ein Hörsaalzentrum und – als Auftakt des Areals stadteinwärts – das Gebäude für die „Executive Academy“ an. Unter dem zentralen Straßenraum liegt eine Tiefgarage, die nicht direkt mit den Gebäuden verbunden ist, sondern über Lichthöfe im Straßenraum erschlossen wird. Auch die per PKW Anreisenden betreten die Gebäude der WU daher auf demselben Weg wie die Benutzer der öffentlichen Verkehrsmittel, mit denen das Areal über zwei nahe Stationen der verlängerten U-Bahn-Linie U2 gut erreichbar ist.

Mit diesem Entwurf erhielt BUSarchitektur den Auftrag für die städtebauliche Masterplanung, ein Hörsaalzentrum, die Freiraumplanung sowie die Tiefgarage. Der Masterplan, den das Team als Grundlage für den im Sommer 2008 durchgeführten Wettbewerb für die einzelnen Baufelder entwickelte, bestand aus weit mehr als der Festlegung von Baulinien und Gebäudehöhen. Er enthielt unter anderem eine detailliert entwickelte Freiraumplanung sowie ausführliche Spielregeln für die Architektur, unter anderem darüber, in welchen Zonen mit einem hohen Grad an Standardisierung zu rechnensein würde und an welchen Punkten besondere Akzente gewünscht waren. Da für diesen zweiten Wettbewerb, bei dem Laura Spinadel auch als Juror fungierte, die Teilnahme einer großen Zahl von Architektenstars mit prägnanter Handschrift erwartet wurde, sollten diese Vorgaben ein Auseinanderfallen des Projekts in unzusammenhängende Teilbereiche verhindern helfen.

Wie gut das gelungen ist, ließ sich nach der Jury-Entscheidung im Dezember 2008 bereits ansatzweise beurteilen, als erste Schaubilder und ein Baumassenmodell präsentiert wurden. Im Modell erinnern das LCC von Zaha Hadid, die Institutsgebäude von Carme Pínos, Peter Cook/CRAB und Hitoshi Abe sowie die Executive Academy von NO.MAD Arquitectos aus Madrid und das Hörsaalzentrum von BUSarchitektur ein wenig an eine Gruppe exotischer Riesentiere, die sich friedlich an einem Wasserloch versammelt haben. Wie die Projekte im Detail aussehen und welche Alternativen die Jury verworfen hat, ist erst seit letzter Woche für die Öffentlichkeit zugänglich. Eine von BUSarchitektur mitgestaltete, vorbildliche Ausstellung zeigt im Architekturzentrum Wien neben den Modellen eine vollständige digitale Dokumentation aller eingereichten Arbeiten in allen Bearbeitungsstufen sowie eine große „Evolutionsgeschichte“ des gesamten Verfahrens in Form eines Stammbaums, dessen Blätter von den diversen Preisträgern und Nachrückern gebildet werden.

Eine solche Darstellung ist zum Verständnis des Verfahrens auch dringend notwendig. Denn so logisch der oben geschilderte Ablauf der Projektfindung erscheint, so wenig war er in dieser Form geplant. Der erste, im Mai 2008 entschiedene Wettbewerb war als offener, einstufiger Realisierungswettbewerb ausgeschrieben. Das bedeutet, dass im Prinzip auch ein einziges Büro das gesamte Projekt hätte gewinnen können. Entsprechend umfangreich waren die verlangten Leistungen: eine Planung im Maßstab 1:500 für ein Raumprogramm mit 4500 Positionen und über 100.000 Quadratmeter Fläche sowie ein Entwurf für das architektonische Highlight des Projekts, das LLC, im Maßstab 1:200. Dass ein solches Verfahren besser in zwei Stufen ausgeschrieben werden sollte, war den Auslobern, einem Konsortium aus WU und Bundesimmobiliengesellschaft, zwar klar und auch ursprünglich so vorgesehen, scheiterte aber an einer scheinbar kleinen Verfahrensfrage. Während die WU de facto die Anonymität der Teilnehmer nach der ersten Stufe aufheben wollte, verlangte die Architektenkammer, die Anonymität der Projekte bis zum Schluss zu wahren. Man einigte sich schließlich darauf, alle Leistungen in eine anonyme Stufe zu packen.

Hinter dieser scheinbaren Spitzfindigkeit verbirgt sich eine Grundfrage des Wettbewerbswesens. Soll es, wie vom Vergaberecht für den öffentlichen Sektor vorgesehen, um die Suche nach dem besten Projekt oder um die Suche nach dem besten – also in der Thematik erfahrensten oder renommiertesten – Büro gehen? Im konkreten Fall sollte der hohe Detaillierungsgrad sicherstellen, dass sich nur große Büros beteiligen würden: Immerhin ist der bürointerne Aufwand für einen solchen Wettbewerb jenseits von 50.000 Euro anzusiedeln. Statt der erhofften 80 Büros nahmen aber trotz internationaler Ausschreibung und hoher Auftragssumme nur 23 Büros teil, und die Entwürfe waren alles andere als berauschend. Die Jury, mit Wolf Prix und Dietmar Eberle prominent besetzt, zog die Notbremse, ließ für die besten drei Projekte die Anonymität aufheben und entschied sich mit dem BUSarchitektur-Entwurffür jenes, das einen weiteren Wettbewerb für einzelne Bauteile ermöglichte. Der lief schließlich mit de facto aufgehobener Anonymität und vorgeschaltetem Bewerbungsverfahren ab, bei dem auch die von der WU gewünschte Prominenz Interesse zeigte. Bei der Auswahl aus 140 Interessenten konnte die Jury aus Pritzker-Preisträgern – Hans Hollein, Zaha Hadid und Thom Mayne – und anderen Freunden wählen.

Dass Hadid das LCC gewann, ist wenig überraschend und spricht im Grunde für den anonymen Wettbewerb. Selten hat man ein so eitel skulpturales Gebäude gesehen, das außer einem hohen „Wow-Faktor“ nichts zu bieten hat. Was Canyons und das penetrante Luxus-Yacht-Motiv im Inneren mit der Aufgabe zu tun haben, ist schleierhaft. Der Werbeeffekt wird sich wohl trotzdem einstellen. Im Alltag hängt der Erfolg der neuen WU aber viel mehr vom Freiraum und der qualitätvollen Umsetzung der kleinteiligen Architektur ab, die dem großen Wurf an dieser Stelle sicher vorzuziehen ist.

[ Die Ausstellung zum Campus der Wirtschaftsuniversität ist noch bis 8. Juni zu sehen. Im Architekturzentrum Wien, Halle F3, Museumsplatz 1. Täglich 10 bis 19 Uhr bei freiem Eintritt. ]

Spectrum, Sa., 2009.05.30



verknüpfte Ensembles
Campus WU

16. Mai 2009Christian Kühn
Spectrum

Sieht so Schule aus?

Der lange Gang, gesäumt von Klassenzimmern, ist ein Modell des 19. Jahrhunderts. Zeitgemäßer Schulbau sieht völlig anders aus. Ein Blick nach Kopenhagen.

Der lange Gang, gesäumt von Klassenzimmern, ist ein Modell des 19. Jahrhunderts. Zeitgemäßer Schulbau sieht völlig anders aus. Ein Blick nach Kopenhagen.

Stillstand auf Pump: So muss man die Taktik bezeichnen, mit der sich die Große Koalition im jüngsten Konflikt um die Finanzierung des Schulsystems aus der Affäre gezogen hat. Die Bundesschulen bekommen ein paarJahre lang ihre Miete gestundet, die Ruhe in den Konferenzzimmern ist wiederhergestellt, nur die Bundesimmobiliengesellschaft muss hoffen, dass die Regierung diese Schlaraffenlandlösung nicht auch anderen öffentlichen Einrichtungen in Geldnöten, wie zum Beispiel den Universitäten, anbietet.

Im aktuellen Konflikt zwischen Lehrergewerkschaft und Regierung ging es aber nur vordergründig um die Verteilung von Arbeitszeit und Geld. Im Hintergrund steht die Frage, wie viel Reform sich die Institution Schule in Österreich zumuten möchte. Dass diese Reform nötig ist, wird kaum mehr bestritten, spätestens seit die PISA-Studie gezeigt hat, dass das österreichische Schulsystem viel zu wenig aus der vorhandenen Begabung einer viel zu großen Anzahl seiner Schützlinge herausholt. Auch über die nötigen Veränderungen besteht im Wesentlichen Konsens, ganz gleich, ob die Konzepte von der Industriellenvereinigung, von Bildungswissenschaftlern oder von Praktikern kommen. Sie betreffen zum einen den organisatorischen Rahmen: verpflichtende Vorschule zur Frühförderung sowie spätere Weichenstellung in der Bildungskarriere durch ein – unter welchem Namen auch immer implementiertes – Gesamtschulmodell. Zum Zweiten geht es um eine Reform pädagogischer Prinzipien: Förderung statt Selektion als primärer Auftrag, mehr Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler, mehr fächerübergreifende Kooperation unter Einbeziehung der aktuellen Informations-und Kommunikationstechnologien.

Dass dieser veränderte Unterricht am besten in Räumen stattfindet, die mit der Schule, so wie wir sie kennen, nur noch wenig zu tun haben, zeichnet sich international immer deutlicher ab. Die Schule als Aneinanderreihung von Klassen an einem langen Gang, ergänzt um Sonderunterrichtsräume für den Kunstunterricht und die Naturwissenschaften, ist ein Modell des 19. Jahrhunderts. Die damals entstehende Massengesellschaft brachte mit der Gangschule einen Bautypus hervor, in dem Arbeitskräfte für eine neue, von der industriellen Revolution geprägte Arbeitswelt ausgebildet werden sollten. Diese Schulen waren im Wesentlichen Disziplinierungsanstalten, deren Absolventen möglichst gleichartig funktionieren sollten. Um junge Menschen für die Anforderungen einer globalisierten Wissensgesellschaft fit zu machen, sind solche Räume alles andere als ideal.

Vor allem in skandinavischen Ländern wird der Raum als „dritter Pädagoge“ (neben den Lehrern und den anderen Schülern) betrachtet und versucht, neue pädagogische Konzepte räumlich umzusetzen. Ein Trend dabei ist die Kreuzung von Hallenschule und offener Großraumschule, zwei Schultypen, die bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren populär waren. Klassenzimmer im üblichen Sinn kennen diese Schulen nicht mehr, einige – wie die Hellerup-Schule im Kopenhagener Vorort Gentofte, geplant von arkitema – kommen überhaupt ohne geschlossene Räume aus, wenn man von Turnsaal und Werkstätten absieht. Die 2003 eröffnete Hellerup-Schule bietet Platz für 750 Kinder im Alter von fünf bis 14 Jahren, also von der Vorschule bis zum Einstieg in die Oberstufe des Gymnasiums. Organisatorisch gibt es in dieser Schule nach wie vor Stammklassen, denen allerdings kein eigenerRaum zugeordnet ist. Stattdessen gibt es kleine sechseckige Paravents, die rund 25 Kinder für Phasen konzentrierten Zuhörens aufnehmen können. Drei solcher Gruppen teilen sich altersgemischt eine größere Lernzone mit frei aufgestellten Tischen und PC-Arbeitsplätzen, einer offenen Küche und einem eigenen Lehrerarbeitsraum. Gelernt wird hier in einer planvollen Abfolge von Instruktions- und selbständigen Arbeitsphasen, ohne Schulglocke, aber mit klaren Vereinbarungen.

Wer einen Vormittag an der Hellerup-Schule verbringt, ist vor allem überrascht von der ruhigen und konzentrierten Atmosphäre, in der kein lautes Wort fällt und auch der Umgang unter den Kindern entspannter ist, als man es aus konventionellen Schulen gewohnt ist. Entwickelt wurde das Konzept in einem langen Planungsprozess gemeinsam von Lehrern und Pädagogen im Auftrag der Gemeinde, die eine neue öffentliche Schule für ein Stadterweiterungsgebiet errichten musste. Betreut von einem Konsulententeam, Hanna Bohn Vinkel und Jens Guldbaek, hat die Gemeinde Gentofte inzwischen auch bestehende Schulen nach denselben Prinzipien saniert.

Dass sich das Konzept der offenen Hallenschule auch für Gymnasien eignet, hat die Stadt Kopenhagen mit dem Örestad-Gymnasium bewiesen, einer Schule für 15- bis 18-Jährige, die 2007 eröffnet wurde. Hier gibtes unterschiedlich große Vortrags- und Laborräume, die um die zentrale Halle mit offenen Arbeitszonen herum angeordnet sind. Die Ausschreibung für den Wettbewerb, zu dem unter anderem Toyo Ito und Dominique Perrault geladen waren, enthielt an quantitativen Vorgaben nur Gesamtkosten, Nutzfläche und die Anzahl der Schüler und Lehrer, dafür ein 50 Seiten starkes pädagogisches Konzept. Gewonnen hat den Wettbewerb Kim Herforth Nielsen von 3XN Architekten mit einem geometrisch raffinierten und räumlich beeindruckenden Projekt, dem man aber etwas mehr echte Rückzugsräume wünschen würde. Denn die „Lounges“ für die Schüler sind zwar bequem, aber von allen Seiten einsehbar. Die Baukosten der Schule lagen, ebenso wie bei der Hellerup-Schule, im üblichen Bereich, da durch den Wegfall der Gänge ein höherer Nutzflächenanteil erzielt werden konnte.

Auch wenn diese Beispiele heute noch extrem aussehen, stellen sie mit großer Wahrscheinlichkeit den Typus für die Schule des 21. Jahrhunderts dar. Es wird sie in unterschiedlichen Größen und Formen geben und in Kombination mit anderen Nutzungen, wie das heute etwa in Holland im Konzept der „Breiten Schule“ praktiziert wird, die mit Bibliotheken, Büros der öffentlichen Verwaltung und Wohnbau gekoppelt ist. Die Frage, auf die sich die Bildungsdebatte in Österreich zuletzt reduziert hat – zwei Stunden mehr in der Klasse oder nicht –, stellt sich in solchen Schulen nicht mehr. Nicht nur, weil es keine Klassen gibt, sondern vor allem, weil diese Schulen Orte sind, an denen man sich gern aufhält. Wenn Pädagogen, Schulverwaltung und Architekten an einem Strang ziehen, sollte das auch in Österreich möglich sein.

Spectrum, Sa., 2009.05.16

18. April 2009Christian Kühn
Spectrum

Für immer wie gestern

Kein Zweifel: Das ORF-Zentrumauf dem Küniglberg ist ein wichtiges Bauwerk. Doch seine Nutzer möchten sich lieber heute als morgen von ihm trennen. Ist es damit zwangsläufig ein Fall für das Denkmalamt?

Kein Zweifel: Das ORF-Zentrumauf dem Küniglberg ist ein wichtiges Bauwerk. Doch seine Nutzer möchten sich lieber heute als morgen von ihm trennen. Ist es damit zwangsläufig ein Fall für das Denkmalamt?

Ob Barock, Jugendstil oder Nachkriegsmoderne: Wenn es hart auf hart geht, läuft die Debatte um den Denkmalschutz stets nach ähnlichen Mechanismen. Anlass ist ein Objekt, dessen Ablaufdatum aus rein wirtschaftlicher oder funktioneller Perspektive überschritten ist. Es ist kein Zufall, dass die Wurzeln des Denkmalschutzgedankens im nachrevolutionären Frankreich des späten 18. Jahrhunderts liegen. Wer den König geköpft und die Religion abgeschafft hat, muss Gründe dafür finden, die funktionslosen Paläste und Kirchen zu erhalten. Und so entstand zeitgleich mit den Verwüstungen, die die Revolution anrichtete, auch die Idee eines nationalen kulturellen Erbes, das es zu erhalten gilt, eine Idee, die sich nahtlos in die restaurativen politischen Bewegungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts einfügen ließ.

Während Bauwerke wie Versailles und Schönbrunn heute ohne jede Debatte als Teil dieses Erbes gelten und durch den Tourismus einen neuen – wenn auch oft über eine „Umwegrentabilität“ dargestellten – ökonomischen Wert erhalten haben, müssen für jüngere Objekte die Kriterien einer Erhaltung neu ausgehandelt werden. Die Besitzer der absehbar nutzlos werdenden Immobilie pochen auf ihr Recht auf zeitgemäße Lebens- oder Arbeitsbedingungen, die sich nur in einem Neubau erreichen ließen. Die Freunde des Alten bringen die Einzigartigkeit des Objekts, seine besondere Geschichte und das Ansehen seines Schöpfers ins Spiel. Während die eine Seite Studien vorlegt, die die enormen Kosten einer originalgetreuen Erhaltung belegen sollen, führt die andere gelungene Beispiele von Sanierungen ins Treffen, deren mühelose Übertragbarkeit auf den aktuellen Fall mit großer Inbrunst behauptet wird.

Im Moment läuft eine Debatte nach diesem Muster um das ORF-Zentrum am Küniglberg, im Westen Wiens unweit des Schlosses Schönbrunn gelegen und in den Jahren 1968 bis 1974 nach Plänen von Roland Rainer errichtet. Mit Schönbrunn hat das Gebäude jedenfalls die Dimension gemeinsam. Auf einer bebauten Fläche, die jener des Schlosses annähernd gleichkommt, umfasst das ORF-Zentrum 150.000 Quadratmeter Nutzfläche. Die Anlage ist dringend sanierungsbedürftig: Das Tragwerk erfüllt in keiner Weise die heutigen Normen, der Energieverbrauch ist mangels ausreichender Dämmung enorm, und auch organisatorisch entspricht das Gebäude nicht mehr den aktuellen Bedürfnissen.

Im Zuge einer 1999 begonnenen Bestandsaufnahme aller im öffentlichen Eigentum stehenden Bauten Österreichs wurde die Gesamtanlage im Februar 2007 ohne besonderes öffentliches Aufsehen unter Schutz gestellt. Eine Überprüfung, Anfang dieses Jahres auf Antrag der Gemeinde Wien durchgeführt, hat diese Entscheidung bestätigt. Der Einspruch des ORF, der lieber eine neue, kleinere und effizientere Zentrale auf dem Areal des ehemaligen Schachthofs in St. Marx errichten möchte, wird wenig nützen: Die neue Präsidentin des Denkmalamts, Barbara Neubauer, lässt kaum Zweifel daran, dass die Unterschutzstellung aufrecht bleiben wird. Der ORF, dem im Fall einer Übersiedlung nach St. Marx eine denkmalgeschützte und für andere Zwecke kaum verwertbare Ruine auf dem Küniglberg zu erhalten bliebe, hat damit eine Sorge mehr.

Bei einer Diskussion, die das Architekturzentrum Wien aus diesem Anlass veranstaltete, hatten die Befürworter eines Verbleibs des ORF am Küniglberg, verbunden mit einer möglichst originalgetreuen Erhaltung, entsprechend Rückenwind. Das ORF-Zentrum sei Denkmal einer einzigartigen Aufbruchsstimmung der 1960er-Jahre und überhaupt gleichwertig mit dem Stephansdom und Schloss Schönbrunn. Keiner der Teilnehmer – unter anderem Gerd Bacher, Peter Huemer und Gustav Peichl – ließ sich durch die Frage irritieren, ob ein Gebäude dieses Typs, als Industriebau konzipiert und kostengünstig umgesetzt, nicht nach 35 Jahren auch in Würde sterben und Neuem Platz machen dürfe.

Es ist nämlich zu befürchten, dass sich die Unter-Schutz-Stellung des ORF-Zentrums als Pyrrhussieg für das Denkmalamt erweisen wird. Die Denkmalpflege hat – nachzulesen in Alois Riegls grundlegendem Aufsatz über den „Modernen Denkmalkultus“ aus dem Jahr 1903 – historischen Wert und Alterswert zu berücksichtigen. Der historische Wert besteht nach Riegl darin, dass ein Objekt „die individuelle Stufe der Entwicklung irgendeines Schaffensgebietes der Menschheit“ manifestiert. Er verführt dazu, bei der Erhaltung genau diesen historischen Moment in den Vordergrund zu rücken und einen „Originalzustand“ anzustreben. Der Alterswert lässt das Denkmal dagegen mit allen Gebrauchsspuren als Erzähler seiner eigenen Geschichte gelten. Für Riegl symbolisiert das gealterte Objekt nicht zuletzt die Rückeroberung des vom Menschen Geschaffenen durch die Natur und damit die Vergänglichkeit alles Menschenwerks.

Wer diese Werte ernst nimmt, muss in Kauf nehmen, dass ein als Denkmal saniertes ORF-Zentrum am Küniglberg aufwendiger zu betreiben, weniger praktisch und als Bauwerk der Jahre um 1970 weniger energieeffizient sein wird als heute üblich. Und er wird in Kauf nehmen müssen, dass es nicht nur die Aufbruchsstimmung der 1960er-Jahre repräsentieren wird, sondern auch die Spuren einer 40-jährigen Alterung und ihrer Reparatur, bis hin zu den statischen „Krücken“, die aufgrund geänderter Erdbebenvorschriften nötig werden. All das lässt sich im kleineren Maßstab und bei speziellen Nutzungen argumentieren und realisieren, aber kaum bei 150.000 Quadratmetern und einem unter massivem finanziellem Druck stehenden Nutzer. Der Kompromiss ist absehbar: Eine neu-alte Lösung, die den Geist des Bestands der Erfüllung aktueller Standards opfert. Bei Roland Rainers Böhler-Haus am Schillerplatz, das vor einigen Jahren saniert wurde, kann man das Ergebnis besichtigen. Auf Distanz erinnert die Fassade noch an Rainers Original, im Detail sind alle Feinheiten verloren gegangen, die in dieser Form nur eine Zeit zustande bringen konnte, für die der Energieverbrauch eines Hauses kein Thema war.

Dass Roland Rainer zu den bedeutendsten österreichischen Architekten des 20. Jahrhunderts gehört, steht außer Frage. Der Denkmalschutz für das ORF-Zentrum ist damit aber nicht zu begründen. Er selbst hat es nicht zu seinen wichtigsten Werken gezählt. Die vorgespannte Fertigteilkonstruktion ist mit dem jüngst sanierten Universitätsbau in Klagenfurt dokumentiert und im internationalen Vergleich mit zeitgenössischen Beispielen, etwa von Harry Seidler und Pier Luigi Nervi, wenig bemerkenswert. Was bleibt, ist ein Schlachtschiff am Berg, das an den historisch wichtigen Aufbruch der Ära Bacher erinnert. Diesen angemessen zu würdigen ist aber Aufgabe der Historiker und nicht des Denkmalamts. Dessen Ziel könnte nur Substanzerhalt sein in einem Fall, wo vom radikalen Umbau über die – der Konzeption der 1970er-Jahre durchaus konforme – Wiederverwendung von Fertigteilen bis zum Abriss alles möglich sein sollte.

Spectrum, Sa., 2009.04.18



verknüpfte Bauwerke
ORF Zentrum Küniglberg

22. März 2009Christian Kühn
Spectrum

Stadt fährt ab

Die größte „innere“ Stadterweiterung Wiens: das Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs. Über den Versuch, Stadt entstehen zu lassen.

Die größte „innere“ Stadterweiterung Wiens: das Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs. Über den Versuch, Stadt entstehen zu lassen.

Das Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs ist das größte „innere“ Stadterweiterungsgebiet Wiens. Auf der mentalen Landkarte der Stadtbewohner blieb es jedoch über die letzten Jahrzehnte ein weißer Fleck. Wer, vom Zentrum kommend, über die Lasallestraße Richtung Reichsbrücke unterwegs ist, hat zwar ein relativ klares Bild von der urbanen Struktur, die sich rechter Hand ausbreitet: Da liegen die Venediger Au und der Wurstelprater, das Messegelände und irgendwo dahinter das Praterstadion. Aber zur Linken? Am Beginn der Lasallestraße am Praterstern finden sich seit den 1980er-Jahren ein paar breit hingesetzte Bürohäuser, die mit großen Konzernen wie IBM und der Bank Austria assoziiert werden. Richtung Mexikoplatz schließen weitere Büroblöcke an, als deren einzige Besonderheit ein inzwischen pleitegegangenes Kinocenter zu nennen ist. Aber dahinter? Nur Eisenbahnfans und Anrainer hatten eine Vorstellung von diesem Areal, das sich hier mit seinen Gleisanlagen über zwei Kilometer weit in die Tiefe erstreckte.

Geändert hat sich das ansatzweise zu Beginn der 1990er-Jahre, als in der Remise am Nordbahnhof zwei Jahre hintereinander das „Wiener Architekturseminar“ stattfand, geleitet von Boris Podrecca, zuerst gemeinsam mit Albert Wimmer, dann mit Heinz Tesar. Dass international renommierte Architektinnen und Architekten wie David Chipperfield, Betrix/Consolascio oder Juan Navarro Baldeweg von der Wiener Stadtverwaltung eingeladen wurden, sich außerhalb eines Wettbewerbs mit zukünftigen Stadtstrukturen zu befassen, war ein Novum und auch nur eine kurzfristige Begleiterscheinung der Ära des Planungsstadtrats Hannes Swoboda. Begonnen wurden die Workshops noch im Rahmen der Aufbruchsstimmung rund um die für 1995 geplante Wiener EXPO. Als diese 1991 per Volksbefragung zu Fall gebracht worden war – ein erster großer „Erfolg“ des Wiener Rechtspopulismus – war auch die Dynamik hinter dem Projekt Nordbahnhof verschwunden.

Immerhin entschied man sich 1992 in einem Wettbewerb noch für ein städtebauliches Konzept, das die Handschrift von Heinz Tesar und Boris Podrecca trägt. Es sieht einen Blockraster vor, der an den Bauten in der Lasallestraße Maß nimmt und im Zentrum Platz lässt für einen großen, annähernd quadratisch angelegten Park, eine Art Miniaturausgabe des New Yorker Central Park in der zukünftigen hoch verdichteten Struktur. Nach Süden hin wird das Areal durch einen Gewerbestreifen entlang der Schnellbahnlinie abgeschlossen, der diagonal Richtung Praterstern führt. Diese Diagonale hatte bereits Wilhelm Holzbauer im Zuschnitt des IBM angedeutet. Im anschließenden Bank-Austria-Gebäude, dem gelungensten Projekt Holzbauers in Wien, war diese Diagonale sogar als öffentlicher Durchgang durch den Innenhof geplant. Aus Sicherheitsgründen ist davon leider nicht mehr geblieben als ein diagonaler Blick durch ein Metallgitter.

Einen ersten Schritt ins Areal hinein machte die Entwicklung erst wieder im Jahr 2000, als eine nördlich an der Vorgartenstraße gelegene Blockkante mit drei Wohnbauten nach Entwürfen von Coop Himmelb(l)au, Neumann/Steiner und Boris Podrecca bebaut wurde. Die Projekte behandeln die Frage der hohen Dichte auf sehr unterschiedliche Art. Coop Himmelb(l)au wuchten einen Teil des Volumens nach oben, um dafür nach innen einen offeneren Hof gestalten zu können, während Neumann/Steiner über einen kleinen Spiegelwald Licht von oben in die engen Höfe holen. Und Boris Podrecca kaschiert mit seiner oft bewährten, irgendwo zwischen Klassizismus und Modernismus angesiedelten Architektursprache geschickt, dass seine Blockrandbebauung eigentlich ein Hochhaus mit bis zu 15 Geschoßen ist.

Derzeit steht dem Areal der nächste Entwicklungsschub bevor. Der große Park ist bepflanzt und hat einen Namen bekommen: Er verewigt als Rudolf-Bednar-Park das Andenken an einen Leopoldstädter Bezirksvorsteher der Jahre 1977 bis 1984. Rundum entstehen nun in rascher Folge Wohnbauten, ähnlich dicht und ähnlich heterogen wie die ersten Projekte an der Vorgartenstraße. Bereits fertiggestellt ist die Bike-City, entworfen von Claudia König und Werner Larch, eine speziell auf die Bedürfnisse von Radfahrern abgestimmte Wohnhausanlage. Die Anzahl der KFZ-Stellplätze ist reduziert, dafür gibt es auf den Geschoßebenen eigene Räume für Fahrräder, die nicht wie Abstell-, sondern mit ihren geschoßhohen Glaswänden eher wie Sozialräume wirken. Tatsächlich hoffen die Architekten und der Bauträger Gesiba, dass in diesen Räumen nicht nur Fahrräder, sondern auch die Hausgemeinschaft gepflegt wird.

Die Wohnungen sind mehrheitlich als Maisonetten ausgeführt, von einem nördlich zur Vorgartenstraße liegenden Laubengang erschlossen, der sich vor den Wohnungen zu „Parkbuchten“ für die Drahtesel erweitert. Im Schnitt zeigt das Projekt eine sehr effiziente, schon von Le Corbusier bei seinen großen Wohnbauten, den Unités d'Habitation, verwendete Typologie, bei der ein Laubengang nur alle drei Geschoße benötigt wird. Im Unterschied zu den Unités mit ihren dunklen Gängen ist der Gang hier aber seitlich zur Straße hin geöffnet und belichtet. Auch sonst orientiert sich das Projekt an der Architektursprache der klassischen Moderne. Die Grundrisse sind gut geschnitten, die Loggien groß und gut nutzbar. Die Fassaden kombinieren die Farben Dunkelgrau und Weiß mit Lattenrosten aus Holz, wie sie heute en vogue sind.

Einen völlig anderen Weg gehen die Architekten des benachbarten, gerade in Fertigstellung begriffenen Projekts, Anna Popelka und Georg Paduschka, die unter dem Namen PPAG firmieren. Mit den Spielregeln der klassischen Moderne hat ihr Wohnbau dezidiert nichts mehr zu tun. Kein „erhabenes Spiel von platonischen Körpern unter dem Licht“, wie Le Corbusier Architektur einmal definiert hat, sondern ein Bau, der – in den Worten der Architekten – nach „oben und unten abbröselt wie ein altes Keks“. Die große, durchgängig in einem sehr hellen Blau gestrichene Baumasse, die den Rudolf-Bednar-Park an der Nordseite in voller Länge begrenzt, ist aus einer Vielzahl von Raumzellen komponiert, die sich auch an der Fassade durch Vor- und Rücksprünge deutlich abzeichnen. Vorgehängte große Balkone mit rosa Glasbrüstungen prägen hier das Fassadenbild, während nach Norden zur Vorgartenstraße hin ein System von Terrassen entsteht, deren Geländer aus Drahtgewebe ausgeführt sind.

Die Vor- und Rücksprünge sind kein reiner Formalismus, sondern das Produkt kombinatorischer Überlegungen, mit denen PPAG sich seit Jahren systematisch befasst. Auch ihre „Enzis“ im Museumsquartier lassen sich ja zu ganz unterschiedlichen Räumen zusammensetzen, von der Liegenlandschaft bis zur Eishöhle. Im Wohnbau am Bednarpark ist diese Kombinatorik auch im Erschließungssystem zu spüren. Nur im ersten Stock führt ein Gang über die volle Länge des Gebäudes, darüber gibt es eine abschnittsweise Erschließung über Treppenhäuser und Stichgänge, die durch zweigeschoßige Lufträume und Sozialräume aufgelockert sind. Auch wenn alle Stichgänge eher schmal und nur stellenweise natürlich belichtet sind, sind sie doch voneinander unterscheidbar. An wichtigen Punkten finden sich tapetenartige Kunst-am-Bau-Projekte. Auch in diesem Wohnbau sind viele der Wohnungen Maisonetten, wobei die Typenvielfalt im Vergleich zur Bike-City deutlich größer ist.

Ob dieser Wohnbau die Erwartungen einer jüngeren Generation erfüllt, die dezidiert anders wohnen will als ihre Eltern und bereit ist, dafür auch ein paar dunkle Winkel mehr als nötig in Kauf zu nehmen, wird man erst in ein paar Jahren wissen. Und ob hier wirklich Stadt entstanden ist, erst in Jahrzehnten, wenn diese Generation längst in Pension ist und im Rudolf-Bednar-Park die Tauben füttert.

Spectrum, So., 2009.03.22

06. Februar 2009Christian Kühn
Spectrum

Schmaler geht's nicht

Was braucht man, um dem Leben und Wohnen auf dem Land eine neue Richtung zu geben? Politische Fantasie und mutige Bürgermeister. Wie etwa im burgenländischen Wulkaprodersdorf.

Was braucht man, um dem Leben und Wohnen auf dem Land eine neue Richtung zu geben? Politische Fantasie und mutige Bürgermeister. Wie etwa im burgenländischen Wulkaprodersdorf.

Zur Vorbereitung für die folgende Lektüre gehen Sie am besten an Ihren Computer, starten Google Earth, geben den Begriff „Wulkaprodersdorf“ ein und lassen sich langsam vom Weltkugelmaßstab ins Burgenländische zaubern, zu einer kleinen, zehn Autominuten von Eisenstadt entfernten Ortschaft mit 2000 Einwohnern. Vielleicht erklären Sie mir nach dieser Übung, dass der Effekt so neu auch wieder nicht ist, immerhin gab es auch früher Atlanten, Lexika und Globen, mit denen man mit dem Finger auf der Landkarte reisen konnte. Der revolutionäre Unterschied besteht aber darin, dass auf einem Globus Orte wie Wulkaprodersdorf niemals zu finden sein werden und umgekehrt auf einer Karte, die Wulkaprodersdorf zeigt, vom Rest der Welt nicht mehr viel zu spüren ist. In Programmen wie Google Earthsind das Große und das Kleine aber fugenlosmiteinander verbunden, Distanzen schrump-fen, und Zusatzinformationen in Form von Wikipedia-Einträgen, Fotos und Annotationen von Benutzern lassen die Welt als kugelförmiges Buch erscheinen, in dem alles mit allem verknüpft ist.

Man könnte vermuten, dass dieser veränderte Blick auf die Welt auch zu neuen Vorstellungen vom Leben und Wohnen im ländlichen Raum führen sollte. Die ersten Anzeichen dafür sind noch spärlich, aber immer öfter finden sich Projekte, die auf dem Land das bisherige Idealbild des Eigenheims, das frei stehende Haus mit seiner kleinen Gartenparzelle, hinter sich lassen. Dieses Ideal hat, flächendeckend umgesetzt, den gravierenden Nachteil einer totalen Abhängigkeit vom Individualverkehr. Dass Landleben heute nicht zuletzt Pendeln bedeutet, ist zwar klar: Wer in Wulkaprodersdorf lebt, lebt zugleich in Eisenstadt, Sopron und Wien, das nur eine knappe dreiviertel Stunde entfernt liegt, und er pendelt nicht nur zur Arbeitsstätte, sondern auch zu vielen kulturellen undsozialen Bezugspunkten. Aber wenn auch fürdie alltäglichen Besorgungen und Kontakte ein Auto Voraussetzung ist, führt sich das Ideal des naturverbundenen Lebens auf demLand rasch selbst ad absurdum.

Zugleich führt die Ausbreitung von Siedlungen am Ortsrand zu einer zunehmenden Verödung der Ortskerne, da sich mit den Bewohnern auch die Infrastruktur verlagert. Diese Entwicklung ist längst bekannt, und esfehlt auch nicht an guten Ratschlägen von Architekten und Raumplanern für eine Revitalisierung der Ortskerne. Um solche Konzepte umzusetzen, braucht es allerdings politische Fantasie und Mut auf der Ebene der Bürgermeister. Immerhin geht es um nichts Geringeres, als den Vorstellungen vom idealen Landleben eine neue Richtung zu geben.

Wulkaprodersdorf hat mit Rudolf Haller einen Bürgermeister, der die nötige Fantasie dafür aufbringt. Seit einigen Jahren kauft dieGemeinde Grundstücke im Zentrum des Ortsund versucht dort, neue Wohntypologien zu realisieren. Das ist in Wulkaprodersdorf nichtso einfach, da der Ort zum großen Teil aus alten, sogenannten Streckhöfen mit Parzellenvon rund zehn mal 100 Metern besteht. DieseBebauungsform hat Architekten schon langefasziniert, nicht zuletzt Roland Rainer, der siezum Thema seines Buchs über „Anonymes Bauen im Nordburgenland“ gemacht hat.

Nach Wulkaprodersdorf kam der Vorschlag, solche Parzellen neuen Nutzungen zuzuführen, durch den Eisenstädter Architekten Klaus-Jürgen Bauer, der als Vorsitzender des Architekturraums Burgenland Bürgermeister anschrieb, ob sie nicht Interesse daran hätten, Ortskerne auf diese Art zu revitalisieren. Wulkaprodersdorf reagierte als eine von wenigen Gemeinden und veranstaltete einen Ideenwettbewerb mit vier Architektenteams für eine verfügbare Parzelle im Ortskern. Bemerkenswert an diesem Verfahren ist, dass der Gemeinderat als Jury fungierte. Das entspricht zwar nicht den Konventionen von Architekturwettbewerben, bei denen ja stets eine Fachjury entscheiden sollte, hatte aber den großen Vorteil einer sehr offen geführten Diskussion, an der sich viele Bürger bei mehreren Stufen des Wettbewerbs beteiligen konnten.

Zur Ausführung gelangte schließlich das Projekt der Architekten Margot Fürtsch und Siegfried Loos, die gemeinsam unter dem Namen polar÷ firmieren. Es sieht fünf Häuser vor, die in zwei Gruppen jeweils eine Grundfläche von nur 120 Quadratmetern beanspruchen und einen kleinen, nicht einsehbaren Innenhof einschließen. Jedes Haus ist direkt mit dem PKW zu erreichen und verfügt über zwei überdachte Stellplätze. Typologisch bieten die Häuser klar geschnittene Grundrisse in mehreren Varianten, mit einem besonderen Augenmerk auf Freiflächen, die als Hof, Terrasse oder Balkon fast jedem Raum seinen eigenen Außenbereich zuordnen. Die Belichtung des Wohn- und Essraums, der sich zum Hof hin orientiert, ist durch einen Bereich mit größerer Raumhöhe, der über hohe Fenster viel Licht hereinbringt, geschickt gelöst. Die Hoftypen erlauben es auch, den Weg vor den Häusern als öffentlichen Durchgang zu definieren, und ermöglichen so eine zusätzliche Verknüpfung zwischen den Hauptstraßen des Orts.

Im Detail ist manches an den Häusern etwas grob umgesetzt, etwa die Geländer der Treppen und einige Elemente der Fassade wie etwa die Jalousiekästen. Die ausführende Genossenschaft „Neue Eisenstädter“ hat im Endausbau der Häuser auf Standards zurückgegriffen, die mit der von den Architekten angestrebten urbanen Wohnatmosphäre nichts mehr zu tun haben. In der Summe sind die Häuser aber auch formal durchaus gelungen, und manche Details lassen sich nachträglich ohne viel Aufwand ändern. Dass bisher erst eines der Häuser verkauft ist,dürfte daher nur zum Teil daran liegen, dass der Bauherr im Finale die eigentliche Zielgruppe aus den Augen verloren hat. Wichtiger sind ökonomische Gründe, da die Häuser nicht weniger kosten als ein konventionelles, teilweise selbst ausgebautes Einfamilienhaus mit deutlich mehr Eigengrund.

Diesen Nachteil hätte ein innovatives Energiekonzept ausgleichen können, dessen noch höhere Kosten aber niemand riskieren wollte: Eine Gasheizung, ergänzt durch Solarpaneele am Dach, ist heute bestenfalls guter Durchschnitt. Käufer werden die Häuser trotzdem finden. Die Zukunft des „ländlichen Bauens“ gehört aber der Verbindung von innovativen Typologien, raffinierter Vorfertigung und Passivhausstandard. Die Fantasie dafür ist in Wulkaprodersdorf jedenfalls vorhanden.

Spectrum, Fr., 2009.02.06



verknüpfte Bauwerke
Wohnbauprojekt

20. Dezember 2008Christian Kühn
Spectrum

Wohnen. Wo, wie?

Wohnmodelle aus drei Kontinenten, Experimente abseits des Mainstreams: Eine Ausstellung im Wiener Künstlerhaus zeigt Strategien, die sich zur Wiederholung eignen.

Wohnmodelle aus drei Kontinenten, Experimente abseits des Mainstreams: Eine Ausstellung im Wiener Künstlerhaus zeigt Strategien, die sich zur Wiederholung eignen.

Eine Wiener Ausstellung über Wohnmodelle: Unter diesem Titel war eine weitere Nabelschau zu befürchten, konzipiert von Architekten für Architekten und Funktionäre des geförderten Wohnbaus, präsentiert auf hochglänzenden Schautafeln, die Wiener Wohnbauten im Urzustand nach ihrer Eröffnung zeigen.

Die aktuelle Ausstellung im Künstlerhaus ist anders. Sie beschränkt sich nicht auf Wien, sondern zeigt ein Dutzend Wohnbauten aus Europa, Japan, Südamerika und den USA. Die Fotos stammen von den Bewohnern der Häuser und wurden auch nicht bei der Eröffnung, sondern mindestens zwei Jahre nach der Fertigstellung aufgenommen.

Von „Modellen“ handelt die Ausstellung in mehrerer Hinsicht. Einerseits wurden nur Beispiele aufgenommen, die sich als Experiment abseits des Mainstreams verstehen, aber zugleich Modellcharakter haben, also Strategien verfolgen, die sich zur Wiederholung eignen. Andererseits geht es in der Ausstellung auch um das Thema des Architekturmodells im engeren Sinn. Modelle gibt es in mehreren Varianten und Maßstäben, von eins zu fünf bis eins zu eins, etwa beim Modell eines chilenischen Wohnbaus in der Haupthalle. Beim Eingang finden sich kleine Modelle aus dem Grundkurs für Gestaltungslehre an der Technischen Universität Wien, die dasselbe Volumen in 300 verschiedenen Varianten im Raum anordnen. Daneben bietet ein Tisch die Möglichkeit, aus Zündholzschachteln im Schnellverfahren Wohngebäude zusammenzubauen – und dann darüber nachzudenken, ob der Wohnbau als Addition von Einzelräumen wirklich noch zeitgemäß ist.

In der Ausstellung finden sich Alternativen, etwa die Balance-Typen der Schweizer Architekten Haerle-Hubacher, fünfgeschoßige Wohnregale mit 300 Quadratmeter Geschoßfläche, die als Alternative zu Einfamilienhäusern verkauft werden. 70 Quadratmeter davon sind umlaufende Terrassen, und wie die Käufer diese Fläche einteilen, bleibt ihnen überlassen. Vom Loft bis zur Kombination kleinerer Einheiten für mehrere Generationen ist hier alles möglich. Das Konzept war so erfolgreich, dass bereits vier Siedlungen nach diesem Muster entstanden sind, jeweils mit vier bis fünf Einzelhäusern.

Das originellste Modell der Ausstellung haben die Kuratoren Michael Rieper und Oliver Elser aber von der Wiener Niederlassung einer Werbeagentur übernommen. Es handelt sich um das Durchschnittswohnzimmer mit Durchschnittseinrichtung, das die Agentur bei sich aufgebaut hat, um ein „Feeling“ für ihre Zielgruppen zu entwickeln. Durch diesen – der Statistik entsprechend genau 24,6 Quadratmeter großen – Raum, ausgestattet mit den meistverkauften Möbeln, Haushaltsgetränken und Spirituosen, gelangen die Besucher in den Hauptteil der Ausstellung. Zu jedem Projekt finden sich neben den durchgängig aus Wellpappe gebauten Modellen Diaprojektionen, die Ausschnitte aus Interviews mit den Bewohnern als kurze Statements mit Alltagsfotos kombinieren.

Die Kartonmodelle sind trotz ihrer Größe in einigen Fällen enttäuschend, da sich nicht jeder Wohnbau für die gewählte Abstraktion eignet und die Beleuchtung der Modelle etwas spartanisch ausgefallen ist. Wer die Projekte verstehen möchte, ist gut beraten, sich den exzellenten und mit 29 Euro erschwinglichen Katalog zu besorgen, der als Bonusmaterial Reportagen über die allgemeine Situation des Wohnbaus in den jeweiligen Herkunftsländern der Projekte enthält.

Die Auswahl der Beispiele mag auf den ersten Blick willkürlich erscheinen. Sie geht auf ein Symposium zurück, das die Kuratoren mit Unterstützung der Wohnbau-Abteilung der Technischen Universität Wien 2007 organisierten. Teilnehmer aus zehn Ländern berichteten dabei über je ein innovatives Wohnbauprojekt. Charakteristisch ist für die meisten der Projekte, dass Architekten dabei nicht nur als Planer auftreten, sondern zusätzlich andere Rollen übernehmen, etwa als Projektentwickler oder Sozialarbeiter.
Ein Beispiel aus Chicago zeigt, wie die Architekten Landon Bone Baker einen sozialen Wohnbau aus den 1950er-Jahren nicht wie geplant abreißen, sondern sanieren, um die gewachsene Sozialstruktur nicht zu zerstören. Aus Chile stammt ein Projekt, das unter dem Namen „Elemental“ mit der maximalen Förderung von 7500 Dollar pro Wohneinheit „halbe Häuser“ errichtet, die von den Bewohnern im Selbstbau erweitert werden können. Aus Frankreich werden Reihenhäuser in Mulhouse vorgestellt, bei der die Architekten Lacaton & Vassal im geförderten Wohnbau Nutzflächen von 175 Quadratmetern anbieten, die möglich werden, weil die Konstruktion des Obergeschoßes mit industriell gefertigten Gewächshäusern erfolgt.

Aus Japan stammen zwei konträre Projekte: ein Wohnregal von Riken Yamamoto mit einer innovativen Kombinationsmöglichkeit von Wohn- und Arbeitsräumen sowie ein kleines Einfamilienhaus von Ryue Nishizawa, das aus noch kleineren weißen Kuben für die Wohn- und Schlafräume besteht, die nur über den Garten miteinander verbunden sind. Einziges Wiener Beispiel ist die Sargfabrik, die ihren Modellcharakter insofern beweist, als sie hier mit ihrem „Ableger“, der Miss Sargfabrik, gezeigt wird.

Wohnbaustadtrat Michael Ludwig, ehemaliger Vorsitzender des Verbands Wiener Volksbildung, hat die Ausstellung gefördert und sie einer Veranstaltungsreihe, „Wiener Wohnbaufestwochen“, einverleibt, die bis Ende März die Auseinandersetzung mit dem Wiener Wohnbau beleben möchte. Als Optimist darf man darin eine Aufforderung an die Wohnungssuchenden in Wien zum selbstständigen Denken verstehen, zur Lust auf Alternativen, vom Raumprogramm bis zur Art der Bauträgerschaft, etwa in Form von autonomen Baugruppen. Ob diese Botschaft auch die anderen Akteure, von den Genossenschaften bis zum Grundstücksbeirat, erreicht, bleibt abzuwarten.

Spectrum, Sa., 2008.12.20

15. November 2008Christian Kühn
Spectrum

Architektur im Pelz

Wenn Computer und Roboter sich verbünden, um Architektur zu schaffen: Neue Entwurfs- und Produktionsverfahren machen das Ornament wieder zum Thema.

Wenn Computer und Roboter sich verbünden, um Architektur zu schaffen: Neue Entwurfs- und Produktionsverfahren machen das Ornament wieder zum Thema.

Pünktlich zum 100. Jubiläum von Adolf Loos' Text „Ornament und Verbrechen“ scheint das Ornament endgültig ins Zentrum der Architekturdiskussion zurückzukehren. Abgezeichnet hat sich dieser Trend schon seit einigen Jahren. Er zeigte sich primär darin, dass Architekten sich wieder explizit dazu bekannten, die Oberflächen in und an ihren Gebäuden zu verzieren. Das war in der Sache nicht neu, denn trotz des offiziellen Verzierungsverbots der Moderne ist die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts voll mit Ornamenten, deren Schöpfer diese Bezeichnung aber meist vermieden. Ornament als rhythmisch-abstrakte Verhüllung war auch in den 1950er- und 60er-Jahren zulässig, da es sich auf die zeitgenössischen Tendenzen in der abstrakten Kunst stützen konnte. Mit der Pop-Art wurde das klassische Ornament wieder salonfähig, solange es eindeutig als ironisches Zitat zu erkennen blieb. Und seit den frühen 1990er-Jahren gehört die verzierte Oberfläche – vom bedruckten Glas und Beton bis zum Metallguss – überhaupt wieder zum Repertoire der Architektur, auf die man bei Bedarf zurückgreifen kann, ohne dafür eine besondere Rechtfertigung zu benötigen. Die Oberfläche wächst dabei über ihre Rolle, Teil eines plastischen Gefüges zu sein, hinaus und führt zusätzlich ein Eigenleben als Träger visueller Reize, die vom übrigen Bauwerk unabhängig sind.

Neu an der aktuellen Diskussion über das Ornament ist, dass es nicht mehr allein als formale Frage betrachtet wird. Damit wird die Debatte, die Adolf Loos vor 100 Jahren angestoßen hat, wieder aufgenommen. Denn Loos hatte in seiner Kritik das Ornament nicht als falsche Form kritisiert, sondern als nicht mehr zeitgemäße Art derProduktion. Ein handwerklich hergestellter Schuh könne ruhig ornamentiert sein, solange das Herstellen dieses Ornaments dem Schuster Freude bei der Arbeit bereite. Sobald das Ornament aber aus der Maschine käme, hätte es jede Berechtigung verloren. Es sei nur nostalgischer Überschuss und daher unökonomisch.

Den Gedanken, dass die Form von Produkten ihrem Herstellungsprozess entsprechen müsse, übernahm Loos von Gottfried Semper, der die Architektur auf einige Urformen der Herstellung zurückzuführen versucht hatte: das Legen des Fundaments aus Steinen, das Behauen von Balken und Pfosten, das Formen von Keramik und schließlich das Weben von Textilien. Als zentral für die architektonische Gestaltung sah Semper das Weben an: Die Wand habe ihren Ursprung nicht im Mauerwerk, sondern in der gewebten Decke, die über ein Gerüst gezogen wird. Für das Ornament spielt diese „Bekleidungstheorie“ naturgemäß eine besondere Rolle, da jedes Gewebe ein natürliches Ornament bildet. Im Bau konnte auf dieses Gewebe nur noch allegorisch verwiesen werden, und so ist etwa die Postsparkasse von Otto Wagner – in expliziter Anspielung an Semper – in ein dünnes Kleid aus Natursteinplatten gehüllt.

Wenn heute von einem „neuen Ornament“ die Rede ist, wie das der deutsche Architekturtheoretiker Jörg Gleiter in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift „archplus“ getan hat, bezieht sich dieser Begriff wieder auf die Frage der Produktion. Anlass, über das Ornament neu nachzudenken, sei die Möglichkeit, die Trennung zwischen Entwurf und Ausführung durch die Kombination neuer, computergestützter Entwurfs- und Produktionsverfahren zu überwinden. Über den Einsatz von Robotern auf der Baustelle hat die Industrie zwar schon vor 20 Jahren nachgedacht. Durch die Verbindung zwischen digital gestütztem Entwurf und digital gestützter Produktion beschränkt sich die Industrialisierung des Bauens aber nicht längerauf die Montage möglichst gleicher Teile. Heute sind die Möglichkeiten, architektonische Entwürfe am Computer nicht mehr zu zeichnen, sondern parametrisch oder algorithmisch zu entwickeln, weitfortgeschritten. Parametrisch bedeutet in diesem Kontext: Der Entwurf wird geometrisch so beschrieben, dass seine Form durch die Änderung weniger Parameter geändert werden kann. Die Elemente einer Serie können sich so deutlich voneinander unterscheiden. Algorithmisches Entwerfen verlagert die Entwurfsaufgabe überhaupt von der Geometriebeschreibung hin zur Definition von Programmen, mit denen Entwürfe mehr „gezüchtet“ als gezeichnet werden.

Damit ist auch ein Aspekt angesprochen, der für das Ornament immer schon Bedeutung hatte, nämlich die Beziehung zwischen Architektur und Natur. Im Unterschied zum gerahmten Bild hat das Ornament die Tendenz, sich auszubreiten. Es trägt gewissermaßen einen Code in sich, der sein Wachstum regelt. Das Ornament ist insofern bedrohlich, als es wuchern könnte, bis vom „Eigentlichen“ nichts mehr zu sehen ist. Die Loos'sche Behauptung in „Ornament und Verbrechen“, dass „heute nur noch Verbrecher und Degenerierte“ ihren Körper tätowieren, also mit Ornamenten verzieren würden, weist auch auf die Angst hin, dass sich im Ornament etwas Verdrängtes Bahn brechen könnte. Das Hundertwasserhaus ist gerade wegen seines Erfolgs die implizite Bestätigung dieser Ahnung: Die voll ornamentierte Fassade, noch dazu mit Grün überwuchert, verspricht dem Unbehagen in der Kultur Erleichterung.

Wo das Hundertwasserhaus eine sentimentale Verklärung von Natur als heiler Welt inszeniert, erlauben die neuen Entwurfs- und Produktionsmethoden jedoch eine radikal unsentimentale Haltung. Exemplarisch dafür sind die Projekte der französischen Architekten François Roche – derzeit Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst in Wien – und Stéphanie Lavaux, die gemeinsam unter dem Namen R&Sie(n) firmieren. Aufmerksamkeit erhielten Sie 2003 mit einem Museumsprojekt für Bangkok, dessen Außenhülle aus einem elektrisch geladenen Edelstahlnetz bestehen sollte, in dem der Staub der Atmosphäre sich gefangen und das Museum in einen künstlichen Pelz gehüllt hätte. Das Projekt, das sich in der Ausführungsplanung befand, wurde nach dem Militärputsch 2006 gestoppt. Ihr aktuellstes Projekt, ein Gletschermuseum für Evolène im Schweizer Wallis, nimmt den äußeren Umriss der traditionellen Blockhäuser auf, füllt ihn aber mit einer robotergefrästen hölzernen Großform. Außen wachsen aus ihr Stacheln, zwischen denen Drähte gespannt sind. Im Winter sammelt sich hier der Schnee und füllt die traditionelle Form wieder auf. Künstliche Beschneiung soll den Effekt verstärken, Abschmelzen und Vereisen die Oberfläche variieren.

Ob die Rede von einem „neuen Ornament“, wie es sich hier zeigt, relevant bleibt, ist offen. Dass die neuen Entwurfs- und Produktionsmethoden massiven Einfluss auf die Architektur nehmen werden – von ihrer Geometrie bis zu ihrer kulturellen Bedeutung – steht aber außer Frage.

Spectrum, Sa., 2008.11.15

04. Oktober 2008Christian Kühn
Spectrum

Wenn Stümper Städte bauen

Ein neuer Stadtteil. Ein Architekturwettbewerb dafür. Ein eindeutiger Sieger. Aber bauen wird ein anderer. Schwaz in Tirol: Ein Skandal nimmt seinen Lauf.

Ein neuer Stadtteil. Ein Architekturwettbewerb dafür. Ein eindeutiger Sieger. Aber bauen wird ein anderer. Schwaz in Tirol: Ein Skandal nimmt seinen Lauf.

In alten Bergbaustädten lebt oft ein besonderer, leicht melancholischer Genius Loci, Erinnerung an große Zeiten, die diese Städte schon lange hinter sich haben. Schwaz in Tirol ist so ein Ort: in den Zeiten des Silberbergbaus im 15. Und 16. Jahrhundert größte Bergbaumetropole Europas mit 20.000 Einwohnern und – nach Wien – zweitgrößte Stadt im Reich der Habsburger. Heute hat Schwaz 13.000 Einwohner, und seine Gegenwart ist von Strukturproblemen geprägt, mit denen viele österreichische Kleinstädte zu kämpfen haben. Eines dieser Probleme ist die Verödung der alten Zentren durch Entwicklungen an der Peripherie, wo die Parkplätze billiger, die Shops bunter und die Kinos größer sind als im Zentrum.

In Tirol gibt es seit 2005 ein Raumordnungsgesetz, das diese Entwicklung eindämmen soll. Neue Shopping-Malls auf der „grünen Wiese“ sind seither kaum mehr möglich, womit Einkaufszentren in den Kernzonen wieder zum Thema werden. Schwaz hat dafür am Rand des historischen Stadtzentrums eine große Fläche anzubieten, das ehemalige Areal der Austria Tabakwerke, ein das Ufer des Inns begleitendes Grundstück von 15.000 Quadratmetern.

Als der Verkauf dieses Areals anstand, begann die Stadtverwaltung Visionen für dessen zukünftige Nutzung zu entwickeln. Das Ergebnis war zwar etwas vage, aber in der Grundtendenz eindeutig: Hier sollte ein multifunktionaler, lebendiger Stadtteil entstehen, 35.000 Quadratmeter Nutzfläche, die sich zur Hälfte auf Geschäfte, zur anderen Hälfte auf Wohnungen, ein Hotel, Büros und einen Stadtsaal für die Gemeinde aufteilen sollten. Höchste architektonische Qualität sollte durch einen Wettbewerb gesichert werden, an dessen Kosten sich die Gemeinde zu 50 Prozent zu beteiligen versprach.

Dass schließlich kein internationaler Investor, sondern ein angesehener ortsansässiger Unternehmer, Günther Berghofer, das Areal erwarb, erschien der Gemeinde als positive Entwicklung. Der neue Eigentümer verpflichtete sich, den Architekturwettbewerb durchzuführen. Unter den sechs geladenen Büros befanden sich Rüdiger Lainer, Delugan-Meissl und Henke Schreieck, in der Jury wirkten Hans Gangoly als Vorsitzender und Much Untertrifaller mit. Die Ausschreibung enthielt allerdings im Detail ein paar wenig erfreuliche Passagen: So fehlte jede Verpflichtung des Auslobers, einen Sieger tatsächlich zu beauftragen, und die Urheberrechte waren nur in Bezug auf den Entwurf als Ganzes geschützt, während einzelne Teile vom Auslober ohne weitere Abgeltung verwendet werden durften. Unter diesen Bedingungen überhaupt am Wettbewerb teilzunehmen, setzt bei den Architekten hohes Vertrauen in die Seriosität des Auslobers voraus. Gefordert war nämlich nicht nur ein städtebaulicher Rahmenplan, sondern eine weitgehende Ausarbeitung der einzelnen Nutzungen auch im Grundriss. Die einzig sichere Gegenleistung dafür bestand in 7000 Euro Aufwandsentschädigung pro Teilnehmer – ein üblicher Betrag, wenn einem von ihnen am Ende der Auftrag zufällt; mit einer unverbindlichen Absichtserklärung wie in diesem Fall bewegt sich der Auslober aber hart an der Grenze zur Sittenwidrigkeit.

An den „worst case“ wollte aber vorerst niemand denken. Im Gegenteil. Der Wettbewerb endete im Frühjahr 2007 mit einem ersten und zwei dritten Preisen. Das Projekt von Marta Schreieck und Dieter Henke hatte die Jury sogar derart überzeugt, dass man auf die geplante Überarbeitungsphase verzichtete. Städtebaulich haben die Architekten tatsächlich so etwas wie eine „Ideallinie“ gefunden, indem sie die Bewegungsenergien aus dem Ortskern Richtung Inn weiterlenken, geschickt auf eine Stadtterrasse hinauf- und in eine glasüberdachte Straße mit Geschäften hineinführen. Mehrgeschoßige Baukörper sitzen auf diesem kompakten Sockel und bilden eine signifikante Stadtkante zum Fluss, die aber durch Material und Proportion der Baukörper in sich differenziert ist. Selbst in den nur ansatzweise im Detail entwickelten Schaubildern zeigen Henke und Schreieck, dass sie imstande wären, hier tatsächlich die architektonischen Maßstäbe zu erreichen, die sich die Gemeinde in ihren Visionen gesetzt hatte.

Die Freude währte nur kurz. Im Herbst 2007 kam es zu einem Konflikt mit der Gemeinde. Der Projektbetreiber warf dem Schwazer Bürgermeister, Hans Lintner, vor, durch Widmungen an anderen Standorten seine Kalkulationen über den Haufen zu werfen. Anlass war die Widmung für ein anderes Hotel gerade zu der Zeit, als er selbst Verhandlungen mit einem Hotelbetreiber führte. Marta Schreieck wurde zu einer öffentlichen Diskussion nach Schwaz geladen, in der sie die Verantwortung der Stadt nachdrücklich einforderte und sich damit beim Bürgermeister nicht unbedingt beliebt machte.

Beauftragt waren die Architekten zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht. Zwar fanden Planungsgespräche über Teilbereiche der Geschäftszonen statt, die von den Architekten geforderte generelle Präzisierung des Raumprogramms gab es aber ebenso wenig wie einen Architektenvertrag. Dieser Schwebezustand zog sich ein knappes Jahr hin, bis die Architekten schließlich vor einem Monat aus der Lokalzeitung erfuhren, dass nicht sie, sondern ein anderer Architekt, ein Wiener Spezialist für Shopping-Centers – dessen Homepage der Slogan „Gelungene Architektur ist objektiv messbar“ ziert – den Auftrag erhalten habe.

Auf Nachfrage erklärt der Vertreter des Bauherrn treuherzig, man habe eben kein Vertrauen zu Henke und Schreieck entwickelt. Der Bürgermeister bestätigt, die Anfrage des Bauherrn, ob die Gemeinde ein Problem damit hätte, wenn andere Architekten zum Zug kämen, mit der Aussage beantwortet zu haben, das sei kein Problem, solange die Qualität erhalten bleibe – ohne jede Rückfrage bei Henke und Schreieck und ohne den geringsten Versuch einer Moderation. Immerhin wäre es darum gegangen, zwei der besten österreichischen Architekten – die vor drei Wochen mit dem Hauptquartier der Erste Bank das Wiener Renommierprojekt des Jahrzehnts mit einer Bausumme von 200 Millionen Euro ans Land ziehen konnten – doch noch für Schwaz zu gewinnen. Deren einziger Fehler dürfte gewesen sein, auf einem angemessen Honorar zu bestehen und das Prinzip des „Wer zahlt, schafft an“ nicht bedingungslos anzuerkennen.

Und so soll in ein paar Wochen ein neues Projekt vorgestellt werden. Vielleicht gelingt es ja tatsächlich, die Qualität zu halten. Viel wahrscheinlicher ist, dass Schwaz um seine Vision betrogen wurde und mit einer konventionellen Shopping-Mall mit angeschlossenem Stadtsaal abgespeist wird. In alten Bergbaustädten geht es am Ende eben doch nur ums Silber.

Spectrum, Sa., 2008.10.04

31. August 2008Christian Kühn
Spectrum

Architektur macht glücklich

Vorwahlzeit: Was jetzt kein Thema ist, wird es nimmermehr. Von Architektur hat man im populistischen Rauschen bisher freilich wenig gehört. Dabei braucht sie eine Politik, die ihr günstige Rahmenbedingungen schafft, mehr als je zuvor.

Vorwahlzeit: Was jetzt kein Thema ist, wird es nimmermehr. Von Architektur hat man im populistischen Rauschen bisher freilich wenig gehört. Dabei braucht sie eine Politik, die ihr günstige Rahmenbedingungen schafft, mehr als je zuvor.

Als die Europäische Zentralbank kürzlich bekannt gab, dass sich für die Errichtung ihres neuen Hauptsitzes in Frankfurt kein Generalunternehmer gefunden hätte, der das von Coop Himmelb(l)au entworfene Gebäude zu akzeptablen Kosten zu errichten bereit sei, war die Überraschung unter den Fachleuten gering. Die Entwicklung der Baukosten,insbesondere der Stahlpreise, wirft derzeit weltweit die Kalkulationen über den Haufen, und nicht nur extravagante Projekte sind davon betroffen. Die Anforderungen, die an die Planer in Bezug auf Kosten- und Energiefragen gestellt werden, steigen verständlicherweise von Jahr zu Jahr, während gleichzeitig die Honorare für Planungsleistungen in Frage gestellt werden.

Eine mögliche Antwort auf diese Entwicklung ist, auf Innovation so weit wie möglich zu verzichten und sich auf das Variieren bewährter Lösungen zu beschränken. Auf mittlere Sicht betrachtet, führt dieser Weg aber zum Tod jeder Baukultur. Deren Entwicklung lebt vom kreativen Ineinandergreifen von technischen und formalen Innovationen. Heute bestätigt sich dieses Prinzip etwa im Beispiel des amerikanischen Architekten Frank O. Gehry, dem oft genug der Vorwurf des praxisfernen Formalismus gemacht wurde. Die Erfahrungen, die sein Büro bei der technischen Umsetzung von Gehrys formalen Visionen gemacht hat, sind in ein Spin-Off-Unternehmen mit dem Namen „Gehry Technologies“ geflossen, das inzwischen mehr Mitarbeiter zählt als das Stammbüro und auch für anspruchsvolle Projekte anderer Architekten tätig ist, zuletzt etwa für die Geometriedefinition und die Konstruktion des Olympiastadions in Peking. Der konsequente Einsatz prozessübergreifender IT-Werkzeuge – von dem in der Architektur bisher viel gesprochen, aber wenig umgesetzt wurde – ist ein unverzichtbares Mittel, dem aktuellen Kostendruck zu begegnen.

Trotzdem wird Bauen in absehbarer Zukunft aufwendig bleiben, zumindest wenn man auf ein hohes Niveau in ökologischer, formaler und technischer Hinsicht nicht verzichten will. In Österreich spielt die öffentliche Hand bei der Bemessung dieses Niveaus nach wie vor eine wichtige Rolle, hat doch der Staat trotz aller Ausgliederungen seine Bauherrenrolle genauso wenig aufgegeben wie die Ambition, durch Förderungen, insbesondere im Wohnbau, steuernd einzugreifen. Ein breites Spektrum wichtiger Bauaufgaben – von der Schule über das Krankenhaus bis zu Museen und öffentlichen Verwaltungsbauten – werden nach wie vor zum überwiegenden Teil aus Steuergeldern bezahlt, ganz gleich wie das jeweilige Finanzierungsmodell konstruiert ist. Eine koordinierte Architekturpolitik, wie sie die meisten europäischen Länder formuliert haben, würde der öffentlichen Hand helfen, ihre Verantwortung dabei besser wahrzunehmen.

Zu den ersten Schritten, die die auslaufendeBundesregierung in diese Richtung gemacht hat, gehörten die Vorstellung des Österreichischen Baukulturreports im Juli 2007 und dessen parlamentarische Behandlung im folgenden Herbst. Beauftragt wurde der Report, der unter www.baukulturreport.at zugänglich ist, noch von der Vorgängerregierung, allerdings auf der Basis einstimmiger Beschlüsse aller Parlamentsparteien. In der Regierungserklärung der aktuellen großen Koalition war schon im Jänner 2007 zu lesen gewesen, dass die Bundesregierung „ausgehend von diesem Report Maßnahmen zur Verankerung qualitativer Baukultur in allen Bereichen des öffentlichen Lebens setzen und die Vermittlungstätigkeit für Baukultur und zeitgenössische Architektur forcieren“ werde. An anderen Stellen der damaligen Erklärung finden sich Hinweise auf „Vielfalt im Wohnbau“, „umweltschonendes Wohnen“, „thermische Sanierung aller Nachkriegsbauten bis 2020“, „barrierefreies Bauen“ und die „Optimierung der Raumplanungspolitik zwischen Gemeinden, Land und Bund“.

Nach einer knapp zur Hälfte abgeleisteten Legislaturperiode ist die Frage, was aus diesen Ankündigungen geworden ist, erlaubt.Ein Herzensanliegen scheint das Thema für die derzeitige Regierung jedenfalls nicht gewesen zu sein. Als politisch signifikantes Thema ist einzig der ökologische Aspekt des Bauens wahrnehmbar, mit dem die Ministerien der Minister Josef Pröll und Werner Faymann zu punkten versuchten, wobei Faymann im Wesentlichen die seit 1999 bestehenden Programmschienen weiterführte, die vor allem Forschungsprojekte unterstützen. Generell hat sich die Forschungsförderung den spezifischen Bedingungen der Architektur in letzter Zeit etwas geöffnet, auch wenn das Volumen noch lange nicht internationales Niveau erreicht hat. ImBereich des Kulturministeriums hat Claudia Schmied die Vermittlungsaktivitäten, die in Baukulturreport und Regierungsprogramm gefordert wurden, im Rahmen der bisherigenAktivitäten weitergeführt und um ein Jahrbuch ergänzt, das die Preisträger der renommiertesten österreichischen Architekturpreiseinternational bekannt machen soll. Aufhorchen ließ im Frühjahr die Meldung über ein geplantes Architekturmuseum im Wiener Semperdepot, in dem die Bestände des Architekturzentrums mit der architektonischenModerne-Sammlung der Albertina zusammengeführt werden sollten. Dem Vernehmen nach sind die Planungen inzwischen fortgeschritten, ein offizielles Projekt hat die Öffentlichkeit von der Ministerin aber noch nicht präsentiert bekommen.

Zumindest als Entwurf existiert dagegen die Verordnung für die Einrichtung eines Baukulturbeirats, die derzeit zur Begutachtung aufliegt. Der Beirat wird im Bundeskanzleramt angesiedelt und soll 24 Mitglieder umfassen, teilweise Vertreter verschiedener Ebenen der öffentlichen Verwaltung, teilweise externe Experten. Als Forum für die Diskussion der Querschnittsmaterie Architektur über Ministerial- und Fachgrenzen hinweg wird ein solcher Beirat sicher helfen. Konkrete Ergebnisse kann er aber nur dann liefern, wenn er ausreichend dotiert ist und es auf Regierungsebene das nötige, möglichst nachdrückliche Interesse an der Sache Baukultur gibt.

Dieses Interesse darf ruhig – ganz populistisch formuliert – auf dem Gedanken aufbauen, dass Architektur glücklich macht, wenn sie gelingt: Glückliche Familien in leistbaren und schönen Wohnungen, deren Kinder einen sicheren Schulweg haben, sind kein geringes Ziel. Dass gute Architektur bei jedem Projekt auszuloten versucht, was gerade unter Glück und Schönheit zu verstehen ist, macht aus diesem populistischen Ziel am Ende doch wieder ein kulturelles.

Ob die radikalen Populisten unter den Politikern bereit sind, der Architektur so viel Freiraum zu lassen, ist fraglich. Sie profitieren ja von möglichst simplen und plakativen Glücks- und Schönheitsvorstellungen, deren zur Schau gestellte Befriedigung sie zur Schwungmasse ihrer politischen Karriere machen können. Architekturpolitik muss aber dort beginnen, wo es den Populisten langweilig wird: bei der mühsamen Definition von Spielregeln für die Bindung öffentlicher Gelder an qualitätssichernde Prozesse, bei der Verwaltungsreform, bei der spröden Materie einer zeitgemäßen Raumordnung, bei der Stärkung der Bauherrenkompetenz der öffentlichen Hand, beim allgemeinen Aufbau von Qualitätsbewusstsein. Um auch hier lohnende politische Ziele zu entdecken, muss man nur ein wenig den Kopf über den Tellerrand des Populismus heben.

Spectrum, So., 2008.08.31

19. Juli 2008Christian Kühn
Spectrum

Wo ist hier das Haus?

Sechs Freibereiche, jeder mit eigenem Charakter – und das auf 600 Quadratmetern. Der Beweis, dass ein Haus mehr sein kann als eine geschlossene Box: erbracht in Wien-Penzing, von Erich Hubmann und Andreas Vass.

Sechs Freibereiche, jeder mit eigenem Charakter – und das auf 600 Quadratmetern. Der Beweis, dass ein Haus mehr sein kann als eine geschlossene Box: erbracht in Wien-Penzing, von Erich Hubmann und Andreas Vass.

Der Wolfersberg in Wien Penzing ist ein kleiner Hügel im Westen von Wien, der in den 1920er-Jahren zur Bebauung mit Einfamilienhäusern freigegeben wurde. Die Parzellen sind den wirtschaftlichen Umständen der Zeit entsprechend klein, die Straßen schmal und gewunden wie kaum sonst wo in Wien, ein Labyrinth, das mit seinen nach Planeten benannten Straßennamen selbst erfahrene Taxifahrer zur Verzweiflung bringt.

Trotzdem befindet sich hier einer der begehrtesten Wohnorte der Stadt mit Blick auf den Wienerwald. Das Haus, das die Architekten Erich Hubmann und Andreas Vass hier errichtet haben, liegt auf einer nur 600 Quadratmeter großen Parzelle eines nach Westen geneigten Hangs. Parzellen dieser Größe sind heute nichts Ungewöhnliches. Mit einem konventionellen Haus bebaut, bleibt auf einem solchen Grundstück an Freiflächen nur ein umlaufender Grünstreifen übrig. Geschützte und gut nutzbare Außenräume wird man so aber nur schwer erzielen.

Von seinen beiden Nachbarn – durchaus repräsentativen Exemplaren des heutigen Standards im Wohnhausbau – hebt sich der Entwurf von Hubmann und Vass in dieser Hinsicht deutlich ab. Das Haus lebt von gut gegliederten Freiräumen, die über großflächige Verglasungen mit seinem Innenleben in Verbindung stehen. Am besten wird das Konzept im Grundriss erkennbar. Im Zentrum befindet sich ein kleiner, geschützter Hof, der an drei Seiten von Wohnräumen umschlossen ist: Zur Straße im Osten hin liegt das Wohnzimmer, nach Norden die von oben belichtete Küche und nach Westen ein Spielflur, mit dem die beiden Kinderzimmer über Schiebetüren verbunden sind. Der Hof ist nach Süden zum Nachbargrundstück hin offen, eine Bepflanzung verhindert unerwünschte Einblicke. Vor dem Wohnraum liegt nach Osten eine weitere annähernd quadratische Hoffläche, die durch einen Holzzaun von der Straße abgeschirmt wird. Auch hier gibt es große, bis zum Boden reichende Fenster, und wenn die Schiebetüren der Kinderzimmer geöffnet sind, bietet sich ein Blick quer durchs ganze Haus.

Weder Traufe noch Giebel

Die Garage ist direkt ans Nachbargrundstück angebaut. Dass auch sie mit einer großen Glasscheibe nach Westen abgeschlossen wird, die bei der Einfahrt den Blick auf den Wienerwald freigibt, ist in diesem Haus nicht weiter verwunderlich.

Im Untergeschoß liegen Wohn- und Schlafräume der Eltern sowie Nebenräume, die in den Hang eingegraben sind. Vom Schlafraum der Eltern aus geht es direkt auf die mittlere der drei Terrassen, in die die Architekten die Neigung des Grundstücks aufgelöst haben. Auf der untersten Terrasse liegen ein Schwimmbecken und eine kleine Holzhütte, die zum Bestand gehört. Zählt man die Terrasse mit dem Schwimmbecken als eigenen Bereich, bietet das Haus sechs Freibereiche mit jeweils eigenem Charakter, vom Innenhof über die Gartenterrasse bis zum schmalen und kühlen Hof an der Nordseite und dem Vorgarten an der Straße.

Passanten stellt sich dort möglicherweise die Frage, wo denn auf diesem Grundstück überhaupt das Haus ist. Die beiden Nachbarn lassen sich begrifflich gut einordnen: ein giebelständiges Blockhaus zur Linken, ein traufständiger Vollwärmeschutzbau zur Rechten. In der Mitte gibt es aber weder Traufe noch Giebel, nur einen Rauchfang, der zumindest häusliche Wärme markiert, und ein Spiel horizontaler und vertikaler Flächen, die in unterschiedlichen Materialien ausgeführt sind: Sichtbeton, Glas, unverputztes Mauerwerk und eine Holzverschalung, die im Lauf der Zeit einen grauen Farbton annehmen wird. Ganz bewusst zur Straßenansicht des Hauses gehören auch die Hügel des Wienerwalds, die durch das Flachdach für die Passanten sichtbar bleiben. Bauen mit der Landschaft hat die Architekten schon bei ihrem ersten Projekt, dem neuen Eingang für die Alhambra in Spanien, fasziniert. Bei einem aktuellen Projekt, das nächstes Jahr in Turin eröffnet wird, dürfen sie überhaupt den ganzen Berg unter dem Castello di Rivoli umbauen und mit neuen Zugangswegen versehen.

Ihre Formensprache, die auch beim Haus am Wolfersberg zum Einsatz kommt, steht in einer Tradition, die sich in den letzten hundert Jahren entwickelt hat, und die Architekten scheuen sich nicht, ihre Referenzen anzugeben. Da ist einerseits Roland Rainer, von dem sie die Schlichtheit des Baukörpers und die Nutzung von Abbruchziegeln übernommen haben. Bei Rudolph M. Schindler finden sich ähnlich komplexe und ein wenig verspielte Übergänge und Durchblicke. Und ob es nun Mies van der Rohe oder Frank Lloyd Wright war, der als Erster mit dem Aufbrechen der Ecke eine Revolution in der Grundrisstypologie ausgelöst hat, ist nur für Historiker interessant: Das Repertoire ist vorhanden, und es ermöglicht fast unendlich vielfältige Varianten jenseits des Schachtelraums.

Es geht hier nicht nur um eine Geschmacksfrage, sondern auch um das Potenzial, das eine Formensprache für eine bestimmte Aufgabe bietet. Für die in Österreich tausendfach vorkommende Situation der knappen Parzelle ist das Hofhaus mit gut geschnittenen Freiräumen eindeutig die überlegene Lösung. Dass sie nicht öfter gewählt wird, ist unverständlich. Vielleicht liegt das auch am trägen System der Bauindustrie, das die nötigen Systemkomponenten für eine massenweise Verbreitung des Typs nicht zur Verfügung stellt. Denn obwohl das Haus am Wolfersberg wie ein Industrieprodukt aussieht, ist hier vieles handwerkliche Einzelanfertigung, bis hin zu den Fenstertüren und ihren Beschlägen.

Wohnen im offenen Haus

Das Gebäude ist überdies konstruktiv eine Mischung aus Stahlbetonteilen, Decken aus Massivholzplatten und Stahlkonstruktionen für Sonderpunkte, die anders nicht zu lösen gewesen wären. Höhere Baukosten muss das nicht unbedingt bedeuten, der Planungsaufwand ist aber beträchtlich.

In einem Punkt schert das Haus aus einem aktuellen Trend aus: Es besitzt weder Sonnen- noch Erdwärmekollektor. Den Ehrgeiz, ein Passivhaus zu entwerfen, hatten die Architekten nicht. Sie leisten sich sogar eine große Verglasung an der ansonsten völlig geschlossenen Nordseite, die als Atelierfenster für die Bauherrin fungiert. Technisch sind große Fenster und komplexe Geometrien heute zwar kein Hindernis mehr, Passivhausstandard zu erreichen, die Kosten dafür sind jedoch beachtlich. Insofern ist das Haus auch eine Aufforderung an die Industrie, Elemente für energetisch verträgliche Lösungen jenseits der geschlossenen Box zu entwickeln. Dass es sich in einem offenen Haus schöner wohnt, haben Hubmann und Vass mit ihrem Projekt jedenfalls einmal mehr bewiesen.

Spectrum, Sa., 2008.07.19



verknüpfte Bauwerke
Haus in Penzing

18. Mai 2008Christian Kühn
Spectrum

Wohnen mit und ohne Knick

Architektinnen und Architekten werden sich in Zukunft immer öfter mit der Frage konfrontiert sehen, ob es nicht billiger geht. Wenn sie darauf keine Antwort finden, werden sie in einer elitären Marktnische enden. Zur aktuellen Wohnbaudiskussion.

Architektinnen und Architekten werden sich in Zukunft immer öfter mit der Frage konfrontiert sehen, ob es nicht billiger geht. Wenn sie darauf keine Antwort finden, werden sie in einer elitären Marktnische enden. Zur aktuellen Wohnbaudiskussion.

Out there: Architecture Beyond Building“ lautet der Titel der kommenden Architekturbiennale in Venedig. Ihr Direktor, Aaron Betsky, stellte sein Konzept kürzlich im Museum für angewandte Kunst zur Diskussion. Schön wird Betskys Biennale jedenfalls. Im Arsenal wird sie „Rauminstallationen“ zeigen, unter anderem von Diller und Scofidio, Asymptote, Greg Lynn, Massimiliano Fuksas, Zaha Hadid und Coop Himmelb(l)au; und im italienischen Pavillon herrschen die „Masters of Experiment“, zu denen neben Hadid und Himmelb(l)au, die hier einen weiteren Auftritt bekommen, Frank Gehry, Herzog & De Meuron sowie Rem Koolhaas zählen.

Bei aller Schönheit ist dieses Konzept ein Schritt zurück. Es bietet den Besuchern einen Architekturzoo voller wunderbarer Einzelexemplare, statt Architektur als Teil eines Ökosystems zu zeigen, das sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch geändert hat. Die von Richard Burdett 2006 kuratierte Biennale hatte in diese Richtung gewiesen, indem sie den ins Ungeheure wachsenden globalen Bedarf nach so banalen Dingen wie einem Dach über dem Kopf deutlich machte. Statt wieder die Welt jenseits des Bauens zu verklären, hätte man sich zur Abwechslung der Frage stellen können, ob und wo Architektur unter diesen Bedingungen noch eine Rolle spielt.

Dass diese Rolle nicht mehr allein in der Verschönerung der Welt bestehen kann, hat eine aktuelle Diskussion um den heimischen Wohnbau klar gemacht. Ausgelöst wurde sie durch die Äußerung des Obmanns der Vereinigung gemeinnütziger Bauträger Österreichs, Karl Wurm, dass die Wohnbauträger „mehr Spielraum bei der Umsetzung von Architektenplänen“ bräuchten, um weiterhin günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Diese Äußerung einfach als architekturfeindliches Banausentum abzuqualifizieren, geht am Problem vorbei. Denn angesichts steigender Bau- und Bodenpreise und immer höherer Anforderungen, die dem Wohnbau in Hinblick auf minimierten Energieverbrauch, Sicherheitsstandards und „Universal Design“ – also die barrierefreie Nutzbarkeit von Bauten – aufgebürdet werden, ist die Finanzierbarkeit des Wohnens für breitere Bevölkerungsschichten tatsächlich zum Problem geworden.

Architektinnen und Architekten werden sich in Zukunft immer öfter mit der Frage konfrontiert sehen, ob es nicht „anders“, sprich: billiger geht. Wenn sie darauf keine Antwort finden, werden sie in einer elitären Marktnische enden, die nur wenigen Platz bietet. Für die Kultur des Wohnens wäre das ein fataler Rückschritt: Denn die Architektur hat in den vergangenen 100 Jahren echte Alternativen zum Wohnbau als Addition von Schachteln entwickelt. So haltbar das Klischee vom Architekten, der nicht ans Praktische denkt, auch sein mag: Wer sich ein wenig umsieht, wird selbst im sozialen Wohnbau genug Beispiele für hervorragende Grundrisse finden, raffinierte Abstufungen zwischen öffentlichen und privaten Zonen, intensivere Verbindungen zwischen Innen- und Außenraum, gut belichtete Erschließungszonen, die soziale Kontakte fördern. Wenn man dazu noch eine hohe Qualität in räumlicher und formaler Durchbildung und in der Ausführung im Detail vorfindet, hat man das Niveau eingemessen, das Architektur im Wohnbau heute erreichen kann.

Dieses Niveau unter den geänderten Rahmenbedingungen zu halten ist schwierig, aber nicht unmöglich. Ein Weg besteht darin, günstigere Grundstücke für den Wohnbau zu erschließen. Der Wohnbau in Innsbruck in der Haller Straße, den Georg Pendl für die Immorent entworfen hat, ist ein Beispiel dafür. Das Grundstück ist vom Inn durch eine stark befahrene, vierspurige Straße getrennt. Das städtebauliche Konzept sieht einen zweigeschoßigen Riegel für Büro- und Geschäftsnutzungen zur Straße hin vor, auf dem vier Quertrakte mit Wohnungen auflagern.

Kommerzielle Nutzung und Wohnnutzung sind formal klar differenziert: Im Bürotrakt dominieren orthogonale Geometrien, die Wohntrakte sind beinahe verspielt ausgeformt, mit schrägen Konturen im Grundriss und einer über die Gebäudekontur bis zum Boden gezogenen Dachhülle, die einen organischen Charakter vermittelt. Die leicht geknickten Baukörper erzeugen in der vom Verkehrslärm geschützten Innenzone einen gut geschnittenen Hof mit Blick auf die Berge. Hierher orientieren sich auch die großen Balkone der Wohnungen. Dem Lärmschutz dienen speziell entwickelte, durchlüftete Schleusenräume, die den Wohnungen vorgelagert sind. Die Chance, so trotz „aggressiver“ Umgebung Transparenz herzustellen, blieb in der Ausführung leider ungenutzt: Im Rahmen seines „Spielraums bei der Umsetzung der Architektenpläne“ hat der Bauträger statt verglaster Brüstungen massive ausgeführt. Auch an anderen Stellen bleibt die Detailqualität hinter den Möglichkeiten zurück, was den Gesamteindruck aber nicht schmälert.

Einen systematischer auf Innovation angelegten Ansatz, auf die neuen Anforderungen im Wohnbau zu reagieren, kann man derzeit im steirischen Gleisberg verfolgen. Der internationale „Pilotwettbewerb für zeitgenössische Wohnarchitektur“, über den bereits berichtet wurde („Spectrum“ vom 8. September 2007), ist inzwischen entschieden. Das Siegerprojekt von Manfred Wolff-Plottegg ordnet die rund 70 geforderten Wohnungen in einem flexibel bespielbaren Raster auf drei Geschoßen an. Das Projekt überzeugt durch eine im besten Sinn pragmatische Herangehensweise, die auf visuelle Opulenz verzichtet und stattdessen Großzügigkeit auf anderer Ebene bietet, etwa mit umlaufenden Laubenzonen, deren Schatten spendende Begrünung die Baukörper einhüllen wird. Auch den Dachgärten – einem Element, das oft dem Sparzwang zum Opfer fällt – wünscht man hier ganz besonders eine Realisierung: Als schwebende Parklandschaft mit halböffentlicher Nutzung könnten sie den Bewohnern so manche Fahrt ins noch Grünere ersparen. Und jeder nicht gefahrene Kilometer ist ein positiver Beitrag zur Ökobilanz.

Projekte dieser Art könnten den Wohnbau davor bewahren, sich auf die Produktion gut gedämmter Schachteln zu reduzieren. Die aktuelle Debatte zu diesem Thema wird sich zumindest im österreichischen Pavillon auf der Biennale fortsetzen: „Wohnen als Anlass“ lautet der Titel des von Bettina Götz verantworteten Beitrags, der kritische Positionen zum Thema dokumentieren und mit einem international besetzten Symposium zur Diskussion stellen wird.

Spectrum, So., 2008.05.18

24. Februar 2008Christian Kühn
Spectrum

Präsenz und Seifenblase

Eigentlich ein Vorzeigeprojekt mit sauberem Wettbewerb: der Skywalk an der Wiener Spittelau. Wie die Stadt Wien versäumt, aus dem gewonnenen Know-how zu lernen.

Eigentlich ein Vorzeigeprojekt mit sauberem Wettbewerb: der Skywalk an der Wiener Spittelau. Wie die Stadt Wien versäumt, aus dem gewonnenen Know-how zu lernen.

Im Grunde sollten wir uns ja freuen: Selbst Fußgängerbrücken und Bahnhöfe, so behaupten seit Kurzem Wiens Planungsstadtrat und seine Beamten, sind Kunstwerke. Dem wird man nicht widersprechen wollen, knüpft sich doch daran die Hoffnung, dass an die Planung und Ausführung solcher Werke dieselben Maßstäbe angelegt würden wie sonst auch in der Kunst. Und das hätte Folgen: Wer bestellt etwa bei einem Künstler eine Skizze, um dann von einem gewerblichen Maler auf dieser Grundlage ein Ölbild malen zu lassen, das nur noch grob der Idee des Künstlers ähnelt? Und verkündet dann stolz, so den Preis des Kunstwerks tüchtig gesenkt zu haben? In der Architektur sind solche Zustände nichts Ungewöhnliches, wenn etwa Ausführungs- und Detailplanungvon Ingenieurbüros für Honorare übernommen werden, zu denen niemand mehr Qualität liefern kann, oder gleich der gesamte Auftrag an den Billigstbieter geht. Die Ergebnisse sehen entsprechend aus.

Leider gibt es bei den Aussagen des Stadtrats eine Einschränkung. Kunst sind Brücken und Bahnhöfe nur, wenn sie von Santiago Calatrava stammen. Der spanische Bildhauer und Ingenieur hat in seinem Frühwerk, etwa dem Bahnhof Stadelhofen in Zürich aus den 1980er-Jahren, eine Formensprache entwickelt, die direkt auf Antoni Gaudí zurückgeht und dessen Ideen innovativ weiterentwickelte. Seit Mitte der 1990er-Jahre eroberte er sich mit filigran wirkenden Strukturen einen Platz unter den internationalen Markenarchitekten und ist spätestens seit dem Auftrag für die New Yorker U-Bahn-Station auf demGround Zero endgültig an der Spitze angekommen. Seine Sprache veränderte sich im Zuge dieser Entwicklung jedoch zunehmend ins Manierierte, sodass ermanchen Kollegen heute als Richard Clayderman der Architektur gilt, der mit den immer gleichen Akkorden blütenweißen und kommerziell höchst erfolgreichen Kitsch produziert.

Warum Calatrava ausgerechnet jetzt in Wien mit zwei Direktaufträgen zum Zug kommen soll, ist ein Rätsel. Brücken und Bahnhöfe aus seiner Werkstatt finden sich auf der ganzen Welt, und es ist kaum zu erwarten, dass er gerade in Wien zu neuer Form auflaufen wird. Um für das blutleere Stadterweiterungsprojekt auf dem Flugfeld Aspern ein architektonisches Wahrzeichen zufinden, hätte es andere Wege gegeben als das Hofieren eines Stararchitekten. Innsbruck darf sich beispielweise mit zwei wichtigen Bauten von Zaha Hadid schmücken, ohne in der Projektfindung auf das Mittel eines Architekturwettbewerbs verzichtet zu haben.

Dass der Wettbewerb gerade bei heiklen Bauaufgaben die Methode der Wahl ist, beweist paradoxerweise ein Projekt, das die Gemeinde Wien selbst 2004 als Vorzeigeprojekt für ein gutes Auswahlverfahren in die Wege geleitet hat: der Skywalk, der die U-Bahnstation Spittelau mit der Guneschgasse am Döblinger Gürtel verbindet und dabei ein denkmalgeschütztes Bauwerk Otto Wagners glatt durchquert. Als „coolste Brücke Wiens“ bezeichnet die Stadt das Bauwerk in ihrer Werbung, und das durchaus zu Recht. Zumindest auf Distanz löst das Resultat ein, was das Wettbewerbsergebnis vor vier Jahren erhoffen ließ, nämlich eine intelligente und formal überzeugende Antwort auf ein höchst komplexes Problem.

An einem der verzwicktesten Verkehrsknoten Wiens, an dem sich ein Autobahnzubringer und zwei ehemalige Stadtbahnlinien kreuzen, überhaupt an eine solche Fußgängerverbindung zu denken war eine mutige Entscheidung der Stadtplanung. Funktionell ist sie zwar naheliegend: Immerhin erspart sie den Bewohnern eines großenWohngebiets einen mühevollen Ab- und Wiederaufstieg auf dem täglichen Weg zur U-Bahn. Stadtgestalterisch bestand allerdings die Gefahr, das visuelle Chaos an dieser Stelle noch zu erhöhen und das Ensemble der beiden denkmalgeschützten Brücken der Wagnerschen Stadtbahn zu ruinieren.

Das Architektenteam Aneta Bulant und Klaus Wailzer, das bereits mit einer Fußgängerbrücke über dem Gürtel neben der Hauptbibliothek eine ähnliche Aufgabe bewältigt hatte, setzte sich in einem europaweiten, offenen Wettbewerb – in Kooperation mit dem Tragwerksplaner Karlheinz Wagner – gegen 46 Konkurrenten, darunter Zaha Hadid und Klaus Bollinger, durch. Ihr Entwurf sieht als Konstruktion einen wannenförmigen Durchlaufträger vor, dessen Seitenwände entsprechend den geforderten Duchfahrtshöhen und statischen Notwendigkeiten unterschiedlich hoch ausgeführt sind. Das Niveau des Bodens folgt im leichten Gefälle seiner eigenen Logik, wodurch sich unterschiedliche Parepethöhen ergeben, während die Dachebene über die gesamte Länge der Brücke von rund 120 Metern auf einer horizontalen Linie verläuft. Zusammen mit den leicht gegeneinander verschwenkten Seitenwänden erzeugt diese Anordnung perspektivische Effekte, die dem Durchgang eine besondere Spannung verleihen. Nach außen verzichtet die Brücke auf angestrengte konstruktive Hochseilakte, die in diesem Kontext völlig unangebracht wären. Trotzdem besitzt sie mit ihrer eleganten Linienführung, die von kleinen, aber präzisen Gesten lebt, eine starke Präsenz im Straßenraum.

Im Detail ist freilich vieles anders geworden als geplant. Statt der rahmenlosen Verglasung auf ovalen Tragprofilen findet sich eine vergleichsweise primitive Lösung mit kantigen Profilen und Gläsern in Aluminiumrahmen. Wo heute kleine Klappen für die Lüftung sorgen, hätten sich ursprünglich ganze Glaselemente leicht nach außen geklappt. Der Boden ist schlecht ausgeführt und kaum zu reinigen, und manche Details wie die Handläufe wirken überhaupt wie vom Schlosserlehrling erfunden. (Wer über den Sinn des dritten, obersten Handlaufs rätselt: Der wurde als Anprallschutz gegen Radfahrer vorgeschrieben, die im Sturzflug das Sicherheitsglas aus dem Rahmen sprengen könnten.)

Die Stadt Wien hätte also viel lernen können aus diesem Projekt: Was ein gut vorbereiteter und angemessen honorierter Wettbewerb leistet; wo die Kompetenzen der Beteiligten an ihre Grenzen stoßen und mehr Kooperation im Sinne des Projekts nötig wäre; und dass Weltstadtniveau bedeuten würde, Qualität bis zum Detail durchzuhalten.

Stattdessen lehnt sie sich zurück und nimmt eine große Dosis Calatrava. Vielleicht ist die Sehnsucht nach dessen Architektur tief in der Psyche des Wiener Magistrats zu suchen. Der gleicht – wie die meisten großen öffentlichen Institutionen Österreichs –, in Bauformen ausgedrückt, ja einer Mischung aus Potala und Gänsehäufel, ein barockes, in sich widersprüchliches Gebilde mit erstaunlichen Auswüchsen aller Art. Die Architektur Calatravas mit ihren lieblichen, quasi-natürlichen Formen ist dazu das absolute Gegenbild. Aber zwei Calatravas werden Wien nicht ändern, sondern als das herumstehen, was auch die anderen jüngeren Projekte des Meisters zu sein scheinen: erdfeste Seifenblasen, die nie platzen. Leider.

Spectrum, So., 2008.02.24



verknüpfte Bauwerke
Skywalk Fußgänger- und Radfahrerbrücke

20. Januar 2008Christian Kühn
Spectrum

Ein Stadtbild kommt ins Rollen

Die Niederflur-Straßenbahn in Wien: „ULF“ – die gelungenste Maßnahme zur Verbesserung des Stadtbildes in den vergangenen 20 Jahren.

Die Niederflur-Straßenbahn in Wien: „ULF“ – die gelungenste Maßnahme zur Verbesserung des Stadtbildes in den vergangenen 20 Jahren.

Das Stadtbild liegt dem Wiener am Herzen. Kaum hört er von einem geplanten Neubau, keimt in ihm der Verdacht auf Bildstörung. Veränderungen bekannter Veduten steht er grundsätzlich skeptisch gegenüber, wie überhaupt der Zukunft, denn „es kommt ja nichtsBesseres nach“. Entgegen diesem Klischee hat Wien in den letzten Jahren eine erstaunlich radikale Veränderung des Stadtbilds erlebt, die als solche aber kaum bewusst wahrgenommen wird. Statt der alten rot-weiß-roten Straßenbahnen schieben sich vermehrtneue Straßenbahnzüge ins gewohnte Bild, die auf den Namen ULF hören, ein Akronym für das „Ultra-Low-Floor“-Konzept, nach dem diese Züge konstruiert sind.

Als die ersten von ihnen vor fast 15 Jahren noch als Prototypen durch die Stadt rollten, war der Schock groß. Mit der guten alten Straßenbahn hatten diese Bandwürmer, bei denen man Vorne und Hinten kaum unterscheiden konnte, wenig zu tun. Wenn schon modern, dann hätte man sich eher eine verkleinerte Kreuzung aus TGV, Shinkansen undICE gewünscht, wie sie in anderen Städten auf die Schiene kamen. Dass ausgerechnet Porsche-Design diesen Wurm gestaltet hätte, musste wohl ein böses Gerücht sein.

Komfort war den neuen Wagen aber von Anfang an nicht abzusprechen. Weltweit gibtes bis heute keine Straßenbahn mit einer niedrigeren Einstiegshöhe. Nur 19 Zentimeter liegt der Boden des ULF über Straßenniveau, eine Höhe, die sich bequem mit der üblichen Gehsteighöhe in Einklang bringen lässt. Die nächsten Niederflur-Konkurrentenkommen auf 28 bis 30 Zentimeter oder haben im Wageninneren zusätzliche Stufen, was den Komfort deutlich reduziert.

Die Idee für den ULF entstand Ende der 1980er-Jahre, als die Wiener Linien die Spezifikation für die nächste Generation ihrer Straßenbahnen entwickelten, wobei zwei Wege zur Debatte standen: einerseits eine Verbesserung des bisherigen Konzepts mit Niederflurelementen beim Einstieg, andererseits der Plan, die Straßenbahn überhaupt „neu zu erfinden“. Gegen alle Klischees, dass manden Wienern Neues nur in kleinen Schritten zumuten könne, entschied man sich für die radikale und damit riskantere Alternative.

Die Idee dafür stammte von einem Ingenieur der Simmering-Graz-Pauker-Verkehrstechnik, Leopold Lenk. Er entwickelte für den ULF ein Portalfahrwerk, das von außen als vertikales, geschlossenes Trennelement sichtbar wird und konstruktiv als umgekehrtes „U“ ausgeführt ist. Da die geringe Bodenhöhe keine Achsen erlaubt, werden die Räderdes ULF einzeln von senkrecht stehenden Elektromotoren angetrieben, die seitlich in diesen „U“s untergebracht sind. Um das Niveau unabhängig von der Anzahl der Fahrgäste halten zu können, verfügt der ULF über eine hydraulische Federung, wie man sieetwa von Citroën kennt. Völlig neu konzipiertwurde in Zusammenarbeit von SGP und Elindie Steuerung der Räder, so dass man heute im ULF weniger mit der „Elektrischen“ unterwegs ist als mit der „Elektronischen“.

Die ersten Versuchsversionen des ULF rollten 1992, angedockt an alte Straßenbahnzüge, durch die Stadt. 1995 gab es einen funktionsfähigen eigenständigen Prototyp, ab 1997 wurde mit der Serienlieferung begonnen. In der ersten Tranche erwarb die Stadt bis 2006 150 ULFs, die Auslieferung derzweiten, klimatisierten Tranche hat letztes Jahr begonnen und wird bis 2014 abgeschlossen sein. Dann werden 300 der rund 500 Wiener Straßenbahnzüge aus diesen Serien stammen. Seit einer Woche ist auch ein Exportvertrag für eine erste ULF-Serie ins rumänische Oradea fixiert. Produziert wird nachwie vor in Wien, allerdings unter der Flagge von Siemens, das Ende der 1990er-Jahre mit der SGP einen Konkurrenten ihrer eigenen, etwa gleichzeitig entwickelten Niederflurtram, des „Combino“, übernahm. Dass dessen Ruf nach massiven technischen Problemen angekratzt ist, dürfte dem ULF in nächster Zeit etwas Auftrieb geben.

Das Design des ULF stammt tatsächlich von Porsche-Salzburg, wobei der Verzicht auf ein „schnittiges“ Äußeres als Qualität zu werten ist. Besonders aerodynamisch muss ein Fahrzeug, das kaum je mit mehr als 50 Stundenkilometern unterwegs ist, nicht sein.Stattdessen stand für den verantwortlichen Designer bei Porsche, Bernd Mayerspeer, die Gelenkigkeit des Fahrzeugs im Mittelpunkt, die durch die vertikalen Schilde betont wird, hinter denen sich die Portalfahrwerke befinden. Das Ergebnis ist ein ungemein großstädtisches Objekt, das sich nicht anbiedert, aber auch in 30 Jahren noch einenästhetischen Eigenwert besitzen wird.

So erfreulich der Einstieg in den ULF ist – als würde man von einem statischen Gehsteigeinfach auf einen rollenden wechseln – so ernüchternd ist das Ambiente, das sich dem Fahrgast bietet. Bei einem Preis von 2,4 Millionen Euro pro Wagen hätten hochwertigereMaterialien möglich sein müssen. Alles wirktein wenig billig, von der Verkleidung über diegrau lackierten Griffstangen und die plüschigen Sitze bis zu den Handschlaufen aus gelbem Plastik. Das kantenlose Design reduziertvielleicht die Verletzungsgefahr, aber in einemderart kontur- und spannungslosen Raum hatman nirgends das Gefühl, einen Platz gefunden zu haben. Und anders als von außen, wo die Portalfahrwerke deutlich abgesetzt sind, zieht sich innen die beige Oberfläche über die gesamte Länge des Raums.

Trotzdem: Der ULF ist wohl die gelungenste Maßnahme zur Verbesserung des Stadtbildes, ja vielleicht der ganzen Stadtplanung, dieder Gemeinde Wien in den letzten 20 Jahren aktiv gelungen ist. Kein Stadtmöbel, keine Platzgestaltung, keine Beleuchtung – man denke nur an die absurde Diskussion über dieKulturerbe-konformen neu-alten Kandelaberam Ring – reicht annähernd an ihn heran, zumindest wenn man großstädtische Maßstäbe ansetzt. Er beweist, dass man den Wienerinnen und Wienern weit mehr Innovationzumuten kann, als sie angeblich vertragen. Man muss nur selbst den Mut dafür haben.

Spectrum, So., 2008.01.20

16. Dezember 2007Christian Kühn
Spectrum

Die Quadraturdes Kreises

Nach langer Pause haben PAUHOF sich wieder dem Thema des Wohnhauses in der Landschaft gewidmet. Das Ergebnis, nahe Brixen, Südtirol: ein Sprung aus der Moderne ins Ungewisse.

Nach langer Pause haben PAUHOF sich wieder dem Thema des Wohnhauses in der Landschaft gewidmet. Das Ergebnis, nahe Brixen, Südtirol: ein Sprung aus der Moderne ins Ungewisse.

Im Film gehören die modernen Häuser immer den Bösewichtern. Dr. No ist nur der erste in einer ganzen Reihe von James-Bond-Gegenspielern, die sich am liebsten in hypermodernen, wenn auch manchmal mit Antiquitäten bestückten Räumen bewegen. Auch Philip Vandamm, der Bösewicht aus Hitchcocks „North by Northwest“, residiert in einer im Stil Frank Lloyd Wrights gehaltenen, dramatisch über dem Abgrund schwebenden Villa mit ungestörtem Panoramablick, Ausgangspunkt für die finale Verfolgungsjagd über die Felsskulpturen des Mount Rushmore.

Das Architektenduo Michael Hofstätter und Wolfgang Pauzenberger – kurz PAUHOF – hat sich mit dem ambivalenten Charakter des modernen Raums, dessen grenzenlose Freiheit ab einem gewissen Moment ins Heimatlose und Bedrohliche umschlagen kann, schon seit Langem beschäftigt. Das jüngste Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist eine derzeit im deSingel Kunstcampus in Antwerpen gezeigte Ausstellung, die unter dem Titel „The Wrong House“ der Filmarchitektur Alfred Hitchcocks gewidmet ist. Von PAUHOF stammt dort nicht nur die Ausstellungsgestaltung, sie haben auch Modelle und Zeichnungen von eigenen Projekten in die Installation einbezogen. Die Kombination ist durchaus schlüssig: PAUHOF sind an den Angsträumen, die sich hinter der scheinbar rationalen Oberfläche des modernen Lebens verbergen, genauso interessiert, wie es Hitchcock in seinen Filmen gewesen ist, und sie setzen in ihren Projekten virtuos kinematografische Mittel der Inszenierung ein. Damit stehen sie in einer großen Tradition: Schon Le Corbusiers Villa Savoye, ein Schlüsselbau der klassischen Moderne, ist wie eine Abfolge von Filmsequenzen komponiert. Eine andere, regional nähere Referenz für PAUHOF ist Le Corbusiers Zeitgenosse Lois Welzenbacher, der in den Jahren um 1930 einige der besten modernen Häuser im Alpenraum geschaffen hat, etwa das Haus Heyrovski in Zell am See.

Der ungebrochene Glaube an die Segnungen der Moderne, der aus diesen Bauten aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg spricht, ist heute längst vergangen. Schon das Einfamilienhaus an sich ist angesichts von Zersiedelung und Ozonloch zu einem Bösewicht geworden, der auch in der Passivhausvariante nie so ökologisch korrekt sein kann wie die Wohnung im dicht verbauten Stadtgebiet. Auch die Frage, wie „schön“ man heute überhaupt noch wohnen darf, kann zum Problem werden, zumindest wenn man sich an den Hinweis Adornos hält, es gehöre heute „zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein“.

Das jüngste Projekt von PAUHOF, ein Einfamilienhaus in der Nähe von Brixen, lässt sich in diesem Sinn als Versuch interpretieren, ein Haus zu entwerfen, das Distanz zu sich selbst hält. Kaum glaubt man es durchschaut zu haben, etwa als Paraphrase auf diehorizontal gelagerten Bauformen der klassischen Moderne, überrascht es den Besucher mit der surrealistisch verzogenen Geometrieeines die Terrasse überspannenden Baukörpers, den sich das Haus in einer großen Kurve gleichsam über die Schulter wirft wie einen Schal. Bergseitig geht dieser Baukörperin die Skelettkonstruktion einer Pergola über,die immer schmäler wird und schließlich in den Terrassen des angrenzenden Weinbergs ausläuft. Die mehrfach gekrümmte Holzkonstruktion dieses Elements ist eine Meisterleistung, ausgeführt vom Unternehmen des Bauherren, das sich auf computergesteuerte Holzzuschnitte spezialisiert hat.

Im Inneren des Hauses wird der Besucher von einem raffinierten System aus Bewegungs- und Blickachsen geleitet. Alle Blicke sind so komponiert, dass möglichst viel von der grandiosen Landschaft rundum sichtbar wird, ohne dass Nachbarbauten das Bild stören. Umgekehrt wirkt die Terrasse durch denschwebenden Baukörper beinahe wie ein Innenhof, der vor den Blicken der Nachbarn schützt. Die vier Geschoße des Hauses habenihren jeweils eigenen Charakter: Ganz oben schwebt die Holzbox eines „Herrenzimmers“mit Panoramablick, über eine schmale Treppe mit dem Terrassengeschoß verbunden. Dort befinden sich der Wohn- und Essraum, die Küche und das Schlafzimmer der Eltern. Küche und Essraum liegen auf einer 20 Meter langen Achse, die am einen Ende tief in den Hang hineinführt und am anderen Endein einem zweigeschoßigen Raum endet, der die Treppe nach unten ins Eingangsgeschoß aufnimmt. Auf diesem Niveau liegen auch die Kinder- und Gästezimmer, die einen weiteren über zwei Geschoße reichenden Raum begrenzen, der auf der untersten Ebene als Kunstgalerie der Bauherrin dient. Obwohl sonst strenge Orthogonalität herrscht, ist die Geste der großen Kurve überall im Haus präsent: Sie dominiert den Terrassenhof, taucht im Elternschlafzimmer als gekrümmte Rückwand auf und im untersten Geschoß als Begrenzung der Galerie.

So kompliziert diese Anordnung klingt, so entspannt wirkt sie in natura. PAUHOF ist es gelungen, eine Selbstkritik der Moderne zu inszenieren, die das Alltagsleben nicht beschwert, sondern bereichert. Dass diese Quadratur des Kreises aufgehen konnte, liegt nicht zuletzt an der Zusammenarbeit mit dem Künstler Manfred Alois Mayr aus Bozen, dem PAUHOF die Gestaltung einzelner Elemente des Hauses überlassen haben. Von Mayr stammen Farben und Oberflächen an strategischen Punkten, etwa die Idee, die dunkle Farbe der Holzleisten, mit denen die Außenwand und einige Decken des Gebäudes verkleidet sind, durch das Flämmen von Eichenholz herzustellen.

Die Kontrolle aufzugeben und kein Gesamt-, sondern ein offenes Kunstwerk zu schaffen: Darin besteht der entscheidende Sprung aus der Moderne ins Ungewisse, der mit diesem Meisterwerk gelungen ist.

Spectrum, So., 2007.12.16



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Haus D

11. November 2007Christian Kühn
Spectrum

Die Baukunst meiner Freunde

Was haben Otto Wagner, Clemens Holzmeister und Hans Hollein gemeinsam? Ihre Mitgliedschaft in der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs, die heuer ihren 100. Geburtstag feiert. Eine Gratulation.

Was haben Otto Wagner, Clemens Holzmeister und Hans Hollein gemeinsam? Ihre Mitgliedschaft in der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs, die heuer ihren 100. Geburtstag feiert. Eine Gratulation.

Architekten geben nur ungern zu, dass sie Vereinsmeier sind. Lieber sehen sie sich als einsames Genie, das seine Projekte trotz Heimtücke der Behörde, Unverständnis der Ausführenden und Geiz der Bauherren realisiert. Diese Figur mag zwar heute einigermaßen indie Jahre gekommen sein. Sie ist aber nach wie vor Teil des Selbstbilds, mit dem Architekten ihre Sonderrolle im Bauwesen begründen.Ein Umstand bleibt dabei dezent im Hintergrund: Der Erfolg dieser Einzelgänger ist nicht zuletzt darin begründet, dass sie trotz allem hochgradig assoziationsfähig sind.

Vieles spielt sich dabei auf der Ebene informeller Netzwerke ab. Aldo Rossi, einer der Väter der postmodernen Architektur, dessen radikal aufs Archetypische reduzierte Formensprache jeder anderen Position das Lebensrecht abzusprechen scheint, antwortete auf die Frage, welche Architektur er denn schätze, schlicht: „I like the architecture of my friends.“ Und die befreundeten Baukünstler durften ruhig vom formal ganz anderen Ufer kommen, solange sie seinem Clan angehörten.

Zu diesen informellen Netzwerken kommt eine Vielzahl von offiziellen, die erstaunlich langlebig und wandlungsfähig sind, wie das Beispiel der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs, kurz ZV genannt, beweist. Ihre Gründung geht auf eine Initiative Ludwig Baumanns zurück, eines der erfolgreichsten Großarchitekten der K&K-Monarchie. Baumann war ein Multifunktionär, Mitglied und Präsident des österreichischen Ingenieur- und Architektenvereins, Mitglied der Genossenschaft der Bildenden Künstler und dessen Aquarellistenclubs. Entlastung von so viel ernsthafter Funktionärstätigkeit verschaffte er sich in der Schlaraffia Vindobona, deren Wahlspruch „In arte voluptas“ gut zu Baumanns neobarocker Architekturauffassung passt.

Mitglied nur auf Empfehlung

Über die Gründung der ZV berichtet die Zeitschrift „Der Architekt“ in ihrer Ausgabe vom Juli 1907: „Im Festsaal der Wiener Kaufmannschaft fand eine Versammlung der hervorragendsten Architekten – ohne Rücksicht auf Richtung und Betätigung – statt. Der Vorsitzende Proponent, Oberbaurat L. Baumann, hielt eine programmatische Rede, in der er darauf hinwies, dass der Gedanke der Bildung einer Zentralvereinigung, in der die Architekten selbst, und zwar die in der Front für ihre Existenz, für die Erhaltung ihrer Selbstständigkeit kämpfenden Architekten, die Wahrung ihrer Standesinteressen in die Hand nehmen, schon lange propagiert wurde. Als Aufgaben der ZV nannte er: Gerichtliche Belangung jener Personen, die sich unbefugt den Titel eines Architekten beilegen, Stellungnahme gegen die Verleihung des Titels ,Baurat‘ an Geschäftsleute, Baugewerbetreibende, Chemiker, usw., Erwirkung von Staatsaufträgen an selbstständige Architekten, Stellungnahme gegen die Invasion ausländischer Architekten, vorherrschend in Tirol und Nordböhmen, Vorarbeiten für die Schaffung von Architektenkammern auf legislatorischem Wege.“ Besondere Sensibilität mag man der militärisch durchwirkten Diktion dieses Programms nicht attestieren, es geht aber im Kern über die Wahrung von Geschäftsinteressen hinaus. Mit der Einrichtung der ZV deklarierten die besten Vertreter ihres Fachs einen autonomen Bereich, innerhalb dessen sie selbst verhandeln wollten, was Qualität ist. Die Mitgliedschaft in der ZV ist daher bis heute nur auf Empfehlung anderer Mitglieder möglich.

Neben Namen wie Leopold Bauer, Fellner und Hellmer, Karl Mayreder und Josef Hoffmann trat auch Otto Wagner der ZV bei und übernahm als weltweit bedeutendster österreichischer Architekt seiner Zeit den Vorsitz beim Internationalen Architekturkongress, den die ZV 1908 in Wien veranstaltete. Ein Jahr später führte ein interner Streit allerdings zum Austritt Wagners, der auch mit dem Wettbewerb für das Kriegsministerium im selben Jahr zusammenhängen dürfte, den Baumann für sich entscheiden konnte. Neben 60 anderen Architekten hatten auch Otto Wagner und Adolf Loos teilgenommen, die nicht zu Unrecht behaupteten, dass Baumann seinen Sieg nicht seinem schwachen Projekt, sondern der Protektion durch den Thronfolger Franz Ferdinand zu verdanken hatte. Weil die ZV ja gerade diese Art von Einflussnahme hätte verhindern sollen, musste das als Verrat an ihren Qualitätszielen empfunden werden.

Ihre einflussreichste Phase hatte die ZV in der Zwischenkriegszeit, während der auch die Teilnahmeberechtigung an Wettbewerben für öffentliche Gebäude an eine Mitgliedschaft gebunden war. Zugleich begann die ZV mit eigenen Publikationen auf die Qualitätsdiskussion Einfluss zu nehmen, zuerst mit der Zeitschrift „Bau- und Werkkunst“, ab 1931 mit dem „Profil“. Beide waren anspruchsvoll redigiert und international ausgerichtet. Präsidenten der ZV in dieser Zeit waren Hermann Helmer, Siegfried Theiß, Clemens Holzmeister und Hans Jaksch. 1938 wurde die ZV aufgelöst. Nach dem Zweiten Weltkrieg konstituierte sie sich neu und schloss auch rasch an ihre publizistische Tätigkeit vor dem Krieg an, ab 1946 mit der Zeitschrift der „Der Bau“, die 1965 von einer jungen Redaktion um Hans Hollein neu konzipiert wurde und unter dem Titel „Bau“ bis 1971 erschien und wichtige Impulse für den architektonischen Diskurs dieser Zeit lieferte. Mit der Einrichtung der Architektenkammern im Jahr 1959 war eines der Gründungsziele der ZV erreicht, sie übertrug damit aber zugleich den Großteil ihrer faktischen Macht an die neuen Institutionen. Dass Eugen Wörle von 1961 bis zu seinem Tod 35 Jahre lang als Präsident der ZV wirken konnte, ist kaum ein Zeichen für institutionelle Dynamik. 1996 ist Hans Hollein in seine Fußstapfen getreten und hat erfolgreich die wesentlichste öffentliche Aktivität der ZV am Leben erhalten, nämlich den seit 1967 vergebenen Bauherrenpreis, der sich zum wichtigsten österreichischen Architekturpreis entwickelt hat.

Als Qualitätszirkel einzigartig

Auch die aktuellen Preisträger zeigen ein breites Spektrum formaler Ansätze auf einem durchgängig hohen Niveau. Zwischen den formalen Extrempunkten des Wolkenturms von The Next Enterprise (einerFreilichtbühne in Grafenegg) und dem Michelehof von Philip Lutz in Vorarlberg finden sich die Donauuniversität Krems von Dietmar Feichtinger, die Sonderschule in Schwechat von Fasch und Fuchs, die Polizeistation am Wiener Karlsplatz von Pretterhofer und Spath sowie die Sonderschule im Tiroler Kramsach von Marte.Marte.

Ihren Geburtstag feiert die ZV neben einem Fest mit einer Reihe von Führungen im Umkreis der Ringstraße, die heuer mit 150 Jahren ebenfalls ein Jubiläum begeht. Heute ist die ZV – die im Übrigen keine Bundesinstitution ist, sondern in jedem Bundesland eigene, teils sehr aktive Vereine betreibt – eine von vielen Institutionen, die sich bemühen, dem schwierigen Begriff der „architektonischen Qualität“ einen öffentlichen Diskussionsraum zu bieten. Sie ist personell stark mit den österreichischen Architekturhäusern vernetzt, die ihrerseits in der Architekturstiftung verbunden sind, zu deren Gründungsmitgliedern 1996 wiederum die ZV gehört. Als Qualitätszirkel der Architekturschaffenden ist die ZV aber nach wie vor einzigartig. Ihrem nächsten Jahrhundert kann sie gelassen entgegensehen.

Spectrum, So., 2007.11.11

14. Oktober 2007Christian Kühn
Spectrum

Das Auto und seine Plazenta

73.000 Quadratmeter Nutzfläche, 180 mal 120 Meter Dach, 14.000 Tonnen Stahl. Und das alles, um Autos auf die Welt und an den Mann zu bringen. Die „BMW-Welt“ in München von Coop Himmelb(l)au.

73.000 Quadratmeter Nutzfläche, 180 mal 120 Meter Dach, 14.000 Tonnen Stahl. Und das alles, um Autos auf die Welt und an den Mann zu bringen. Die „BMW-Welt“ in München von Coop Himmelb(l)au.

Von der Idee, dass die Form der Funktion folgt, haben sich Automobilhersteller schon seit Jahren entfernt. Das Produkt Auto ist heute eingebettet in eine emotional aufgeladene Fantasiewelt, die von den Herstellernebenso gezielt gestaltet wird wie das Produkt selbst. Deshalb spielen BMW-Fahrzeuge in James-Bond-Filmen mit, und deshalb hat BMW vor einigen Jahren bei namhaften Regisseuren wie Ang Lee oder Wong Kar Wai eine Reihe von Kurzfilmen in Auftrag gegeben, in denen es jeweils zwei Hauptdarsteller gab, einen BMW und den britischen Schauspieler Clive Owen. 75 Millionen Zuseher haben diese Filme, die über das Internet zum Download angeboten werden, inzwischen gefunden und damit ihren Teil zur Markenentwicklung von BMW beigetragen.

Bereits Anfang der 1990er-Jahre entstanden erste Ideen, der Marke BMW auch architektonisch ein Denkmal zu setzen. Architektur war zwar schon damals in den Markenauftritt des Unternehmens einbezogen, aber vor allem als neutraler, in Chrom und Weiß gehaltener Hintergrund, vor dem das eigentliche Produkt umso deutlicher zur Wirkung kommen sollte. Für die normalen BMW-Autohäuser gilt diese Doktrin nach wie vor. In der Nähe des Münchner Stammwerkes sollte jedoch ein einzigartiges Bauwerk entstehen, eine Kult- und Pilgerstätte, im Idealfall ein Pflichtbestandteil jedes München-Besuchs. Da jeder Kult einen Ritus braucht, wurde auch der erfunden: Hier kann der Besitzer sein ofenwarm vom Fließband kommendes Auto in Besitz nehmen und zum ersten Mal in die freie Wildbahn des Münchner Stadtverkehrs ausfahren. Übernommen hat BMW diese Idee von Ferrari, wo die optionale Übergabe am Ende des Fließbands schon immer zum Brauchtum gehörte.

Einen besseren Standort für dieses Vorhaben hätte BMW kaum finden können. Einerseits befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft zwei architektonische Meilensteine der deutschen Nachkriegsmoderne, das Olympiagelände mit den weit gespannten Zeltdächern nach dem Entwurf von Frei Otto und Günther Behnisch aus dem Jahr 1972 und das BMW-Hochhaus von Karl Schwanzer, 1973 als Abschluss des Münchner BMW-Werks errichtet.

Ein Dach als künstliche Wolke

Andererseits lässt sich kaum ein anderer Stadtraum denken, für dessen Ausformung das Automobil so direkt verantwortlich ist: Hier kreuzen sich auf zwei Ebenen eine 14-spurige und eine sechsspurige Schnellstraße, was allein von der Frequenz her entsprechende Werbewirksamkeit garantiert.

BMW schrieb für diesen Standort einen internationalen, offenen Wettbewerb aus, den Coop Himmelb(l)au unter 275 Teilnehmern nach mehreren Phasen im August 2001 für sich entscheiden konnte. Obwohl es bereits im Wettbewerb ein genaues Raumprogramm gab, lässt sich die eigentliche Funktion des Gebäudes nur schwer bestimmen. Es ist jedenfalls vieles zugleich: Seine Hauptfunktion leistet es als Auslieferungszentrum für Neuwagen, das in der oben geschilderten Weise bis zu 250 Fahrzeuge pro Tag bewältigen kann. Zugleich ist es ein Veranstaltungszentrum mit einem voll ausgebauten Theater für bis zu 800 Zuseher mit einer Bühnenausstattung, um die es so manches Theater einer deutschen Mittelstadt beneiden würde. Dazu kommen weitere Veranstaltungsräume unterschiedlichen Zuschnitts sowie großzügige Ausstellungsflächen und Gastronomiebereiche auf mehreren Ebenen, die über eine Brücke mit dem Werksgelände und dem bestehenden BMW-Museum verbunden sind, einem runden, schüsselförmigen Gebäude, das ebenfalls von Karl Schwanzer stammt.

Coop Himmelb(l)au haben den Wettbewerb nicht zuletzt deshalb gewonnen, weil sie erkannt haben, dass dieses komplexe, genau ausgearbeitete Raumprogramm in Wirklichkeit nichts anderes war als ein Vorwand für ein möglichst spektakuläres Gebäude. IhrProjekt ist ein unbeirrtes Stück Coop Himmelb(l)au, in dem die gewünschten Funktionen zwar gut bedient sind. Seine Form gewinnt es aber aus ganz anderen Quellen, vor allem aus der Idee eines großen, das gesamte Areal überspannenden Daches in Form einer künstlichen Wolke, die an einer Ecke in die vertikale Figur eines Doppelkegels übergeht, ein bekanntes Element aus dem Repertoire von Coop Himmelb(l)au, das hierangesichts des meteorologischen Dachmotivs auch als Wirbelsturm gedeutet werden kann, der sich aus dem Boden hervorschraubt. Im Grundriss bildet dieser Doppelkegel ein exaktes Pendant zu Schwanzers Museum, wie überhaupt die Einpassung des Projekts in den Kontext mit großer Selbstverständlichkeit gelungen ist. Die im Westenangrenzende Parklandschaft des Olympiaparks wird über große Verglasungen in den Raum unter der Glaswolke einbezogen, während die Verbindung zum Produktionswerk durch einen Einschnitt im Baukörper akzentuiert ist, der die Achse einer gegenüberliegenden Werksstraße aufnimmt.

Die Leichtigkeit und Dynamik, die man von den computergenerierten Bildern des Projekts in Erinnerung hat, will sich in Natura allerdings nicht so recht einstellen. Das Gebäude wirkt deutlich schwerer und dichter, was angesichts der konstruktiven Anstrengungen, die hier unternommen wurden, auch nicht verwunderlich ist. Das Wolkendach ist eine beeindruckende, vielfach geschwungene Stahlkonstruktion, die nur auf dem Doppelkegel und wenigen schlanken Stahlbetonstützen auflastet. Im Tragwerksplaner Klaus Bollinger, der mit Wolf D. Prix auch an der Universität für Angewandte Kunst unterrichtet, haben die Architekten hier einen kongenialen Partner gefunden. Besonders hervorzuheben ist auch, dass Coop Himmelb(l)au nicht nur für den Entwurf, sondern auch als Generalplaner für das Gesamtprojekt verantwortlich waren.

Wer sich von der BMW-Welt eine Verherrlichung des Automobils als chromblitzende Maschine erwartet hat, etwa in der Tradition des italienischen Futurismus, wird jedenfalls nicht auf seine Kosten kommen. Viel näher liegt die Assoziation zum Surrealismus, der für Coop Himmelb(l)au schon immer eine Inspiration gewesen ist.

Neugeboren auf dem Drehteller

Hier, bei einer Aufgabe, bei der es kaum funktionelle Einschränkungen gab, konnte er sich fast ungebremst entfalten. Das gilt etwa für den Fußgängersteg, der die Halle durchzieht und den besten Blick auf den ovalen Präsentationsbereich im Zentrum der Anlage bietet, auf dem die über einen Glaslift angelieferten neugeborenen BMWs vor der Übergabe noch kurz auf Drehtellern rotieren, bevor sie in ihr selbstständiges Leben entlassen werden. Gleich an mehreren Stellen lässt dieser Steg seine Brüstung hängen wie Salvador Dalis geschmolzene Uhren, und wirkt insgesamt wie eine Nabelschnur in einer großen, dem automobilen Gebären gewidmeten Plazenta.

Ob die BMW-Marketingabteilung wirklich weiß, welche Art von Meisterwerk sie hier um einen kolportierten Betrag von über 250 Millionen Euro geschaffen hat, ist noch nicht abzuschätzen. Vorderhand sind die Freiflächen mit Objekten und einem Geflimmer von Präsentationen bespielt, die besser auf der IAA in Frankfurt oder im Museum gegenüber aufgehoben wären. Aber vielleicht geht dieser Anfall von Horror Vacui ja irgendwann vorbei, und BMW überlässt die Halle ganz dem Kunstbetrieb, der dann die Gebärmaschine in der Mitte in bester surrealistischer Tradition umspielt.

Spectrum, So., 2007.10.14



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BMW-Welt München

09. September 2007Christian Kühn
Spectrum

Wie man das Neue organisiert

Visionen für die Zukunft hat man bald einmal. Die Schwierigkeit liegt in der Umsetzung. Über alltägliche Innovationen und die Wege dorthin. Am Beispiel Architekturwettbewerb.

Visionen für die Zukunft hat man bald einmal. Die Schwierigkeit liegt in der Umsetzung. Über alltägliche Innovationen und die Wege dorthin. Am Beispiel Architekturwettbewerb.

Hochhäuser in Form von exotischem Gemüse, das aus einemFeuchtbiotop hervorwächst: Mussman sich so die Stadt des 21. Jahrhunderts vorstellen? Der südkoreanische Architekt Minsuk Cho hat diesen Vorschlag kürzlich bei einem Symposium an der Wiener Universität für Angewandte Kunst präsentiert. Wie ernst diese Provokation aller formalen Codes der „modernen Architektur“ gemeint ist, sei dahingestellt. Auch an ihrem Neuigkeitswert kann man Zweifel anmelden, lässt sich die Anlage doch als rund gedrechselte Version des Wohnparks Alt Erlaa mit seinen hängenden Gärten und der anämischen Parklandschaft rundum interpretieren. Vielleicht will Minsuk Cho, der brillanteste unter den jungen Architekten Südkoreas, in dessen tatsächlich ausgeführten Hochhäusern keinerlei Anleihen am Gemüsegarten vorkommen, hier aber eher einen Kommentar zu unserer gegenwärtigen Situation abgeben: Fortschreitender Naturverlust, der durch Ersatzgrün kompensiert wird; eine individualisierte Gesellschaft, deren ideale Wohnform die Einzelzelle ist, an die sich halböffentliche Zonen für die Aktivitäten der Patchworkfamilie andocken; und eine zunehmende Verdrängung ästhetischer Fragen durch ökologische Parameter, die sich formal in einem dumpfen Biologismus niederschlagen, sofern sie Form überhaupt noch als Thema gelten lassen.

Dass die Zukunft des Wohnens nicht genau so aussehen wird wie in Chos Vision, kann als sicher gelten. Aber welche Elementedavon werden wir in unseren Städten tatsächlich finden? Und wie können wir schon heute die Möglichkeiten ausloten, auf die genannten Entwicklungen zu reagieren? Die Entstehung von Neuem in der Architektur ist ein heikles Thema, bestehen doch 99 Prozentdes Bauens aus der Abwandlung bekannter Lösungen. Innovation steckt in der Organisation des restlichen Prozents. Eine besondere Rolle kommt dabei dem Architekturwettbewerb zu. In seiner heutigen Form gibt es ihn seit der Renaissance, als Bauherren begannen, ihre Entscheidungsmacht an Gremien von Fachleuten zu delegieren. Verbunden damit, setzte sich die Trennung zwischen dem ausführenden Handwerk und dem architektonischen Entwurf als einer künstlerischen Tätigkeit durch. Das versprach sozialen Aufstieg, allerdings zum Preiseiner über weite Strecken prekären wirtschaftlichen Situation, von der bis heute alle Architekten, die ihre Karriere auf Wettbewerbe aufgebaut haben, berichten können.

Trotzdem ist der Architekturwettbewerb eine erstaunlich robuste Institution. Gab es vor einigen Jahren noch eine Diskussion darüber, ob man nicht überhaupt auf ihn verzichten könnte, nimmt die Zahl der Verfahren heute wieder zu. Über das Prinzip, dass es nicht um die billigste Planungsleistung, sondern um das beste Projekt geht, herrscht weitgehend Konsens. Nur so können derartige Verfahren tatsächlich zur Innovationsförderung im alltäglichen Baugeschehen beitragen. Ihr Erfolg hängt dabei wesentlich von der Qualität der Organisation ab, von der Formulierung der Aufgabenstellung über die Auswahlkriterien der Teilnehmer bis hin zur Höhe der Preisgelder.

Seit die Wettbewerbsordnung der Architektenkammer abgeschafft wurde, um dem EU-Druck zur Deregulierung nachzukommen, gibt es dafür allerdings eine beachtliche Bandbreite. Auf der einen Seite finden sich aufwendig gestaltete Wettbewerbe, begleitet von Forschungsprogrammen und Veranstaltungen, in denen die Anliegen des Wettbewerbs öffentlich diskutiert werden. Ein vorbildliches Beispiel dafür ist derzeit im Steirischen Gleisdorf zu beobachten. Unter dem Titel „Generationen Wohnen“ ist hier ein Wettbewerb für rund 80 Wohneinheiten in zentraler Lage ausgeschrieben. Das Projekt, initiiert vom Verein ARTIMAGE und der Wohnbauabteilung des Landes Steiermark, versteht sich als Prototyp für die Revitalisierung von Ortskernen, die durch die Verlagerung von Einkaufsmöglichkeiten an die Peripherie zunehmend ihre zentrale Funktion verlieren. Speziell für Wohnbedürfnisse außerhalb der klassischen Kleinfamilie wie Seniorengemeinschaften, Alleinerziehende und Singles, und für betreutes Wohnen sollen hier Angebote geschaffen werden. Der zweite Innovationsaspekt betrifft die Ökologie, für die ein integratives Konzept zu entwickeln ist, das vom Wohnklima bis zu langfristigen Betrachtungen der Energieeffizienz reicht. In diesem Aspekt wird das Projekt von Brian Cody von der Technischen Universität Graz in einem eigenständigen Forschungsprojekt begleitet, das am 11. September in Gleisdorf in einer Fachtagung über „Innovative Konzepte der Energieeffizienz“ vorgestellt wird, Im Dezember folgt eine weitere über „Innovative Wohnformen“. Die Ähnlichkeit dieses Prozederes mit dem EUROPAN-Wettbewerb, der alle zwei Jahre europaweit ausgeschrieben wird, ist kein Zufall: Bernd Vlay, Geschäftsführer von EUROPAN Österreich wirkt in Gleisdorf an Konzept und Organisation mit.

So viel Aufwand ist sicher nicht bei jedem Wettbewerb gerechtfertigt. Am anderen Ende des Spektrums finden sich allerdings – vor allem im öffentlichen Bereich, wo Konkurrenzverfahren vom Bundesvergabegesetz vorgeschrieben, von manchen Auftraggebern aber als lästige Pflicht gesehen werden – Verhandlungsverfahren, bei denen Planungen im Wesentlichen über den Preis vergeben werden. Das Hochbauamt Wiener Neustadt lädt gerade zu einem Verhandlungsverfahren für den Neubau einer Schule, bei dem aus Bewerbungen drei Teilnehmer ausgewählt werden, die in der zweiten Stufe ihrem finanziellen Anbot „Skizzen“ eines Entwurfs beilegen sollen. Ein Preisgeld oder eine Entschädigung für den Aufwand dieser Ausarbeitungen ist nicht vorgesehen. In Niederösterreich – das andererseits vor Kurzem sehr erfolgreich eine Wettbewerbspflicht für alle größeren Wohnbauten eingeführt hat, die Förderungen erhalten – ist das kein Einzelfall. Innovative Ergebnisse darf sich bei solchen Verfahren freilich niemand erwarten.

Der Trend geht aber in die andere Richtung. Die Architektenkammer hat in jüngster Zeit mit wichtigen öffentlichen Auftraggebern wie der Gemeinde Wien und der Bundesimmobiliengesellschaft Vereinbarungen getroffen, wie im Rahmen des Bundesvergabegesetzes faire und effektive Verfahren zu gestalten sind. Im Internet findet man seit Kurzem eine von der Kammer besorgte Dokumentation des gesamten österreichischen Wettbewerbsgeschehens. Verfahren, die außerhalb der Spielregeln durchgeführt wurden, sind dort speziell markiert. Die Ergebnisse sprechen für sich.

Spectrum, So., 2007.09.09

07. Juli 2007Christian Kühn
Spectrum

Wursteln im Prater

Nächste Woche wird in Ohio mit dem Akron Art Museum von Coop Himmelb(l)au ein neues Wahrzeichen eröffnet. Und Wien rahmt eines seiner alten in eine Kitschkulisse.

Nächste Woche wird in Ohio mit dem Akron Art Museum von Coop Himmelb(l)au ein neues Wahrzeichen eröffnet. Und Wien rahmt eines seiner alten in eine Kitschkulisse.

Manche Städte träumen vom Bilbao-Effekt. Sie laden die Oberliga unter den Weltarchitekten zu Wettbewerben ein, um ihre Stadt mit einem Projekt im internationalen Städtewettbewerb zu positionieren, so wie es Bilbao mit Frank O. Gehrys Guggenheim-Museum geglückt ist. Aus Österreich spielt in dieser Liga nur Coop Himmelb(l)au mit: Nächste Woche wird ihr Akron Art Museum in Ohio eröffnet, 2009 das 100 Millionen Euro teure Musée des Confluences in Lyon. Die BMW-Welt in München, die im Oktober 2007 realisiert wird, ist auch ein Coop-Himmelb(l)au-Entwurf, ebenso der für 2011 geplante Sitz der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Es sind zwar keine kommunalen Projekte, aber sie werden zum Image ihrer Städte wesentlich beitragen. Durch direkte Vergabe haben die Architekten keinen dieser Aufträge erhalten: Jedem Projekt ging ein erster Platz in einem Wettbewerb voraus, teilweise hart über mehrere Stufen erkämpft.

Wien hatte bisher wenig Lust, sich an diesem architektonischen Städtewettlauf zu beteiligen. Hier begnügt man sich mit dem Ruhm vergangener Jahrhunderte, selbst dann, wenn es gilt, das offizielle Wahrzeichen der Stadt zu ergänzen. Der Riesenradplatz, der den neuen Eingang zum Wurstelprater bilden soll, geisterte als Projekt schon seit einiger Zeit durch die Medien, ein Konglomerat aus historischen Versatzstücken, das den Besucher mit der Storyline „Der Zauberer kehrt zurück“ ins „Wien um 1900“ versetzen soll.
Dass die Stadt bereit ist, Geld zu investieren – immerhin 16 Millionen Euro, zu denen weitere 16 Millionen aus zukünftigen Erträgen kommen sollen –, um den Wurstelprater durch diesen baulichen Auftakt zu erneuern, ist grundsätzlich klug. Die Aufwertung des Gebiets durch die verlängerte U-Bahn-Linie 2 hat eine neue Situation geschaffen, zu der eher ein hochwertiger Vergnügungspark wie der Kopenhagener Tivoli passen würde als der heutige Rummelplatz.
Das aktuelle Projekt, das bis zur EM 2008 fertiggestellt sein soll, könnte den Weg dorthin dauerhaft verbauen. Es stammt von der Firma Explore, vertreten durch den Architekten Martin Valtiner mit einem Büro in Lienz, Osttirol, das sich unter anderem mit Villenentwürfen zwischen Lederhosen- und französischem Landhausstil profiliert hat. Die letzten Mai bekannt gewordenen Pläne für den Riesenradplatz sind auf demselben Niveau, mit dem Unterschied, dass das Ausgangsmaterial aus Fassadenteilen von Schönbrunn und dem Belvedere besteht. Als Valtiner letzte Woche zusammen mit der Mentorin des Projekts, der Wiener Vizebürgermeisterin Grete Laska, den aktuellen Planungsstand vorstellte, gab es im Detail zwar erst ein Stück Wiener Kaffeehaus im selben Stil zu sehen: Die übrigen Teile würden analog dazu erst in Abstimmung mit den einzelnen Pächtern entwickelt. Das ganze Ausmaß des Grauens lässt sich jedoch erahnen, wenn man die Machart des Kaffeehauses auf die Baumassenstudie überträgt, die einen Komplex von immerhin 16.000 Quadratmeter Nutzfläche darstellt. Architekturkritik ist hier sicher fehl am Platz. Dass die Firma Explore in den vergangenen Jahren zwei spektakuläre Flops im Entertainment-Bereich geliefert hat, wird eher das Kontrollamt der Stadt Wien interessieren: Die „Anderswelt“ in Heidenreichstein musste nach wenigen Saisonen und 4,5 Millionen Euro Investment – ein Drittel davon Landesförderung – ihren Betrieb einstellen. Der 5,4 Millionen Euro teure „Blue-Dome“ am Wolfgangsee, im Mai 2005 eröffnet, hatte ein ähnliches Schicksal und wurde nach einer Sperre erst kürzlich, von einem deutschen Büro umgestaltet, neu eröffnet. Die Sorge, dass Wien sich mit einer womöglich auch noch dysfunktionalen Nostalgie-Inszenierung anlässlich der Fußball-EM zum Gespött machen wird, dürfte den verantwortlichen Unternehmen, allesamt 100-Prozent-Töchter der Gemeinde Wien, noch genug schlaflose Nächte bereiten.

Nicht unwidersprochen dürfen aber zwei Aussagen der Vizebürgermeisterin bei der erwähnten Pressekonferenz bleiben: Es handle sich erstens nicht um eine architektonische Aufgabe, sondern „um einen Industriebau mit vorgehängten Kulissen“, weshalb „der Fachbeirat für Stadtgestaltung nicht mit dem Projekt zu befassen sei“. Und zweitens habe die Firma Explore bei einem früheren Wettbewerb einen Preis erhalten, weshalb vom Vergaberecht her nichts gegen die Beauftragung spreche.

Zum Ersten: Wenn ein Projekt dieser Dimension vor dem Wahrzeichen der Stadt nicht vor den Fachbeirat muss, kann man ihn gleich auflösen. Dazu kommt, dass Erlebniswelten heute zu den zentralen Aufgaben der Architektur gehören. Frank Gehry hat für Disney gebaut, die BMW-Welt in München ist nichts anderes als ein automobiler Themenpark. Gut vorbereitet, könnte auf dem Riesenradplatz ein Projekt entstehen, das neue Raum-, Wahrnehmungs- und Erlebnisformen zum Inhalt hat und statt dem „Wien-um-1900“-Image eines entstehen lässt, das im 21. Jahrhundert angekommen ist.

Zum Zweiten: Wie schon ein Kontrollamtsbericht 2006 bestätigte, gab es für den Masterplan zur Entwicklung des Praters nie ein reguläres Verfahren. Zwar befasste sich der Bericht mit dem Auftrag an Emmanuel Mongon, der für sein Praterkonzept – von dem heute nicht viel mehr übrig ist als das Motto „Wien um 1900“ – schließlich 1,35 Millionen Euro plus Spesen kassierte. Dasselbe Erkenntnis gilt aber auch für die Firma Explore, die im damaligen „Ideenfindungsprozess“, in dem es weder Jury und noch klare Beurteilungskriterien gab, einen Geldpreis erhalten hat, auf den man sich jetzt beruft. Der Architekturwettbewerb – zu dem sich die Gemeinde Wien in einer vorbildlichen, im Gemeinderat einstimmig verabschiedeten Leitlinie bekannt hat – ist ein zu wertvolles Instrument, um ihn mit dem Pfusch in einen Topf zu werfen, den sich die Stadt hier geleistet hat.

Dem Vorplatz des Wurstelpraters hilft diese Erkenntnis wenig. Um den zu retten, bräuchte man heute wohl einen echten Zauberer.

Spectrum, Sa., 2007.07.07

20. Mai 2007Christian Kühn
Spectrum

Karstadt in Buxtehude

Was heißt Ensembleschutz? Das neue „Kaufhaus Tyrol“ und wie es sich zur ehrwürdigen Maria-Theresien-Straße hin artikulieren soll: ein Beispiel aus Innsbruck.

Was heißt Ensembleschutz? Das neue „Kaufhaus Tyrol“ und wie es sich zur ehrwürdigen Maria-Theresien-Straße hin artikulieren soll: ein Beispiel aus Innsbruck.

Innsbruck steht vor einer Entscheidung über die Zukunft seiner Innenstadt. Im Jahr 2004 kaufte der Immobilienentwickler René Benko das heruntergewirtschaftete „Kaufhaus Tyrol“, das an der Maria-Theresien-Straße im Zentrum der Stadt liegt. Im angrenzenden Hof soll das Kaufhaus um 20.000 Quadratmeter zu einem Shoppingcenter erweitert werden. Der Investor wollte zwar keinen Wettbewerb ausschreiben, einigte sich mit der Stadt aber auf eine Projektbegleitung durch einen Gestaltungsbeirat, den sich Innsbruck – mangels eines eigenen – aus Salzburg „lieh“. Vorsitzende des Salzburger Beirats ist die aus Tirol stammende Architektin Marta Schreieck, die zusammen mit ihrem Partner Dieter Henke den Innsbrucker Qualitätsmaßstab für zeitgenössisches Bauen im historischen Umfeld gesetzt hat – die 1999 fertiggestellte sozialwissenschaftliche Fakultät.

Das Ergebnis der ersten Projektphase ist ein amöboides Gebilde, das den Hof weitgehend ausfüllen wird. Formal orientiert sich der von Johannes Obermoser entworfene „Blob“ an erfolgreichen Artgenossen wie dem Kunsthaus Graz und dem Selfridges Kaufhaus in Birmingham, die ihre weichen Rundungen ebenfalls in einer kantigen Nachbarschaft ausbreiten dürfen und beim Publikum enormen Zuspruch finden.

Dass die drei bestehenden Gebäude des Kaufhauses zur Maria-Theresien-Straße weder formal noch – aufgrund der Geschoßhöhen – funktionell ein geeigneter Abschluss für diesen Blob sein würden, war offensichtlich. Man einigte sich mit der Stadt darauf, zwei der drei Häuser abzureißen und für deren Ersatz samt Anschluss an den Blob einen Wettbewerb auszuschreiben. Noch während der Ausschreibung wurde bekannt, dass der Leiter der Tiroler Denkmalschutzbehörde, Landeskonservator Franz Caramelle, für die Maria-Theresien-Straße ein Ensembleschutzverfahren eingeleitet hatte und dieser Schutz im September 2006 ausgesprochen worden war.

Man entschied sich, den Wettbewerb trotzdem durchzuführen. Ziel des Ensembleschutzes ist ja der Schutz eines Gesamteindrucks und nicht der jedes einzelnen Elements, das zu diesem Eindruck beiträgt. Angesichts der wechselvollen Baugeschichte der Straße, in der vieles aus dem 20. Jahrhundert stammt, hoffte man auf ein zeitgemäßes Projekt, das den spezifischen Rhythmus der Straße aufnimmt, ohne etwas Bestehendes zu kopieren.

Das Ergebnis des Wettbewerbs war von Anfang an kontroversiell. Das Wiener Architektenteam BEHF hatten eine Art Gletscherwand entworfen, mit großformatigen, rechteckigen Öffnungen und vielen runden Bullaugen, die ein Motiv der Blob-Fassade wiederholen. Die Anbindung an einzelne Linien der Nachbarschaft ist zwar vorhanden, ebenso die Teilung der Fassade in drei durch Knickfalze voneinander abgesetzte Bereiche, insgesamt überwiegt aber der Eindruck einer liegenden Figur. Andere im Wettbewerb favorisierte Projekte wie etwa jenes von Rainer Pirker hatten zurückhaltender auf den Rhythmus des Ensembles reagiert, aber auch sie hätten den Betrachter spüren lassen, dass hinter ihnen etwas für den Ort bisher Unerhörtes liegt, nämlich eine Einkaufswelt von 20.000 Quadratmetern.

Der Aufschrei des Denkmalamts folgte prompt. Der Investor, René Benko, versprach eine Weiterentwicklung des BEHF- Projekts. Parallel dazu wandte sich die Berufungsbehörde an den Denkmalbeirat, ein vom zuständigen Ministerium bestelltes ehrenamtliches Expertengremium, das vor jedem Abbruchbescheid gehört werden muss. Dessen Vorsitzender, Friedmund Hueber, wurde per Schreiben vom 7. Februar 2007 ersucht, ein Gutachten über die „Ensembleverträglichkeit des geplanten Objektes und gegebenenfalls Skizzierung einer Lösungsvariante“ zu erstellen. Am 12. April lag das Gutachten vor, in dem Hueber bereits zu einem neuen Lösungsvorschlag Stellung nehmen konnte, den Benko beim Wiener Architekten Heinz Neumann in Kooperation mit Hueber selbst in Auftrag gegeben hatte. Dass Hueber damit gewissermaßen über sich selbst urteilen durfte, ist vom Denkmalschutzgesetz gedeckt, in dem sogar explizit darauf verwiesen wird, dass Mitglieder des Denkmalbeirats als Konsulenten herangezogen werden können.

Wenn es einen Anlass gebraucht hat, das Gesetz in diesem Punkt zu ändern, ist er jetzt gefunden. „Karstadt in Buxtehude“ gehörte noch zu den harmloseren Kommentaren, die unter Innsbrucker Architekten zirkulierten, als das Projekt vor zwei Wochen öffentlich wurde. Die ganze Lebendigkeit der umgebenden Fassaden ist hier zu einer Ansammlung von Phrasen erstarrt. Das sieht auf den ersten Blick harmlos aus, erzeugt aber bei längerem Hinsehen Depressionen. Die Vergangenheit, auf die Hueber sich hier beruft, war immer schon vergangen und tot, ohne Widersprüche und innere Spannungen. Dieses Phantom eignet sich bestenfalls als Dekor für eine Shoppingwelt, in der auch Atmosphäre, Rituale und räumliche Qualität zur Ware geworden sind.

Ob das Bundesdenkmalamt (BDA) dieser Fassade seinen Segen erteilt hätte, ist unklar: Der Bescheid ist direkt von der zuständigen Ministerin, Claudia Schmied, unterschrieben. Da sich die führenden Beamten des BDA stets gegen jede Art des „Fassadismus“ ausgesprochen haben, also gegen die Praxis, nur die Fassaden historischer Gebäude zu erhalten, sollte das Urteil in diesem Fall klar sein: Ein „Fassadismus“ zweiter Ordnung, der dem Bestand das eigene tiefe Niveau unterstellt und ihn damit herabwürdigt, ist noch weit weniger zu tolerieren.

Der Ball liegt derzeit beim Investor, der ein Danaergeschenk in Händen hält: einen Abbruchbescheid für die beiden Bestandsbauten, der allerdings zwingend an die Errichtung des Neumann/Hueberschen Projekts gebunden ist. Jüngste Ankündigungen lassen vermuten, dass er das den Innsbruckern nicht zumuten will. Von weiteren Verhandlungen mit dem Ministerium und seinen Beamten, von einer grundsätzlichen Diskussion über den Umgang mit dem Ensembleschutz und von einem neuerlichen Wettbewerb mit internationaler Starbesetzung ist die Rede.

Dass es möglich ist, sogar unter noch strikteren Bedingungen anspruchsvolle Projekte im geschützten Ensemble zu realisieren, hat sich vor kurzem in Graz gezeigt. Dort vergrößert das traditionsreiche Kaufhaus Kastner & Öhler seine Verkaufsflächen im Zentrum der Stadt von 30.000 Quadratmeter auf 40.000 Quadratmeter. In Abstimmung mit dem Denkmalamt wurde ein Wettbewerb durchgeführt, den das spanische Team Nieto/Sobejano für sich entscheiden konnte. Kritik gab es auch hier, aber nach einigen Veränderungen, die dem Projekt nicht geschadet haben, kann sich Graz auf eine spannende Bereicherung seiner Dachlandschaft freuen – und das alles mitten im Unesco-Weltkulturerbe der Grazer Altstadt.

Spectrum, So., 2007.05.20

06. Mai 2007Christian Kühn
Spectrum

Barock für die Fische

Zwei Entwürfe für ein Flusskraftwerk in Salzburg: das Kraftwerk als schöne Maschine und ein ästhetischer Tribut an die Kraft des Wassers. Die Jury hat sich für den barocken Überschwang entschieden.

Zwei Entwürfe für ein Flusskraftwerk in Salzburg: das Kraftwerk als schöne Maschine und ein ästhetischer Tribut an die Kraft des Wassers. Die Jury hat sich für den barocken Überschwang entschieden.

Wird heute von „Kunst“ gesprochen, so bezieht sich das so gut wie immer auf die Welt der Konzertsäle, Museen und Theater. Kaum jemand erinnert sich daran, dass es einmal durchaus üblich war, zwischen „schönen“ und „nützlichen“ Künsten zu unterscheiden. Im 18. und 19. Jahrhundert hat sich im Bereich des Bauens aus dieser Unterscheidung eine Demarkationslinie zwischen Architekten und Ingenieuren herausentwickelt, die bis heute nachwirkt. Fürs Schöne, so die geläufige Meinung, sind die Architekten zuständig, fürs Nützliche die Ingenieure. In Bereichen wie dem Straßenbau oder dem Wasserbau ist die ästhetische Komponente damit in der allgemeinen Wahrnehmung fast vollständig in den Hintergrund getreten. Wer wollte schon ernsthaft behaupten, dass eine Autobahn oder ein Kanal schön sein müssten?

Die geringen ästhetischen Ansprüche, die an sogenannte „Infrastrukturbauten“ gestellt werden, wären verschmerzbar, würde es sich dabei tatsächlich um unsichtbare Strukturen handeln. Das ist freilich nicht der Fall: Außerhalb der historischen Zentren von Städten und Dörfern sind es vor allem diese Bauten, die unserem Lebensraum Gestalt geben, und nur einer kollektiven Autosuggestion ist es zu verdanken, dass wir das oft gar nicht mehr wahrnehmen. Erst wenn diese Infrastruktur in kurzer Zeit zu wuchern beginnt und ins gewohnte Bild drängt, wie das derzeit an Österreichs Autobahnen durch den Einbau von Lärmschutzwänden geschieht, wird die Öffentlichkeit ein wenig unruhig.

Da sind die Fehler aber meist nicht mehr korrigierbar. Denn die ästhetische Qualität eines Infrastrukturbauwerks ist nichts, das sich im Nachhinein dazukaufen ließe. Sie wird bereits in Projektphasen geformt, in denen noch nichts zu sehen ist, vor allem in der raumplanerischen und städtebaulichen Konzeption, aber auch auf Nebenschauplätzen, die scheinbar nichts mit Ästhetik zu tun haben. So geht der aktuelle Bauboom bei Lärmschutzwänden auf eine unscheinbare Ziffer zurück, mit der der damalige Wirtschaftsminister Johannes Farnleitner 1999 den zulässigen Lärmpegel für die Anrainer von Autobahnen um fünf Dezibel und damit auf den strengsten Wert Europas herabsetzte: Sicher eine Entlastung für die Anrainer, vor allem aber eine Freude für die Bauwirtschaft, die heute im Auftrag der Asfinag Lärmschutzmaßnahmen von über 400 Millionen Euro pro Jahr ausführen darf, ein beträchtlicher Teil davon zur Sanierung von Mängeln in der Raumplanung und Flächenwidmung.

Die Lehre aus solchen Entwicklungen kann nur darin bestehen, die saubere Trennung zwischen Schönheit und Nützlichkeit aufzugeben und auch Infrastrukturbauten von Anfang an als sowohl technische wie gestalterische Problemstellungen zu behandeln. Wie produktiv die Diskussion sein kann, in die man dabei gerät, zeigt der soeben entschiedene Wettbewerb für das neue Flusskraftwerk im Salzburger Stadtteil Lehen. Ähnlich wie beim Beispiel der Lärmschutzwände geht es auch hier nicht nur um den primären Nutzen, nämlich die Energiegewinnung, sondern zugleich um die Sanierung von Umweltfolgen. Denn an sich liegt die erreichbare Fallhöhe des Wassers an dieser Stelle mit 6,5 Metern deutlich unter dem Wert von neun bis zehn Metern, ab dem üblicherweise ein solches Kraftwerk errichtet wird. Sein Zweck besteht allerdings nicht nur in der Energiegewinnung, sondern auch in der Erhaltung des Schotterbetts der Salzach, das inzwischen gefährlich dünn geworden ist. Würde die Strömung nicht durch eine neue Staustufe verlangsamt, wären umfangreiche und teure Sanierungsmaßnahmen an der Fluss-Sohle nötig gewesen, um die Gefahr eines Einbruchs der Uferböschungen zu verhindern.

Technisch besteht ein solches Kraftwerk aus einem Wehr, dessen Tore im Hochwasserfall geöffnet werden können, einem Krafthaus mit Kaplanturbinen, einer Wartungsbrücke, die für einen 90-Tonnen-Kran zum Austausch von Systemteilen befahrbar sein muss. Dazu kommt eine Fischtreppe, die eine Unterbrechung des Ökosystems verhindert. Städtebaulich liegt das Kraftwerk an einem spannenden Punkt: Auf der einen Seite befindet sich ein dicht besiedeltes Wohngebiet, auf der anderen ein Stück Auwald, das die bisherige Flussregulierung überlebt hat.

Im geladenen Wettbewerb, den die Salzburg AG ausgeschrieben hatte, blieben nach der ersten Phase noch zwei Projekte übrig, die völlig unterschiedlich an die Aufgabe herangingen. Dietmar Feichtinger, aus Graz stammender Architekt mit Büro in Paris, gestaltete das Kraftwerk als schöne Maschine: Die Wehrpfeiler stemmen sich gegen die Wasserwand, alle Energie fließt ins Krafthaus, dessen elegant abgerundeten Kanten eine eigenständige Figur am Ufer am Auwald bildet. Die Verbindungsbrücke ist eine leichte Stahlkonstruktion mit aufgelöstem Tragwerk, über dem mittig eine befahrbare Betonplatte mit beiderseitig begleitenden, begehbaren Holzrosten liegt.

Erich Wagner und Max Rieder geht es dagegen vor allem darum, die Kraft des Flusses zu zeigen, als würde er über die Schwelle stürzen und sprudeln. Ihre Wehrpfeiler sind weit flussabwärts gezogen, wie von der Strömung mitgerissen, und bäumen sich über dem Wehr zu mächtigen, zur Stadt blickenden und von dort sichtbaren Skulpturen auf. Im Projekt der ersten Stufe bestanden diese Skulpturen noch aus zwei Teilen, 70 Meter langen, schmalen Metallsegeln, die auf dynamisch geformten Wehrpfeilern aus Beton auflagerten. Im endgültigen Projekt sind die Wehrpfeiler deutlich verkürzt, die Skulpturen vereinfacht und aus den Metallsegeln ist eine spiegelnde Verblechung der Schnittflächen geworden. Rüdiger Lainer, der Vorsitzende der Jury, hatte Max Rieder in Anspielung an zwei Barockarchitekten unterschiedlichen Temperaments ersucht, sein Projekt in der Überarbeitung „von Borromini in Richtung Bernini zu domestizieren“.

Am Ende hat sich die Jury gegen die schöne Technik und für den barocken Überschwang entschieden. Das Projekt von Wagner und Rieder ist jedenfalls die signifikantere Lösung: Nachts beleuchtet, wird es weithin sichtbar sein, und die kleinen, über Treppen erreichbaren „Strandkörbe“, die Rieder in die Pfeiler integriert hat, bieten den Spaziergängern umgekehrt einen Blick übers Wasser. Auch die Anknüpfung an den Auwald ist geschickt gelöst, das Kraftwerk wirkt als hartes technisches Implantat, in dem die Fischtreppe pulsiert und den Fischen ein wenig Ausblick auf den Barock bietet.

Jetzt muss die Salzburg AG nur noch beweisen, dass sie auch die Kosten für ihren Ausflug ins Skulpturale zu tragen bereit ist. In einer Stadt, die mit der „schönen Wasserbaukunst“ schon seit dem frühen 17. Jahrhundert vertraut ist, als der Fürsterzbischof Markus Sittikus im Schlosspark von Hellbrunn die berühmten Wasserspiele anlegen ließ, sollte das kein Problem sein.

Spectrum, So., 2007.05.06



verknüpfte Bauwerke
Wasserkraftwerk Sohlstufe Salzach

30. März 2007Christian Kühn
Spectrum

Die Guten, die Bösen und die Dummen

Projekte, Proteste und weit und breit kein Konzept: Der Augartenspitz soll bebaut werden, nur wie? Die jüngsten Pläne lassen nichts Gutes erwarten.

Projekte, Proteste und weit und breit kein Konzept: Der Augartenspitz soll bebaut werden, nur wie? Die jüngsten Pläne lassen nichts Gutes erwarten.

An Unfälle solcher Art hat man sich inzwischen gewöhnt: Architektur, die aussieht, als wäre sie aus einem Zusammenprall entstanden, voller schräger Durchblicke und dramatischer Zuspitzungen. Das Projekt, mit dem die Wiener Sängerknaben sich im Augarten endlich eine eigene Spielstätte schaffen wollen, fällt in diese Kategorie. Johannes Kraus vom Atelier archipel, von dem der Entwurf für den kleinen, zur Hälfte unter die Erde abgesenkten Konzertsaal für 430 Plätze stammt, hat bei Coop Himmelb(l)au gearbeitet, unter anderem am Dresdner UFA-Palast. Dass er auch bei Hans Hollein studiert und assistiert hat, merkt man seinem Entwurf dort an, wo er die Zackigkeit mit ein wenig Zuckerguss garniert, etwa an der Eingangslösung mit dem kleinen versenkten Wasserbecken, das den äußersten Augartenspitz markiert.

Für die Wiener Sängerknaben wäre dieses Projekt eine Revolution, wenn es denn tatsächlich ihren Aufbruch zu einem neuen Selbstbild jenseits des klassischen Repertoires bedeuten würde. Das scheint zwar so wahrscheinlich wie Lipizzaner, die nach einer Choreografie von Pina Bausch tanzen, aber umso mehr würde man diesem Denkmal der österreichischen Identität einen innovativen Schub wünschen.

Wirklich froh kann man mit dem Projekt trotzdem nicht werden. Es zwängt sich zu sehr auf sein Eckgrundstück und hat kein angemessenes Vorfeld. Dazu kommt ein städtebauliches Problem. In Kürze wird in unmittelbarer Nähe eine Station der verlängerten U-Bahn-Linie U2 eröffnet. Das ist optimal für die Erreichbarkeit, zugleich würde sich aber an dieser Stelle ein logischer neuer Zugang in den Augarten ergeben. Eine Baumasse genau hier ist ein falsches Signal, auch wenn das Projekt einen seitlichen Zugang am Saaleingang vorbei vorsieht. Die städtebaulich sinnvollere Lösung liegt auf der Hand: Der Spitz bleibt frei, somit auch der Blick in den Park und auf ein gründerzeitliches Gebäude, das mit seinem Turm und schrägem Baukörperzuschnitt genau auf diese Situation reagiert. Und der Saal wird in den Augarten zurückversetzt, immer noch nahe genug zur U-Bahn, aber dann mit einem angemessenen Vorfeld und eingebettet in die Gartenlandschaft.

Dass diese Lösung nicht gewählt wurde, kann man allerdings nicht den Architekten vorwerfen. Denn die Geschichte des Projekts ist eine Schleuderfahrt, die seit dem Jahr 2000 andauert und bei der schon so viele Akteure ins Lenkrad gegriffen haben, dass es schwerfällt, die Übersicht zu behalten. Im Zeitraffer: Eine von den Gartenarchitekten Maria Auböck und Janos Kárász im Jahr 2000 für den Bereich des Augartenspitzes verfasste Studie schlägt vor, anstelle der bestehenden Flächenwidmung, die hier die Errichtung eines viergeschoßigen Schulbaus gestattet hätte, eine Bebauung von 30 Prozent der Fläche zuzulassen, allerdings mit einer deutlichen Beschränkung der Bauhöhe. Das ist vom historischen Bestand her durchaus legitim, befanden sich hier doch bis in die 1970er-Jahre die ehemaligen Gesindehöfe des Augartenpalais. Eine entsprechende Widmung wird 2002 im Gemeinderat beschlossen.

Als voraussichtlicher Nutzer sieht sich das Filmarchiv Austria, das in den straßenseitigen Gesindetrakten untergebracht ist und einen eigenen Kinosaal und Ausstellungsflächen zu errichten plant. Sein Direktor, Ernst Kieninger, beginnt mit dem ArchitektenteamFasch und Fuchs ein entsprechendes Projektzu entwickeln. Dafür gibt es aber nach dem Regierungswechsel im Jahr 2000 kein Geld mehr vom Bund, und die Stadt Wien möchte nicht als Alleinfinanzier auftreten. Vier Jahre später tritt ein anderer Interessent auf den Plan. Die Wiener Sängerknaben haben in Peter Pühringers POK Privatstiftung einen Sponsor gefunden, der zuerst die Sanierung des Augartenpalais unterstützt und dann einen kompletten neuen Konzertsaal zu finanzieren bereit ist. Ein erstes Projekt, den Saal direkt vor dem Palais unter die Erde zu verlegen, scheitert an zu hohen Kosten. Die Idee, die bestehende Widmung am Spitz zu nutzen, ist nahe liegend. Denn der Eigentümer ist auch dort der Bund, der den Park über die Burghauptmannschaft und über das Bundesgartenamt verwaltet.

Die POK beauftragt die Architekten von archipel, Vorstudien für zwei Standorte zu entwickeln, einerseits auf den Flächen der ehemaligen Gesindetrakte, andererseits am Augartenspitz. Die Gesprächsbasis mit dem Filmarchiv ist anfangs gut, beide Partner lassen von ihren Architektenteams Studien ausarbeiten, wie eine gemeinsame Realisierung ihrer Vorhaben aussehen könnte. Fasch und Fuchs erweitern im Auftrag Kieningers ihr Projekt um einen Saal für die Sängerknaben, wobei allerdings die vorgeschriebene 30-Prozent-Grenze überschritten wird. Archipel schlagen 2005 ein durchaus attraktives Landschaftsrelief mit aufgefalteten Ebenen im Garten vor, das beide Nutzungen parallel zum derzeitigen Filmarchiv unterbringt.

Dass in diesen Projekten die Erwartungen der jeweils anderen Seite auf dem knappen Grundstück nicht ohne Abstriche befriedigt werden, ist nicht weiter verwunderlich und hätte eine vermittelnde Moderation gebraucht. Grund für den bald erfolgten Abbruch der gemeinsamen Projektentwicklung ist letztlich die Tatsache, dass das Filmarchiv kein Budget für einen Zubau hat und die POK nicht daran interessiert ist, zusätzlich zum Saal für die Sängerknaben eine Erweiterung des Filmarchivs zu finanzieren. Am 16. Februar 2002 findet eine Sitzung mit Vertretern des Bundes, der Stadt, des Denkmalamts und der Bundesgärten statt, bei der sich Gregor Rizzi und Brigitte Mang, die Vertreter von Denkmalamt und Bundesgärten, strikt gegen eine Verbauung im Park aussprechen und nur den Standort am Spitz akzeptieren. Auf dieser Basis verfolgt die POK das Projekt weiter.

Mit der Konkretisierung des Projekts wächst auch der Unmut der Bürgerinitiativen in der Umgebung, die schon lange vergeblich ein Augartenkonzept gefordert haben, in dem Bund, Stadt und Bezirk deklarieren, wie eine verstärkte Öffnung des Augartens für die Anrainer aussehen könnte. Dem „bösen“ Investor Pühringer, der die Halle, die nach 67 Jahren ins Eigentum des Bundes übergehen wird, mit elf Millionen Euro finanziert, wird unterstellt, privatwirtschaftliche Interessen mit dem Projekt zu verfolgen. Er wolle hier einen Konzertbetrieb aufziehen und damit massiven zusätzlichen Verkehr in den Bezirk bringen. Die Initiative Baustopp will daher jede Verbauung des Areals verhindern. – Parallel dazu erwacht allerdings das Projekt des Filmarchivs in einer Allianz mit der Viennale und dem Stadtkino zu neuem Leben. Ernst Kieninger erhält zuerst in Gesprächen mit den Stadträten Mailath und Schicker und im Juni 2006 mit Bürgermeister Häupl Signale, dass die Stadt das Projekt unterstützt, und lässt von zwei weiteren Architektenteams, Delugan-Meissl und Oskar Leo Kaufmann, Vorschläge ausarbeiten. Den spektakulären, 25 Meter hohen Gerüstturm mit minimalem Parkverbrauch, den Kaufmann vorschlägt, wagt Kieninger der Öffentlichkeit gar nicht vorzustellen. Für das Projekt von Delugan-Meissl, eine sanfte Faltung, die dem Landschaftsrelief von archipel nicht unähnlich ist, gelingt es ihm aber sogar, die Unterschriften der Bürgerinitiativen in der Umgebung zu bekommen.

Womit die Situation einigermaßen verfahren scheint. Der Bürgermeister hat in der „Kronen Zeitung“ inzwischen erklärt, dass „der Platz für die Sängerknaben“ ist. Einen Plan, steuernd einzugreifen, hatte die Stadt in der Sache offenbar nie. Einen städtebaulichen Plan auch nicht, sonst hätte sie ihre Beamten, die eine Bebauung des Spitzes für eine schlechte Lösung halten, nicht aus Angst vor Bürgerprotesten daran gehindert, klar für eine ebenfalls widmungskonforme Bebauung im Park zu plädieren, statt der starren Haltung von Denkmalamt und Bundesgärten kampflos das Feld zu überlassen.

Die jüngst erfolgte Erklärung der Sängerknaben, ihr Projekt mit Rücksicht auf das Denkmalamt noch einmal überarbeiten und damit verharmlosen zu lassen, lässt nichts Gutes erwarten, genauso wenig wie die angelaufene Kampagne, das „gute“ Filmarchiv gegen die „bösen“ Sängerknaben und ihren reichen Sponsor auszuspielen. Die Projektbetreiber sollten sich nicht in eine Konfrontation jagen lassen, sondern von der öffentlichen Hand, also von Bund und Stadt gemeinsam, verlangen, was schon seit Jahren deren Aufgabe wäre: die öffentliche Sache zu vertreten und sich dabei weder von der lautesten Bürgerinitiative noch von der großzügigsten privaten Spende die Verantwortung abnehmen zu lassen.

Das verlangt professionelle Verfahren, auch einen nach den von der Fachwelt anerkannten Regeln durchgeführten Architekturwettbewerb, den es trotz der vielen Projekte hier bisher nicht gab. Die Gefahr, dass die Möglichkeiten, die dieser Ort für die Stadt und den Bezirk bietet, überhaupt nicht genutzt werden, ist groß. Die Dummen, das wären am Ende wir alle.

Spectrum, Fr., 2007.03.30

24. Februar 2007Christian Kühn
Spectrum

Operation gelungen, Patient tot

Das Hanuschkrankenhaus hat endlich eine Garage und einen behindertengerechten Zugang bekommen. Wie das Gebäude nun aussieht? Egal, scheint's. Wie man einen historischen Ort ruiniert - mit dem Segen des Denkmalamts und der Wiener Stadtplanung.

Das Hanuschkrankenhaus hat endlich eine Garage und einen behindertengerechten Zugang bekommen. Wie das Gebäude nun aussieht? Egal, scheint's. Wie man einen historischen Ort ruiniert - mit dem Segen des Denkmalamts und der Wiener Stadtplanung.

Der Patient war schon einigermaßen in die Jahre gekommen: Geboren 1914, als geistiges Kind zweier Otto-Wagner-Schüler, der Architekten Hermann Aichinger und Heinrich Schmid, hatte er als Truppenspital der k.u.k. Armee gedient, bevor er 1918 in zivile Dienste übertrat. Nach einem militärischen Zwischenspiel während des 2. Weltkriegs steht er seit 1945 im Dienst der Wiener Gebietskrankenkasse. Aus dem Erzherzog-Rainer-Spital der Monarchie wurde das Hanuschkrankenhaus der 2. Republik.

Die Anatomie dieses Gebäudes ist außergewöhnlich. Es besteht aus vier, ursprünglich nur durch Loggien verbundenen Pavillons mit jeweils eigenem Eingang. Drei Pavillons bilden eine geschwungene Fassadenflucht nach Südosten, während der vierte als mächtiger Block hinter dieser Front aufragt. Die Architektursprache des Gebäudes ist weit konservativer als jene, die die beiden jungen, zur Errichtungszeit knapp 30-jährigen Architekten bei Otto Wagner gelernt hatten. Sockelzone und Portale geben sich noch ganz klassizistisch, obwohl die Risalite darüber bereits eine höchst eigenwillige Formensprache entwickeln, die ursprünglich durch die dunkle Putzfarbe der Obergeschosse akzentuiert wurde.

Auf dem hangabwärts angrenzenden Grundstück errichteten Aichinger und Schmid 1927 – 29 eines ihrer Hauptwerke, den Somogyihof, mit dem sie sich als eines der wichtigsten Architektenteams des „Roten Wien“ ausweisen. Die großzügige, geschickt ins Gelände gesetzte Abfolge von Wohnhöfen ist maßstäblich äußerst sensibel und wirkt trotz ihrer weitgehenden Symmetrie weniger monumental als andere Anlagen der Zeit. Mit dem Krankenhaus und dem Somogyihof stehen sich zwei herausragende Projekte derselben Architekten aus unterschiedlichen Epochen gegenüber. Dass die Hauptachse des Wohnhofs genau auf den Mittelrisalit des Krankenhauses ausgerichtet ist, versteht sich beinahe von selbst. Beide Objekte stehen unter Denkmalschutz. Der Somogyihof wurde kürzlich inklusive der Gartenanlagen minutiös restauriert.

Für ein Krankenhaus ist der Denkmalschutz naturgemäß eine größere Herausforderung als für den Wohnbau. Das Hanuschkrankenhaus ist zwar kompakt und äußerst effizient organisiert. So gibt es etwa keine repräsentativen Treppenhäuser, sondern – typisch für den Nutzbau der späten Monarchie – ein rein funktionell bestimmtes Erschließungssystem. Die Anpassung an neue Anforderungen der Logistik und Behindertengerechtigkeit ist aber naturgemäß schwierig. Dazu kam das Problem der Zugänglichkeit des Krankenhausesareals insgesamt. Aichinger und Schmid hatten dem Baukörper eine Art breites „Glacis“ nach Südosten vorgelagert, das über eine ansteigende Zufahrtsstraße durchquert werden musste, bevor man einen der Pavillons betreten konnte.

Die Anforderungen des PKW-Verkehrs hatten die Architekten dabei nicht voraussehen können. Die Freiflächen vor dem Gebäude entwickelten sich zusehends zu einem Parkplatz für das Personal, während in den umgebenden Straßen jener Teil der täglich insgesamt 1500 Ambulanzbesucher auf Parkplatzsuche kreiste, der unbedingt mit dem PKW anreisen wollte. Für eine Garage, die dieses Problem lösen könnte, kam aufgrund des beengten Grundstücks nur die Fläche des „Glacis“ in Frage. Und wenn man hier schon eine Tiefgarage plant, so dachte sich die Krankenhausleitung, dann sollte man sich doch gleich um einen neuen Eingang ins Gebäude kümmern, mit behindertengerechtem Zugang und einer Cafeteria für die Patienten.

Weil für die Gebietskrankenkasse die Finanzierung einer Garage aus eigenen Mitteln nicht in Frage kam, entschied man sich dafür, einem privaten Immobilienentwickler, der MID-Gruppe des Kärntner Investors Walter Moser ein Baurecht für 99 Jahre zur Errichtung einer Garage zu übertragen. Das neue Eingangsgebäude auf diesem Garagensockel steht wieder im Eigentum der Krankenkasse. Beide wurden von Walter Bachner, Hauptgesellschafter der Kordon-Roth Ziviltechniker-Ges.m.b.H. geplant. Die Garage mit 400 Stellplätzen erhielt eine Genehmigung durch die Planungsbehörden, ohne dass eine umfassende Machbarkeitsstudie oder einen Ideenwettbewerb für stadträumlich und denkmalpflegerisch verträglichere Alternativen verlangt worden wäre. (Dass eine Garage im Hang auch anders aussehen kann, wird etwa jeder Besucher des Landeskrankenhauses Feldkirch bestätigen können).

Seit kurzem kann das Ergebnis besichtigt werden. Am glücklichsten dürfen sich Besucher schätzen, die von der Heinrich-Collin-Straße aus direkt in die Garage und mit dem Lift weiter ins Gebäude fahren. Ihnen bleibt der Anblick erspart, der sich Fußgängern bietet, die das Areal durch das alte Torgebäude betreten. Anstelle der von Bäumen gesäumten Auffahrt findet sich eine steile Treppe mit begleitendem Rampen-Zick-Zack. Wer dieses Beton- und Edelstahlgewitter – an dem die angekündigte Begrünung nicht viel verbessern wird –überwunden hat, steht vor dem neuen Eingangsgebäude, einer jämmerlich konzeptlosen Kollage von Versatzstücken aus Architekturjournalen der letzten 15 Jahre.

Wo – so fragt sich der Besucher – waren hier das Denkmalamt und die Magistratsabteilung 19, im Wiener Magistrat zuständig für Architektur und Stadtgestaltung? Das Denkmalamt erklärt sich für die Veränderung des Zugangs für unzuständig: Geschützt sei die Bausubstanz und nicht das Ensemble. Daher hätte man darauf gedrängt, den Anschluss an den Altbau mit einer leichten, demontabel wirkenden Glasbrücke zu bewerkstelligen. Alles andere, Garage und Eingangspavillon, sogar der durch die Hebung des Geländes entstandene Burggraben vor dem Altbau, gehe das Denkmalamt nichts an, so die zuständige Landeskonservatorin Barbara Neubauer. Die MA 19 beruft sich auf Anfrage darauf, dass sie eh das schlimmste verhindert hätte: Die Garage hätte noch um eineinhalb Meter höher werden sollen. Die jetzige Lösung sei ein Kompromiss, da aufgrund von bestehenden Einbauten eine weitere Absenkung nicht möglich gewesen wäre. Und das Eingangsgebäude sei, so die beteiligten Beamten, ja eh ganz ordentlich geraten.

Sind also am Ende gleichgültige Eigentümer und Investoren und ihre gestalterisch unfähigen Architekten schuld an diesem Desaster? Sicher zum Teil. Zerstört wurde die Qualität des Orts aber letztlich durch ein Multiorganversagen, bei dem Stadtplanung, Denkmalamt und MA 19 zwar formal korrekt, aber vorbei an ihrem eigentlichen Auftrag gehandelt haben.

Spectrum, Sa., 2007.02.24

28. Januar 2007Christian Kühn
Spectrum

Schaufeln für die Baukultur

Zum Thema Baukultur hat die neue Regierungserklärung nicht viel Konkretes zu bieten. Das Bekenntnis zur Förderung einer „qualitativen Baukultur in allen Bereichen des öffentlichen Lebens“ macht zumindest Hoffnung.

Zum Thema Baukultur hat die neue Regierungserklärung nicht viel Konkretes zu bieten. Das Bekenntnis zur Förderung einer „qualitativen Baukultur in allen Bereichen des öffentlichen Lebens“ macht zumindest Hoffnung.

Nun wird alles anders: Ein neu geschaffenes Ministerium ist zuständig für „Umwelt, Innovation und Baukultur“. Ein unabhängiges „Kuratorium für Baukultur“ wird als Koordinationsstelle die ganzheitliche Bewältigung der Querschnittsaufgabe Baukultur unterstützen. Und schließlich gibt es ein „Impuls-Paket für Baukultur“, das mit immerhin 73 Millionen Euro pro Jahr dotiert ist und von der Innovations- und Forschungsförderung bis zu einer Bildungsoffensive und zur Förderung des Planungsexports für die rasche Umsetzung baukultureller Strategien sorgt.

Ganz so, wie es sich die „Plattform für Architekturpolitik und Baukultur“, eine gemeinsame Initiative von Berufsvertretungen, Bildungseinrichtungen und Architekturzentren, im Herbst 2006 vor den jüngsten Nationalratswahlen gewünscht hat, ist es bekanntlich nicht gekommen. Im aktuellen Regierungsprogramm ist Baukultur nur mit einem Satz erwähnt. Im Kapitel über „Medien, Kunst, Kultur und Sport“ findet sich unter dem Stichwort „Architektur“ die lapidare Aussage: „Ausgehend vom Baukulturreport wird die Bundesregierung Maßnahmen zur Verankerung qualitativer Baukultur in allen Bereichen des öffentlichen Lebens setzen und die Vermittlungstätigkeit für Baukultur und zeitgenössische Architektur forcieren.“ Das ist immerhin umfassend, wenn auch wenig konkret.

Wer das Programm genauer liest, findet aber an unerwarteten Stellen Aussagen mit Architekturbezug: Die beabsichtigte Förderung von „Vielfalt im Wohnbau“, „umweltschonendem Wohnen“ und „erschwinglichen Wohnungen für junge Menschen“ hat im Justizkapitel Platz gefunden; die „thermische Sanierung sämtlicher Nachkriegsbauten bis 2020“ und die Ankündigung, dass ab 2015 nur noch Wohnungen gefördert würden, die dem „Klima-Aktiv-Passivhaus-Standard“ entsprechen, im Kapitel „Ländlicher Raum, Energie und Umwelt“; die Umsetzung harmonisierter Bauordnungen - beschränkt auf den Bereich „barrierefreies Bauen“ - im Kapitel „Soziales“; und die „Optimierung der Raumplanungspolitik zwischen Gemeinden, Land und Bund“ im Kapitel „Forschung, Technologie und Infrastruktur“.

Es bleibt also alles beim Alten: Die Querschnittsmaterie Baukultur ist - ohne als solche genannt zu werden - aufgeteilt auf eine Vielzahl von Ressorts, und wenn das Wort Baukultur explizit ins Spiel kommt, wird es reflexartig dem Kunstbereich zugeordnet. Dort hat es aber nur wenig zu suchen. Baukultur muss ähnlich verstanden werden wie die Esskultur eines Landes. Esskultur beginnt dort, wo man nicht mehr allein deshalb isst, um satt zu werden. Sie drückt sich im persönlichen Geschmack aus, in der Lieblingsspeise, aber auch im Sozialen, in der Inszenierung eines gemeinsamen Essens oder eines Fests. Esskultur ermöglicht regionale kulturelle Unterscheidungen und stärkt damit lokale Identitäten. Weiter gefasst, bezieht sie heute auch globale Fragen mit ein, etwa ob die Zutaten unter ökologisch und sozial akzeptablen Bedingungen hergestellt und fair gehandelt wurden.

Eines ist dabei wichtig: Schnitzel, Sushi und Spaghetti stehen für unterschiedliche Esskulturen, über deren jeweilige Vor- und Nachteile man diskutieren kann. Eine Tiefkühlpizza in der Mikrowelle zu wärmen und beim Fernsehen zu verschlingen, ist dagegen keine andere Esskultur, sondern gar keine. Wer nur isst, um satt zu werden, hat keine Kultur. Dasselbe gilt fürs Bauen: Wer nicht mehr will als ein Dach über dem Kopf und ein warmes, sauberes Zimmer, hat keine Baukultur. Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit sind wichtig, aber wenn sie zu den zentralen, alles andere bestimmenden Faktoren werden, bleibt die kulturelle Qualität auf der Strecke. Zu Recht bedauern wir jeden, der sein Essen nur nach ihnen ausrichten muss. Beim Bauen sollte es nicht anders sein: Ohne ein Überschreiten des rein Zweckmäßigen gibt es keine Kultur.

Das gilt auch für Bereiche des Bauens, die scheinbar wenig mit Baukultur zu tun haben. Eine Straße dient nicht nur dem Zweck, möglichst schnell von A nach B zu kommen. Sie ist zugleich ein wichtiges Element der Kulturlandschaft und muss entsprechend sorgfältig trassiert und gestaltet werden. In der Landwirtschaft - aus deren Domäne der Begriff der „Kultur“ ja ursprünglich stammt - hat man dieses Prinzip längst begriffen. Österreichs Bauern sehen ihre Leistung nicht mehr allein im Ertrag ihrer Felder, sondern auch in ihrem immateriellen Beitrag zur Pflege der Kulturlandschaft, für den sie durchaus selbstbewusst öffentliche Förderungen beanspruchen.

Die Forderung der Plattform für Architekturpolitik und Baukultur nach einer direkten, massiven Förderung der Baukultur war, so betrachtet, weniger überzogen, als sie auf den ersten Blick erscheint. Schon heute fließen ins Bauen enorme öffentliche Mittel, freilich ohne klare Qualitätsbindung. Im Jahr 2005 betrugen die Bruttoinvestitionen der öffentlichen Hand inklusive der immer zahlreicheren ausgegliederten Gesellschaften 5,5 Milliarden Euro, also rund zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts, dazu kommt die Wohnbauförderung. Die Verantwortung der öffentlichen Hand, diese Beträge nicht nur zweckdienlich, sondern auch im Sinn der Baukultur einzusetzen, ist entsprechend groß. Um sie wahrzunehmen, müsste das klassische Spiel, Wirtschaftsförderung mit gut im Wahlkampf verkaufbarer Klientelpolitik zu kombinieren, um den Faktor Baukultur erweitert werden. Dann ginge es freilich nicht mehr so sehr um Quantität, sondern vor allem um Qualität, also nicht nur darum, wie viele Altenheime, Ortsumfahrungen und Volksschulen errichtet oder saniert wurden, sondern auch um die Frage, wie gut diese konzipiert, entworfen und ausgeführt sind. Das ist politisch freilich riskant, weil Qualitätsdiskussionen gerne emotional und kontroversiell geführt werden.

Die Absicht in der aktuellen Regierungserklärung, „qualitative Baukultur in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu verankern und die Vermittlungstätigkeit für Baukultur und zeitgenössische Architektur zu forcieren“, ist, aus dieser Perspektive betrachtet, ein wesentlicher und sogar mutiger Schritt. Es wird darauf ankommen, wie er umgesetzt wird. Der Baukulturreport, von dem laut Regierungsprogramm dabei ausgegangen werden soll, liegt seit November 2006 vor. Seine breite Veröffentlichung als Buch und im Internet hängt - so die Gerüchteküche - nur noch von Budgetfragen ab, die in den nächsten Wochen geklärt sein sollten. Die Empfehlung, die Querschnittsmaterie Baukultur besser zu koordinieren und ein Impulsprogramm zu ihrer Förderung in die Wege zu leiten, wird sich wohl auch dort finden. Damit wären die nächsten Schritte vorgegeben. Es geht vor allem um die Bereitschaft, sich der ebenso mühsamen wie spannenden Qualitätsdiskussion zu stellen und Investitionen der öffentlichen Hand so zu koordinieren, dass sie an Qualitätskriterien gebunden sind. Auf die erste gemeinsame Erklärung der Minister Schmied, Bartenstein, Pröll und Faymann zum Thema Baukultur darf man jedenfalls gespannt sein.

Spectrum, So., 2007.01.28

19. November 2006Christian Kühn
Spectrum

Schön schiach

Nach Architektur sieht es nicht aus, aber was ist es dann? Das „Fluc“ am Wiener Praterstern: über den fast gelungenen Versuch, ein Haus zu bauen, ohne es zu gestalten.

Nach Architektur sieht es nicht aus, aber was ist es dann? Das „Fluc“ am Wiener Praterstern: über den fast gelungenen Versuch, ein Haus zu bauen, ohne es zu gestalten.

Auch wenn es kaum mehr wahrnehmbar ist: Der Praterstern, einer der großen Verkehrsknotenpunkte Wiens, hatte einmal eine Form. Unter Josef II. 1786 als Sternplatz angelegt, folgte sein Grundriss einem Dreiviertelkreis, aus dessen Zentrum strahlenförmige Alleen in die Aulandschaft führten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Form ausradiert, um die Funktion des Platzes zu verbessern. Die Bahn, die bis dahin der Kreisform gefolgt war, führt seit der Umgestaltung 1956 bis 1959 in Hochlage quer über den Platz, die sternförmigen Straßen sind in einen Verteilerkreis umgelenkt. Wer dessen Kontur genauer ansieht, entdeckt in der scheinbar rein funktionellen Verkehrsführung eine formale Präferenz, nämlich für die weich abgerundeten Geometrien der 1950er-Jahre. Man darf vermuten, dass im Radio gerade „Roll over Beethoven“ von Chuck Berry lief, als diese Nierentischkurve schwungvoll aufs Papier gebracht wurde.

Seine ursprüngliche Konnotation als Grenze zur Wildnis ist der Praterstern nie ganz losgeworden, auch wenn die Stadt längst über diese Grenze hinausgewachsen ist. Hier haust das Unheimliche, „Entrische“, dessen ausgelassenes Gesicht im Wurstelprater zum Vorschein kommt. Erst in der jüngeren Vergangenheit hat sich die Stadtplanung im Zuge des U-Bahn-Baus wieder des „verkommenen“ Platzes angenommen: Der Gleisbrücke wird gerade ein neues Bahnhofsgebäude nach einem Entwurf von Albert Wimmer übergestülpt, und Boris Podrecca darf sich um die Platzgestaltung zur „schönen“, zur Stadtseite hin kümmern, Glasbaldachin, Grünpergolen und lasierte Bodenplatten inklusive. Man kann diese Geschichte als eine Abfolge von Versuchen lesen, das Wilde, Andere in den Griff zu bekommen, zuerst mit formalen, dann mit funktionellen Mitteln und schließlich - im jüngsten Verschönerungsversuch durch Podrecca - wieder mit formalen.

Zwischendurch hat dieser lange vernachlässigte Platz an der Grenze eine Szene angezogen, die auf der Suche nach Raum für ihre Kunst- und Musikprojekte war. Die Künstlergruppe [ dy'na:mo ], die sich mit Klangarchitekturen und Soundinstallationen befasst und dafür den Begriff „fluctuatedrooms“ prägte, gründete 2002 das „Fluc“, einen Eventraum, der sich bald zu einem Brennpunkt der neuen Wiener Musikszene entwickelte. Als das „Fluc“ im Zuge des Bahnhofumbaus aus seinem Provisorium ausziehen musste, entstand die Idee, eine Straßenunterführung in Richtung Wurstelprater für die eigenen Zwecke zu adaptieren und den Architekten Klaus Stattmann mit einem Konzept dafür zu beauftragen.

Stattmann ist ein Schüler des Coop-Himmelb(l)au-Gründers Wolf Prix, der zum entschiedenen Formalismus seines Meisters auf Distanz zu gehen versucht. „Performativer Materialismus“ statt Form lautet die Devise, mit der er 2003 bei der Architekturbiennale in São Paulo zusammen mit „the next ENTERprise“ und Wolfgang Tschapeller ausstellte. Das neue „Fluc“ sollte möglichst so roh und ungestaltet aussehen wie das Vorgängerlokal. Diese formale Absichtslosigkeit musste aber schon allein aus baurechtlichen Gründen exakt geplant werden. Als Architekt gerät man hier in ein prinzipielles Dilemma: Ist eine absichtslose Ästhetik überhaupt möglich? Und gibt es am Ende einen Unterschied zur konventionellen Architektur, außer dass es sich eben um eine andere Konvention handelt, statt „schön“ eben „schön schiach“?

Mit ähnlichen Fragen hat sich ein Wiener Architekt befasst, den Stattmann als Referenz nennt: Hermann Czech. In einem Text über „Manierismus und Partizipation“ erklärte Czech schon 1977, dass es ihm nicht um eine Ästhetik des Hässlichen gehe. Architektur müsse aber offen sein fürs Zufällige, für Störungen, für den Einbruch des Fremden ins eigene Projekt. Diese Haltung fordert einerseits die Bescheidenheit zuzugeben, dass Architektur unsere Umwelt- und Lebensprobleme „nicht lösen wird, so wenig wie Musik unsere Lärmprobleme löst“. Und andererseits den Mut, trotzdem formale Entscheidungen zu treffen, die das Zufällige und Irreguläre enthalten. Der Manierismus - im Wortsinn die Auflösung eines Stils durch die persönliche Handschrift eines Künstlers - wird bei Czech zu einer Methode, sich den Zugang zur Wirklichkeit nicht durch Stile und Konventionen zu verstellen und auch dem Benutzer Raum für Interpretationen zu lassen. Architektur müsse robust genug sein, um sich anzulehnen, ansonsten aber im Hintergrund bleiben und nur sprechen, wenn sie gefragt wird.

In diesem Sinn kann man das neue „Fluc“ als fast geglückt bezeichnen. Es besteht aus Stahlcontainern, die teilweise modifiziert sind, um einen stützenfreien größeren Raum zu ergeben. Ein schräger Gitterträger überspannt den Wurzelbereich des angrenzenden Baumes, der besonders zu schützen war, und trägt zusätzlich einen Schanigarten über der Treppe, die hinunter in die Passage führt. Die Passage selbst bleibt unter der Straße unverändert. Am anderen Ausgang wurden allerdings einige Tonnen Beton herausgeschnitten, um über der Bühne einen überhöhten Aufbau mit großem Fenster zum Riesenrad zu schaffen, und der frühere Ausgang wurde in eine Tribüne mit Sitzstufen verwandelt.

Im Vergleich zu den Computervisualisierungen, mit denen die Stadt überzeugt werden konnte, das „Fluc“ de facto zum Auftakt des Wurstelpraters zu machen, ist die Realität weder schick noch dynamisch, was zu so viel Unmut bei der zuständigen Vizebürgermeisterin, Grete Laska, führte, dass die Containeransammlung mit einem Eins-zu-eins-Modell eines roten Riesenradwaggons garniert werden musste. Das fügt sich allerdings gut zu den blauen Sperrholzaufbauten, mit denen Stattmann selbst sein Projekt überzogen und damit die unabhängigen Teile, aus denen es besteht, ohne Grund wieder in ein Ganzes zusammengebunden hat. Könnten diese Formen - die aus einem früheren Projekt von Stattmann, einer „Riffstruktur“ für den Donaukanal, abgeleitet sind - sprechen, hätten sie wohl nicht mehr zu sagen als: Wir sind himmelb(l)au. Ganz ohne Stil scheint der „Performative Materialismus“ halt doch nicht auszukommen.

Spectrum, So., 2006.11.19

23. Oktober 2006Christian Kühn
André Krammer
dérive

Der erratische Zustand der Realität

Yona Friedman, geb. 1923, ist französischer Architekt, Architekturtheoretiker und Stadtplaner ungarischer Herkunft, wohnhaft in Paris. In den 1960er Jahren veröffentlichte er die Manifeste „Architecture Mobile“ und „La ville spatiale“. Diese visionären Megastrukturen über bestehenden Städten, in denen die BewohnerInnen ihre räumliche und soziale Welt flexibel gestalten sollten, sind bis heute viel diskutierte Klassiker der städtebaulichen Avantgarde. Friedman sprach in seinem Vortrag in Wien über das Prinzip der Unberechenbarkeit und Unkontrollierbarkeit in der Mathematik, Physik, aber auch von räumlichen und sozialen Entwicklungen. Er plädiert angesichts einer erratischen Realität für das Operieren mit offenen Systemen, für eine in die Praxis umgesetzte direkte Demokratie, nicht zuletzt in der Produktion von Raum.

Yona Friedman, geb. 1923, ist französischer Architekt, Architekturtheoretiker und Stadtplaner ungarischer Herkunft, wohnhaft in Paris. In den 1960er Jahren veröffentlichte er die Manifeste „Architecture Mobile“ und „La ville spatiale“. Diese visionären Megastrukturen über bestehenden Städten, in denen die BewohnerInnen ihre räumliche und soziale Welt flexibel gestalten sollten, sind bis heute viel diskutierte Klassiker der städtebaulichen Avantgarde. Friedman sprach in seinem Vortrag in Wien über das Prinzip der Unberechenbarkeit und Unkontrollierbarkeit in der Mathematik, Physik, aber auch von räumlichen und sozialen Entwicklungen. Er plädiert angesichts einer erratischen Realität für das Operieren mit offenen Systemen, für eine in die Praxis umgesetzte direkte Demokratie, nicht zuletzt in der Produktion von Raum.

dérive: Sie haben Systeme konzipiert, die kontinuierlich verändert werden können – auf Grund sich verändernder Bedürfnisse und Wünsche. Heute dienen Architektur und Stadtplanung oft der Etablierung von Marken – das impliziert ein fixiertes, wieder erkennbares Bild. ArchitektInnen entwickeln ihre eigene Marke, um als „Stars“ wahrgenommen zu werden. Gibt es noch Raum für Konzepte und Strategien?

Yona Friedman: Ich möchte nicht ungerecht sein. Aber das System der Stars ist eine lächerliche Angelegenheit. Ich denke, dass Kultur von Gewohnheiten und Stilen geprägt ist. Es gibt natürlich individuelle Positionen, die aber in eine Gesamtheit eingebettet sein sollten. Auch das „Star-System“ der Vergangenheit brachte negative Resultate. Gotische und mittelalterliche Architektur war großartig, gleichzeitig individuell und doch ein gemeinsamer Stil. Wenn man gewisse Tendenzen in der Renaissance betrachtet, findet man hingegen Schwächen. Ein Stil da, ein anderer dort und keine Kohärenz. Die Kohärenz beginnt auf einer unteren Ebene, nicht auf der „Star“-Ebene. Und es gibt wunderbare Barock-Architektur, aber nicht unbedingt als Folge eines „Star“-Systems.

dérive: Hat Le Corbusier Ihre ville spatiale kommentiert?

YF: Ja – positiv. 1957 war ich sehr unsicher. Ich dachte, ich entwickle mich weg von der Architektur-Gemeinschaft. Ich habe während des CIAM-Kongresses in Dubrovnik bemerkt, dass die ville spatiale etwas Neues für die Architekten war. Ich wusste erst nicht, ob ich hingehen sollte. Ich traf Le Corbusier, und wir sprachen zwei Stunden. Er sagte mir: „Ich würde so etwas nicht machen, aber Sie müssen es machen. Alle Architekten werden gegen Sie sein. Aber das macht nichts.“ Es war eine sehr starke Unterstützung und ich hatte keine Bedenken mehr, mich mit diesem Rückhalt an Alison und Peter Smithson zu wenden. Aber ich komme noch einmal auf Ihre allererste Frage zurück. Le Corbusier hatte eine sehr seltsame Einstellung. Sein Erfolg war ja, dass er kopiert wurde, und er wurde oft kopiert. Aber er war zornig auf die Leute, die ihn kopierten. Das ist sehr seltsam. Weil ja genau diese Kopien sein Erfolg waren.

dérive: In der ville spatiale erbauen die BewohnerInnen die Stadt nach ihren individuellen Präferenzen - der/die ArchitektIn ist nicht SchöpferIn einer finalen Form, sondern stellt ein Rahmenwerk zur Verfügung. Aber individuelle Wünsche werden oft manipuliert – etwa durch Werbung und Kommerz. Sind freundliche, aufgeklärte NutzerInnen nicht eine Illusion?

YF: Ja, freundliche, aufgeklärte NutzerInnen sind eine Illusion, aber das kümmert mich nicht. Es können dumme NutzerInnen sein. Wenn man Leute auf der Straße anschaut, sind diese nicht notwendigerweise geschmackvoll angezogen, aber der generelle Eindruck ist vielfältig. Viele dumme NutzerInnen würden eine facettenreiche Landschaft erzeugen. Einfach auf Grund ihrer Anzahl und auf Grund von Regeln. Ein anderes Beispiel: Auf der Straße schaut man als ArchitektIn auf die Gebäude, aber das tut sonst niemand. Die Straße wird von den Auslagen der Geschäfte gebildet. Die sind banal, und doch geben sie der Straße ihre Lebensqualität.

dérive: Aber etwas anzuschauen und etwas zu erfahren sind zwei unterschiedliche Dinge. Sind Ihre Konzepte in Bezug auf Partizipation und Wahlmöglichkeit der NutzerInnen und Offenheit der Struktur universelle Prinzipien oder sind diese vom Kontext abhängig?

YF: Für mich ist das ein universelles Prinzip. Nicht nur in der Architektur. In meinen letzten Büchern habe ich Unberechenbarkeit thematisiert, in der Physik, in der Mathematik. Die Mathematik wird oft auf Arithmetik reduziert, auf ein regu-läres System, aber das ist sie nicht, sie ist voll von unberechenbaren Elementen. Ich könnte mich auf Gödel beziehen, aber auch, auf einer einfacheren Ebene, auf Leibniz. Man nimmt eine Zahl, addiert eine weitere. Und so weiter. Erhält eine Primzahl, dann eine perfekte Zahl, auf einmal eine Quadratzahl. Das bedeutet, dass man nie weiß, was als nächstes kommt. Das ist die Definition von Unberechenbarkeit/Unkontrollierbarkeit. Von einer bestimmten Stufe aus weiß man nicht, was die nächste bringen wird. Auch im sozialen Verhalten ist es ein Prinzip. Man weiß nicht, wie sich Leute verhalten werden. Alles ist möglich, zu jedem Zeitpunkt. Das ist die erratische Struktur der Realität.

dérive: Gestern in Ihrem Vortrag nannten Sie Architektur ein Hindernis. Als solches steht sie gewissermaßen diesen erratischen Prozessen im Weg. Deshalb möchten Sie sie zur Seite schieben. Hannah Arendt hat über öffentlichen Raum geschrieben, dass er etwas ist wie ein Tisch, ein Objekt zwischen Menschen, das diese gleichzeitig trennt und verbindet. Aber ein Objekt wird benötigt. Das Objekt hat hier nicht nur die Rolle eines Hindernisses, sondern auch die eines Gegenstandes der Verhandlung.

YF: Sie kennen die Raumdefinition von Leibniz. Raum existiert nicht, außer es gibt mindestens ein Objekt. Das ist evident. Das zeigt eine gewisse Komplementarität. Hindernisse sind notwendig, aber ich mag die Idee nicht, dass sie vorherbestimmt sind.

dérive: Es gibt zu viele Hindernisse in der Architektur?

YF: Das hängt vom Kontext ab, deshalb betone ich immer, dass soziales Verhalten erratisch ist. Leute brauchen manchmal Hindernisse, und sie schaffen welche. Manchmal wollen sie sie loswerden. Aber ich denke nicht, dass die Architekten das alleine definieren.

dérive: Welche Form von Machtstruktur wäre Ihrer Meinung nach fähig, ein derart aufwändiges System wie die ville spatiale zu implementieren?

YF: Ich denke, die Machtstruktur wäre nicht geplant und wäre mehr und mehr reduziert. Es würde sehr stark von natürlichen Führungstalenten abhängen. Leute haben eine Idee und könnten eine Gruppe bilden. Das ist noch nicht sehr gefährlich.

dérive: Wie sehen Sie das Verhältnis von Privatheit, Öffentlichkeit und Politik? Was denken Sie über die Beziehung von Politik, Architektur und Urbanismus? Glauben Sie an große Politik, große Projekte?

YF: Ich denke, darin liegt meine Kritik an der Mainstream-Architektur. Sie ist unweigerlich ein politisches Werkzeug. Das Star-System ist typischerweise die Kreation einer bestimmten politischen Einstellung. Mein Denken ist nicht unpolitisch, aber auf andere Weise politisch. Sie könnten es direkte Demokratie nennen, wenn Sie wollen. Aber es geht nicht um große Worte. Sie entsteht im Handeln. Leute laufen über die Kärntnerstraße, das ist ursprüngliche, direkte Demokratie. Niemand stößt an den anderen an. Niemand tötet den anderen. Es funktioniert. Es hat seine eigene Regelhaftigkeit. Das ist für mich Gesellschaft: Individuen, die von Gepflogenheiten zusammengehalten werden. Die Routine ist das stärkste Element. Das ist niemals abstrakt, es passiert affektiv.

dérive: Sehen Sie Ihre Arbeit für die UNESCO als politisch an?

YF: Ja und Nein. Ich habe das nicht als politisch betrachtet, aber es hat Menschen beeinflusst. Sie hatten ein Problem und suchten nach Rat. Und Rat kann nicht nur gelehrt sein, man kann Anstöße geben. Sie machten es dann auch auf Ihre Weise. Ich weiß nicht, ob Sie Paolo Frere kennen. (Anm. d. Red.: Der Initiator einer Pädagogik der Unterdrückten) Er meinte, es wäre das Wichtigste, AnalphabetInnen zu unterrichten. Das war der Grund dafür, dass wir befreundet waren, weil ich das auf visuellem Gebiet versuchte. Als ich Zeichnungen und Poster mit Leuten im öffentlichen Raum in Indien machte, fingen die Leute an, es selbst zu tun, es wurde zu einer Form des Ausdrucks. So wie Rap politisch wurde. Ich denke, es geht immer um die Idee der eigenen Verantwortung in seinen Belangen. Du solltest maximale Information bekommen. Die Information mag parteiisch sein, das ist ihr Charakter. Aber du musst sie schälen und herausnehmen, was du brauchst. Mit der Architektur und der Gesellschaft oder auch der Mathematik ist es das gleiche. Es gibt dieses unausgesprochene Prinzip dahinter. Unausgesprochen, weil ich es nicht kenne.

dérive: Können wir in der Betrachtung des Phänomens von Zersiedelung und Suburbanisierung – trotz aller Kritik – etwas von diesen ungeplanten Territorien lernen? Und: Die Hierarchien zwischen Zentrum und Peripherie werden unscharf. Wird die Polarität verschwinden?

YF: Ich glaube nicht. Ich gebe ein Beispiel: Von Paris nach Tours braucht man 55 Minuten. Von einem Vorort ins Pariser Zentrum ist es mehr als eine Stunde. Aber Tours ist nicht eine Vorstadt von Paris, sondern ein eigenes Zentrum. Paris oder London zu besuchen, ist ein routinierter Akt. Die Peripherie wird nicht besichtigt.
Die Vorstädte wurden mit gutem Willen gebaut. Aber es existiert keine Routine. Sie haben ihre Rolle nicht gefunden.
Es ist nicht nur eine Frage der Ökonomie. Eine ärmliche Gegend innerhalb einer großen Stadt ist etwas wie eine unabhängige Einheit.
Einmal habe ich gesagt, dass das Land unsere letzte Kolonie ist. Aber es ist noch schlimmer. Die Vorstädte sind unsere letzten Kolonien. Und Kolonien explodieren. Denke Sie an die letzte Revolte in Paris. Es war eine sehr interessante Angelegenheit. Es war keine politische Revolte, und sie war nicht zentriert. Es hat angefangen, als die Leute wirklich verärgert waren. Ich glaube, soziale Entwicklungen können nicht gelenkt werden. Aber man kann Werkzeuge bereitstellen, und die Menschen machen etwas damit.

dérive: Gibt es für Sie eine kritische Größe einer Stadt?

YF: Sehen Sie – das ist interessant in Indien. Es ist ein überbevölkertes Land, aber die Städte sind nicht überbevölkert. Ich kannte Bombay in den siebziger Jahren. Heute sind 36 Jahre vergangen. Bombay ist gewachsen, aber nicht explodiert, wie man angenommen hatte.
Auch andere indische Städte sind gewachsen, ohne zu explodieren. Indien hat eine Kleinstadt-Struktur behalten. Ich denke, China auch, obwohl das Land so weitläufig ist – und obwohl Shanghai zu groß geworden ist.
Anders ist die Sache bei Istanbul: Als ich Istanbul kennen lernte, gab es 800.000 EinwohnerInnen. Istanbul für etwa zwei Millionen EinwohnerInnen wäre auch noch ok. Aber heute hat Istanbul 17 Millionen Einwohner. Die Großstadt ist zwar sehr attraktiv, aber dann gibt es auch ziemlich große Enttäuschungen und Probleme.

dérive: Implizieren Sie damit auch, dass – wenn neue Städte geschaffen werden sollten – ab einer gewissen Größe neue Zentren geplant werden sollten? In Asien planen Sie ja gegenwärtig neue Städte. Und auch andere europäische PlanerInnen bauen dort neue Städte.

YF: Ich weiß nicht, wo neue Städte hinführen. Unter Alexander dem Großen wurden 200 Alexandrias gegründet. Heute gibt es eines. Oder wenn Sie nach Amerika schauen: Die Zahl bedeutender Städte des 19. Jahrhunderts, die verschwunden sind, ist überraschend – es ist keine verschwunden. Es ist seltsam, aber so ist es, an vielen Orten. Und die Situation in Europa ist auch weit weniger dramatisch als überall anderswo. In Europa hat sich nie eine Konzentration im Sinne einer Mega--city ausgebildet. Brüssel ist die Hauptstadt Europas und scheint in der Größe beinahe konstant zu bleiben.

dérive: Wir haben eine andere Demografie. Sie nimmt ab.

YF: Außerdem haben wir eine andere ökonomische Realität. In Indien ist ein Grund dafür, dass es keine überbevölkerten Städte gibt, dass es viele Sprachen gibt. Es gibt keine indische Sprache. Es wird Marathi gesprochen, dann gehen Sie in ein Dorf zweihundert Kilometer entfernt, und da ist es komplett anders. Nicht völlig anders, aber anders genug.

dérive: Was denken Sie über den Boom der so genannten minimalistischen Architektur heute? Sie haben ja in den fünfziger und sechziger Jahren ein spezielles Konzept des Minimalen erarbeitet. Wir denken, dass Ihr Konzept des Minimalen eine sehr soziale Idee war und nicht eine rein ästhetische. Minimalismus heute ist dagegen sehr teuer geworden.

YF: Ich weiß. Das hat kommerzielle Gründe. Das ist eben das Star-System. Etwa vor zehn Jahren hat die Stadt nach Unterkünften für Obdachlose in Paris gesucht. Ich machte einen Vorschlag, den ich „2 Wände und 1 Dach“ nannte. Die Leute sollten diese einfachen Strukturen besetzen. Es war als eine Form organisiertes Besetzens gedacht. Das wurde abgelehnt.

dérive: Vielleicht mochte der Wohlfahrtsstaat ihr Modell nicht. „2 Wände und 1 Dach“ ist nicht genug für den Wohlfahrtsstaat, weil er einen minimalen Standard definiert und man nicht darunter gehen kann.

YF: Sicher. Und es gibt noch zwei Schwier-igkeiten: Die Firmen, die der Staat fragte, waren nicht interessiert, weil es nicht perfekt aussah. Und zweitens stellte der Staat Land zur Verfügung, was ja das teuerste Gut ist, und deshalb wollte er etwas Spek-takuläreres machen. Mein Ansatz war, dass nicht Land zur Verfügung gestellt werden sollte, sondern Luftraum genützt werden sollte wie etwa über den Rangierbahnhöfen.

dérive: Denken Sie, dass Ihre Ansätze auch in der Mainstream-Praxis Anwendung finden könnten?

YF: Wissen Sie, es ist in meinem Interesse, gewisse Prozesse in Gang zu bringen. Ich hatte nie die Illusion, dass der Prozess mir gehört oder dass ich ihn kontrollieren könne. Ich kann nicht sagen, was das Resultat sein wird, weil ich auch nicht an finale Resultate glaube. Ich kann nur Prozesse in Gang bringen und dann … ok ...

dérive: Architektur ist eine Einladung zu einem Spiel?

YF: Ich glaube, dass ArchitektInnen nicht verstehen, dass sie nur den Ausgangspunkt eines Prozesses gestalten. In den Siebzigern war ich in Hongkong. Die Regierung hatte einige Gebäude errichtet. Ein Jahr später sahen sie anders aus, weil die Leute Balkone anbauten und Vogelkäfige und Gott weiß was. Ich habe Fotografien von Häusern gemacht, wo man die ursprüngliche von Architekten entworfene Form nicht mehr ausmachen konnte. Als ich 1949 Le Corbusier kennenlernte, sagte er mir: „Schauen Sie sich nicht die Gebäude von mir an, die Leute haben sie verändert. Es ist eine Katastrophe, Sie können sich die cité universitaire anschauen gehen, aber alles andere wurde verändert.“ Aber das war genau das Schöne, dass die Gebäude verändert wurden.

dérive, Mo., 2006.10.23



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01. Oktober 2006Christian Kühn
Spectrum

Kein Geruch nach Gummi

Eine Mischung aus Autohaus und Museum, KFZ-Werkstätte und Entertainmentcenter: Ein Salzburger Autohändler leistet sich eine neue Konzernzentrale.

Eine Mischung aus Autohaus und Museum, KFZ-Werkstätte und Entertainmentcenter: Ein Salzburger Autohändler leistet sich eine neue Konzernzentrale.

Kaufhausmusik, das ist unter Komponisten ein Schimpfwort, mit dem verkaufsfördernder Hinter grundklang ohne künstlerischen Wert abqualifiziert wird. Analog dazu sollte auch Architektur, die primär dem Verkauf dient, keinen allzu hohen Status genießen. Hier ist die Sachlage aber etwas komplizierter. Die Inszenierung von Konsumerlebnissen ist in den letzten Jahren zu einer immer wichtigeren und unter Architekten zugleich hoch angesehenen und begehrten Bauaufgabe geworden. Luxusmarken wie Prada lassen ihre Flagshipstores bei Rem Koolhaas und Herzog & de Meuron arbeiten. Coop Himmeb(l)au planen für BMW ein Gebäude, das funktional zwar nicht mehr als ein theatralisch aufgezwirbeltes Auslieferungslager ist, formal aber genauso gut ein Kunstmuseum sein könnte. Ben van Berkel durfte kürzlich in Stuttgart für die Konkurrenz sogar ein echtes Museum errichten, das als das schönste Schaufenster im ganzen Daimler-Chrysler-Konzern gelten darf.

Eine ernst zu nehmende Architekturgeschichte des späten 20. Jahrhunderts wird solchen Bauaufgaben deutlich mehr Raum geben müssen als etwa dem Sakralbau, sofern sie zu Letzterem überhaupt noch nennenswerte Beispiele findet. Sich von Abgrenzungen frei zu machen, wie sie Nikolaus Pevsner im Jahr 1976 formuliert hat („Ein Fahrradschuppen ist ein Gebäude, die Kathedrale von Lincoln ist ein Stück Architektur“), empfiehlt sich für Architekturhistoriker also schon aus Selbsterhaltungstrieb.

Pevsners Verdikt war damals selbst Reaktion auf eine funktionalistische Moderne, die die Gleichheit aller Bauaufgaben vor den Gesetzen der Baukunst postuliert hatte. Auch hier könnte man auf Seiten des Historikers Selbsterhaltungstrieb vermuten: Wenn Kirchen wie Fahrradschuppen aussehen, gibt es für den Historiker nicht mehr viel zu tun, außer vielleicht die eine oder andere Verwechslung aufzuspüren. Charles Jencks hat das in seinem epochemachenden Buch über die „Sprache der postmodernen Architektur“ anhand von Mies van der Rohe vorexerziert, dessen Kapellen aussehen wie Heizhäuser und vice versa.

Mit dem umgekehrten Problem, dass Auto- und Modehäuser heute aussehen wie Kathedralen und Museen, kann die Disziplin jedenfalls besser leben. Die Verwechslungen sind zwar nach wie vor das eigentlich Interessante. Zusätzlich gibt es aber auch für eine Architekturgeschichte, die sich primär als Formengeschichte versteht, wieder reichlich Stoff.

Dass ein Auto- oder Modehaus mit großen formalen Ambitionen geplant wird, ist heute also keine Besonderheit mehr. Spannender ist die Frage, wie weit ein solches Projekt zu einem künstlerischen Eigenwert findet. Bei den Extrembeispielen der architektonischen Kaufhausmusik ist das Teil der Aufgabe. Sie werden dafür von Gucci und Prada mit märchenhaften Budgets und Freiheiten ausgestattet, um Eingang in die Architekturgeschichte zu finden und damit die Marke zu stärken. Das wirkt bis zu einem gewissen Grad ansteckend und hebt in vielen Branchen die Nachfrage nach Architektur, wobei die Ansprüche an Repräsentation und Effekt freilich um einiges schneller wachsen als die Budgets und die Freiheiten.

Die neue Konzernzentrale der Pappas-Gruppe am Salzburger Flughafen ist ein bemerkenswertes Beispiel für diesen Trend. Das durchaus konservative „Familienunternehmen mit 2000 Beschäftigten“ hat sich hier ein Gebäude geleistet, in dem unterschiedliche Funktionen auf insgesamt 36.000 Quadratmeter Nutzfläche übereinander gestapelt sind. Auf der untersten Ebene befindet sich eine KFZ-Werkstätte, darüber eine Verkaufszone für die verschiedenen Marken des Daimler-Chrysler-Konzerns. Über diesem breit gelagerten Baukörper liegt ein schmälerer, zweigeschoßiger Verwaltungstrakt. Wie immer, wenn bei einem Verkaufsgebäude mehrere Geschoße übereinander liegen, stellte sich auch hier die Aufgabe, die Kunden nach oben zu locken. Erschwerend war in diesem Fall die erforderliche Geschoßhöhe der KFZ-Werkstätte, die bis zur Verkaufsebene einen Höhensprung von sechs Metern zu überwinden vorgab.

Der Entwurf für das Gebäude stammt von KadaWittfeldArchitektur, dem Aachener Büro, das Klaus Kada, langjähriger Professor an der Technischen Hochschule Aachen, zusammen mit Gerd Wittfeld betreibt. 2001 hatten sie einen Wettbewerb gewonnen, den Pappas für ein anderes Grundstück ausgeschrieben hatte. Zwei Jahre später folgte der Auftrag, für ein leicht reduziertes Raumprogramm auf dem neuen Grundstück ein Projekt zu entwickeln. Dessen Grundidee besteht darin, die Straße aufs Verkaufsniveau hinauf- und rund um das Gebäude herumzuführen. Damit diese Zufahrt nicht zu banal und vor allem - als offener Schauraum - auch von den umgebenden Straßen aus gut einsehbar ist, neigt sie sich in einer leichten Schleuderbewegung nach außen und dann nach unten, bevor sie artig in die Horizontale übergeht. Dass Kada, dessen Affinität zu schnellen Autos legendär ist, Spaß an dieser Idee hatte, darf angenommen werden.

Interessenten flanieren außen auf dieser Rampe und können über mehrere, den verschiedenen Marken des Konzerns zugeordnete Eingänge die Verkaufshalle betreten, die mit dem Servicefoyer auf der unteren Ebene über Rolltreppen verbunden ist. Die Halle wird von einem ausladenden Dach überspannt, das im mittleren Bereich verglast ist. Die Raumhöhe erlaubt einen zweigeschoßigen Bereich, in dem Büros untergebracht sind, die sich über Glaswände zum Servicefoyer öffnen und auch von dort belichtet werden. In den Verkaufsraum eingebaut ist ein aufwendiger Cafébereich, der nicht von KadaWittfeld, sondern von einem Schauraumspezialisten geplant wurde und den großzügigen Raumeindruck mit seinem halbhohen, dunkel furnierten Wall nicht gerade bereichert.

Eine Erklärung brauchen auch die diagonalen Elemente, die wie Flügel zwischen die Fahrebene der Rampe und die Dachkante gespannt sind. Ursprünglich als Teil des Tragwerks geplant, um das Dach zu stützen, haben sie in der ausgeführten Version keine statische Funktion mehr. Dekor sind sie trotzdem nicht: Ihre raumbildende Wirkung ist wesentlich, um die Aufmerksamkeit der Besucher nach innen zu lenken und dem Baukörper nach außen jene Mehrdeutigkeit zu geben, die ihn erst interessant macht.

Und wie ist das jetzt mit dem künstlerischen Eigenwert, der den Rahmen der Bauaufgabe sprengt? Vielleicht wäre ein bisschen weniger Glanz näher bei der Kunst gewesen, ein bisschen mehr Gummigeruch, asphaltierte Ruppigkeit und verzinktes Blech statt Edelstahl. Vielleicht führt der Weg zur Baukunst ja überhaupt in die andere Richtung und beginnt dort, wo ein Autohaus als Autohaus geplant wird und nicht als Mischung aus Museum und Entertainmentcenter.

Spectrum, So., 2006.10.01



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Autohaus Pappas

05. August 2006Christian Kühn
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Hier tanzt der Beton

Technisch komplex, formal ambitioniert: ein Schwimmbecken als schwebende Betonskulptur. Das Freibad im Südtiroler Kaltern - von den Wiener Architekten Marie-Therese Harnoncourt und Ernst Fuchs.

Technisch komplex, formal ambitioniert: ein Schwimmbecken als schwebende Betonskulptur. Das Freibad im Südtiroler Kaltern - von den Wiener Architekten Marie-Therese Harnoncourt und Ernst Fuchs.

Die kleine Gemeinde Kaltern in Südtirol ist bekannt für guten Wein und landschaftliche Schön heit. Wer vom Norden über den Brenner hierher kommt, spürt, dass er die Alpen hinter sich hat und dass es endlich nach Süden zu riechen beginnt. Die Berge, weniger beherrschend als im Norden, aber immer noch imposant, bilden den Hintergrund einer abwechslungsreichen Kulturlandschaft, die ihre Qualität jahrhundertlanger liebevoller Pflege verdankt. Der Kalterer See, nach dem die bekannteste Weinsorte der Region benannt ist, liegt ein wenig außerhalb des Gemeindezentrums inmitten von sanften Hängen, auf denen Weinstöcke und Obstbäume wachsen.

Am schönsten Badestrand des kleinen Sees - er lässt sich zu Fuß leicht in zwei Stunden umrunden - hat die Gemeinde als Erweiterung des bestehenden Lidos ein neues Freibad errichtet, mit Sport- und Kinderbecken, einer Bar und einer Tribüne für Veranstaltungen. Ursprünglich hätte hier ein Hallenbad entstehen sollen, für das im Jahr 2002 ein Wettbewerb ausgeschrieben wurde, aus dem die Wiener Architekten Marie-Therese Harnoncourt und Ernst Fuchs - die zusammen unter dem Namen „the next ENTERprise“ firmieren - als Sieger hervorgingen. Ein wenig hatte die Gemeinde bei diesem Projekt ins Schweizerische Vals geschielt, das sein internationales Renommee und seine touristische Attraktivität durch die von Peter Zumthor geplante Therme beträchtlich steigern konnte. Aus dieser Perspektive war die Wahl des Entwurfs von next ENTERprise eine kluge Entscheidung. Das Projekt war so außergewöhnlich, dass es bereits 2003 in Graz in der an Spektakulärem nicht gerade armen, von Zaha Hadid und Patrik Schumacher kuratierten Ausstellung über „Latente Utopien“ auffiel. Während die Mehrzahl der Beispiele dort eher nebulos als Vorahnungen neuer Technologien und einer neuen Formensprache der Architektur posierten, zeigten next ENTERprise eine reifes Projekt, das technisch komplex, formal ambitioniert und vor allem konkret war.

Auch bei der Architekturbiennale in Venedig 2004 konnte man einem Modell des Projekts begegnen, das sich inzwischen allerdings vom Hallenbad zum Freibad verwandelt hatte. Verantwortlich dafür waren lokalpolitische Auseinandersetzungen, die in dem Kompromiss geendet hatten, das Projekt nur in reduzierter Form zu verwirklichen. Das Grundkonzept des Entwurfs blieb trotz dieser Reduktion erhalten. Um das Grundstück möglichst wenig zu verbauen, ist das Bad auf mehreren Ebenen organisiert. Auf Seeniveau liegen die Umkleidekabinen und kleine, in der tragenden Konstruktion verborgene Räume mit Wasserspielen und Erlebnisbecken. Darüber liegt das „Sonnendeck“, eine weit ausladende Plattform mit den großen Schwimmbecken, auf der ein leichter, transparent wirkender Holzkiosk Bar und Shop aufnimmt. Der freie Blick auf den See bleibt damit von der Seepromenade fast vollständig erhalten.

So einfach dieses Konzept klingt, hat es doch eine Konsequenz, aus der next ENTERprise die Qualität ihres Entwurfs entwickelt haben. Da die Oberkante der Schwimmbecken rund fünf Meter über dem Boden liegt und dieser eigentlich nicht bebaut werden soll, stellt sich die Frage, wie man das Wasser in Schwebe halten kann, ohne den Raum darunter mit einer Stützkonstruktion zu verstellen. Die Architekten haben das gelöst, indem sie diese Konstruktion in eine Betonskulptur verwandelt haben, die nur an wenigen Stellen aus dem Boden herauswächst, das Gewicht des Wassers aber mit weit ausladenden Gesten auffängt. Besonders beeindruckend sind die Räume unter den Schwimmbecken mit ihren präzise gefalteten Decken. Zwei verglaste, kreisrunde Öffnungen im Boden des Sportbeckens erlauben einen Blick auf die Schwimmer und bringen zusätzliches Licht nach unten. Weitere Verbindungen zur Oberwelt öffnen sich aus den kleinen Räumen, in denen der Whirlpool und ein „Regenraum“ mit Wasserspielen untergebracht sind. Sie verengen sich trichterförmig nach oben und durchdringen die Wasseroberfläche, wo sie wie Inseln aus dem Wasser aufragen. Mit Edelstahl verkleidet, wirken sie wie kleine Modelle der Bergspitzen in der Umgebung.

Beton derart zum Tanzen bringen, wie es hier mit der Beckenkonstruktion vorgeführt wird, ist konstruktiv keine geringe Leistung. Das statische Konzept für das Tragwerk stammt vom Wiener Büro der Ingenieure Bollinger und Grohmann, die Tragwerksplanung von Bergmeister und Partnern aus Vahrn. Die Herstellung von Stahlbeton für Formen dieser Komplexität gleicht dem Gießen einer Skulptur, bei dem genau geplant werden muss, wie beim Einbringen des Betons die Luft aus den spitzen Winkeln der Gussform entweichen kann und welche Betonmischung für welchen Abschnitt die richtige ist. Die Ingenieure haben das Anliegen der Architekten, das Erscheinungsbild eines homogenen Gusskörpers zu erzeugen, bis ins Detail mitgetragen. Die Schalung ist perfekt, die Kanten scharf, und kein Spannanker hat Spuren des Herstellungsprozesses in der Oberfläche hinterlassen. Die Betonkörper enthalten Hohlräume, in denen die aufwendige Technik für die Versorgung der Becken untergebracht werden konnte.

Von solchen Anstrengungen merken die Besucher nichts. Sie genießen den Blick vom Sonnendeck, finden es praktisch, dass Bar und Shop nicht nur vom Bad, sondern auch von der Promenade aus benutzt werden können, und wenn sie nach Betriebsschluss vorbeiflanieren, wird ihnen vielleicht auffallen, mit wie viel Raffinesse die Architekten das leidige Thema der Abzäunung des Areals gelöst haben. Einige Elemente müssen noch Patina ansetzen, etwa die breiten hölzernen Handläufe der Reling auf dem Sonnendeck, die zu den Betonflächen passen werden, sobald sie ihre Farbe von gelb auf grau gewechselt haben. Und manches wird man vielleicht noch verbessern, etwa die Garderobekästchen, die nicht ganz an die einzigartige Atmosphäre des Raums herankommen, in dem sie aufgestellt sind.

Sicherlich hätte man das alles auch viel einfacher haben können, wie unzählige Freibäder beweisen, die aus nichts anderem bestehen als aus einem im Boden eingelassenen Becken und einer Baracke für die Umkleidekabinen. Aber es hängt wohl mit dem liebevollen Umgang mit der Landschaft zusammen, mit der über Jahrhunderte gewachsenen Kultivierung des Raums, dass man sich hier nicht mit einer solchen Lösung zufrieden geben wollte. Das Freibad ist in Kaltern nicht das einzige Beispiel dafür, dass diese Kultivierung nicht in der guten alten Zeit abgeschlossen wurde. Schräg gegenüber findet sich das grandiose Seehotel Ambach von Othmar Barth aus dem Jahr 1973, und in den letzten Jahren hat sich Kaltern mit dem Manincor-Weingut von Walter Angonese, Rainer Köberl und Silvia Boday, dem Weinhaus Punkt von Hermann Czech und dem Weincenter der Kellerei Kaltern von feld72 zu einer ersten Adresse für Architekturinteressierte entwickelt.

Spectrum, Sa., 2006.08.05



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Seebad Kaltern

09. Juli 2006Christian Kühn
Spectrum

Alle auf einen Blick

Hier das T-Center in Wien, ein Raumgedicht, übersetzt in die harte Prosa des Büroalltags. Dort ein Bürogebäude im Tiroler Stans, mit einem Innenraum, der einer Landschaft gleicht. Was sie gemeinsam haben: Sie teilen sich den Staatspreis für Architektur.

Hier das T-Center in Wien, ein Raumgedicht, übersetzt in die harte Prosa des Büroalltags. Dort ein Bürogebäude im Tiroler Stans, mit einem Innenraum, der einer Landschaft gleicht. Was sie gemeinsam haben: Sie teilen sich den Staatspreis für Architektur.

Unterschiedlicher könnten die bei den Projekte kaum sein, die sich heuer den Staatspreis für Architektur teilen: Das T-Center in Wien St. Marx, Sitz der Großunternehmen T-Mobile und T-Systems, geplant vom Architektenteam Domenig/Eisenköck/Peyker, und das Verwaltungsgebäude des Reiseveranstalters Travel Europe in der kleinen Tiroler Gemeinde Stans, geplant von den Vorarlberger Architekten Oskar Leo Kaufmann und Albert Rüf. Auf der einen Seite eines der größten Bürogebäude Österreichs mit einer Länge von über 250 Metern und einer Nutzfläche von rund 120.000 Quadratmetern, eine monumentale Skulptur, die eine Höhe von 60 Metern erreicht. Auf der anderen Seite ein eingeschoßiges, ruhiges Gebäude für 120 Mitarbeiter, das auf schlanken Stahlstützen ganz selbstverständlich über dem Gelände zu schweben scheint.

Das T-Center muss an dieser Stelle nicht lange vorgestellt werden: Es ist das Produkt einer höchst individuellen Architektursprache, eine Übertragung von Günther Domenigs Steinhaus vom Ossiacher See nach Simmering, vom empfindsamen Raumgedicht in die harte Prosa des Büroalltags. Die Ausnüchterung hat dieser Sprache durchaus nicht geschadet. Was an Poesie verloren geht, macht das Projekt durch Dimension und Dramatik mehr als wett. Sicher: Es gibt gemütlichere Bürohäuser, in denen sich besser Sonntagsreden darüber halten lassen, dass der Mensch im Mittelpunkt stünde. Hier ist es das System. Menschen sind in dieser Umgebung auf der Durchreise, vielleicht in die Chefetage, vielleicht zum nächsten Job. Den Architekten ist es geglückt, diesen Bedingungen nicht mit einem neutralen, im besten Fall adrett eingekleideten Hochhaus zu begegnen, sondern mit einem einzigartigen Baukörper, einigen der stärksten Innenräume Wiens und mit einer trotz aller Monumentalität sensiblen Anbindung ans lokale Umfeld mit seinen denkmalgeschützten Markthallen.

Ganz andere Bedingungen haben das Gebäude von Travel Europe in Stans geformt. Es symbolisiert einen Wendepunkt in der Geschichte eines mittelständischen Unternehmens. Noch unter dem Namen „Tirol Hotels“ hatte Travel Europe vor 20 Jahren mit der Vermittlung von Reisen nach Tirol begonnen. Innerhalb weniger Jahre gelang es den Firmeneignern, den Brüdern Anton und Helmut Gschwentner, die Aktivitäten des Unternehmens auf ganz Österreich und in der Folge auch auf die Nachbarländer, allen voran Tschechien und Ungarn, auszudehnen. Inzwischen bietet Travel Europe Reisepakete in ganz Mittel- und Osteuropa sowie in Südosteuropa an und verfügt außer der Zentrale in Stans über acht weitere Büros in verschiedenen europäischen Ländern. Die neue Firmenzentrale sollte diesen Aufbruch auch räumlich vermitteln, nicht zuletzt an die Mitarbeiter. Deren Geschäftspartner - zum überwiegenden Teil andere Reiseveranstalter, denen Travel Europe komplette Pakete von Fernreisen zum Weiterverkauf anbietet - sind in europäischen Großstädten angesiedelt. Um mit diesen Kunden auf einer Augenhöhe verhandeln zu können, sollte die Atmosphäre der neuen Firmenzentrale den neuesten Bürostandards in Paris oder Hamburg entsprechen, eingebettet allerdings in eine Erholungslandschaft, von der man in der Großstadt nur träumen kann.

Die Brüder Gschwendtner entschieden sich für einen Architekturwettbewerb mit einer kleinen Zahl von geladenen Büros. Bei der Auswahl der Büros und der Fachpreisrichter in der Jury ließen sie sich vom Architekten Andreas Orgler beraten, besichtigten aber auch selbst Referenzprojekte, unter anderem das Gebäude der „Montfort Werbung“ in Klaus in Vorarlberg von Oskar Leo Kaufmann. Im Wettbewerb, zu dem sechs Architekten geladen waren, setzte sich Kaufmann mit einem Entwurf durch, der die Ideen dieses Referenzprojekts weiterführt. Alle Büroräume liegen auf einer Ebene, darunter ein offenes Parkgeschoß für die PKWs der Mitarbeiter, darüber ein Dachgarten als Erholungszone. Der annähernd quadratische Grundriss von rund 50 mal 40 Metern ist von drei Lichthöfen durchbrochen,

Was auf den ersten Blick wie ein neutraler Großraum aussieht, ist in Wirklichkeit eine fein abgestufte, aber dennoch flexibel nutzbare Raumfolge. Das Dach folgt mit einem leichten Knick dem Gefälle des Hangs, wodurch sich im Inneren größere Raumhöhen im Eingangsbereich und eine zusätzliche Belichtungsmöglichkeit durch ein Lichtband ergeben. Weil auch die Niveaus im Inneren leicht differenziert sind, kommt nirgendwo das Gefühl auf, in einer einfachen Glaskiste zu sitzen. Der Raum gleicht eher einer Landschaft, ein Eindruck, der durch die Innenwände und Fassaden aus Glas verstärkt wird. „Wenn ich morgens das Büro betrete“, berichtet ein Mitarbeiter, „sehe ich sofort die ganze Firma, alle Kollegen auf einen Blick.“ Die Glaswände schließen wenige Einzel- und viele Gruppenbüros ab und bieten dazwischen noch genug Freiräume für informelle Besprechungen.

Kaufmann und Rüf, 1969 beziehungsweise 1968 geboren, haben mit diesem Projekt nicht zuletzt ihre Meisterschaft als Konstrukteure unter Beweis gestellt. Nach seinem Studium an der Technischen Universität Wien ist Kaufmann mit innovativen, präfabrizierten Holzbauten bekannt geworden. Seine jüngeren Projekte sind nicht mehr auf ein Material fixiert und haben auch die strengen Raster der konventionellen Vorfertigung elegant hinter sich gelassen. Im Travel-Europe-Gebäude finden sich mehrere präzise getaktete Achsmaße. Konstruktiv handelt es sich um eine Mischung aus einem Stahlbau mit einer neuartigen Betondecke, in die große Kunststoffbälle als verlorene Schalung eingelegt sind, um die Konstruktion leichter zu machen und die Wärmedämmung zu erhöhen. Man darf gespannt sein, ob es Kaufmann und Rüf bei ihrem ersten Wiener Projekt, einem „Boarding House“ für die Lenikus Bauträger Ges.m.b.H. in prominenter Lage am Hohen Markt, für das sie 2005 den Wettbewerb gewannen, gelingen wird, dieses Niveau zu halten.

Sicher hätte in Stans auch ein weniger anspruchsvolles Gebäude ausgereicht, um Büroraum für Travel Europe zu schaffen. In einer Branche, deren wichtigstes Kapital kompetente und motivierte Mitarbeiter sind, dürften die vergleichsweise geringen Mehrkosten aber gut angelegt sein. In diesem Gebäude signalisiert jedes Detail, dass die Menschen, die hier arbeiten, ihr Bestes geben, um ganz vorne mitzuspielen. Weniger kann man sich im globalen Wettbewerb wahrscheinlich gar nicht mehr leisten.

Spectrum, So., 2006.07.09



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T-Center St. Marx
Travel Europe

11. Juni 2006Christian Kühn
Spectrum

Ein Kult braucht seine Tempel

Ein Grundriss in Form eines Wankelmotorkolbens, handgeglätteter Stahlbeton, Geometrien, die nur noch der Computer fasst. Schöne neue Welt des Automobils: das Mercedes-Museum bei Stuttgart.

Ein Grundriss in Form eines Wankelmotorkolbens, handgeglätteter Stahlbeton, Geometrien, die nur noch der Computer fasst. Schöne neue Welt des Automobils: das Mercedes-Museum bei Stuttgart.

In den knapp über 100 Jahren seit seiner Erfindung hat sich das Au tomobil von einer rollenden Ma schine zum Gegenstand einer fast kultischen Verehrung entwickelt. Henry Ford hatte von seinem „Model T“, dem ersten am Fließband hergestellten Auto, noch gesagt, man könne es in jeder beliebigen Farbe haben, solange die Farbe schwarz sei. Ende der 1920er-Jahre übernahm ein neuer Berufsstand, der Industriedesigner, die Gestaltung in seine Hände. Automobile wurden bunter und verspielter, bekamen aerodynamische Heckflossen und mächtige Kühlergrills und hatten sich spätestens in den 1950er-Jahren zum schönen Gesicht des industriellen Kapitalismus entwickelt. Diese Rolle wurde mit der Ölkrise und dem steigenden Umweltbewusstsein nach 1974 etwas zwiespältig, und die Hersteller setzen seither alles daran, das Automobil als ein Objekt sui generis zu positionieren, eine Synthese aus maschineller Kraft, elektronischer Steuerung und avanciertem Design. Die Ansage der Futuristen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass die rohe Kraft eines aufheulenden Rennwagens schöner sei als die Nike von Samothrake, wurde von den Automobildesignern in einem Ausmaß sublimiert, von dem Architekten nur träumen können. In der Kotflügelgestaltung eines neuen Sportwagens steckt mehr Entwurfsaufwand als in einem durchschnittlichen Einfamilienhaus.

In der Mythenbildung rund ums Automobil spielt Architektur neben der konventionellen Werbung eine eigene Rolle. Ein Kult braucht seine Tempel, und so dürfen wir heuer in Deutschland die Einweihung von gleich zwei einschlägigen Kultstätten erleben, der BMW-Welt in München nach Plänen von Coop Himmelb(l)au und dem Mercedes-Museum in Stuttgart von „UN studio“, dem Atelier von Ben van Berkel und Caroline Bos. Im Rennen um die Fertigstellung hatte Mercedes die Nase vorn: Seit 20. Mai ist das Museum in unmittelbarer Nähe des Stammwerks Untertürkheim eröffnet und darf im ersten Jahr mit rund einer Million Besuchern rechnen.

„UN studio“ haben ein vertikales Museum entworfen, das als kompakter Turm eine starke Signalwirkung aufweist. Das Museum basiert auf einigen, für sich genommen, einfachen Ideen, deren Überlagerung aber zu einem räumlich und technisch äußerst komplexen Bauwerk führt. Das Grundkonzept des Entwurfs besteht darin, zwei Straßen übereinander zu legen und diesen Doppelpack spiralförmig um ein zentrales Atrium nach oben zu führen. Eine der beiden Straßen ist seitlich nach außen geöffnet und daher hell und extravertiert, die andere ist nach außen geschlossen, aber zum Atrium hin geöffnet und daher dunkler und introvertiert. Auf der hellen Straße wird die Sammlung in einer thematischen Ordnung präsentiert, die dunklere Straße gliedert sich Mythenbereiche, die chronologisch organisiert sind. Zwischen den beiden Straßen, die als Rampen übereinander laufen, ohne sich je zu kreuzen, bieten seitlich angesetzte Treppen die Möglichkeit, vom Sammlungs- in den Mythenbereich und zurück zu wechseln.

So weit das Prinzip. „UN studio“ haben aber erkannt, dass eine durchgehende Rampe, wie man sie etwa im Guggenheim-Museum in New York von Frank Lloyd Wright findet, zwar eindrucksvoll ist, die Präsentation der Exponate aber eher eintönig macht. Daher haben sie die Idee der kontinuierlichen Rampen modifiziert und die Ausstellungsbereiche als großteils ebene Flächen angelegt, die nur seitlich von einer Rampe begleitet werden. Im Grundriss ergibt das die Figur eines dreiblättrigen Kleeblatts oder - hier vielleicht nahe liegender - eines Wankelmotorkolbens.

Überlagert man diese Figur mit der Idee, die Rampen zur Seite hin abwechselnd zu öffnen und zu schließen, ergeben sich Geometrien, die nur noch mit Hilfe der leistungsfähigsten Computer-Aided-Design-Systeme zu bewältigen sind. Für ein Automobilmuseum ist das durchaus passend, sind doch diese Systeme für den Automobilbau zur Beherrschung seiner gekurvten Geometrien entwickelt worden. Was wir bei einem Auto als plastische Form längst gewohnt sind, ist in der Architektur aber eine enorme Herausforderung an die Bautechnik und an die Vorstellungskraft. Eindrucksvoll sind vor allem die an der Fassade liegenden, zweigeschoßig verglasten Verbindungsräume zwischen der Sammlungs- und der Mythosrampe. Die mehrfach gekrümmten Oberflächen aus Stahlbeton mussten hier teilweise von Hand geglättet werden, um kontinuierliche Übergänge zu erhalten, und die schrägen Säulen sind in Stahlmäntel gegossen, die auf der Baustelle individuell auf den Millimeter genau justiert werden konnten. Es ist kein Zufall, dass sich unter den Credits für das Gebäude neben der Tragwerksplanung von Werner Sobek und der Ausstellungsgestaltung von HG Merz als gleichwertige Kategorie die Erstellung des parametrisierten Geometriemodells findet, für die Arnold Walz verantwortlich war. Solche parametrisierten Modelle definieren eine Geometrie nicht mit fest eingestellten Koordinaten, sondern ermöglichen über Parameter eine schrittweise Entwicklung auch derart komplexer Entwürfe.

Was erlebt der Besucher nun in diesem Museum? Zuerst einmal eine Enttäuschung. Das Atrium ist zwar hoch, aber wenig attraktiv, vor allem weil es in 40 Meter Höhe von einem Lüftungseinbau und weißen Sonnensegeln abgeschlossen wird, die den Blick versperren. Drei Lifte, die eher hilflos den Raumkapseln alter Science-Fiction-Filme nachempfunden scheinen, bringen die Besucher auf die oberste Etage. Aber dort beginnt die Seligkeit, zumindest für alle, die im Auto mehr sehen als ein Transportmittel: Die ältesten, die schönsten, die schnellsten Automobile, ein Mythos jagt den anderen, und dazwischen kann sich das Auge in den Kollektionsräumen ein wenig ernüchtern. Dass es hier ausschließlich um das Auto als Objekt geht und weder um das Prinzip Mobilität noch um das Gesamtsystem Verkehr, sollte nicht verwundern. Schließlich ist man nicht in der Zentrale von Greenpeace. Wer über eine verstaute Autobahn hierher angereist ist, wird sich sowieso fragen, ob das Automobil nicht überhaupt im Museum am besten aufgehoben wäre. Trotzdem: „UN studio“ und ihre Partner haben mit diesem Projekt die Grenzen des technisch und architektonisch Möglichen hinausgeschoben. Allein das lohnt einen Besuch.

Spectrum, So., 2006.06.11



verknüpfte Bauwerke
Mercedes-Benz-Museum

22. April 2006Christian Kühn
Spectrum

Elf Tonnen heiße Luft

Architektur als Skulptur, Mar-keting als Malerei und Geldverdienen als Kunst. Eine Aus-stellung im Museum Moderner Kunst verwischt die Grenzen zwischen den Disziplinen. Im Mittelpunkt: eine Bronzeskulptur, die Museum werden will.

Architektur als Skulptur, Mar-keting als Malerei und Geldverdienen als Kunst. Eine Aus-stellung im Museum Moderner Kunst verwischt die Grenzen zwischen den Disziplinen. Im Mittelpunkt: eine Bronzeskulptur, die Museum werden will.

Plamen Dejanoff, 1970 in Sofia geboren, ist ein Meister der schwerelosen Kunst. Seine bekannteste, zusammen mit Swetlana Heger entwickelte Arbeit stammt aus dem Jahr 1999: Die beiden Künstler vereinbarten mit dem BMW-Konzern, alle Flächen, die sie im Zeitraum eines Jahres in Ausstellungen und Katalogen zur Verfügung haben würden, an BMW zu vermieten, um im Gegenzug einen fabrikneuen Z3-Roadster zu erhalten. Im Kunstverein München, wo ihr Ausstellungsbeitrag präsentiert werden sollte, wurde von BMW ein Präsentationsstand mit allen für solche Zwecke üblichen Werbemedien eingerichtet. Wie erhofft, kam es zu einem moderaten, aber doch imageträchtigen Skandal: Der Direktor der Kunsthalle ließ den Stand zuerst entfernen, dann nach Protesten wieder aufstellen, ergänzt um eine Tafel, in der sich die Kunsthalle vom Ausstellungsobjekt distanzierte. Der Z3 wechselte den Besitzer und wurde, durch die Aktion mit einer besonderen Aura geadelt, schließlich von einem Museum als Kunstwerk angekauft.

Was die Kunstszene in diesem Fall aufschreckte, war nicht die Implantierung von alltäglichen Objekten in einen musealen Kontext - die hat Marcel Duchamp schon vor bald 100 Jahren vorexerziert -, sondern der ostentative Kurzschluss zwischen den Praktiken der Kunstwelt und der Warenwelt. In den 1990er-Jahren waren die Grenzen zwischen diesen Welten in zweierlei Hinsicht fließend geworden: einerseits durch den vermehrten Einfluss des Sponsorings auf den Kunstbetrieb, andererseits durch die Tatsache, dass sich Waren immer weniger durch ihren Gebrauchswert und immer mehr durch ihren symbolischen Wert zu definieren begannen. Zwischen den Marken Nike und Picasso besteht aus dieser Perspektive kein Unterschied: Der eigentliche Wert liegt nicht in objektiven Qualitäten, sondern im Branding, ganz gleich, ob es sich dabei um einen Turnschuh handelt oder um ein Ölbild.

In seiner aktuellen Ausstellung im Wiener Mumok spielt Plamen Dejanoff mit beachtlichem Einfallsreichtum auf der Klaviatur dieses Themas. Da finden sich Keramikfiguren in Form von M&M-Männchen in unterschiedlichen Variationen, auf deren Rücken unübersehbar der Schriftzug „Dejanoff“ prangt. Ein Highlight der Ausstellung ist ein schwarzer Porsche Cayenne, geparkt vor einer Sammlung kleiner Glasautomobile, die Dejanoff in Kleinserie herstellen ließ und hier in einer Anzahl aufgebaut hat, deren Marktwert abzüglich der Herstellungskosten genau dem Wert des Cayenne entspricht. Vor dem Porsche, der Dejanoff nach der Ausstellung überlassen wird, baumelt an langen Elektrokabeln eine Wiese aus beleuchteten Holzblumen von der Decke, die das ganze Ensemble samt Keramikfiguren auch als idyllisches Wunschterzett von Auto, Eigenheim und Gartenzwergen lesbar machen. Wenn Dejanoff die Geschichten zu seinen Objekten erzählt, bleibt offen, wie viel davon Realität und wie viel frei erfunden ist. Der Witz der Inszenierung besteht im diskursiven Abwägen des künstlerischen Gewichts heißer Luft.

Das eigentliche Zentrum der Ausstellung bildet allerdings ein Objekt von beachtlichem Eigengewicht, ein Käfig aus Bronzegittern mit fünf Türöffnungen, insgesamt elf Tonnen schwer. Das Objekt ist ein erster Teil eines kleinen Museums, das Dejanoff in Bulgarien als Dependance des Mumok errichten lassen will. Der Standort dafür liegt in der Altstadt von Veliko Tarnovo, vom 12. bis zum 14. Jahrhundert Hauptstadt Bulgariens und nach Konstantinopel die zweitwichtigste Stadt des Balkans, bis sie schließlich 1393 von den Osmanen zerstört wurde. Le Corbusier skizzierte die Stadt auf seiner Reise in den Orient.

Dejanoff tritt in Veliko Tarnovo in der Rolle eines Künstlers als Sammler auf, der das sammelt, was üblicherweise ihn in einen Rahmen stellt, nämlich Kunstinstitutionen.

Im historischen Kern der Stadt hat Dejanoff einige Häuser geerbt und weitere erworben, die als Dependancen von Kunstakademien, Galerien und Museen dienen sollen. Für die Sanierung und Neugestaltung konnte eine Reihe von jüngeren Architekten gewonnen werden, Kühn/Malvezzi und Grüntuch/Ernst aus Berlin, Gruppo A12 aus Mailand und Cocktail aus Lyon. Als Pilotprojekt für eine Dependance des Mumok ist ein erstes Projekt von Gerold Wiederin entstanden, dessen Pläne auch in der Ausstellung zu sehen sind.

Nach Bedenken des bulgarischen Denkmalamts, das eine Anknüpfung an lokale Bautraditionen verlangte, ohne diese genauer zu spezifizieren, suchte Dejanoff in Kooperation mit den Wiener Architekten Erich Hubmann und Andreas Vass eine eigene Annäherung an diese Tradition. Hubmann und Vass sind für Sondereinsätze im historischen Kontext einschlägig qualifiziert: Nach der 1997 realisierten neuen Zugangslösung für die Alhambra in Granada (zusammen mit Peter Nigst) haben sie 2002 den Wettbewerb für eine ähnlich komplexe Aufgabe für das Schloss Rivoli in Turin gewonnen, mit deren Umsetzung heuer begonnen wird.

Mit ihrem Projekt für Veliko Tarnovo haben Dejanoff, Hubmann und Vass dem Denkmalamt kein Gebäude geliefert, sondern einen selbsttragenden Baukasten aus einem traditionellen Material (Bronze) in einer traditionellen Form (angelehnt an Ornamente, die in der lokalen Architektur bei Wandvertäfelungen zu finden sind). In welcher Art dieses Gitter letztlich zum Einsatz kommen wird, ob als tragende Struktur oder doch als vorgesetzte Hülle, ist noch offen. Mit seinen elf Tonnen hat es jedenfalls eine Präsenz, die sich nicht so leicht wegdiskutieren lässt. Edelbert Köb, als Direktor des Mumok auf der Suche nach Sponsoren für das Projekt, ist optimistisch, auf dieser Grundlage die 150.000 Euro, die für die nächste Bauetappe nötig sind, bald auftreiben zu können. Einen Bilbao-Effekt wird das Projekt um diesen Betrag wohl kaum auslösen. Dass es einen positiven Beitrag zur kulturellen Entwicklung der Region leisten kann, steht aber außer Frage. Ob Plamen Dejanoffs Marktwert von einer so gut gemeinten, langfristig angelegten Investition profitieren kann, ist fraglich. Als autonomes Kunstwerk wäre die Bronzestruktur jedenfalls ein Mehrfaches dessen wert, was sie als Bauteil kostet. Aber vielleicht spekuliert Dejanoff ja darauf, dass das Guggenheim eines Tages das ganze Projekt wieder als eigenständiges Kunstwerk ankauft.

[ Die Ausstellung „Planets of Comparison“ von Plamen Dejanoff ist noch bis 21. Mai im Museum Moderner Kunst, Wien VII, Museumsplatz 1, zu sehen. ]

Spectrum, Sa., 2006.04.22

11. März 2006Christian Kühn
Spectrum

Kein Funken, keine Chance

Der Plan für das Areal des Flugfelds Aspern: Klassischer Stadtraum oder offene Partitur? Psychogramme der Wiener Stadtplanung, 1992 bis 2006.

Der Plan für das Areal des Flugfelds Aspern: Klassischer Stadtraum oder offene Partitur? Psychogramme der Wiener Stadtplanung, 1992 bis 2006.

Flugfeld Aspern: Begann dort nicht vor einigen Jahren die Zukunft des Wiener Städtebaus? 1995 stellte die Stadt ein Leitprojekt für die Entwicklung dieses rund 200 Hektar großen Areals im Nordosten Wiens vor, die Weiterentwicklung eines Entwurfs von Rüdiger Lainer aus dem Jahr 1992: Ausgehend von den Diagonalen der stillgelegten Landebahnen des Flugfeldes, glich das Leitbild einem bunten Schnittmusterbogen mit geheimnisvollen Linien, durchsetzt von bunt markierten Punkten für besondere öffentliche Nutzungen. Der Plan war durchzogen von Grünflächen und einem Verkehrssystem mit Hybridgaragen, in denen Parken mit anderen Nutzungen kombiniert werden sollte. „Die Form“, schrieb Rüdiger Lainer damals zur Warnung an alle, die sich zu sehr in die Buntheit dieses Bildes verlieben könnten, „ist nur Erläuterung. Die Stadt ist bestimmt durch den gesellschaftlichen Gebrauch. Das Projekt entwickelt daher eine Methode zur Steuerung eines offenen Systems.“ Beim bunten Bild handle es sich um eine Partitur für das große Orchester der Stadtentwicklung, in dem Investoren, Bürger, Landschafts- und Verkehrsplaner, Architekten, Politiker und viele andere zusammenspielen müssten. Dirigenten braucht dieses Orchester auch, und 1992, in der Ära des Planungsstadtrats Hannes Swoboda, konnte man sich in Wien noch vorstellen, dass die Stadtplanung diese Aufgabe übernehmen würde.

Vor wenigen Wochen stellte die Stadt einen neuen Plan für das Areal vor. Wenn Stadtpläne Psychogramme einer Gesellschaft sind, dann zeigt der Vergleich der beiden Pläne eine tief greifende Veränderung. Während das Projekt des Jahres 1992 beinahe in die Welt zu explodieren scheint, ist der aktuelle Plan auf sich selbst bezogen: ein See in der Mitte, eine Ringstraße mit Allee rundherum, dazwischen Blockrandbebauung mit eingestreuten Plätzen. Die U-Bahn-Linie fährt außen um das Areal und bietet zwei Stationen in Randlage, womit zwar nach Meinung der Jury „das Erschließungspotenzial dieses Verkehrsmittels nicht optimal genützt, der entstehende städtebauliche Ansatz jedoch als interessant beurteilt“ wird. Immerhin gibt diese Lösung Anlass für eine Bahnhofstraße, die in die Mitte des Stadtteils führt, ganz nach dem vertrauten Muster des 19. Jahrhunderts.

Das Projekt stammt vom schwedischen Büro Tovatt Architects and Planners, zum Zeitpunkt der Ausschreibung 2004 noch ein Gemeinschaftsbüro mit dem im vergangenen Jahr 91-jährig verstorbenen Ralph Erskine, Mitglied des legendären „Team 10“ und einer der klügeren Kritiker selbstgefällig gewordener Modernisten und Postmodernisten. Dass dieses Büro sich die Wiener Ringstraße zum Vorbild genommen hat, ist kaum anzunehmen. Man fühlt sich eher an aktuelle Stadtentwürfe europäischer Büros für China erinnert, und vielleicht mussten die Tovatt-Architekten ja wirklich nur ein Projekt für Jiangsu oder Jilin auf 50 Prozent skalieren und über die Asperner Ebene kippen.

Die Assoziation zur Ringstraße wird das Projekt trotzdem nicht so leicht loswerden, mit allem, was daran hängt: Denn immerhin verläuft die Ringstraße auf der Spur der Bastionen, mit denen sich Wien gegen äußere Feinde verteidigt hat. Als Symbol für Zukunftsorientierung und entschiedenen Blick über den Tellerrand, zum Beispiel ins ferne Pressburg, ist diese Figur jedenfalls nicht zu gebrauchen. Noch vor zehn Jahren hätte dieses Projekt nicht den Funken einer Chance in einem österreichischen städtebaulichen Wettbewerb gehabt. Heute wird es einstimmig zum besten Projekt erklärt, von einer Jury, zu der unter dem Vorsitz des renommierten Stadtplaners Carl Fingerhuth nicht nur der aktuelle Planungsstadtrat Rudi Schicker und sein Planungsdirektor Arnold Klotz gehörten, sondern auch Rüdiger Lainer.

Alternativen hätte es gegeben, das Projekt von Heiner Hierzegger etwa oder jenes von Max Rieder, das auf den Ideen des Leitprojekts aus dem Jahr 1992 aufbaut. Dass Max Rieder, der persönlich gerne als personifizierter Genieblitz auftritt, chancenlos ist, wo Sicherheit statt Utopie gefordert wird – oder, zugespitzt gesagt: alle die Hosen voll haben vor der Zukunft –, verwundert nicht. Sein Projekt hat jedoch die Qualitäten, die ich mir von einem Entwicklungsplan an diesem Ort wünsche: Es stellt die Landschaftsplanung an den Anfang, definiert Grünzonen, die an die Erholungsgebiete in der Umgebung anschließen, und dichte Bebauungsfelder, die im Lauf der nächsten 20 Jahre ihre eigene Charakteristik entwickeln können. Eine große Figur gibt es nicht, dafür den Partiturcharakter, der offen ist für zukünftige Entwicklungen.
Aber Achtung, höre ich da meine Kollegin Karin Tschavgova rufen. Die bunten Schnittmusterbögen mögen ja der Architekturschickeria und dem Feuilleton gefallen, aber was ist mit den Bürgern? Warum sollen wir ihnen nicht die Straßen geben, die sie gewohnt sind? Den Stadtpark, wie sie ihn kennen und lieben, von mir aus mit Johann-Strauß-Denkmal. Warum sollen wir Verwaltung und Bauträger quälen, unsere schwülen Utopien von einer besseren Welt umzusetzen, wo alles doch viel einfacher geht?

Sicher: Darüber sollte man diskutieren, interdisziplinär, offen, mit Bürgern und Experten. Mein Standpunkt dazu ist klar: Ein System, das nichts mehr riskiert und nur noch auf scheinbar Bewährtes zurückgreift, gefährdet seine Zukunft. Es vertreibt seine Innovatoren und verspielt Chancen, weil es blind wird für neue Entwicklungen, sich in den alten Strukturen aber oft nicht mehr zu Hause fühlt. Ein Besuch auf dem Wiener Leberberg, einem Stadtentwicklungsgebiet der 1990er-Jahre, das exakt dieselben stadträumlichen Prinzipien verfolgt, wie sie jetzt für Aspern vorgeschlagen sind, hätte die Jury nachdenklich stimmen müssen: So grausig kann traditioneller Stadtraum sein, wenn man mit ihm nicht mehr umgehen kann.
Eine öffentliche Diskussion zu diesen prinzipiellen Fragen hat die Stadt Wien in diesem Fall mit der Wahl des Verfahrens vermieden. Statt einen Wettbewerb auszuschreiben, bei dem es ausschließlich um das beste Projekt geht und bei dem auch gemeinsame Diskussionen mit den beteiligten Teams erlaubt sind, wählte sie den Weg des Verhandlungsverfahrens. Hier sind Bieterkontakte verboten, und das Urteil über das Projekt mischt sich mit allen finanziellen Fragen der Leistungserbringung, die bei einem Wettbewerb erst nachgeschaltet sind. Für Carl Fingerhuth wäre bei einem Projekt dieser Dimension – immerhin geht es um 25.000 Arbeitsplätze und 8500 Wohnungen – überhaupt ein längerer Prozess mit Workshops und Fachdiskussionen sinnvoll. (So etwas gab es in Wien bereits: Der Wettbewerb des Jahres 1992 wurde vom damaligen, international und interdisziplinär besetzten Fachbeirat für die Stadtentwicklung begleitet.) Dass beim aktuellen Verfahren eine Entschädigung von 10.000 Euro pro geladenem Büro für ausreichend erachtet wurde, ist ein Indiz dafür, dass sich der Auftraggeber de facto nicht viel mehr erwartete als ein hübsches Bild.

Aber vielleicht wird die Diskussion am Flugfeld Aspern ja doch noch weitergeführt. Nach Aussage von Carl Fingerhuth ist die Ringstraße dort „das Unwichtigste“. Großartig: Dann weg damit. Und die Lage der U-Bahn lässt sich „ohne Reduktion der städtebaulichen Qualität“ korrigieren. Bestens: Legen wir sie quer durch. Dann wäre nur noch ein dem Ort angemessenes landschaftsplanerisches Konzept zu entwickeln. Und wenn wir schließlich die Akteure der Wiener Stadtplanung austauschen, könnte aus dem Flugfeld Aspern tatsächlich noch was werden.

Spectrum, Sa., 2006.03.11

14. Januar 2006Christian Kühn
Spectrum

Im Zeichen des Pixels

Eine Serie von Ausstellungen und Workshops in neun europäischen Län dern. Ins Leben gerufen von einer Gruppe österreichischer Architekten. Derzeit zu Gast in Zagreb.

Eine Serie von Ausstellungen und Workshops in neun europäischen Län dern. Ins Leben gerufen von einer Gruppe österreichischer Architekten. Derzeit zu Gast in Zagreb.

Der bunte Strichcode, von Rem Koolhaas und seiner Denkfabrik OMA als visuelles Symbol für die europäische Union entwickelt, beginnt sich im Rahmen der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft ins allgemeine Bewusstsein einzuprägen. Es ist das erste Mal, dass dieses Logo im offiziellen Kontext Verwendung findet. Dass die österreichischen Nationalfarben anlassgemäß ein klein wenig aus der Reihe hervorragen, ist unerheblich. Alle sind gleich wichtig, will das Logo suggerieren, und werden in ihrer Vielfältigkeit respektiert. Die Form des Strichcodes weist allerdings auch dezent darauf hin, dass die EU primär als ökonomische Union wahrgenommen wird und nach der Meinung vieler Bewohner auch bleiben soll.

Eine Gruppe junger österreichischer Architektinnen und Architekten hat sich vor vier Jahren aufgemacht, die europäische Architekturlandschaft auf eine Art zu erforschen, die diesem Bild entspricht: Europa als kulturell vielfältiges Gebilde, das von der ökonomischen Sphäre wenn schon nicht dominiert, dann zumindest determiniert wird. Die Initiatoren lassen eine Ausstellung durch europäische Länder reisen, die von Land zu Land im Schneeballsystem wächst. Jedesmal kommen elf junge Büros dazu, die ihre Arbeiten auf kleinen Ausstellungstafeln von 40 mal 40 Zentimetern präsentieren dürfen. Die Tafeln sind auf Stäben befestigt und lassen sich damit leicht an unterschiedliche Situationen anpassen. Da ihre Anzahl gleich bleibt, ist dieses System nicht sonderlich gerecht: Am Ende, wenn 99 Teilnehmer aus neun Ländern ihre Arbeiten bei der Schlussausstellung zeigen werden, stehen jedem Büro nur noch je vier Tafeln zur Verfügung. Kompensiert wird diese Reduktion dadurch, dass sich der Schwerpunkt des Projekts immer mehr von der Ausstellung in Richtung Workshops und Publikationen verlagert.

Wonderland geht auf eine Initiative der jungen Kärntner Architektengruppe Spado zurück, hinter der Helmut Rainer, Harald Weber und Hannes Schienegger stehen. Im Jahr 2002 wurden Spado von einem ihrer Auftraggeber, Fundermax, für den sie die expressive Fassade des Funderwerks in St.Veit/Glan entworfen hatten, eingeladen, ihre Projekte in einer Ausstellung zu präsentieren. Spado nahmen die Einladung zum Anlass, ihrerseits weitere zehn Büros zu kontaktieren und eine gemeinsame Ausstellung vorzuschlagen.

Das Team mit dem bezeichnenden Namen „Share“, das aus Silvia Forlatti, Thomas Lettner und Hannes Bürger besteht, gewann einen internen Wettbewerb für das Ausstellungskonzept mit der Idee der Pixel und erfand den Titel „Wonderland“, über dessen tiefere Bedeutung man nur spekulieren kann. Ist es das Ziel junger Architekten, die Welt zum Staunen zu bringen? Oder fühlen sie sich vielleicht oft so verwirrt wie Alice im Wunderland, wenn sie die Universität verlassen und sich mit ei-ner Praxis konfrontiert sehen, die in hinterhältiger Weise zugleich pragmatisch und irrational sein kann?

Die Ausstellung wurde dreimal erfolgreich in Österreich gezeigt und nach gründlicher Überabreitung mit Unterstützung der Kunstsektion des Bundeskanzleramts auf eine Europareise geschickt, die in Pressburg und Prag begann. Als weitere Stationen folgten Berlin, Amsterdam, Paris und Venedig. Derzeit gastiert die Ausstellung in Zagreb, reist dann nach Laibach weiter, wo sie am 10. März eröffnet wird, und kehrt im Juni 2006 nach Österreich zurück. Die Idee, sich für weitere Büros zu öffnen, behielten die Organisatoren bei und baten Kontaktteams in diesen Ländern, weitere Büros für die Ausstellung zu gewinnen. Die Teamauswahl beruht auf persönlichen Beziehungen, die oft bei postgradualen Studien, etwa am Rotterdamer Berlage-Institut, geknüpft wurden.

Die intellektuellen und formalen Wurzeln der Büros sind daher durchaus verwandt, treffen aber auf völlig unterschiedliche lokale Produktionsbedingungen. Die Länder des ehemaligen Ostblocks erlebten einen Bauboom, in dem sich auch Nachwuchsbüros rasch etablieren konnten. Junge slowenische Architekten konnten oft noch vor Abschluss des Studiums erste Projekte realisieren. Ganz anders die Situation in Deutschland, wo die neuen Länder zwar eine enorme Bautätigkeit entfalteten, die aber von etablierten Büros aus dem Westen dominiert wurde und inzwischen dramatisch zurückgegangen ist. Junge deutsche Büros müssen sich heute ihre Arbeit oft in Grenzbereichen zur bildenden Kunst selbst schaffen, wenn sie eigenständig überleben wollen. Eine drastische Veränderung der Zukunftsperspektive ist auch in den Niederlanden zu beobachten, dem Architekturwunderland der 1990er-Jahre, wo der Verdrängungswettbewerb unter den Büros nach Wegfall der massiven staatlichen Förderung, die nicht zuletzt die jungen stärken sollte, als besonders brutal empfunden wird.

Vor diesem Hintergrund entstand unter den Initiatoren von Wonderland die Idee, den Schwerpunkt von der Ausstellung auf den Erfahrungsaustausch zwischen Büros einer bestimmten Generation und damit ähnlicher Entwicklungsstufe zu verlegen. Aufbauend auf einer EU-Förderung im Rahmen des „European Architectural Network Development“, gelang es, Workshops zur Ausstellung inklusive der Reisekosten für die teilnehmenden Teams zu finanzieren und die Aktivitäten auf einer Website (www.wonderland.cx) zu dokumentieren. Gestaltet ist die Website von „nan architects“, einer Gruppe, deren Portfolio typisch ist für die Wonderland-Generation und vom Webdesign bis zur Landschaftsgestaltung reicht. Dass hinter solchen spartenübergreifenden Aktivitäten keine Einzelpersonen stehen können, sondern Gruppen, versteht sich von selbst: Durchschnittlich hat ein Wonderland-Team 2,75 Chefs - mit allen Problemen, die sich in Marketing und Organisation daraus ergeben. Von den 99 Teams firmieren 76 unter mehr oder weniger fantasievollen Markennamen. Nur 23 tragen den Namen der Architekten, einige bleiben aber auch so originell, wie etwa der Italiener Francesco Matucci, der sich als Ein-Mann-Büro mit Standorten in Kopenhagen, Florenz und Madrid deklariert. Von ihm stammt auch die Anregung, Wonderland als virtuelles Großbüro zu organisieren und damit in China auf Auftragssuche zu gehen.

Für Roland Gruber von „non:conform“, gemeinsam mit Elisabeth Leitner für die Organisation der „Wonderland Europa tour“ verantwortlich, ist es bis dahin noch ein weiter Weg. Die nächste Stufe im Konzept ist die von Silvia Forlatti und Anne Isopp - für künftige Architekturhistoriker: Letztere ist Mitglied der Gruppe „morgenbau“ - betreute Herausgabe einer Zeitschrift, die als Beilage zu Hans Ibelings Europäischem Architekturmagazin „A10“ zweimal im Jahr erscheinen wird und sich speziell mit den Problemen junger Büros in Europa befasst. Die Ausstellung gastiert Anfang Juni noch einmal in Wien, parallel zur Tagung des Europäischen Forums für Architekturpolitik und zur Eröffnung der „Österreichischen Architekturtage“ am 8. Juni. Auf dem Programm für hartgesottene Architekturfreaks: 99 Kurzvorträge der Wonderland-Architekten.

Spectrum, Sa., 2006.01.14

30. Dezember 2005Christian Kühn
Spectrum

Das Haus des Jahres

Keine Highlights, dafür business as usual in der Stadtentwicklung. Wien, Schwarzenbergplatz 5: wie private Interessen auf öffentlichem Grund die Stadt gestalten. Ohne städtebauliche Studie, ohne Projektwett-bewerb, mit sattem Gewinn.

Keine Highlights, dafür business as usual in der Stadtentwicklung. Wien, Schwarzenbergplatz 5: wie private Interessen auf öffentlichem Grund die Stadt gestalten. Ohne städtebauliche Studie, ohne Projektwett-bewerb, mit sattem Gewinn.

Überstanden. Das „Architektur jahr 2005“, auf Initiative von Planungsstadtrat Rudi Schicker ausgerufen, um Wien zur „Architekturmetropole“ zu entwickeln, ist vorbei. An Worten hat es nicht gefehlt: ein Architektursymposion „Architektur für die Stadt“, die Unesco-Konferenz „Welterbe und zeitgenössische Architektur“, der Stadtdialog mit seinen Diskussionsrunden.

Architekturrundfahrten führten gratis an wichtigen Bauten vorbei, und zur Förderung der jungen Wiener Architekturschaffenden wurde das Ausstellungsprojekt „Young Viennese Architects - YO.V.A.“ gestartet. Eine Zeitschrift mit dem originellen Namen „Capacity“ wurde vierteljährlich als Beilage zu großen Tageszeitungen verbreitet.

Ein Höhepunkt des „Architekturjahres“ war die „Wiener Architekturdeklaration“, mit der die Haltung der Stadt zu Architektur und Stadtplanung akzentuiert werden soll: „Es ist das politische Anliegen der Stadt Wien, durch die Weiterentwicklung der Instrumente die Verwirklichung gesamtgesellschaftlicher Ziele sicherzustellen, für breite und hohe Architekturqualität zu sorgen und zugleich den Spielraum für innovative Architektur offen zu halten,“ heißt es hier. Investorenarchitektur müsse das Potenzial des jeweiligen Ortes nutzen, dabei räumliche Qualitäten schaffen und zu einer langfristig tragfähigen Entwicklung beitragen. Zentrales Instrument zur Sicherung von Qualität und Transparenz im Planen und Bauen sei der Architekturwettbewerb, der sich nicht auf den Bereich der öffentlichen Hand beschränken solle: „Zusätzlich sind auch private Bauträger zu entsprechenden Verfahren zu motivieren.“

Mit konkreten Umsetzungen war das Jahr 2005 nicht gesegnet. Die Architekturdatenbank nextroom weist für 2004 in Wien 47 rezensierte Bauwerke aus, für 2005 nur 23. Auch bei den Highlights des Jahres tut man sich schwer: 2004 war mit dem T-Center von Domenig/archconsult ein herausragender Kandidat vorhanden. Heuer muss man sich an Projekte halten, etwa an Jean Nouvels Entwurf für ein Hotel am Donaukanal. Oder man verzichtet darauf, nicht das spektakulärste Projekt zum Haus des Jahres zu erklären, sondern sucht eines, das charakteristisch ist für die Art, wie in Wien allen Architekturdeklarationen zum Trotz nach wie vor Stadtentwicklung betrieben wird.

Für den Schwarzenbergplatz 5 wurde kürzlich das Projekt für ein neues Büro- und Wohngebäude an der Stelle des sogenannten „Steyr-Hauses“ vorgestellt. Die Vertreter der Stadt zeigten sich beglückt darüber, dass Wien wieder um ein „Stück spannende Architektur reicher“ werde. Gerüchte über das Projekt kursierten bereits länger. Der planende Architekt, Sepp Frank, hätte dem Fachbeirat für Stadtplanung und Stadtgestaltung bereits vor mehreren Jahren eine Studie vorgelegt, in der die Baulinie um zehn Meter in den Platz vorrückt. Der Fachbeirat und die für Stadtgestaltung zuständige Magistratsabteilung 19 sahen die Symmetrie des Platzes nicht gestört, womit einer Änderung des Flächenwidmungsplans nichts im Weg stand. Als Frank aber heuer seinen konkreten Entwurf für die Fassade vorlegte - eine einfallslose Glashaut mit diagonal versetzten Ziergliedern -, hätte der Fachbeirat diesen als unpassend abgelehnt. Der Investor war bereit, für die Fassade noch Entwürfe von Manfred Wehdorn und Martin Kohlbauer einzuholen, die vom Fachbeirat begutachtet wurden. Kohlbauers Entwurf, eine routinierte, zwischen Modernismus und klassischer Tektonik eingependelte Gliederung, wird ab kommendem Jahr zur Ausführung gelangen.

Weit bemerkenswerter als diese Fassade ist die Geschichte des Grundstücks. 1938 wurden die Parzelle und das dort befindliche Wohnhaus „arisiert“ und ins Eigentum der NSDAP übergeführt. Das Haus wurde im Krieg zerstört, das Grundstück ging 1945 in den Besitz der Republik über. 1947 - die Adresse lautete inzwischen Stalinplatz 2 - wurde es an die früheren Besitzer restituiert und von diesen 1954 um zwei Millionen Schilling an die Steyr-Daimler-Puch AG, also an ein Unternehmen der verstaatlichten Industrie, verkauft. Jenseits dieser Möglichkeit, die Kriegsruine zum Marktpreis zu verkaufen, scheint es keine weitere Kompensation an die Vorbesitzer gegeben zu haben. Die Steyr-Daimler-Puch AG gründete eine gemeinnützige Wohnbaugesellschaft, die 1958 auf dem Grundstück ein Wohnhaus für Mitarbeiter nach den Plänen des Architekten Karl Kupsky errichtete. Die Grünfläche vor dem Haus, annähernd symmetrisch zu jener vor der französischen Botschaft, wurde an die Stadt übertragen und in eine Nebenfahrbahn umgewandelt.

Das alte Steyr-Haus galt zu Recht als das hässlichste Gebäude am Schwarzenbergplatz. Umbauten, die dem Haus seine zeittypisch abgeschrägten Stützen im Erdgeschoß raubten und seine Fassade schließlich in einen Mantel aus Fertigteilen hüllten, folgten. Den Wert der Immobilie hatte die Steyr-Daimler-Puch AG aber längst erkannt: Spätestens seit Rudolf Streicher, zuvor SPÖ-Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten und später ÖIAG-Chef, 1992 Generaldirektor des Unternehmens wurde, gab es Überlegungen, an diesem Standort ein neues Gebäude, im Idealfall ein Hochhaus, zu errichten. Derartige Überlegungen scheiterten jedoch am Widerstand des Fachbeirats für Stadtplanung und Stadtgestaltung.

Aber auch so bot das Grundstück noch genug Potenzial für das, was Projektentwickler „Fantasie“ nennen. Sie war vor allem in jener ehemaligen Grünfläche zu finden, die 1958 an die Stadt übertragen worden war. Konnte man die Stadt davon überzeugen, diesen Grund zurück zu übertragen und mit einer Baulandwidmung auszustatten, ließe sich die Nutzfläche des Projekts beachtlich vergrößern. Wieso der Fachbeirat für Stadtgestaltung in der Vorrückung der Baulinie in den Platz um zehn Meter keine Beeinträchtigung der Symmetrie erkennen konnte, wird ein Geheimnis bleiben: Die Sitzungsprotokolle des Beirats werden grundsätzlich nicht veröffentlicht. Die Magistratsabteilung MA 19 dürfte überhaupt einer Autosuggestion erlegen sein. Sie gibt bis heute die Auskunft, dass durch die neue Bebauung die „frühere Symmetrie“ des Platzes wiederhergestellt werde. Mit dem Studium der Stadtkarte dürfte man sich dort nicht lange aufgehalten haben: Wiederhergestellt wurde das Eigentum an den Grundstücken, aber keineswegs die Platzkontur.

Eine entsprechende Änderung des Flächenwidmungs- und Bebauungsplans erfolgte im Wiener Gemeinderat am 1. März 2002. Unmittelbar davor, im Februar 2002, war das alte Steyr-Haus in den Besitz der Investorengruppe um Rudolf Streicher übergegangen. Der Grundstücksteil mit Nebenfahrbahn und Grünfläche befand sich zu diesem Zeitpunkt als öffentlicher Grund allerdings noch im Besitz der Stadt. Ein Anspruch auf automatische Rückübertragung war bereits 1988, 30 Jahre nach der Abtretung, erloschen. Damit kommt die Abteilung für Liegenschaftsbewertung der Magistratsabteilung 69 ins Spiel, die in Wien nicht der Stadtplanung, sondern dem Ressort „Wohnen, Wohnbau und Stadterneuerung“ des Stadtrats Werner Faymann untersteht. Sie muss einen „ortsüblichen Marktpreis“ bestimmen, zu dem der Grund verkauft wird.

Angesichts der erzielbaren Nutzfläche schätzen Immobilienexperten den Wert des Grundstücks auf 3,2 bis 4,8 Millionen Euro. Tatsächlich wechselte es aufgrund eines Amtsgutachtens der MA 69 im Dezember 2002 jedoch um knapp unter 1,2 Millionen Euro den Besitzer. Im Februar 2004 wurde das Projekt schließlich an den Investor Breiteneder verkauft. Für die Projektentwickler ein voller Erfolg: Bei der Vorstellung des Projekts konnte der planende Architekt, Sepp Frank, stolz berichten, dass die Nutzfläche von 6000 Quadratmetern im alten Steyr-Haus auf 10.000 Quadratmeter, also um 66 Prozent, gesteigert werden konnte. Für die Wiener eine Niederlage: Abgesehen von den Widmungsgewinnen, die weit überproportional von Privaten lukriert wurden, gab es weder eine unabhängige städtebauliche Studie noch einen Projektwettbewerb, es sei denn, man wollte die Wahl zwischen Fassaden der Marken Frank, Wehdorn und Kohlbauer als solchen gelten lassen.

Das Muster, das bei diesem Projekt erkennbar wird, findet sich bei vielen großen Wiener Stadtentwicklungsprojekten der letzten Jahre. Beim Millenniumstower stand hinter Georg Stumpf Franz Vranitzky, bei Monte-Laa der ehemalige Vizebürgermeister Hans Mayr als Aufsichtsratsvorsitzender der PORR, am Wienerberg Friedrich Kadrnoska, einer der Vorstände der Bank Austria, zugleich Aufsichtsratsvorsitzender von Wienerberger. Alle Projekte widersprechen den Stadtentwicklungsplänen oder haben sich - wie der Millenniumstower - über Widmung und Baulinien so lange hinweggesetzt, bis das Ergebnis durch neue Bebauungspläne legalisiert wurde. Die Stadtplanung war in keinem Fall stark genug, sich dem politischen Druck zu widersetzen. Als Nebeneffekt dieser Entwicklung sind besser geeignete, dem Stadtentwicklungsplan entsprechende Areale wie das Nordbahnhofgelände und die Aspanggründe bis heute unbebaut.

Eine „Wiener Architekturdeklaration“ allein wird an dieser Situation nichts ändern. Aber vielleicht legt die Stadt das „Architekturjahr 2006“ ja anders an, sachlicher und selbstkritischer, wirklich transparent und ohne Tabuzonen. Hoffen wird man ja noch dürfen.

Spectrum, Fr., 2005.12.30

17. Dezember 2005Christian Kühn
Spectrum

Quickness statt Speed

Selbstverständliches braucht oft länger, als man glaubt. Aus Anlass der 50-Jahr-Feier des Staatsvertrags bekam das Wiener Parlament einen neuen Eingang. Dort, wo er hingehört. Ein Himmelfahrtskommando, bravourös bewältigt.

Selbstverständliches braucht oft länger, als man glaubt. Aus Anlass der 50-Jahr-Feier des Staatsvertrags bekam das Wiener Parlament einen neuen Eingang. Dort, wo er hingehört. Ein Himmelfahrtskommando, bravourös bewältigt.

In seinen „Memos für das kom mende Jahrtausend“ hat Italo Calvino vor 20 Jahren drei Leitbe griffe für die Kunst des 21. Jahrhunderts formuliert: Leichtigkeit, Schnelligkeit und Exaktheit. Zwei dieser Begriffe, Leichtigkeit und Exaktheit, hatten in der Architektur der Moderne immer schon einen guten Ruf. Für den dritten, die Schnelligkeit, gilt das nicht. Er klingt in der Architektur nach der erstbesten Lösung, im schlimmsten Fall nach Pfusch. Schnelligkeit ist allerdings ein vieldeutiger Begriff. Calvino spricht im englischen Original - die Memos waren als Vorlesung an einer amerikanischen Universität konzipiert - nicht von „Speed“, sondern von „Quickness“. Nicht die Steigerung der Reisegeschwindigkeit sei das Merkmal für die Kunst des 21. Jahrhunderts, sondern ein hohes Reaktionsvermögen, um blitzschnell die scheinbar unmöglichsten Wendungen auszuführen und plötzliche Widerstände kreativ zu verwerteten.

An der Geschichte, wie das Wiener Parlament zu seinem neuen Eingang kam, hätte Calvino jedenfalls seine reinste Freude. Sie beginnt mit einem Bauschaden: Der Pallas-Athene-Brunnen, das Wahrzeichen des Parlaments zur Ringstraßenseite, war schon seit Jahren undicht und hatte die Fundamente der beiden symmetrisch hinaufführenden Rampen so weit durchfeuchtet, dass deren Generalsanierung notwendig wurde. Zugleich sollte die Lüftungsanlage für das Parlament, die in den Gewölben unter der Rampe und dem Säulenportikus untergebracht war, erneuert werden.

Der Portikus hatte zur Errichtungszeit des Parlaments, als man hier mit Pferdewagen vorfuhr, noch als Haupteingang gedient. Für den Winter gab es einen zweiten, so genannten Schlechtwettereingang, eine Durchfahrt auf Straßenniveau unter dem Portikus, die es den Fahrgästen erlaubte, im Gebäudeinneren auszusteigen und über ein Vestibül und zwei nach oben führende Treppen in die Eingangshalle zu gelangen. Diese Eingänge waren aber schon seit langem so gut wie stillgelegt. Parlamentarier benutzten Seiteneingänge ins Parlament, die zumindest halboffiziell bestimmten Parteien zugeordnet waren. Die Rampensanierung bot die Möglichkeit, den alten Schlechtwettereingang zu reaktivieren und damit einen gemeinsamen Zugang ins Parlament zu schaffen.

Im Jahr 2002 wurde ein erster Wettbewerb für die Sanierung ausgelobt, den der Architekt Herbert Beier mit der Idee gewann, die Lüftungsanlage abzusiedeln und dadurch unter der Rampe mehr Platz für zusätzliche Nutzungen zu schaffen. Der Vorschlag von Manfred Wehdorn, hinter dem Brunnen einen direkt auf die Ringstraße gerichteten zentralen Eingang anstelle des für die Öffentlichkeit praktisch unsichtbaren Schlechtwettereingangs zu schaffen, kam zwar in die engere Wahl. Mit dem absehbaren Widerstand des Denkmalamts wollte man die Sanierung aber dann doch nicht belasten - immerhin sollte der neue Eingang pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum der Staatsvertrags-Unterzeichnung fertig sein.

In der Folge entwickelte das Projekt eine beachtliche Eigendynamik. Die Fundamente für die Rampen mussten tiefer gelegt werden, neue nutzbare Räume entstanden. Zu den geplanten Funktionen - Eingang, Garderoben für Besuchergruppen und multimediale Informationswände - kamen ein neuer Tiefspeicher für die Bibliothek des Hauses, ein Raum für Vorträge und Pressekonferenzen sowie neue Studios des ORF. Aus der bautechnischen Sanierung wurde so ein umfangreiches architektonisches Projekt mit beachtlicher symbolischer Bedeutung für das Parlament.

Mitten im laufenden Baubetrieb beschloss der Bauherr im Sommer 2004, einen weiteren Wettbewerb für die architektonische Ausgestaltung des Projekts auszuloben, da die von Herbert Beier inzwischen entwickelte Lösung zwar technisch entsprach, ästhetisch aber zu wünschen übrig ließ. Um den Betrieb nicht aufzuhalten, war zuerst nur an einen Wettbewerb für Möblierung, Licht und Material gedacht. Die Architektenkammer konnte aber erreichen, dass auch bauliche Veränderungen zulässig waren. Knapp sechs Wochen hatten die Projektanten Zeit, Lösungen zu entwickeln, während auf der Baustelle bereits die Fundamente betoniert wurden.

Das Siegerprojekt von Kinayeh und Markus Geiswinkler punktete mit einer klaren Organisation und dramatischen vertikalen Durchblicken, die den Weg vom Foyer in den Vortragssaal zwei Stockwerke tiefer zu einem Erlebnis machen. Zu diesem Zeitpunkt blieb gerade noch ein Jahr bis zur Eröffnung. Mitten in einem laufenden Bauprojekt Umplanungen vorzunehmen, noch dazu angesichts eines staatstragenden Fertigstellungstermins, ist ein Himmelfahrtskommando, das in diesem Fall bravourös bewältigt wurde. Nicht alle Leistungen sind dabei so sichtbar wie die präzise detaillierten Übergänge zwischen Alt und Neu oder die raffinierte Belichtung, die von Bartenbach Lichttechnik konzipiert wurde. Genauso wichtig ist das, was unsichtbar bleibt: die Lüftung, die so umgeplant werden konnte, dass sie den vertikalen Raumeindruck nicht mehr stört, oder die statischen Kunstgriffe, mit denen im Vortragsraum eine Nische geschaffen wurde, die dem Raum erst die richtige Proportion gibt.

In einer letzten plötzlichen Wendung setzte sich schließlich doch noch der zentrale Eingang durch, der schon im ersten Wettbewerb vorgeschlagen worden war. Gegen die Logik, das Hohe Haus an der sinnfälligsten Stelle betreten zu dürfen, konnte sich selbst das Denkmalamt nicht auf Dauer sperren. Die Geiswinklers haben dafür eine raffinierte Lösung mit vertikalen Falttoren aus Edelstahl entwickelt, die im offenen Zustand ein Vordach und im geschlossenen Zustand eine ruhige Fläche bilden. Den Gestaltungsvorschlag, den die Architekten für die Umgebung des Brunnens gemacht hatten - zwei Natursteinschwellen, die trapezförmig auf den Eingang hinführen -, lehnte das Denkmalamt dagegen ab. Den positiven Gesamteindruck kann das freilich nicht trüben. Die plötzlichen Wendungen haben dem Projekt genützt, weil alle Beteiligten die Krisen als Chance erkannt haben, etwas Außergewöhnliches zu erreichen. Einzig dass es im Land der großen Söhnetöchter aufgrund des Zeitdrucks nicht mehr möglich war, die bildende Kunst stärker in das Projekt einzubeziehen, ist schade. Aber daran lässt sich ja noch arbeiten.

Spectrum, Sa., 2005.12.17



verknüpfte Bauwerke
Besucher- und Pressezentrum des Österreichischen Parlaments

01. Oktober 2005Christian Kühn
Spectrum

Barbie, Pink und Mörtel

Dass die Stadt, statt geplant zu werden, sich selbst plant, soll vorkommen. Und trotzdem: Auch so kann ein Stück Architektur entstehen, das es mit Otto Wagner aufzunehmen vermag. Neues vom Wiener Neubaugürtel.

Dass die Stadt, statt geplant zu werden, sich selbst plant, soll vorkommen. Und trotzdem: Auch so kann ein Stück Architektur entstehen, das es mit Otto Wagner aufzunehmen vermag. Neues vom Wiener Neubaugürtel.

Vor wenigen Jahren noch, da gehörte der Gürtel den Autos, der Stadtbahn und dem Rotlichtmilieu - ein breiter, grauer Straßenraum mit ein paar verstaubten Bäumen, geteilt durch die Stadtbahn mit ihren markanten, von Otto Wagner geplanten Stationsgebäuden, Bögen und Brücken. Im Bereich des Neubaugürtels, wo die Bahn in Tieflage geführt ist, waren davon nur die kleinen Pavillons mit den Abgängen auf die Bahnsteige zu sehen.

Wer heute hier Richtung Westbahnhof unterwegs ist und die Burggasse kreuzt, begegnet einem völlig veränderten Bild. Fast sieht es aus, als hätte die Shopping City Süd eine Dependance eröffnet: Wagners Stationsgebäude duckt sich vor der Stirnseite der Wiener Hauptbücherei, die breitbeinig über die Bahntrasse stelzt. Rechter Hand hat die Lugner-City den Sprung auf den Gürtel geschafft und lockt Besucher in ihr neues Kinocenter mit angeschlossener Großgastronomie, 1600 Sitzplätze in 26 Restaurants. Aus dem Kinocenter, einem Stück anspruchsloser Kommerzarchitektur, ragt eine verglaste, in der Nacht hell beleuchtete Brücke quer in den Gürtel. Kurz bevor sie die Stadtbibliothek erreicht, wendet sie sich, einen Kurzschluss zwischen Kommerz und Kultur vermeidend, zurück in die Längsrichtung des Gürtels und entlässt das Publikum über Rolltreppen auf eine Verkehrsinsel mit Anschluss an Stadtbahn und Bus.

Die Vorgeschichte dieses Ensembles ist ein Lehrbeispiel dafür, dass eine Stadt heute nicht mehr geplant wird, sondern sich gewissermaßen selbst plant. Die Geschichte beginnt mit einer typisch funktionalistischen Planervision. Dem ehemaligen Vizebürgermeister Hans Mayr wird die Idee zugeschrieben, den ungenutzten Raum über der Stadtbahn mit Parkgaragen zu füllen: Wo viel Verkehr ist, kann mehr Verkehr nicht schaden. Diese Idee hätte den Gürtel als Stadtraum endgültig ruiniert und verschwand dankenswerterweise in der Versenkung. Mit geänderter Nutzung tauchte sie jedoch Mitte der 1990er-Jahre wieder auf. Von Hans Mayr inspiriert, schlug der Baumeister und Betreiber des nahen Shopping-Centers, Richard Lugner, eine Überbauung des Stationsbereichs mit einem eingeschoßigen Gebäude vor, das Geschäfte und Restaurants aufnehmen und ganz nebenbei eine direkte Anbindung des Shopping-Centers an die Station erlauben sollte. Das Projekt scheiterte am Einspruch des Wiener Fachbeirats für Stadtplanung und Stadtgestaltung, der sich nach wie vor gegen jede Verbauung der Innenzone des Gürtels aussprach.

Erst die Idee, den Schwung der EU-Förderungen aus dem Urban-Plus-Programm zu nutzen und die Hauptbücherei als kulturelle Nutzung hierher zu verlegen, konnte diese stadtgestalterischen Argumente ausstechen. Seit 2003 thront die Bücherei breit und behäbig im Gürtelraum, in der äußeren Erscheinung eine klare Themenverfehlung, aber mit angenehmem Inneren und nicht zuletzt deshalb ein durchschlagender Erfolg beim Publikum. Lugner versuchte lange, eine Anbindung seines Shopping-Centers an die Bibliothek zu erreichen, stieß mit dieser Idee aber auf keine Gegenliebe. Für eine Brücke über den Gürtel, die Passanten direkt beim Stationsausgang abholt, fand sich aber schließlich ein zwingender Grund: Bereits ohne die Besucherströme aus dem Kinocenter kam es hier einmal pro Monat zu einem Unfall mit Personenschaden. Und so bekam Lugner am Ende fast geschenkt, wofür er noch vor ein paar Jahren inklusive Stationsüberbauung ein Vielfaches investiert hätte: Einen Werbeträger quer über den Gürtel, nachts märchenblau und barbiepink beleuchtet.

Dass diese Brücke zugleich das einzige Bauwerk in weitem Umkreis ist, das es architektonisch mit Otto Wagners Stadtbahnstation aufnehmen kann, ist ein Zufall, der gut zu einer derart verwickelten Geschichte passt. Lugner hatte ursprünglich eine unförmige Betonkonstruktion mit mehreren, die Rolltreppe tragenden Stützen vorgelegt, folgte dann aber einer Empfehlung der für Stadtgestaltung zuständigen Magistratsabteilung 19 und beauftragte die Architekten Aneta Bulant und Klaus Wailzer mit der Planung. Bulant und Wailzer, die mit eleganten, international ausgezeichneten Glasbauten aufgefallen waren, schlugen vor, das Tragwerk in Stahl zu konstruieren, auf überflüssige Stützen zu verzichten und die Brücke über zwei Stahlkabel vom Kinocenter abzuhängen.

Das Besondere an der Brücke ist die raffinierte Beziehung zwischen Tragwerk, Baukörpergeometrie und Hülle. Die Seitenflächen der Brücke sind nicht parallel, sondern leicht gegeneinander verschwenkt, wodurch sich im Inneren ein eigenwilliger, perspektivisch veränderter Raumeindruck ergibt. Zugleich haben Bulant und Wailzer die Rasterung der Außenhaut auf einem rechtwinkligen Liniennetz aufgebaut, das nur auf der Innenseite des Brückenknies mit der Baukörpergeometrie übereinstimmt, sich von dort aus aber einfach über die restlichen Oberflächen wickelt. Einzelne Rasterfelder werden dadurch über die Kanten gebogen, was konstruktiv nicht unaufwendig ist und eine große Exaktheit in der Herstellung erfordert. Die kontrapunktische Überlagerung der Systeme von Baukörper und Hüllenraster hat aber einen besonderen Reiz, den die Besucher auch dann spüren, wenn sie ihn gar nicht bewusst wahrnehmen.

Der Erfolg einer derartigen, nur auf den ersten Blick einfachen Idee hängt wesentlich davon ab, dass der Bauherr das Konzept versteht und bei der Umsetzung keine Abstriche macht. In diesem Fall war die Kooperation zwischen dem Bauherrn, dem Tragwerksplaner Lothar Heinrich aus dem Büro Vasko und den ausführenden Firmen Waagner-Bíro und Eckelt mit den Architekten durchwegs produktiv, was man dem Produkt in der Detailqualität auch ansieht. Man darf hoffen, dass die Architekten bei ihrem nächsten Projekt, einer weiteren Brücke mit Otto-Wagner-Berührung - dem Sky-Walk zwischen 9. und 19. Bezirk - mit der Stadt Wien als Bauherrn ähnlich viel Glück haben.

Bleibt die Frage, ob der traditionelle Stadtraum des Gürtels durch die diversen Einbauten am Ende nicht doch ruiniert wurde. Sicher hätte es kultiviertere Alternativen gegeben, den alten grauen Gürtel aufzuwerten. Aber wir leben in einer Zeit, in der die Mörtelfamilie Lugner mit angeschlossenem Spice-Girl auf dem letzten Opernball der Möbel-Lutz-Werbefamilie begegnen konnte. Und da soll es am Gürtel kultiviert zugehen?

Spectrum, Sa., 2005.10.01



verknüpfte Bauwerke
Lugnersteg

10. September 2005Christian Kühn
Spectrum

Autistische Türme, diffuse Konturen

Ein windschlüpfriges Oval; ein lustiger Turm mit Schnabel; eine palmenbekrönte High-Tech-Skulptur; und welche Entwürfe sonst noch gegen Jean Nouvels Siegerprojekt für ein Hochhaus am Wiener Donaukanal angetreten sind.

Ein windschlüpfriges Oval; ein lustiger Turm mit Schnabel; eine palmenbekrönte High-Tech-Skulptur; und welche Entwürfe sonst noch gegen Jean Nouvels Siegerprojekt für ein Hochhaus am Wiener Donaukanal angetreten sind.

Die nördliche Kante des Wiener Donaukanals zwischen Rossauerbrücke und Aspernbrücke könnte zu den besten Adressen der Stadt gehören: Es gibt Blick aufs Wasser, die Altstadt liegt gleich gegenüber, und die Verkehrsanbindung ist erstklassig. Das dennoch bis heute eher bescheidene Image des Gebiets lässt sich aus der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg erklären. Zwar hatte es radikale Vorschläge zur Modernisierung gegeben, etwa von Lois Welzenbacher, realisiert wurde jedoch eine unglückliche Mischung aus gründerzeitlicher Parzellierung und einigen großvolumigen Einzelobjekten. Dazu kommt das niedrige technische und gestalterische Niveau der meisten Bauten, wie es für die unmittelbare Nachkriegszeit in Wien typisch ist.

Georg Lipperts Zentrale der ehemaligen Bundesländerversicherung von 1961, ein parallel zum Donaukanal breit gelagerter Quader, wirkte in diesem Umfeld zur Zeit ihrer Entstehung geradezu progressiv. Zur Rechtfertigung der größeren Bauhöhe ist das Gebäude hinter die vordere Baulinie gerückt; man schenkte damit der Stadt eine wenig einladende „Plaza“ Richtung Schwedenbrücke. Lipperts Bau war aber signifikant genug, um Hans Hollein bei seinem 2001 fertig gestellten Media-Tower als grundsätzliche Referenz für Bauhöhe und Fassade zu dienen.

Dass Hollein seinen Nachbarn mit einem leicht geneigten Glasturm an Höhe noch übertreffen durfte, lag schlicht daran, dass die Stadt Wien über kein stadtgestalterisches Konzept für dieses Gebiet verfügte. (Wenn man von der ziemlich allgemeinen Festlegung der Hochhausstudie absieht, dass an hochrangigen Knoten des öffentlichen Verkehrs zusätzliche Verdichtungen möglich sind, solange sie keine Schutzzone beeinträchtigen.) Damit steht bei jedem Einzelprojekt eine Neuverhandlung der umgebenden Stadtstruktur mit dem Investor auf dem Programm. Besser als ein schlechtes Konzept mag diese Konzeptlosigkeit allemal sein. Trotzdem bedeutet sie nichts anderes, als bei jedem Projekt auf eine Architektur zu hoffen, die aktiv zur Stadtentwicklung beiträgt und nicht primär vom Interesse an Gewinnmaximierung getrieben ist.

Holleins schlanker Turm hat jedenfalls einen neuen Maßstab für die Höhenentwicklung am Donaukanal gesetzt, der sich inzwischen flussabwärts an der Aspernbrücke im neuen Hauptquartier der Uniqa - der Nachfolgerin der Bundesländerversicherung - schon in wesentlich massiverer und in Bezug auf die Umgebung weit weniger sensibler Form manifestiert.

Anlässlich eines jüngst entschiedenen Wettbewerbs durfte man gespannt sein, wie die nächste Etappe in diesem Prozess des kontinuierlichen Neuverhandelns des Stadtbilds ausgehen würde. Nach der Übersiedlung aller Mitarbeiter in die neue Konzernzentrale plant die Uniqa-Versicherung, Lipperts Bau abzureißen und auf dem Grundstück ein multifunktionales Gebäude mit Büro- und Hotelnutzung zu errichten. Der Bauherr lud 13 Architekten ein, in einem zweistufigen Verfahren Projekte auszuarbeiten. Eine wesentliche Vorgabe war die optimale Einbindung des Bauwerks in den zweiten Bezirk sowie die Förderung der Anbindung an die Innenstadt. Für den repräsentativen Standort sollte ein entsprechend repräsentatives Gebäude mit attraktiver und öffentlich zugänglicher Sockelzone in Vernetzung mit den umliegenden Straßenräumen entstehen. Zugleich sollte die Verschattung der benachbarten Fassaden gegenüber dem Bestand verbessert werden.

Die Wettbewerbsergebnisse, die noch bis 12. September im Architekturzentrum Wien ausgestellt sind, lassen sich in zwei Gruppen gliedern: autonome Großplastiken auf der einen und aus dem Kontext entwickelte Strukturen auf der anderen Seite. (Dass auch die Großplastiken auf den Standort reagieren müssen und dass jeder Kontextbezug auch über eine plastische Form hergestellt werden muss, schwächt diese Unterscheidung nicht prinzipiell). In einer speziellen Situation war hier Hans Hollein, der mit dem Media-Tower den Kontext vor Jahren wesentlich mitgestaltet hat und nun zu einer kraftschlüssigen skulpturalen Verbindung mit sich selbst ansetzte, die von der Jury aber schon in der ersten Stufe als überzogene Geste ausgeschieden wurde. Autonome Türme mit markanter Figur wurden von rund der Hälfte der Projektanten angeboten. In die zweite Stufe kamen ein windschlüpfriges Oval von Helmut Jahn, das an fast jeden Ort der Welt gepasst hätte, ein lustiger Turm von Gustav Peichl mit gießkannenartigem Hausschnabel und eine palmenbekrönte High-Tech-Skulptur von Richard Rogers. Warum sich die Jury das Urteil „Vergewaltigung des Orts“ ausgerechnet für die kompromissloseste Großskulptur, einen beeindruckenden oktogonalen Kristall von Adolf Krischanitz, der in der ersten Stufe ausgeschieden wurde, aufgespart hat, bleibt rätselhaft.

Die Entscheidung fiel am Ende zwischen einem sehr kultivierten Entwurf von Paul Katzberger, einer schräg gestellten Hochhausscheibe, und dem Projekt von Jean Nouvel, einem auf den ersten Blick wenig harmonisch wirkenden, leicht gekippten Block auf einem Sockel mit schräg geneigter Glashülle. Nouvel, der seine Arbeit immer schon als Generalangriff auf die autistische „autonome Architektur“ gesehen hat, stellt hier seine Meisterschaft unter Beweis, ein Projekt aus dem jeweiligen Kontext zu entwickeln und trotzdem einen absolut eigenständigen Beitrag zu leisten. Nouvel arbeitet nicht mit Baukörpern, sondern mit Linien und Flächen, die Sicht- und Beschattungslinien aufnehmen. Der Betrachter soll keine Gesamtfigur mehr wahrnehmen, sondern diffuse, scheinbar widersprüchliche Konturen, Spiegelungen und fließende Übergänge von Außen- und Innenräumen.

Wie Nouvel den Hoteltrakt, von zwei verspiegelten Pfeilern getragen, auf den Glaskörper kippt, wie er die Untersichten von Baukörpern zu Projektionsflächen macht, die weit in den Stadtraum hineinwirken, oder wie er die vier Fassaden des Hotels je nach Himmelsrichtung unterschiedlich ausbildet, stellt viele eingefahrene Regeln der Architektur auf den Kopf, ohne in eine selbstverliebte Virtuosenarchitektur abzugleiten.

Wenn Nouvel die Stimmungen, die er in seinen Zeichnungen andeutet, tatsächlich erreicht, könnten in diesem Gebäude Räume entstehen, die zu den innovativsten der letzten Jahre gehören und unsere Vorstellungen von Architektur verändern. Wer von der Umsetzung von Nouvels Projekten in Wien bisher ein wenig enttäuscht war, darf diesmal aufs Maximum hoffen: Bauaufgabe und Bauherr sollten für ein adäquates Budget sorgen. Und dass „die Materialisierung der Fassade mit der zuständigen Magistratsabteilung abzustimmen ist“, wie man im Juryprotokoll liest, wird das Projekt wohl auch überleben.

Spectrum, Sa., 2005.09.10

27. August 2005Christian Kühn
Spectrum

Blechblitz im Kalkputz

Wenn in hundert Jahren von der Kalkputzstadt Wien nur Reste übrig sind, werden Wohnbau-Projekte wie die von Artec und Geiswinkler & Geiswinkler als Kristallisationskerne eines neuen städtischen Gewebes gewirkt haben.

Wenn in hundert Jahren von der Kalkputzstadt Wien nur Reste übrig sind, werden Wohnbau-Projekte wie die von Artec und Geiswinkler & Geiswinkler als Kristallisationskerne eines neuen städtischen Gewebes gewirkt haben.

Das Gebiet zwischen Triester Straße und Laxenburger Straße in Favoriten, dem zehnten Wiener Gemeindebezirk, ist eines der typischen Stadterweiterungsgebiete, wie sie im späten 19. Jahrhundert außerhalb des Gürtels entstanden. Während die Fassaden mit dicken Schichten aus Putz und Ornament ein gutbürgerliches Gesicht zeigten, verriet der Stadtgrundriss seine Bestimmung als Paradies für Spekulanten: Ein rechtwinkliger Blockraster mit dichtester Bebauung, in dem nur ab und zu ein „Beserlpark“ - wie die Wiener diese Aussparungen im Raster nennen - für etwas Grün sorgt.

Die Haltung der Stadtplanung zu solchen Gebieten hat sich in Wien seit den 1960er-Jahren radikal geändert. Anstelle von Flächensanierungen, also dem Abriss und Neubau von möglichst großen, zusammenhängenden Arealen, wurde die „Sanfte Stadterneuerung“ durch Sanierung des Bestands in den 1970er-Jahren zur dominierenden Doktrin. Sie bezog sich ursprünglich auf den Umgang mit historisch „wertvollen“ Gebieten, wie er im Wiener Schutzzonengesetz aus dem Jahr 1972 geregelt wurde. 1978 räumte Bürgermeister Leopold Gratz in seiner Regierungserklärung dieser Art der Stadtentwicklung grundsätzlich Priorität vor Stadterweiterung und Flächensanierung ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich mit dem „Planquadrat“ im vierten Bezirk bereits ein Pilotprojekt der „Sanften Stadterneuerung“ etabliert, und der Wiener ÖVP-Chef Erhard Busek hatte gezeigt, dass man mit dem Thema politisch gegen die Bagger-Fraktion punkten konnte.

„Sanfte Stadterneuerung“ beschränkt sich aber nicht auf eine Sanierung des Bestands. Gerade in Gebieten mit schlechter Bausubstanz und längst aller gründerzeitlicher Verzierungen beraubten Fassaden müssen Impulse von Neubauten ausgehen, die versuchen, das Wohnen in der Stadt zeitgemäß zu definieren. Urbanität, also „städtisches Lebensgefühl“, braucht neben einer hohen Dichte auch Faktoren wie Theatralik und Hybridität: Die Stadt lebt von der Koexistenz unterschiedlicher Lebensentwürfe, die sich im Stadtraum ausdrücken und in ihrer gegenseitigen Überlagerung den spezifischen Rhythmus einer Stadt bilden. Die hoch spekulativen gründerzeitlichen Erweiterungsgebiete außerhalb des Gürtels konnten über ihre differenzierten Fassaden nur einen Anschein davon vermitteln. Für eine zeitgemäße Urbanität braucht es hier gezielte Irritationen, die jenseits der Reparatur des Bestehenden ein neues städtisches Gewebe knüpfen.

Eine erstaunliche Häufung von in dieser Hinsicht ambitionierten Wohnbauten findet sich in Favoriten in den Baublöcken um den Paltramplatz, einen typischen „Beserlpark“ zwischen der Siccardsburg- und der Van-der-Nüll-Gasse. Die guten Geister der beiden in den Straßennamen verewigten Architekten der Wiener Oper haben offensichtlich gewirkt: Zu den viel publizierten Wohnbauten von Delugan-Meissl direkt am Paltramplatz und von Patrizia Zacek in der Siccardsburggasse aus den Jahren 2002 und 2003 sind heuer in der Alxingergasse zwei neue Nachbarn hinzugekommen. An der Ecke zur Hardtmuthgasse haben die Architekten Geiswinkler und Geiswinkler für den Bauträger „Neues Leben“ geplant, schräg gegenüber findet sich eine Baulückenverbauung von Artec für die Wohnbauvereinigung für Privatangestellte, GPA.

Geiswinkler und Geiswinkler beweisen, dass sich das Prinzip der „gestapelten Einfamilienhäuser“ auch in diesem Umfeld erfolgreich realisieren lässt. Die Wohnungen sind zweigeschoßig angelegt und verfügen jeweils über einen raffiniert angelegten Freibereich, der aus einer kleinen Terrasse, einem Stück Wiese und einem „Vertikalgarten“ besteht und einen Puffer zwischen der Wohnung und dem Straßenraum bildet. Einblick in diesen Freibereich ist immer nur von Räumen der eigenen Wohnung aus möglich. Das Konzept ergibt für die Wohnräume eine erstaunliche Balance aus Öffnung und Intimität, die sich noch steigern wird, wenn die fünf Meter hohen Rankgerüste der seitlichen Loggienwände bewachsen sind. Die oft von Bauträgern geäußerte Behauptung, dass Bewohner in der dicht verbauten Stadt keine Loggien und Balkone wünschen, weil man diese nicht nutzen könne, wird hier eindrucksvoll widerlegt.

Voraussetzung ist die Bereitschaft des Bauträgers, aus seinem Grundstück nicht das Maximum an Nutzfläche herauszupressen, sondern Raum für eine begrünte Zwischenzone zu lassen. Dass sich auf dem Dach zusätzlich ein gemeinsam zu nutzender Dachgarten mit schönem Blick über Wien findet, ist ein geradezu luxuriöses Extra. Ähnlich großzügig ist der Bauherr mit dem Erdgeschoß verfahren. Statt hier noch ein - in diesem Viertel sowieso kaum vermietbares - Geschäftslokal oder eine schlecht belichtete Wohnung vorsehen zu müssen, durften die Architekten beim Eingang viel Straßenraum ins Haus ziehen und im Erdgeschoß einen großen Gemeinschaftsraum anlegen, der sich zu einem Hofgarten öffnet.

Auch im Wohnbau von Artec wird das Verhältnis zwischen Straßenraum und Gebäude neu ausgelotet. Die Baulücke liegt im Gefälle an der Schnittstelle zwischen zwei Bauklassen mit unterschiedlicher Bauhöhe. Der Entwurf löst den kompakten Block in eine rhythmisch gegliederte Anordnung von vor- und zurückspringenden Kuben auf. Durch diese Staffelung erhält einerseits der Straßenraum mehr Licht, andererseits entstehen bereits ab dem vierten Obergeschoß großzügige Dachterrassen. Die Wohnungen im ersten und zweiten Geschoß teilen sich einen vorspringenden Baukörper mit Fenstern, die einen Blick in die Tiefe des Straßenraums erlauben. Die Erdgeschoßwohnungen haben entsprechend dem Gefälle bis zu vier Meter Raumhöhe und hofseitige Gärten.

Die Gebäudehülle wird von einer hinterlüfteten Leichtwand gebildet, die aus Stahlkassetten mit Wärmedämmung besteht und zur Straße hin mit Platten aus Titanzink und raumseitig mit Sperrholz verkleidet ist. Die Fenster sind spezielle Holz-Aluminium-Konstruktionen. In der Material- und Farbwahl - besonders hervorzuheben: das glänzend rot gestrichene Treppenhaus, das im Straßenraum hervorblitzt - ist das Projekt typisch für die räumliche Choreografie von Artec: plötzliche Materialwechsel, unvermitteltes Aneinanderstoßen von Raumschichten und im Inneren eine Kombination aus kräftigen Farben und Texturen.

Beide Projekte sind beispielhaft für das exzellente Niveau, das der geförderte Wohnbau in Wien in konzeptioneller, formaler und technischer Hinsicht erreichen kann. Dass man im frei finanzierten Bereich (zu höheren Kosten) kaum Vergleichbares findet, ist ein Indiz dafür, dass die Regulierungssysteme der öffentlichen Hand im Interesse der Nutzer, aber auch im Sinne der Stadtentwicklung funktionieren: Wenn von der Kalkputzstadt Wien in 100 Jahren nur noch Reste übrig sind, werden Projekte wie diese als Kristallisationskerne des neuen städtischen Gewebes gewirkt haben.

Spectrum, Sa., 2005.08.27



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Wohnhaus Alxingergasse
Wohnhaus Alxingergasse

16. Juli 2005Christian Kühn
Spectrum

Bergsee

Ein Wohnwagen, ein Whirlpool, ein Musikzimmer, eine Werksküche. Alles im offenen Gerüst. „Ad on“, die begehbare Skulptur auf dem Wiener Wallensteinplatz: nur ein weiteres Dauerspektakel auf einem öffentlichen Platz?

Ein Wohnwagen, ein Whirlpool, ein Musikzimmer, eine Werksküche. Alles im offenen Gerüst. „Ad on“, die begehbare Skulptur auf dem Wiener Wallensteinplatz: nur ein weiteres Dauerspektakel auf einem öffentlichen Platz?

Als vor ein paar Wochen die ersten Teile des Gerüsts aufgestellt wurden, das heute den Wallensteinplatz im 20. Bezirk beherrscht, waren die Anrainer ein wenig ratlos: Ein 20 Meter hohes Baugerüst, wie es sonst bei der Sanierung von Fassaden verwendet wird, aber mitten auf dem Platz, weit weg von jeder Fassade, die es hätte einrüsten können? Aufgebaut wurde es von einer Gruppe von Architekturstudenten der Technischen Universität Wien, gefördert von einer Initiative der Stadt für „Kunst im öffentlichen Raum“, gesponsert von privaten Unternehmen, die Baumaterial und Maschinen zur Verfügung stellten. In diesem Gerüst verfangen haben sich auf unterschiedlichen Höhenlagen ein Wohnwagen, ein Whirlpool, ein Musikzimmer, eine Internetlounge, Toiletten, eine Werksküche und auf der höchsten Ebene ein winziger Bergsee mit künstlichen Seerosen und einem Felsen aus Kunststoff, über den man in ein Panoramacafé für zwei Personen klettert. Weil dort kein Ober mehr hineinpasst, kommt der Kaffee aus einem Münzautomaten.

Der Aufstieg lohnt sich offenbar trotzdem. 600 Besucher pro Tag klettern über die Stufen und Terrassen nach oben, und das Publikum ist genauso bunt gemischt wie die Versatzstücke des Wohnens, aus denen sich diese räumliche Collage zusammensetzt. Wer sich hier etwas länger aufhält, beginnt sich nach und nach wie in einem Haus ohne Wände zu fühlen, und bald kommen ihm die umgebenden Häuser mit ihren blickdichten Gründerzeitfassaden gar nicht mehr so selbstverständlich vor. Vielleicht wäre ein offenes Gerüst mit ein paar Biwakschachteln doch eine Alternative zu den „eigenen vier Wänden“, die schützen, aber immer auch einschließen? Für die Kinder, die mit Begeisterung in diesem vertikalen Erlebnispark herumtollen, ist diese Frage klar zu beantworten: Das Gerüst ist besser als jedes Baumhaus, und wenn man noch selbst daran weiterbasteln dürfte, wäre es der optimale Abenteuerspielplatz. Die anderen Besucher werden das Spektakel genießen und dann nach Hause gehen, vielleicht die Vorhänge aufziehen und sich fragen, warum sie von ihren Nachbarn eigentlich kaum mehr kennen als den Namen auf dem Türschild.

Für Peter Fattinger, Veronika Orso und Michael Rieper, die für Konzept und Realisierung von „add on“ verantwortlich zeichnen, ist das delikate Verhältnis zwischen öffentlichem Leben und angeblich ausschließlich privatem Wohnen ein zentrales Thema. Im normalen Wohnalltag verdichten sich seit einigen Jahren zwei scheinbar gegenläufige Phänomene: Auf der einen Seite die völlige Auflösung aller Grenzen zwischen öffentlich und privat in den Spektakeln der „Big-Brother“-Inszenierungen, auf der anderen Seite eine immer stärkere Abkapselung der individuellen Wohneinheit als Fes- tung gegenüber einer bedrohlichen Außenwelt. Das „add-on“-Gerüst ist eine begehbare Skulptur, die darauf hinweist, dass gerade die Zwischenzonen und Hybride, in denen sich auch Zufälliges ansiedeln kann, die eigentliche Qualität des Wohnens ausmachen. Ein von Vitus Weh kuratiertes Rahmenprogramm von Performances über Vorträge und Modeschauen bis zu Filmvorführungen macht den Wallensteinplatz noch bis 31. Juli für 42 Tage zum kulturellen Zentrum des Bezirks. Für Künstler, die an diesen Veranstaltungen teilnehmen, gibt es im „add-on“-Gerüst kleine Artists-in-Residence-Boxen, in denen für ein paar Tage halböffentliches Wohnen geprobt werden kann.

Inwiefern unterscheidet sich dieses Projekt von Dauerspektakeln wie etwa am Wiener Rathausplatz, die aus der Stadt einen großen Erlebnispark machen wollen? Auf den ersten Blick ist der Unterschied nicht groß: viele Menschen, viel Lärm, viel Licht. Auf dem Rathausplatz geht es um eine Umcodierung des öffentlichen Raums, der mit Macht und Autorität assoziiert wird, in einen Raum des reinen Spektakels. Trotz allen Wirbels bleiben die Besucher passive Zuschauer und Konsumenten. Die Aktion auf dem Wallensteinplatz hat dagegen zumindest den Anspruch und das Potenzial, die Besucher zum Nachdenken über ihre Position in der Welt zu bringen. Und weil sie trotz aller perfekten Logistik einen improvisierten Eindruck macht, vermittelt sie das Gefühl, dass die Welt gestaltbar auch für die ist, die nicht an irgendwelchen Schalthebeln der Macht sitzen.

Ob es sich dabei um eine Illusion handelt, sei dahingestellt. Peter Fattinger hat nach seinem Studium ein Jahr im Atelier von Joep van Lieshout (AVL) in Rotterdam gearbeitet, dem zurzeit eine Ausstellung im Wiener Museum für angewandte Kunst gewidmet ist. Lieshout hatte 2001 mit seinem Atelier einen „Staat“ als Kunstwerk gegründet. Auf eigenem Territorium baute das Kollektiv Nahrungsmittel an, sorgte für eigene Energieproduktion und Wohnmöglichkeiten. Als „AVL-Ville“ schließlich ankündigte, auch staatliche Errungenschaften wie Waffen und Bomben herstellen zu wollen, stoppte die Rotterdamer Stadtverwaltung das Projekt. Einiges von der Idee der improvisierten Selbstbestimmung hat sich in den Projekten Fattingers erhalten. Dass „add on“ letzte Woche von Sympathisanten des Ernst-Kirchweger-Hauses - eines seit 1990 besetzten Hauses in Favoriten, das letzten Herbst von der kommunistischen Partei an private Investoren verkauft wurde und nun wahrscheinlich vor der endgültigen Räumung steht - für einen Abend lang besetzt wurde, entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie.

Joep van Lieshout befasst sich inzwischen mit der Umkehrung seiner selbst bestimmten Welten. Werktitel wie „Der Disziplinator“ weisen in die Richtung eines gesellschaftlichen Alptraums, der zwar immer noch improvisiert wirkt, aber darum nicht weniger bedrohlich. Der „Disziplinator“ ist ein Arbeitslager für 72 Insassen, denen 24 im Drei-Schicht-Betrieb genutzte Betten zur Verfügung stehen. Ziel des Betriebs ist die Herstellung von Sägemehl durch die Bearbeitung von Baumstämmen mit kleinen Feilen.

Der fröhlichen Wohnskulptur am Wallensteinplatz ist im Unterschied zu solchen Inszenierungen ein Erfolg beim breiten Publikum sicher. Dass sie im Kunstdiskurs wenig Neues zu bieten hat, mag sein. Als Beitrag zur Durchlüftung des einigermaßen selbstgefälligen Wiener Wohnbaudiskurses hätte sie allerdings einiges beizutragen. Die Initiative „Kunst im öffentlichen Raum“ wird immerhin nicht nur von Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny, sondern auch von den Stadträten für Wohnbau und für Stadtentwicklung, Werner Faymann und Rudolf Schicker, getragen. Vielleicht finden die beiden Letzteren ja noch Zeit für ein Gipfeltreffen im Panoramacafé für zwei.

Spectrum, Sa., 2005.07.16

18. Juni 2005Christian Kühn
UmBau

Nachruf 1

»Die Schule neu denken«: Unter diesem Titel hat der deutsche Pädagoge Hartmut von Hentig 1993 seine Reflexionen über das Bildungssystem im zu Ende gehenden...

»Die Schule neu denken«: Unter diesem Titel hat der deutsche Pädagoge Hartmut von Hentig 1993 seine Reflexionen über das Bildungssystem im zu Ende gehenden...

»Die Schule neu denken«: Unter diesem Titel hat der deutsche Pädagoge Hartmut von Hentig 1993 seine Reflexionen über das Bildungssystem im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert zusammengefasst. Ein Grundgedanke Hentigs ist die Verwandlung der Schule von einem Ort der Belehrung in einen Ort der Erfahrung, an dem Schüler Selbstbestimmung und Solidarität als gleichermaßen zentrale Werte begreifen lernen. Diese Schule ist nicht Aufbewahrungs- und Gleichrichtungsanstalt, sondern lebendiger, offener Teil des Gemeinwesens. Mit Architektur hat das nicht zwangsläufig etwas zu tun. Auch in einem konventionellen Schulgebäude lassen sich neue Formen des Unterrichts erproben. Aber wer die Schule wirklich neu denken will, wird das auch räumlich ausdrücken wollen. Und so ist jeder Wettbewerb für ein neues Schulhaus heute auch ein Maßstab dafür, wie weit Schulerhalter und Lehrer sich tatsächlich eine andere Schule vorzustellen bereit sind. Der Wettbewerb im Jahr 2004 für das Polytechnikum in Mattsee/Salzburg gab Anlass zur Hoffnung. Einstimmig hatte die Jury das Projekt von Thomas Forsthuber und Christoph Scheithauer zur Ausführung empfohlen, eine raffiniert in die Landschaft gesetzte, aus drei Elementen gebildete Bauskulptur mit hohem Funktionswert: Ein Sockelgebäude mit Werkstätten umschließt U-förmig einen Werkhof. Der Klassentrakt ist quer dazu angeordnet und begleitet den Weg zum See. Über dem Werkstättensockel schwebt auf Stützen ein kleines Jugendzentrum. Bald nach Bekanntgabe des Ergebnisses erregte sich die Volksmeinung. Verdächtig erschien eine Zeichnung der Architekten mit Skateboard fahrenden Jugendlichen, die auf der Dachlandschaft des Projektes ihre Künste vorführen. Mattsee liegt zwar nur 20 Kilometer außerhalb der Stadt Salzburg, aber so viel urbane Jugendkultur sollte sich vom Land wohl besser fern halten. Vor allem stießen sich die Kritiker des Projektes aber daran, dass es nicht nur nicht aussieht wie ein Schulhaus, sondern nicht einmal wie ein Haus. Die zukünftigen jugendlichen Nutzer hätten damit wohl kein Problem: Warum soll man nicht auf einem Schiff in die Schule gehen oder in der Eisenbahn? Für Pädagogen ist die fest gemauerte, nach außen klar abgegrenzte Institution aber offensichtlich unverzichtbarer Bestandteil ihrer Identität. Die Direktorin der Schule, selbst in einem geraniengeschmückten, gaupenbekrönten Haus wohnhaft, die sich in der Jury noch von den Fachpreisrichtern eines Guten hatte belehren lassen, stand bald in vorderster Front der Projektgegner. Bürgermeister und Gemeinderat erklärten sich zur besseren Jury, klagten über höhere Kosten und beschlossen, den drittgereihten Entwurf eines lokalen Architekten – eine kongeniale Fortführung des bestehenden Baus aus den 1950er-Jahren – zur Ausführung zu bringen. Das Land Salzburg, das für einen Großteil der Finanzierung aufkommt, beugte sich der Entscheidung. Für die an Skandalen nicht gerade arme Salzburger Wettbewerbskultur ist das ein schlechtes Zeichen. Die Warnung, die Otto Kapfinger nach den Wirren um das kleine Festspielhaus und das Salzburger Stadion an potenzielle Juroren und Wettbewerbsteilnehmer ausgesprochen hat, gilt weiter: »Meidet Salzburg!«

UmBau, Sa., 2005.06.18



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UmBau 22 Wettbewerb! Competition!

18. Juni 2005Christian Kühn
UmBau

Nachruf 2

Die Bundesamtsgebäude in der Wiener Zollamtsstraße sind charakteristische Beispiele für die Bürokratenarchitektur der 1970er-Jahre, als man den gesetzlichen...

Die Bundesamtsgebäude in der Wiener Zollamtsstraße sind charakteristische Beispiele für die Bürokratenarchitektur der 1970er-Jahre, als man den gesetzlichen...

Die Bundesamtsgebäude in der Wiener Zollamtsstraße sind charakteristische Beispiele für die Bürokratenarchitektur der 1970er-Jahre, als man den gesetzlichen Auftrag, zweckmäßig und sparsam zu bauen, mit monofunktional und billig verwechselte. Das Ergebnis sind Bauten, die sich an neue Anforderungen nur mit Mühe anpassen lassen, technische Mängel aufweisen und an heutigen Standards gemessen unmoralisch viel Energie verbrauchen. Einen gewissen typologischen Charme besitzen die beiden kreuzförmig angelegten Türme, in deren Zentrum je zwei Paternosterlifte den Aktenlauf befördern, dennoch. Geradezu nobel wirken diese Amtsplanungen im Vergleich zu späteren Ausblühungen wie das unmittelbar benachbarte Bundesamtsgebäude Peter Czernins mit seiner abstrus-ordinären und im Übrigen sündteuren Fassade. Für die Eigentümer sind solche Bauten jedenfalls ein Alptraum: Zu Marktpreisen lässt sich derartige Qualität heute nicht mehr vermieten, eine angemessene Instandsetzung ist kaum zu finanzieren. Zumindest ein neues Image wollte man den Türmen an der Zollamtsstraße mit einer Fassadensanierung geben, nachdem sich einige Fassadenelemente bedrohlich aufzulösen begannen. Ein Wettbewerb im Jahr 2002 erbrachte als Siegerprojekt eine Einkleidung des Bestandes in eine Glashülle, die abwechselnd nach innen oder nach außen um wenige Grade gefaltet ist. Die Knicklinie umläuft das Gebäude in einer kontinuierlichen Auf-und-Ab-Bewegung, bei der sich geometrische Situationen in einem regelmäßigen Muster wiederholen. Durch diese Faltung wird die neue Fassade zu einer selbstständigen Figur, die sich deutlich vom repetitiven, auf einem orthogonalen Raster aufgebauten Bestand abhebt und diesen wirkungsvoll konterkariert. Die Bundesimmobiliengesellschaft, die das Objekt während des Wettbewerbes aus dem Eigentum der Republik übernahm, hatte am Projekt von Rainer Pirker und den Konsulenten Oskar Graf, Peter Maydl und Walter Prause allerdings wenig Freude. Schon eine grobe Kalkulation ergab, dass sich die Sanierung mit der aufwändigen Glashülle nie rechnen würde, es sei denn, die Republik wäre bereit, das Geld, das sie in den 1970er-Jahren der Architektur vorenthalten hatte, nun doch auszugeben – angesichts budgetärer Beschränkung aufs Nötigste eine hoffnungslose Erwartung. Und so drehte das Projekt noch ein paar Ehrenrunden durch die Vergabeinstanzen, bis es schließlich still begraben wurde. Der Auftrag für die Reparatur der Fassade ist derweil vergeben, am ärmlichen Erscheinungsbild wird sich kaum etwas ändern. Für die Wettbewerbssieger, die sich mit der BIG über die Honorarforderungen nicht einig werden konnten, endet die Reise voraussichtlich dort, wo heute oft genug die Endstation einer architektonischen Ambition zu finden ist: vor Gericht. Nach Drucklegung wurde im konkreten Fall eine außergerichtliche Einigung zwischen BIG und den Architekten erzielt.

UmBau, Sa., 2005.06.18



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11. Juni 2005Christian Kühn
Spectrum

Wie viel Spiel verträgt die Stadt?

Vom Gründerzeitraster zum „Wiener Block“: „Lösungsorientiert und flexibel“ habe Karl Schiller die Bauordnung geprägt, befindet die Wiener Architektenkammer. Und verleiht ihm den Ehrenring.

Vom Gründerzeitraster zum „Wiener Block“: „Lösungsorientiert und flexibel“ habe Karl Schiller die Bauordnung geprägt, befindet die Wiener Architektenkammer. Und verleiht ihm den Ehrenring.

Bauordnungsgesetze sind nicht unbedingt ein Lieblingsthema von Architektinnen und Architekten. Die Tatsache, dass sich ein Land von der Größe Österreichs neun unterschiedliche Bauordnungen leistet, ist inzwischen als Teil der österreichischen Folklore akzeptiert, an der nur im Rahmen einer Generalreform des Föderalismus zu rütteln wäre. Ansonsten gelten Bauordnungen als lästige Randbedingungen der Architekturproduktion, mit denen man möglichst geschickt umzugehen hat.

Umso erstaunlicher ist, dass die Architektenkammer für Wien, Niederösterreich und das Burgenland Ende Juni den ersten Ehrenring ihrer Geschichte an Obersenatsrat Karl Schiller verleihen wird, jenen Juristen, der seit über 40 Jahren - von 1964 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2004 - als Beamter der Gemeinde Wien maßgeblich an der Verfassung der Wiener Bauordnung beteiligt war. Als Begründung für die Auszeichnung wird einerseits das Bemühen Schillers genannt, in der Bauordnung möglichst große Freiheit der architektonischen Gestaltung zuzulassen, andererseits generell die Bedeutung des Gesetzes für die Entwicklung der Stadt in formaler wie funktioneller Hinsicht hervorgehoben. Die Wiener Bauordnung, die im vollen Wortlaut „Stadtentwicklungs-, Stadtplanungs- und Baugesetzbuch“ heißt, regelt nämlich nicht nur die Bautechnik und Mindestmaße für Raumhöhen, sondern ist zugleich gesetzliche Grundlage für die Stadtentwicklung inklusive Flächenwidmungs- und Bebauungsplanung.

Wie groß die Bedeutung dieses Regelwerks für das städtische Leben ist, zeigt beispielsweise die Einführung der Schutzzonen in einer Novelle aus dem Jahr 1972, durch die besonders erhaltenswerte Gebiete der Stadt in ihren „prägenden Bau- und Raumstrukturen und in der Bausubstanz“ erfasst und unter Schutz gestellt werden können. Was auf den ersten Blick wie ein Gesetz zur erweiterten Denkmalpflege aussieht, war der Versuch, die Innenstädte vor Verödung und spekulativer Vernachlässigung zu bewahren, indem in diesen Zonen unabhängig vom Denkmalschutz der Abriss von Gebäuden verhindert wurde. Ebenso wichtig ist aber eine zweite Regelung, die auch die Nutzung der Immobilien in Schutzzonen insoweit einschränkte, als bestehende Wohnungen nicht oder nur zu einem sehr geringen Anteil als Büroflächen genutzt werden dürfen. Diese Beschränkung von Eigentümerinteressen hat der Wiener Altstadt das Schicksal vieler Innenstädte etwa in Deutschland erspart, die überwiegend kommerziellen Nutzungen dienen und nach Büro- und Geschäftsschluss schlagartig veröden.

Dass derartige Gesetze von Juristen nicht erfunden werden, sondern Ergebnis einer politischen Willensbildung sind, ist klar. Der Einfluss der Beamten darf dabei jedoch nicht unterschätzt werden. Die Architektenkammer begründet die Auszeichnung für Schiller vor allem damit, er sei „immer lösungsorientiert und konstruktiv“ gewesen und hätte prinzipiell nach Regelungen gesucht, die Spielräume zulassen. Die normative Kraft des Faktischen spielt dabei oft eine Rolle: Die ursprüngliche Formulierung der Bauordnung, Neubauten in Schutzzonen müssten sich an den Bestand angleichen, wurde nach der Errichtung von Hans Holleins Haas-Haus am Stephansplatz, das sich nur mit viel gutem Willen als „angeglichen“ charakterisieren lässt, dahingehend verändert, dass Neubauten sich auch „auf zeitgemäße Weise in das Stadtbild einordnen“ dürfen.

Ein Bereich, in dem die Schaffung von Spielräumen besondere Brisanz hat, ist die Stadtplanung. Mit einem Bebauungsplan kann die zukünftige Bebauung eines Grundstücks theoretisch bis ins Detail festgelegt werden, von der Baulinie, Bauklasse und dem Ausnutzungsgrad bis hin zu Details der Farbgebung oder der Gestaltung von Vorgärten. Das sichert ein bestimmtes Stadtbild, bietet aber auf der anderen Seite wenig Möglichkeit für Innovation. In der Wiener Bauordnung finden sich eine Reihe von Möglichkeiten, flexiblere Festlegungen zu treffen. Seit 1976 besteht die Möglichkeit einer sogenannten „Strukturwidmung“, in der im Prinzip nur die Maximalkubatur und Bebauungsfelder vorgegeben sind, die exakte Ausformung des Stadtraums aber der weiteren Planung überlassen bleibt. Bei Bauträgern ist diese Widmung allerdings keineswegs beliebt, da sie explizit weitere Ausnahmeregelungen ausschließt, etwa nach dem Paragrafen 69 für „unwesentliche Abweichungen von den Bebauungsbestimmungen“, der zu den Zeiten seiner liberalsten Handhabung Mitte der 1990er-Jahre bis zu 20 Prozent zusätzliche Kubatur bringen konnte und etwa den Millenniumstower um 20 Meter Bauhöhe (und damit sechs gewinnbringende Etagen) nach oben schießen ließ.

Eine Idee, diese Strukturwidmung auch auf den gründerzeitlichen Stadtraster zu übertragen, der sogenannte „Wiener Block“, wurde in einer Arbeitsgruppe aus beamteten Stadtplanern und externen Experten 2001 entwickelt und von den Architekten Mascha und Seethaler ausgearbeitet. Für zusammenhängende Grundstücke von mindestens 2500 Quadratmeter Fläche sollte die Möglichkeit bestehen, eine aufgrund der bestehenden Widmung ermittelte Kubatur anders zu verteilen, als es die Baulinien vorgeben. Eine Überprüfung des Projekts durch die Magistratsabteilung für Stadtgestaltung sollte sicherstellen, dass die Planung das Stadtbild bereichert und nicht beeinträchtigt. Eine solche Regelung könnte nordöstlich gelegene Parzellen sinnvoll bebaubar machen, aber auch energetisch effizientere Kubaturen und Ausrichtungen erlauben.

Dass diese Regelung sich bis heute nicht in der Bauordnung findet, liegt nicht zuletzt an den Bedenken auch vonseiten der Architektenschaft, ob die Stadtplanung, die sich ja um das „große Ganze“ zu kümmern hätte, damit nicht ihre wichtigsten Instrumente an private Interessen und deren ästhetische Vorlieben auslagert. Ein hohes Maß an Flexibilisierung, bei der viele Entscheidungen letztlich bei einzelnen Beamten liegen, braucht als Ergänzung eine Stadtplanung, die klare Ziele vorgibt, sich zu stadtgestalterischen Prinzipien bekennt und deren Erreichung möglichst transparent betreibt. Wien hat in der Stadtplanung seit den 1990er-Jahren eine Tradition des Sich-nicht-festlegen-Wollens, die alles möglich macht und auf die stadtplanerische Kompetenz der „unsichtbaren Hand“ der Marktkräfte vertraut.

Dass die flexibleren Instrumente, die unter Karl Schillers Ägide implementiert wurden, grundsätzlich sinnvoll sind, steht aber außer Zweifel. Vielleicht sollte die Architektenkammer die nächste Auszeichnung jenen Personen in der Wiener Stadtplanung versprechen, die auf diesen Instrumenten auch verantwortungsvoll zu spielen verstehen.

Spectrum, Sa., 2005.06.11

06. Mai 2005Christian Kühn
Spectrum

Zu jung, um gut zu sein?

Wem mit 25 zur Architektur nichts einfällt, dem wird auch mit 50 nichts einfallen. Wider den Mythos, dass große Ideen erst im Alter entstehen - am Beispiel der Gruppe „Caramel“.

Wem mit 25 zur Architektur nichts einfällt, dem wird auch mit 50 nichts einfallen. Wider den Mythos, dass große Ideen erst im Alter entstehen - am Beispiel der Gruppe „Caramel“.

Architektur gilt traditionell als Beruf, in dem man die magische Altersgrenze von 40 Jahren überschritten haben muss, um ernst zu nehmende Werke schaffen zu können. Zugegeben: Architektur, die sich nicht auf die schöne Verpackung beschränkt, ist ein komplexes Unternehmen, das viel Erfahrung braucht. Allerdings zeigt eine genauere Betrachtung, dass die meisten guten Architekten ihre zentralen Ideen sehr viel früher entwickelt haben. Wem mit 25 Jahren zur Architektur nichts einfällt, dem wird auch mit 50 nichts einfallen.

Einige Jahre Mitarbeit in guten Büros, wie sie auch die Architektenkammer als Voraussetzung für die Ziviltechnikerprüfung vorschreibt, sind sicher sinnvoll und notwendig. Aber dann brauchen Architekten Aufträge, um sich entwickeln zu können, so früh und so eigenständig wie möglich. Dass größere Projekte oft erst jenseits der 40 akquiriert werden, liegt daran, dass erst dann Mitglieder der eigenen Altersklasse in Positionen zu finden sind, in denen sie Entscheidungen als Bauherren treffen oder als Jurymitglieder beeinflussen können.

Die Architektengruppe Caramel, zu der sich Günther Katherl, Martin Haller und Ulrich Aspetsberger 2001 zusammengefunden haben, darf das Attribut „jung“; jedenfalls zu Recht für sich beanspruchen. Ihre Mitglieder sind (in der Reihenfolge der Namensnennung) Jahrgang 1965, 1966 und 1967. Haller und Katherl haben bereits 1998 ein gemeinsames Büro in Wien gegründet, das vor allem durch Wettbewerbserfolge aufgefallen ist. Im Wettbewerb für die neue Hauptbibliothek am Wiener Gürtel erreichten sie 1998 den zweiten Platz mit einem Projekt, das die vertrackte städtebauliche Situation für eine wirklich innovative Lösung genutzt hätte. Man darf vermuten, dass die Jury in diesem Fall geahnt hat, dass ein solches Projekt nur von jüngeren Architekten kommen konnte, und kein Risiko eingehen wollte.

Im selben Jahr konnten Caramel den Wettbewerb für ein Bürohaus der renommierten, auf Glaskonstruktionen spezialisierten Firma Seele in Augsburg für sich entscheiden. Bald stellte sich jedoch heraus, dass es dem Auslober weniger um eine Realisierung als um die Publicity in Architektenkreisen durch einen aufwendig beworbenen Wettbewerb gegangen war.

Insgesamt weist das Werkverzeichnis von Caramel 29 Wettbewerbserfolge auf, darunter sechs zweite und acht erste Preise. Ihre bekannteste realisierte Arbeit ist ein Einfamilienhaus in Linz, das sie zusammen mit Friedrich Stiper als Innenarchitekten realisierten, ein hart am Wind des Zeitgeistes segelndes Projekt mit einer spektakulär über den Hang auskragenden Stahlkonstruktion.

Im Vergleich dazu ist ihre größte bisher aus einem Wettbewerb hervorgegangene Arbeit, eine Erweiterung der Zentralwerkstätte für die MA 48 in Hernals, eher zurückhaltend. Die funktionelle Grundidee des Entwurfs war die Aufteilung des Raumprogramms auf zwei Baukörper, zwischen denen - geschützt von einem Membrandach - die Abfahrt in eine Tiefgarage liegt. Beim kleineren Bauteil handelt es sich um die Erweiterung einer bestehenden Halle, der größere steht frei auf dem extrem beengten Baugrund zwischen gründerzeitlichen Industriehallen aus Ziegelmauerwerk und folgt mit seinen beiden abgerundeten Ecken den Wendekreisen des Verkehrsflusses. Auf Straßenniveau finden sich in diesem Gebäude zwei Meisterbüros, 18 Montageplätze in der großen Halle sowie eine eigene Waschanlage. Im Zwischengeschoß liegt das Besprechungszimmer mit Ausblick in die umgebenden Baumkronen. Büros, Umkleidekabinen und ein großer Speisesaal für die Mitarbeiter mit dazugehöriger Küche sind im obersten Geschoß untergebracht.

Das auffälligste Merkmal des Gebäudes ist seine Oberfläche aus vorbewittertem schwarzem Zinktitanblech. Um den Effekt einer dünnen Haut zu unterstreichen, sind die Fenster in einer Ebene mit der Verblechung eingesetzt. Die Halle im Erdgeschoß ist beidseitig verglast, wobei in die Glaswand geschlossene Rolltore eingesetzt sind, die einen überwiegenden Teil der Fläche einnehmen. Die verbleibenden Glasstreifen reichen jedoch aus, um die Halle zu belichten und vor allem durchlässig erscheinen zu lassen. Angesichts der sehr beengten Situation ist dieser Effekt sowohl für den Innen- als auch für den Außenraum wichtig: Eine geschlossene Box hätte an dieser Stelle klaustrophobische Zustände bewirkt.

Besonders erfreulich ist die Intention, gute Arbeitsbedingungen zu schaffen, und zwar nicht nur am eigentlichen Arbeitsplatz, sondern auch in den Nebenräumen. Ein Speisesaal mit einem Panoramablick über Wien, wie er den Mitarbeitern der MA 48 hier geboten wird, ist sicher nicht Standard für die Müllabfuhren und Straßenreinigungen dieser Welt, kostet aber nicht mehr als ein schlecht belichteter mit Blick auf eine Feuermauer. Der Weg aus den Werkstätten dorthin führt über ein Treppenhaus, das über ein vertikales Fensterband belichtet ist und dessen Geländer durch die Überlagerung der gelochten Stahlbleche psychedelische Muster erzeugen - ein im besten Sinn des Wortes „billiger“ Effekt, der den Weg zu den Pausenräumen ohne Zusatzaufwand zu einem besonderen Erlebnis macht.

Bedauerlich ist jedoch, dass die Bauherren die Architekten nicht in die Einrichtung des Gebäudes involviert haben und sich auch bei der Lichtgestaltung die Standards im Nutzbau der Gemeinde Wien durchgesetzt haben. Das übliche Braun-Beige dominiert die Meisterbüros und die Bestuhlung des Speisesaals, und auch die Garderoben hätten mit geringer Anstrengung einen besseren Start in den Arbeitstag vermitteln können. Wenn mit einem aufwendigen Wettbewerbsverfahren eine hochwertige Architektur gesucht und sogar realisiert wird, ist es absurd, bei Mobiliar und Beleuchtungskonzept auf ähnliche Maßstäbe zu verzichten. Durch falsche Entscheidungen in diesem Bereich werden gute architektonische Ansätze manchmal bis zur Unkenntlichkeit neutralisiert.

Ähnliche Probleme gibt es gerade bei öffentlichen Bauherren oft am anderen Ende des Spektrums, nämlich bei der Tragwerksplanung. Das Werkstättengebäude in Her- nals wäre prädestiniert für eine Leichtkonstruktion in Stahl und war von den Architekten im Vorentwurf in Zusammenarbeit mit dem Tragwerksplaner Peter Bauer auch als solche konzipiert. In konstruktiver Hinsicht herrscht jedoch in Wien nach wie vor Bunkermentalität, und so blieb es am Ende bei der konventionellen Lösung in Stahlbeton. Die Gesamtqualität des Projekts können diese Punkte aber kaum schwächen.

Caramel sind Optimisten, die sich trotz der vielen gewonnenen, aber nicht realisierten Wettbewerbe nicht davon abhalten lassen, ihre Aufträge weiterhin über den Wettbewerb zu suchen. Als Optimisten dürfen sie auch an die Lernfähigkeit der öffentlichen Bauherren glauben.

Spectrum, Fr., 2005.05.06



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Caramel

02. April 2005Christian Kühn
Spectrum

Der Swing der Maschine

Wie eine glitzernde, in Aluminium und Glas gehüllte Maschine steht der Bau in der Landschaft. Keine lauten Töne, dafür Gestalt, Gesicht und ein Dialog mit der Außenwelt. Ein Industriebau in Lustenau.

Wie eine glitzernde, in Aluminium und Glas gehüllte Maschine steht der Bau in der Landschaft. Keine lauten Töne, dafür Gestalt, Gesicht und ein Dialog mit der Außenwelt. Ein Industriebau in Lustenau.

In der Geschichte der modernen Architektur spielt der Industriebau eine besondere Rolle. Einer seits verdankt die Moderne der „Ingenieurarchitektur“ des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wesentliche Anregungen, andererseits fand sie im Industriebau ein von Konventionen unbelastetes Experimentierfeld für ihre gestalterischen Prinzipien. Das „kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Körper“, als das Le Corbusier Architektur definiert hat, konnte sich im Industriebau ebenso entfalten wie die harmonische Einheit von Form, Funktion und Konstruktion - für die Moderne ein klassisches, vom Historismus nur verschüttetes Ideal.

Das nun in der zweiten Baustufe fertig gestellte Produktions- und Verwaltungsgebäude der Walter Bösch KG in Lustenau, Vorarlberg, scheint diese Tradition fortzuführen. Von der plastischen Wirkung der Baukörper über die Gliederung der Fassade bis zu den Materialien drückt das Gebäude zurückhaltende Eleganz aus. Es gibt keine lauten Töne, selbst der Haupteingang zum Verwaltungsgebäude verschwindet in der Glasflucht des Erdgeschoßes, nur durch ein schmales Vordach markiert. Wie eine glitzernde, in Aluminium und Glas gehüllte Maschine steht der Bau in der Landschaft.

Für die Architekten Erich Steinmayr und Richard Dünser ging es aber um mehr als das elegante Erscheinungsbild. Das Projekt lässt sich auch als Versuch lesen, Kräfte zu zähmen, die nicht nur in Vorarlberg die Kulturlandschaft radikal transformieren. Das Industriegebiet, in dem sich die Walter Bösch KG Ende der 1980er-Jahre als eines der ersten Unternehmen angesiedelt hat, liegt am östlichen Ortsrand der Gemeinde Lustenau. Hier befand sich ein weit gehend intakter Landschaftsraum mit alten Obst- und Laubbäumen, der den Übergang vom Ortszentrum zum Lustenauer Ried, einem der letzten Feuchtgebiete, bildete. Will man in dieser sensiblen Zone die Zusammenhänge zwischen Ort und Landschaft zumindest teilweise erhalten, darf die Industriezone nicht zu einem undurchdringlichen Niemandsland werden. Was dort gebaut wird, muss Gestalt und Gesicht haben, und es muss ausreichend dimensionierte Korridore zur öffentlichen Nutzung übrig lassen. Erich Steinmayr hat sich dieser Aufgabe gestellt, die Nutzfläche kompakt organisiert und den Fassaden eine Physiognomie gegeben. „Ich wollte nach Möglichkeit alle Fassaden als Gesichter sehen, sodass ein Dialog zwischen innen und außen, wenn immer möglich, entsteht,“ schreibt er in seinen Entwurfsgedanken über den „Wandel vom Landschaftsraum zum Industriegebiet“.

Im jetzt fertig gestellten zweiten Bauabschnitt bildet der Verwaltungstrakt die Randbebauung zum Ried und erlaubt den Mitarbeitern einen ungehinderten Blick in den angrenzenden Naturraum. Die knapp 90 Meter langen und 18 Meter tiefen Großraumbüros sind durch und durch rationalistisch: weiße Wände und Säulen, grauer Teppichboden, eine Decke aus Metallpaneelen und graues Mobiliar. Nur der Blick in die Landschaft relativiert diesen calvinistisch-nüchternen Eindruck. Steinmayr verwendet hier vertikale Aluminiumpaneele, die er als „Bretter“ bezeichnet, zur Gliederung der Fassade und zur Vermeidung von Erwärmung und Blendung im Inneren. Die nach Osten orientierte, raumhohe Glaswand ist dadurch gut vor der Sonne geschützt, sodass die Mitarbeiter auf zusätzliche, den Ausblick störende Beschattungen verzichten können. An der südlichen Schmalseite des Verwaltungstraktes, wo die Sonne in steilerem Winkel einfällt, erfolgt die Beschattung dagegen mit horizontalen Gitterrosten.

Steinmayr hat mit ähnlichen Elementen schon bei früheren Projekten gearbeitet, etwa zusammen mit Friedrich Mascher beim Studien- und Forschungsgebäude für die Wiener Albertina und mit Richard Dünser bei der Erweiterung des Rathauses von Lustenau. Auch dort verband er kühle technische Perfektion mit subtilen Proportionen und feinen Materialabstufungen.

Der Unterschied liegt in der Dimension. Bei einem Industriebau dieser Größe - die Außenmaße der Gesamtanlage betragen rund 100 mal 140 Meter - ist die Harmonie zwischen Form, Funktion und Konstruktion nicht mehr in derselben Weise aufrecht zu erhalten wie bei den beiden anderen Projekten. Die eigentliche Struktur des Gebäudes für die Walter Bösch AG ist für den Betrachter überhaupt nicht mehr nachvollziehbar: Den Kern der Anlage bildet ein Hochregallager, das allseitig von Produktionshallen umschlossen wird. Die Verwaltungsbauten als äußerste Schicht bilden zwar das Gesicht nach außen, machen aber nur einen vergleichsweise kleinen Teil der Gesamtkubatur aus. Dass es Steinmayr gelungen ist, angesichts einer Nutzfläche von 22.750 Quadratmetern den Eindruck von Kohärenz über mehrere Baustufen zu erhalten, ist eine besondere Qualität des Projekts.

Die architektonische Leistung geht dabei weit über das Ästhetische hinaus. Sie umfasst Logistik, Technik und nicht zuletzt die Einhaltung des Budgets unter den üblichen Bedingungen des Industriebaus. Auffällig sind nur die Unterschiede in den Konstruktionssystemen zwischen erster und zweiter Baustufe. Hatte Steinmayr in der ersten Baustufe noch einen Stahlbau geplant und dabei vor allem in den weit gespannten Produktionshallen mit ihren eleganten Oberlichten Qualität erzielt, so handelt es sich bei der zweiten Baustufe - vor allem aus Brandschutzgründen - um einen Stahlbetonbau. Geänderte Bauordnungsbestimmungen lassen heute nur noch diese Lösung wirtschaftlich erscheinen.

Auf Wunsch des Bauherrn finden sich in der zweiten Ausbaustufe im Erdgeschoß, einem aktuellen Trend folgend, Wände mit Lehmoberfläche. Dieses Material gibt dem Eingangsbereich und dem Ausstellungs- und Veranstaltungszentrum einen erdigen Charakter - ein effektvoller Kontrast zur kühlen Rationalität des sonstigen Gebäudes. Die eigentliche Überwindung des rein Rationalen findet jedoch auf einer subtileren Ebene statt, wenn die kühle Maschinenästhetik durch Lichtführung, Proportion und feine Abstufungen von Material und Oberflächen zum Schwingen gebracht wird. Erst dadurch wird dieser Industriebau zur Baukunst. Er unterscheidet sich deutlich von vielen schön in Glas und Aluminium verpackten Industriebauten, die nur verkleiden, sich der Zerreißprobe zwischen künstlerischer Freiheit und ökonomischen Sachzwängen aber nicht auszusetzen wagen.

Spectrum, Sa., 2005.04.02



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19. März 2005Christian Kühn
Spectrum

Tirol, gewellt, gefaltet

Die Kämpfe zwischen „Lederhosenstil“ und „modernem Ausdruck“ interessieren kaum mehr. Tirol ist in der postindustriellen Gesellschaft angekommen, auch in der Architektur. Zum neuen Gewerbepark in Aldrans bei Innsbruck.

Die Kämpfe zwischen „Lederhosenstil“ und „modernem Ausdruck“ interessieren kaum mehr. Tirol ist in der postindustriellen Gesellschaft angekommen, auch in der Architektur. Zum neuen Gewerbepark in Aldrans bei Innsbruck.

„Autochthone Architektur“: Mit diesem Begriff sollte Anfang der 1990er-Jahre eine „Neue Tiroler Architektur“ international bekannt gemacht werden. Abgesehen von der urtirolerischen Lautkombination „chth“, die diesem Schlagwort einen besonderen regionalen Charme verleiht, war unter autochthoner - im wörtlichen Sinn bodenständiger oder alteingesessener - Architektur eine Architektur mit tiefen Wurzeln gemeint, die vom Alpinen Haus der anonymen Tradition über Heroen wie Lois Welzenbacher und Franz Baumann bis zu Josef Lackner reicht. Etwas boshaft ließe sich diese Charakterisierung als „alteingesessen modern“ übersetzen, entsprechend zurückhaltend war auch die internationale Resonanz.

In den letzten Jahren hat sich das Bild jedoch deutlich gewandelt. Die neue Tiroler Architektur ist experimenteller und vielschichtiger geworden, zugleich findet sie auch in der breiten Öffentlichkeit ein verstärktes Interesse. Internationale Stars wie Zaha Hadid und Dominique Perrault haben zu diesem Image beigetragen. Zugleich hat sich durch die kontinuierliche Leistung der lokalen Szene ein Qualitätsniveau eingestellt, das mit jenem Vorarlbergs durchaus konkurrieren kann. Die M-Preis-Märkte werden zu Recht als Modell einer anspruchsvollen, sozial verträglichen und trotzdem ökonomisch erfolgreichen Architektur im Bereich des Handels gepriesen. Und mit dem Umbau des Innsbrucker Adambräu - eines denkmalgeschützten Industriebaus von Lois Welzenbacher - hat das Land kürzlich ein Bekenntnis zur zeitgenössischen Architektur abgelegt: In prominenter Lage sind hier das Archiv für Baukunst der Universität Innsbruck und das ehemalige Architekturforum Tirol unter seinem neuen Namen „aut - architektur und tirol“ - untergebracht. Letzteres hat sich seit seiner Gründung 1993 zu einem „Hot Spot“ der österreichischen Architekturszene entwickelt, der auch international ausstrahlt.

All das ist kein Zufall, sondern die Konsequenz einer kulturellen Modernisierung und internationalen Öffnung, die zwar wesentlich auf den Tourismus zurückzuführen ist, sich aber längst nicht mehr darauf beschränkt. Tirol ist in der postindustriellen Gesellschaft angekommen, auch in der Architektur. Die alten Grabenkämpfe zwischen „Lederhosenstil“ und „modernem Ausdruck“ interessieren kaum mehr. Relevant sind Fragen nach neuen Wohn- und Arbeitsformen, nach der Beziehung zur Landschaft und vor allem nach der Siedlungs- und Raumordnungspolitik. Denn ähnlich wie das Rheintal in Vorarlberg ist auch das Inntal in Tirol von einer scheinbar unkontrollierbaren Entwicklung geprägt, in der sich Siedlungen und kommerzielle Nutzungen ohne überregionale Abstimmung in die Landschaft fressen. Die ambitionierte Gestaltung von Einzelobjekten kann an den ästhetischen, ökologischen und sozialen Problemen, die sich daraus ergeben, nicht viel ändern. Beklagt wird das schon seit Jahren. Alternativen scheitern meist an den - ökonomisch auf den ersten Blick verständlichen - Egoismen einzelner Gemeinden, die durch großzügige Widmungen und geringe Auflagen Betriebsansiedlungen anzuziehen versuchen.

Eine neue Raumordnungsnovelle, die das Land unlängst beschlossen hat, soll die Schaffung von Planungsverbänden anregen, in denen die Gemeinden überörtliche Raumplanung nicht in Konkurrenz, sondern kooperativ betreiben, ohne ihre Autonomie aufzugeben. Zu den ersten Gemeinden, die sich in dieser Form zusammenschließen wollen, gehören die sieben Gemeinden der Region 17 südlich von Innsbruck. Ein Grund dafür ist ein Projekt eines Gewerbeparks, der von den drei Gemeinden Aldrans, Sistrans und Lans gemeinsam errichtet wird.

Dieses Projekt unterscheidet sich deutlich von allem, was üblicherweise mit dem Begriff Gewerbepark verbunden wird. Anstelle einer Agglomeration von Einzelobjekten soll hier eine große Figur entstehen, die im Dialog mit der Landschaft den Ort prägt, ohne ihn zu zerstören. Die Anlage sieht drei rund 200 Meter lange, ins Gelände gefaltete Großstrukturen vor, die durch ein unterirdisches Garagenbauwerk verbunden sind. Hier können sowohl Produktion als auch Büronutzungen untergebracht werden. In der obersten Zeile ist eine Wohnanlage vorgesehen. Zwischen diesen Strukturen sind fünf Ateliergebäude mit loftartiger Nutzung für Kleingewerbe und Büros eingestellt. In der letzten Ausbaustufe umfasst das Projekt 40.000 Quadratmeter Nutzfläche.

Für Walter Peer, bei der Porr Infrastruktur GmbH als Developer für das Projekt verantwortlich, ist die Signifikanz der Anlage entscheidend für das Erreichen der Zielgruppe von innovativen Produktionsbetrieben und Dienstleistern. Diese Zielgruppe ist am Image und an einer hohen Qualität der Arbeitsplätze interessiert. Der exzellente Ruf, den sich Tirol als Fremdenverkehrsland aufgebaut hat, kann zu einem Standortfaktor auch bei internationalen Betriebsansiedlungen werden, wenn entsprechend auf die Landschaft reagiert wird.

Das Projekt bezieht nicht zuletzt aus diesem Grund den Blick von oben mit ein: Die Struktur ist groß genug, um auch vom Flugzeug aus deutlich wahrgenommen zu werden. Ein Beleuchtungskonzept soll diese Wirkung verstärken. Für den städtebaulichen Entwurf der Anlage zeichnet der Innsbrucker Architekt Johannes Wiesflecker verantwortlich. Er spielt dabei ein prominentes architektonisches Thema der letzten Jahre - Architektur als Landschaft - gegen die kartesianische Geometrie aus: auf der einen Seite die gefalteten Dächer, auf der anderen die klaren Kuben der Ateliergebäude.

Was im Modell locker hingeworfen erscheint, ist das Resultat einer intensiven Beschäftigung mit dem Potenzial des Geländes und den möglichen Bedürfnissen der zukünftigen Nutzer, die ja vorab nicht bekannt sind. Flexibilität ist daher eine zentrale Forderung, die sich durch die offenen Geometrien gut herstellen lässt, ohne bei jeder Änderung eine Beeinträchtigung des Konzepts befürchten zu müssen. Aus demselben Grund wird die Planung der einzelnen Bauteile von einem vorgegebenen „Architektenpool“ übernommen werden, aus dem die Unternehmen auswählen können. Das mag nach Einschränkung aussehen, ist aber letztlich eine Voraussetzung für Qualität. An Interessenten, die sich auf dieses Konzept einlassen, mangelt es jedenfalls nicht. Im Sommer soll der erste Bauabschnitt begonnen werden.

Spectrum, Sa., 2005.03.19

15. März 2005Christian Kühn
zuschnitt

Mies auf dem Holzweg

Kühn
Für das Kombinieren von Materialien gibt es unterschiedliche Gründe, einerseits technische, also jedes Material dort einzusetzen, wo es seine Qualitäten...

Kühn
Für das Kombinieren von Materialien gibt es unterschiedliche Gründe, einerseits technische, also jedes Material dort einzusetzen, wo es seine Qualitäten...

Kühn
Für das Kombinieren von Materialien gibt es unterschiedliche Gründe, einerseits technische, also jedes Material dort einzusetzen, wo es seine Qualitäten optimal ausspielen kann, andererseits ästhetische, etwa nach dem Prinzip der Collage. Bei einigen deiner Projekte, die sich aus dem Standard Solar-Typ entwickelt haben, war die Idee der Collage für mich deutlich zu spüren. Bei deinem jüngsten Projekt für ein Fertighaus, dem »art for art«-Haus, ist dieser Aspekt eher in den Hintergrund getreten.

Steixner
Von einer bewussten Collagierung würde ich hier nicht sprechen. Die Kombination von dichter Masse und der Leichtigkeit des Holzes hat mit Speicherfähigkeit zu tun, mit Raumklima und Behaglichkeit, auch mit der Statik, dass man hier einen starken Kern hat, an den der Leichtbau einfach angedockt wird. Aber es gibt natürlich einen Wechsel verschiedenster Oberflächentexturen, Farben und Härten, was sich nicht nur visuell, sondern auch akustisch auswirkt.

Kühn
Auf den Fotos sieht das Haus auf den ersten Blick aus wie ein Stahlbau von Mies van der Rohe.

Steixner
Stahl ist hier ganz minimal eingesetzt und hilft eigentlich nur, die Dimensionierung auf einem Minimum zu halten. Im Prinzip sind nur die beiden Stützen im Erdgeschoss und die diagonalen Zugstäbe aus Stahl. Das Volumen wird mit minimalem Materialaufwand erzeugt, was beim Holzbau nicht so einfach ist. Ich habe ein spezielles Tragprofil entwickelt, das diese weit gespannte Konstruktion erlaubt. Es erspart außerdem die Sekundärkonstruktion, weil die Verglasung direkt in die Tragkonstruktion eingesetzt ist, und im Fußbereich bildet das Profil einen Graben für die Heizung, in den man nur noch die Konvektoren anhängen muss. Das ganze Projekt ist aus dem Detail heraus entwickelt.

Kühn
Das wäre dann doch eine Beziehung zu Mies van der Rohe?

Steixner
Ja, von dem stammt ja das Zitat: »Gott wohnt im Detail.« Das Detail spielt bei mir immer von Anfang an eine Rolle im Entwurf.

Kühn
Ursprünglich ist der Typ als Bürobau entstanden?

Steixner
Ja. Ich habe einen komplett offenen Typ entwickelt, der unterschiedliche Funktionen aufnehmen kann. Das Verhältnis der Volumina von Massivbau und Leichtbau ist hier viel bestimmender als die Funktion, weil die Speichermasse eine entsprechende Größe haben muss.

Kühn
Die Speichermasse ist nur im massiven Teil?

Steixner
Nein, auch in der Decke. Das ist eine 16cm starke Brettstapeldecke, nach unten gedämmt, die gleichzeitig als Fußboden die fertige Oberfläche bildet. Die obere Decke ist aus Kostengründen eine Leichtkonstruktion. Abgesehen vom Massivteil ist das alles vorgefertigt und innerhalb von drei Tagen aufgestellt und dicht. Holz ist ein sehr präzises, schnell zu verarbeitendes Material, und es bedarf keiner weiteren Beschichtungen, wenn man das nicht haben will.

Kühn
Wenn man das Haus mit anderen Beispielen des vorgefertigten Bauens vergleicht, wie etwa dem Eames-Haus, dann hat es eine ganz andere Ästhetik, bei der nicht die Konstruktion im Vordergrund steht, sondern eine ruhige, fast klassische Gesamtform. Die abgerundeten Ecken verstärken diesen Eindruck noch.

Steixner
Durch die neutrale Gesamtform ohne allzu große gestalterische Attitüden ist das Haus relativ frei, und die Vielfalt an möglichen Nutzungen ist sehr gut ablesbar. Die abgerundeten Ecken sind der einzige Luxus. Sie sind eine Erinnerung an die 1970er Jahre: Das erste Haus, das ich in der htl gezeichnet habe, hatte auch solche Ecken. Inzwischen war das ja völlig out. Aber ich glaube, sie stehen dem Haus ganz gut.

zuschnitt, Di., 2005.03.15



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19. Februar 2005Christian Kühn
Spectrum

Nischen, global

Ein Kunst- und Kongresszentrum in Nanjing, ein Museumsaufgang in Rivoli, das Porsche-Museum in Stuttgart und ein Bahnhof für Brünn: globale Exporte der jungen österreichischen Architektur. Ein Trend?

Ein Kunst- und Kongresszentrum in Nanjing, ein Museumsaufgang in Rivoli, das Porsche-Museum in Stuttgart und ein Bahnhof für Brünn: globale Exporte der jungen österreichischen Architektur. Ein Trend?

Architektur war schon immer ein Exportartikel, sofern man unter dem Begriff nicht Ziegel und Beton versteht, sondern Ideen und Techniken, die sich rasch über nationale und sprachliche Grenzen hinweg verbreiten. Das galt schon in der Gotik und im Barock, und es gilt vermehrt unter den aktuellen Bedingungen der Globalisierung. Dass Architekten wie Hans Hollein und Coop Himmelb(l)au auf einem internationalen Markt agieren und seit Jahrzehnten ihre Netzwerke pflegen, ist bekannt, ebenso, dass in Österreich seit einigen Jahren internationale Stars wie Zaha Hadid oder Dominique Perrault zu Aufträgen kommen. Der nationalen Architekturszene hat das nur genützt. Von einer österreichischen Architektur als Stil würde heute niemand mehr ernsthaft sprechen, sehr wohl aber von einer spezifischen Baukultur, die sich über Schulen, Netzwerke und regional differenzierte Praktiken der Architekturproduktion im internationalen Austausch definiert.

Seit kurzem verdichten sich die Anzeichen, dass es einer jüngeren Generation österreichischer Architektinnen und Architekten gelingt, ihrerseits international Fuß zu fassen. „Jung“ ist dabei relativ: Es handelt sich um die Generation der 40- bis 50-Jährigen, die auf sehr unterschiedliche Art die Gelegenheiten nutzt, die sich aus der Globalisierung und Öffnung von Grenzen ergeben.

Dass Rainer Pirker und sein architeXture-Team im chinesischen Nanjing ein Kongresshotel mit integrierter Kunstgalerie planen, verdanken sie einer glücklichen Kettenreaktion. Der Architekturvermittler Volker Dienst hatte eine Ausstellungs- und Vortragsreihe für junge österreichische Architekten in China organisiert, aus der sich 2004 eine Gastprofessur Pirkers in Nanjing ergab. Ein lokaler Investor war von Pirkers Projekten so angetan, dass er ihm den Entwurf eines seiner ambitioniertesten Projekte anvertraute. Die Funktionsmischung lässt einige Zukunftsvisionen der chinesischen Eliten erahnen: Die Kunstgalerie bildet, umschlossen von Kongressräumen, den Kern des Gebäudes. Die Hotelsuiten liegen in den obersten beiden Geschoßen und gruppieren sich um himmelsnahe Gartenhöfe. Pirker hat das Gebäude als einen Kristall konzipiert, der auf wenigen tragenden Scheiben und Stützen über einem künstlichen See und weitläufigen Garten schwebt. Die Tagwerksplanung stammt von Peter Bauer von Werkraum Wien und wird - so wie die weitere Ausführungsplanung - von chinesischen Partnerbüros detailliert. Baubeginn ist der Sommer 2005, zeitgleich mit einem von Arata Isozaki koordinierten Wohnbauprojekt desselben Investors.

Pirkers ähnlich ambitionierte Projekte in Österreich blieben unerfüllte Träume, selbst dort, wo er im Wettbewerb den 1. Preis erhalten hatte. Ein Feuerwehrhaus in Osttirol scheiterte an mangelnder Satteldachkompatibilität, eine Glashülle für das Bürogebäude der Statistik Austria an den Kosten, und die Planungsvision für die KDAG-Gründe verkam zu einem eher unappetitlichen Bauträgerbrei. (Eine Leistung, für die sich die Stadt Wien seit letzten Dezember absurderweise mit dem Otto-Wagner-Städtebaupreis schmücken darf.) Dass Pirkers Architektur in China, dessen Baukultur nach wie vor mit Massenproduktion assoziiert wird, auf mehr Gegenliebe stößt als in Österreich, sollte jedenfalls zu Denken geben.
In einem anderen Maßstab agieren Erich Hubmann und Andreas Vass bei ihrem Projekt für einen neuen Aufgang auf das Schloss in Rivoli bei Turin. Ausgelöst durch eine U-Bahn-Verlängerung, will die Stadt eine neue Verbindung zu dem im Schloss untergebrachten Museum - der bedeutendsten Sammlung zeitgenössischer Kunst in der Region - schaffen.

Hubmann und Vass haben vor Jahren eine ähnliche Aufgabe, die Zugangslösung für die Alhambra im spanischen Granada, mit Bravour gelöst. In Rivoli vernähen sie die Stadt mit dem Schloss, indem sie ein Muster aus Rolltreppen in den Berg schneiden, die an strategischen Punkten Ausblicke auf Türme und Wegachsen bieten. Der Entwurf, dessen Realisierung diesen Sommer beginnt, lebt wesentlich von feinen Details in der Kombination von Stahlbeton, Naturstein und dem Cortenstahl für Dächer und Rolltreppenwangen. Zur Sicherung der Ausführungsqualität mussten Hubmann und Vass als Generalplaner jedes Detail im Vorfeld präzise definieren, um dem für die Ausführung verantwortlichen Generalunternehmer keinen Spielraum nach unten zu lassen. Unterstützt wurden sie dabei von den Wiener Tragwerksplanern Gmeiner und Haferl, die auch die technische Lösung für die Abstützung der Bergflanke entwickelten.
Einer weit weniger kontemplativen Art der Fortbewegung verdanken Roman Delugan und Elke Delugan-Meissl ihren bisher imageträchtigsten Auftrag. 170 Büros hatten sich zur Teilnahme am Wettbewerb für das neue Porsche-Museum in Zuffenhausen beworben, aus den zehn ausgesuchten Büros gingen Delugan-Meissl schließlich als Sieger hervor. Porsche hat im Wettbewerb nicht auf internationale Stars gesetzt, sondern ausschließlich auf deutsche Büros - Staab, Allmann Sattler Wappler, Lamott-Wittfohlt, Friedrich Poerschke Zwink, Dinse Feest Zurl, Wandel Hoefer Lorch + Hirsch - und neben Delugan-Meissl zwei weitere Zuladungen aus dem deutschsprachigen Ausland, nämlich Morger & Degelo aus der Schweiz und BKK3 aus Wien.

Im Unterschied zu den gerade entstehenden Konkurrenzbauten wird das zukünftige Porsche-Museum nur lose mit dem Markenimage verknüpft sein: Es zeigt weder die wirbelnde Dynamik des Coop Himmelb(l)au-Entwurfs für BMW noch die manische Technologieverliebtheit von Ben van Berkels Museum für Daimler-Chrysler. Gerade deshalb bleiben für Ausstellung und Bespielung aber größere Freiheiten. Wenn es sich bei der Konkurrenz nach ein paar Jahren ausgestaunt hat, könnte das für das Porsche-Museum durchaus zum Vorteil werden.

In der Tradition der klassischen Moderne bewegt sich schließlich das Siegerprojekt für den neuen Bahnhof in Brünn. Das ist kein Zufall, ist die Architektur des frühen 20. Jahrhunderts durch die Brünner Funktionalisten und das Haus Tugendhat von Mies van der Rohe immer noch identitätsstiftend für die Stadt. Das Wiener Architektenteam mit teilweise tschechischen Wurzeln - Eva Ceska, Friedrich Priesner, Jiri Vendl und Andreas Fellerer - legt einen eleganten Riegel mit Warteräumen und Sekundärnutzungen quer über die Bahnsteige, unter denen sich eine Verteilerebene mit den lokalen Verkehrsanschlüssen befindet. Ein Hochhaus akzentuiert den Bahnhofsplatz und bildet den Auftakt für die städtebauliche Entwicklung in Richtung Stadtzentrum. Die ruhige, funktionalistische Sprache ist der Aufgabe und dem Ort angemessen, und die Architekten haben in ihren bisherigen Arbeiten bewiesen, dass in dieser unspektakulären Sprache durchaus zu substanziellen Aussagen fähig sind.

Stilistisch haben diese vier Projekte wenig miteinander zu tun. Die gemeinsame Marktnische, die sie besetzen, heißt Qualität. Dass österreichische Architektur international ein wichtiger Imagefaktor ist, wird kaum mehr bestritten. Dass sie auch im Export relevant ist, muss sich erst bestätigen. Eine letztes Jahr von Robert Krapfenbauer, dem Präsidenten der Architekten- und Ingenieurkammer, mitbegründete Arbeitsgemeinschaft „Planungs- und Beratungsexport“ argumentiert, dass jeder Euro Planungsleistung das Siebenfache an zusätzlicher Wertschöpfung im Export bringt. Anerkennung als Wirtschaftsfaktor hätte die Baukultur jedenfalls verdient.

Spectrum, Sa., 2005.02.19

29. Januar 2005Christian Kühn
Spectrum

Ghiberti und die Jetti-Tant's

Für die einen ist er eine Vergeudung von Talent und Energie, für die anderen der Garant für den kreativsten Entwurf: der Wettbewerb. Eine Abwägung aus aktuellem Anlass.

Für die einen ist er eine Vergeudung von Talent und Energie, für die anderen der Garant für den kreativsten Entwurf: der Wettbewerb. Eine Abwägung aus aktuellem Anlass.

Ob Wettbewerbe eine Plage oder ein Segen für die Baukultur sind, ist in der Architekturszene immer wieder Gegenstand leidenschaftlicher Debatten. Wettbewerbe liefern dem Auslober den besten Entwurf aus einer breiten Palette von Ideen, sagen die Befürworter. Durch die Publikation und Diskussion der Ergebnisse würden Wettbewerbe überdies zur Entwicklung der Architektur beitragen, oft auch durch nicht prämierte Projekte, weil sie ihrer Zeit voraus waren. Die Gegner sehen im Wettbewerb dagegen eine Vergeudung von Talent und Energie, einen Potlatsch, in dem mit enormem Aufwand an Genie und Fleiß eine Vielzahl von Ideen geboren wird, von denen am Ende alle bis auf eine unrealisiert bleiben. Für den Auftraggeber sei es sicherer, einen Auftrag direkt an den Architekten oder die Architektin seiner Wahl zu vergeben, statt sich womöglich mit einem unbekannten oder gar unerfahrenen Preisträger abfinden zu müssen.

Das Thema ist derzeit in mehrfacher Hinsicht aktuell. Einerseits freut sich die heimische Szene darüber, dass ein österreichisches Büro einen der renommiertesten Wettbewerbe der letzten Jahre gewonnen hat: Coop Himmelb(l)au stehen nach einer langen, von Kämpfen hinter den Kulissen geprägten dritten Wettbewerbsphase als Architekten des neuen Gebäudes für die Europäische Zentralbank in Frankfurt fest. Dem Bewerb war ein Auswahlverfahren vorausgegangen, bei dem aus weltweit 300 Bewerbungen 70 „etablierte“ und zehn „junge“ Büros als Teilnehmer ausgewählt wurden. Aus deren Projekten wählte im Sommer 2003 eine Jury unter dem Vorsitz der an der Technischen Universität Wien lehrenden Architektin Françoise-Hélène Jourda zwölf Kandidaten für die zweite Phase aus, die bis Dezember ihre Projekte weiterzuentwickeln hatten. Im Jänner 2004 wurden aus diesen zwölf drei Preisträger gekürt, die ihre Projekte nochmals zu überarbeiten hatten. Coop Himmelb(l)au erhielten schließlich den Zuschlag mit einem Entwurf in zwei Varianten, die sich in Konstruktion und Nutzfläche und damit in den Kosten unterscheiden. Welche gebaut wird, ist immer noch fraglich.

Einen ähnlich aufwendigen Prozess der Projektfindung gibt es in keiner anderen Disziplin. Viele „kreative“ Dienstleistungen kennen Hearings, bei denen einige Büros geladen werden und persönlich präsentieren, Unternehmen bieten ihre Leistungen im Wettbewerb an, aber sie stellen sich dabei nicht einer Jury, sondern dem Markt, auf dem meist der bessere Preis den Ausschlag gibt. Dass sich in der Architektur ein Verfahren, bei dem Chancen und Aufwand in der Regel in keinem Verhältnis zueinander stehen, bis heute gehalten hat, hängt mit der besonderen Stellung der Architektur zwischen Kunst und Dienstleistung zusammen. Die Historikerin Hélène Lipstadt sieht im neuzeitlichen Wettbewerb eine Autonomiebestrebung, bei der sich das Handwerk des Bauens für einen Moment die Freiheit anderer Künste herausnimmt. Als Meilenstein dieser Entwicklung nennt Lipstadt den Wettbewerb für die Bronzetüren des Babtisteriums in Florenz im Jahr 1401, bei dem alles zu finden ist, was den Mythos des Architekturwettbewerbs ausmacht: junge Künstler ohne große Referenzprojekte, die ihre Chance nutzen (der Sieger, Lorenzo Ghiberti, ist gerade 20 Jahre alt), und mit dem revolutionären Entwurf Filippo Brunelleschis ein zweiter Platz, der zwar nicht realisiert wird, aber die Kunstentwicklung nachhaltiger prägt als der Sieger.

Die Aufregung um einen anderen derzeit in Wien laufenden Wettbewerb, die Funktionssanierung des Ronacher-Theaters, ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Das Ronacher ist in der Architekturszene Symbol für eine knappe Niederlage der Kreativität gegen den berüchtigten Beharrungstrieb der Wiener Seele: 1987 hatten Coop Himmelb(l)au einen Wettbewerb mit einem Projekt gewonnen, das in der Architekturgeschichte heute etwa den Status von Gehrys Museum in Bilbao hätte. Helmut Zilk hatte sich für das Projekt stark gemacht, den Denkmalschutz vorerst in Schach gehalten und am Ende doch - in eigener Diktion - vor der „Jetti-Tant'“ kapituliert, der die Wiener Innenstadt am Ende auch noch zu gefallen hätte. Das Haus wurde schließlich von Luigi Blau ohne große Veränderungen saniert. Ursprünglich als Kabarettbühne konzipiert, war es als Ort für experimentelles Musiktheater - wie Coop Himmelb(l)au ihren Entwurf verstanden hatten - ebenso wenig brauchbar wie als klassisches Musicaltheater: Der Zuschauerraum hat keine ausreichende Neigung, es gibt weder Hinterbühne noch Bühnenmaschinerie.

Womit nach knapp 15 Jahren eine weitere Generalsanierung des Ronacher um rund 30 Millionen Euro ansteht. Unter anderem soll das Parkett des Zuschauerraums abgesenkt und eine völlig neue Bühne errichtet werden, was massive und technisch höchst komplizierte Eingriffe in die Bausubstanz mit sich bringt. Im Wettbewerb wird ein Generalplaner gesucht, der Architektur, Tragwerksplanung, Bühnentechnik und technische Gebäudeausstattung übernimmt. Derartige Leistungen werden in der Regel von Arbeitsgemeinschaften angeboten, die sich für ein Projekt zusammenschließen.

Dass die ig-Architektur, eine Interessenvertretung großteils jüngerer Architekturbüros, sich nun mit heftigem Protest gegen das Verfahren zu Wort gemeldet hat, liegt an den Kriterien: Einen Mindestumsatz des Architekturpartners von zwei Millionen Euro pro Jahr und zumindest ein Referenzprojekt aus dem Theater- und Veranstaltungsbau mit über 15 Millionen Euro Bausumme kann in Österreich nur eine Handvoll Architekten wie etwa Wilhelm Holzbauer nachweisen. Nach dem Protest wurde die Umsatzsumme auf eine Million Euro reduziert, die Einschränkung in Bezug auf die Referenzprojekte blieb aufrecht.

Im Prinzip hat die ig Recht: Die Tendenz, nicht offene Wettbewerbe mit immer engeren Kriterien auszuloben, um nur noch etablierte Büros zum Zug kommen zu lassen, ist fatal. Ob es klug war, gerade den Spezialfall des Ronacher-Projekts als Zielscheibe zu nehmen, sei dahingestellt: Die Architekturleistung steht hier - anders als beim Wettbewerb 1987 - sicher nicht im Mittelpunkt, und junge Büros haben die Chance, sich in Partnerschaften zu bewerben. Auf jeden Fall abzulehnen ist die Beschränkung von Referenzprojekten auf eine einzige Bauaufgabe. Architektonische Kompetenz ist nie auf eine bestimmte Funktion beschränkt. Dass gerade junge Architekten und solche, die sich zum ersten Mal mit einer bestimmten Aufgabe befassen, oft die interessantesten und auch funktionell innovativsten - weil vorurteilsfreien - Beiträge liefern, ist kein Mythos, sondern vielfach belegt.

Der Wettbewerb mit möglichst offenem Zugang ist für öffentliche wie private Auftraggeber nach wie vor das beste Instrument, um in der Architektur Qualität und Innovation zu erhalten. Eine Zugangsbeschränkung mag aus praktischen Gründen manchmal nötig sein: Aber selbst unter den für öffentliche Aufträge geltenden rigiden Bestimmungen des EU-Vergaberechts ist eine Auswahl nach qualitativen und nicht quantitativen Kriterien möglich. Auch dann können - wie das Beispiel EZB beweist - die Großen zum Zug kommen. Aber die anderen haben zumindest eine Chance.

Spectrum, Sa., 2005.01.29

18. Dezember 2004Christian Kühn
Spectrum

Warm und sauber

Ein „Meilenstein der zeitgenössischen Architekturentwicklung“: das ehemalige Laborgebäude der Universität für Bodenkultur. Die Sanierung erhält Teile der Substanz, aber nur wenig von der Idee.

Ein „Meilenstein der zeitgenössischen Architekturentwicklung“: das ehemalige Laborgebäude der Universität für Bodenkultur. Die Sanierung erhält Teile der Substanz, aber nur wenig von der Idee.

Vielleicht ist es ja nichts anderes als Sentimentalität. Aber das große, rostige Haus geht mir ab. Es stand versteckt hinter den historischen Gebäuden der Universität für Bodenkultur an der Peter-Jordan-Straße, ein eigentümlicher Bau mit vorgehängten Stahlrahmen und Schrägverglasungen. Zur Zeit seiner Errichtung, 1974, galt er als Zeichen der Modernisierung der Universität, ein „Experimentalbau“ mit 17,5 Meter weit spannenden Trägern auf schlanken Stützen. 1976 erhielten der Architekt Anton Schweighofer und der Tragwerksplaner Wolfdietrich Ziesel dafür den europäischen Stahlbaupreis. Konzipiert war das Gebäude als Ausschnitt eines modularen Rasters, der das gesamte Gelände der Universität überzog und Erweiterungsfähigkeit in alle Richtungen garantieren sollte. Die großen Spannweiten erlaubten es, auch im Erdgeschoß Nutzungen wie den Hörsaal unterzubringen, der an die „anatomischen Theater“ alter Universitäten erinnerte. Das rostige Äußere war kein Bauschaden, sondern Absicht: Sowohl die Verkleidung als auch die tragende Konstruktion bestanden aus einer speziellen Stahlsorte, die als korrosionsfest galt, da sie zwar oberflächlich rosten, sich durch diese Rostschicht aber selbst vor weiterer Korrosion schützen sollte.

Ich habe es natürlich leicht, dem Gebäude nachzutrauern: Ich war weder Benutzer noch Betreiber, habe nie heiße Sommer darin verbracht und musste nie darüber nachdenken, wie man eine rostende Fassade daran hindert, sich aufzulösen. Der verwendete Stahl erwies sich nämlich als keineswegs rostfest, sondern korrodierte weiter, was vor allem die filigranen vorgehängten Teile an der Fassade in Mitleidenschaft zog. Zu einem weiteren Problem wurde der Asbest, der hier wie bei vielen Stahlbauten aus dieser Zeit zum Brandschutz eingesetzt wurde. Niemand lebt gerne mit dem Risiko, dass Spuren dieses Krebs erregenden Materials in die Atemluft gelangen. So wurde das Gebäude schrittweise abgesiedelt und stand schließlich Mitte der 1990er-Jahre, nur 20 Jahre nach seiner Eröffnung, leer.

Die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) als Besitzer war sich bewusst, dass es hier nicht um eine simple Asbestsanierung ging, sondern - wie es in einer BIG-Broschüre zum Projekt heißt - einen „Meilenstein der zeitgenössischen Architekturentwicklung“. Obwohl die Geschoßhöhe von 4,5 Metern, die sich aus den großen Spannweiten und der Installationszone für die Labors ergeben hatte, für eine reine Büronutzung mehr als großzügig bemessen war und man in einem Neubau bei gleicher Gesamthöhe mehr Geschoße untergebracht hätte, entschied man sich für die Sanierung. Die BIG beauftragte Schweighofer zusammen mit den Architekten Schwalm-Theiss, Gressenbauer und Bohrn, die für die Umsetzung zuständig sein sollten, mit einem Sanierungs- und Erweiterungsprojekt. Schweighofer plante zuerst, das gesamte Gebäude mit einer Glashaut auf hölzerner Unterkonstruktion einzukleiden. Dahinter sollten nur jene Fassadenteile erneuert werden, die völlig korrodiert waren. In einem zweiten Konzept, das auf gestiegene Flächenanforderungen reagierte, entwarf Schweighofer ein Glashaus mit schrägen Wänden, das sich über den Bestand stülpte. Die ursprünglich nach allen Richtungen offene Struktur sollte damit in einen gerichteten Körper eingehaust werden, eine Art „Arche Noah“ aus Glas, in der zwischen rostigem Bestand und neuer Haut eine Klimahülle mit Bepflanzung hätte entstehen sollen. Unter dem First war eine über alle Geschoße reichende Innenzone mit Brücken und Arbeitsgalerien vorgesehen.

Angesichts solcher Ideen bekamen es die zukünftigen Nutzer mit der Angst zu tun. Nach Jahren in der „Rostlaube“ nun im Glashaus sitzen zu müssen erschien ihnen als eine Zumutung, für deren Charme sie auch durch bauphysikalische Berechnungen nicht zu gewinnen waren. BIG und Universitätsleitung, die unter dem Druck standen, die in Baracken untergebrachten Nutzer rasch mit neuen Räumen zu versorgen, wollten keinen mühsamen Planungsprozess riskieren. Schwalm-Theiss, Gressenbauer und Bohrn hatten inzwischen ein Alternativprojekt entwickelt, das die Stahlkonstruktion im Inneren weitgehend erhält und mit flankierenden Anbauten aus Stahlbeton ergänzt. Im Inneren sollte durch Entfernung der Geschoßdecken im mittleren Rasterband eine Passage mit Kaskadentreppe, zwei Liften und Brücken entstehen.

Diese Lösung erwies sich als konsensfähig und kann seit kurzem im Ergebnis besichtigt werden. Im Inneren ist der Umbau durchaus geglückt. Er lebt dabei primär von den großen, für einen Bürobau geradezu imperialen Raumhöhen von 4,5 Metern. Die Stahlkonstruktion ist sichtbar und in der großen Halle besonders freigespielt, indem die Oberlichtbänder einen respektvollen Schwenk hinter die Trägerachse machen. Die Kaskadentreppe knickt etwas unsicher durch den Raum, bietet aber einen schönen Ein- und Durchblick in die verglasten Seminarräume zu beiden Seiten der Halle. Die Arbeitsplätze sind großzügig, das Lüftungssystem mit Low-Tech-Maßnahmen gut zu regulieren.

In der Außenansicht ist vom Vorgängerbau aber nichts mehr zu sehen. Das Ziel, den „architekturhistorischen Wert zu sichern“, wie es die BIG formuliert, hat man verfehlt und stattdessen ein paar Stahlträger erhalten. Schweighofers Sanierungskonzept hätte den Altbau und dessen zeittypische Schwächen - etwa das mangelnde ökologische Bewusstsein - kommentiert und aus dem Dialog eine inhaltliche Aussage gemacht. Das jetzt realisierte Projekt schweigt oder sagt bestenfalls, dass wir es alle gern warm und sauber haben. Das ist in Ordnung, aber Architektur ist es noch lange nicht. Vielleicht gelingt es dem Denkmalamt, das auch in diesem Fall den bestehenden Denkmalschutz aufhob, zumindest bei Schweighofers Stadt des Kindes in Wien Penzing, der ein ähnliches Schicksal droht, eine angemessenere Sanierung durchzusetzen.

Spectrum, Sa., 2004.12.18



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Franz-Schwackhöfer-Haus - Umbau und Erweiterung

06. November 2004Christian Kühn
Spectrum

Athene atmet auf

Begonnen hat es mit der Sanierung einer baufälligen Rampe. Zwei Jahre und zwei Wettbewerbe später darf das Parlament endlich mit einem zeitgemäßen Eingang rechnen. Zum vorläufigen Happy End eines Bauprojekts, bei dem die Republik fast ihr Gesicht verlor.

Begonnen hat es mit der Sanierung einer baufälligen Rampe. Zwei Jahre und zwei Wettbewerbe später darf das Parlament endlich mit einem zeitgemäßen Eingang rechnen. Zum vorläufigen Happy End eines Bauprojekts, bei dem die Republik fast ihr Gesicht verlor.

Ein nicht zu verachtender Vorteil gründerzeitlicher Gebäude ist, dass sie dem Besucher meist überdeutlich erklären, wo sich ihr Eingang befindet. Das Wiener Rathaus etwa: ein hoher, markanter Turm, Eingangstreppen, ein Torbogen dahinter. Hier muss er sein, der Eingang! Oder das benachbarte Parlament: Zwei Rampen umschließen den Brunnen der Pallas Athene wie große Arme und führen hinauf zum klassischen Portikus. Kein Zweifel: Hier betreten unsere Parlamentarier, vom Geiste athenischer Demokratie turboladerartig beflügelt, die Stätte ihres Wirkens.

Wer je versucht hat, auf dem geschilderten Weg in die beiden Gebäude zu gelangen, weiß, dass der Schein trügt. Beim Rathaus führt der zentrale Eingang vom Ring her in die große Volkshalle, die nur bei Ausstellungen geöffnet ist. Beim Parlament ist die Sache etwas diffiziler: Zu Theophil Hansens Zeiten fuhren die Parlamentarier mit Pferdewagen über die Rampe zum Portikus vor. Für den Winter sah Hansen zusätzlich einen zweiten, sogenannten Schlechtwettereingang vor: Hinter den Rampen ist auf Straßenniveau Platz für eine Durchfahrt, die quer unter dem Portikus liegt und es den Fahrgästen erlaubte, im Gebäudeinneren auszusteigen und die Eingangshalle über zwei vom Vestibül nach oben führende Treppen zu erreichen. Durch den Portikus wird das Parlament heute aber nur noch von Staatsgästen betreten. Mitarbeiter und Parlamentarier benutzen Seiteneingänge, die zumindest halboffiziell bestimmten politischen Parteien zugeordnet sind.

Als vor zwei Jahren ein tragischer Unfall an der Auffahrtsrampe zur Wiener Universität - eine Studentin war von abgestürzten Balustradenteilen tödlich verletzt worden - Anlass gab, die Sanierung bautechnischer Mängel auch an anderen Ringstraßenbauten rasch in Angriff zu nehmen, waren die Auffahrtsrampen zum Parlament eines der vordringlichsten Projekte. Der undichte Pallas-Athene-Brunnen hatte die Fundamente der Rampen so weit durchfeuchtet, dass schon seit einiger Zeit ein Fahrverbot für Fahrzeug mit über 3,5 Tonnen bestand. Außerdem war eine Erneuerung der Lüftungsanlage, die Hansen unter der Auffahrt untergebracht hatte, notwendig. 2002 wurde ein Wettbewerb für die Sanierung ausgelobt, den Architekt Herbert Bayer gewann.

In der Folge entwickelte das Projekt eine Eigendynamik, unter anderem, weil eine Untersuchung des Baugrundes ergab, dass noch umfangreichere Fundierungen notwendig waren, als gedacht, und daher mit wenig Zusatzaufwand weitere Räume geplant werden konnten. Neben dem neuen Haupteingang ins Parlament mit Garderoben für Besuchergruppen und multimedialen Informationsständen konnten ein neuer Tiefspeicher für die Bibliothek des Hauses, ein Raum für Vorträge und Pressekonferenzen sowie neue Studios für den ORF untergebracht werden. Aus der bautechnischen Sanierung wurde so im Lauf der Zeit ein umfangreiches architektonisches Projekt, das für die nächsten Jahrzehnte auch eine Art Visitenkarte des Hohen Hauses darstellen wird.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte klar sein müssen, dass es zusätzlicher gestalterischer Kompetenz bedarf, um die Aufgabe zu bewältigen. Vorerst wurde jedoch so weitergeplant, als ginge es nur darum, neben der Sanierung noch ein paar weitere Kellerräume und Türdurchbrüche einzubauen. Die Pläne, nach denen man im Frühjahr 2004 zu bauen begann, sahen vor, Besucher und Parlamentarier hinter den Rampen zu den Wintereingängen Hansens zu locken, sie dann aber um 90 Grad verschwenkt durch ehemalige Lüftungsöffnungen in die Rampe hineinzuführen, die an dieser Stelle gerade 2,7 Meter Raumhöhe aufweist. Von der dramatischen Raumentwicklung nach unten auf das Niveau des Vortragssaals, die sich heute auf den Baustellenfotos erahnen lassen, hätte der Besucher kaum etwas mitbekommen.

Ende März 2004 fand im Parlament eine Enquete über „Architektur und Baukultur“ statt, in der vielfach auf die Vorbildfunktion der Republik hingewiesen wurde. Neben der Verantwortung, die der Republik etwa als Eigentümerin der Bundesimmobiliengesellschaft zukommt, wurde dabei am Rande auch das Thema Parlamentsgebäude erwähnt. Seit dem Wiederaufbau nach dem Krieg, dem das Parlament den schönen, aber heutigen Arbeitsbedingungen nur noch unzureichend entsprechenden Plenarsaal von Fellerer und Woerle verdankt, gab es zwar einzelne Adaptierungen, aber nie ein Konzept für eine schrittweise Generalsanierung. Braucht, so wurde bei der Enquete gefragt, nicht auch eine Institution wie das Parlament eine zeitgemäße räumliche Fassung?

Nach Angabe der Parlamentsdirektion war das der Anlass, das Eingangsprojekt auf höchster Ebene noch einmal zu überdenken. Parlamentspräsident Andreas Khol traf schließlich die Entscheidung, einen neuen Wettbewerb zumindest für die Innenausstattung der Räume durchführen zu lassen. Die Architektenkammer konnte in der Vorbereitung des Wettbewerbs durchsetzen, dass zwar der Titel „Designwettbewerb“ beibehalten wurde, Änderungen an der räumlichen Disposition aber durchaus zulässig waren. Vom Zeitplan her war der Wettbewerb alles andere als ideal: Gerade einmal sechs Wochen hatten die eingeladenen Teams Zeit, ein Projekt zu entwickeln, während parallel dazu auf der Baustelle die Rampen entfernt und neue Fundamente betoniert wurden.

Das Siegerprojekt von Kinayeh und Markus Geiswinkler ist angesichts dieser Projektgeschichte ein erstaunlicher Glücksfall. Statt durch Lüftungsöffnungen betritt man das Parlament nun wieder durch die Wintereingänge Hansens, der Bereich dahinter ist neu organisiert, die schweren Gewölbe an den statisch richtigen Stellen geöffnet, um einen durchgängigen Raumeindruck zu erzeugen. Ein mit Bartenbach-Lichttechnik erarbeitetes Beleuchtungskonzept lässt die niedrige Decke unter der Rampe durch ein spezielles Prismensystem doppelt hoch erscheinen. Abgehängte Decken und einige Zwischenebenen sind entfernt, um den vertikalen Raum zwischen Vortragssaal und Eingang zur Wirkung zu bringen. Eine freitragende Stahltreppe führt an einer großen Medienwand vorbei nach unten.

Unmittelbar nach der Jury-Entscheidung begann die Feinabstimmung des Projekts. Trotz umfangreicher planerischer Veränderungen an Lüftungstechnik und Statik ist es dabei gelungen, zwischen den Architektenteams ein produktives Verhältnis herzustellen. Dass die Geiswinklers nicht nur als Bauherrenpreisträger für ihre Wohnbauten bekannt sind, sondern auch viel Erfahrung mit dem Bauen im Bestand jenseits taxidermischer Denkmalpflege haben - mit dem Guess-Club etwa und derzeit dem Umbau einer Rettungsstation in Hernals - hat da sicher geholfen.

Die Bauherrenseite war jedenfalls mit der Planung so zufrieden, dass sie beschloss, noch einen Schritt weiterzugehen. Wenn das Parlament schon ein neues, attraktives Foyer bekommt, warum sollen die Besucher das Gebäude nicht dort betreten dürfen, wo man es vermutet? Und so erhielten die Architekten von den „Hausherren“ Andreas Khol und Barbara Prammer den Auftrag, zusätzlich zu den zwei seitlichen, hinter den Rampen eher versteckten Eingängen ins Foyer einen weiteren in der Mitte des Gebäudes direkt hinter dem Brunnen im Sockel der Rampe zu planen. Die Entwürfe sind in Arbeit, die Abstimmung mit dem Denkmalamt läuft. Und Pallas Athene, die griechische Göttin der Weisheit auf ihrem Brunnensockel, darf fürs Erste aufatmen.

Spectrum, Sa., 2004.11.06



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Besucher- und Pressezentrum des Österreichischen Parlaments

25. September 2004Christian Kühn
Spectrum

Schule, neu gedacht

Wer Schule als lebendigen, offenen Teil des Gemeinwesens will, der sollte die Chance nutzen, das auch räumlich auszudrücken. Die Salzburger Gemeinde Mattsee plant ein mutiges Projekt. Und kämpft nun mit der Angst vor der eigenen Courage.

Wer Schule als lebendigen, offenen Teil des Gemeinwesens will, der sollte die Chance nutzen, das auch räumlich auszudrücken. Die Salzburger Gemeinde Mattsee plant ein mutiges Projekt. Und kämpft nun mit der Angst vor der eigenen Courage.

Die Schule neu denken': Unter diesem Titel hat der deutsche Pädagoge Hartmut von Hentig 1993 seine Reflexionen über das Bildungssystem im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert zusammengefasst. Ein Grundgedanke Hentigs ist die Verwandlung der Schule von einem Ort der Belehrung in einen Ort der Erfahrung, an dem die Schüler Selbstbestimmung und Solidarität als gleichermaßen zentrale Werte begreifen lernen. Diese Schule ist keine Aufbewahrungs- und Gleichrichtungsanstalt, sondern lebendiger, offener Teil des Gemeinwesens.

Mit Architektur hat das nicht zwangsläufig etwas zu tun. Auch in einem konventionellen Schulgebäude lassen sich neue Formen des Unterrichts erproben. Aber wer die Schule wirklich neu denken will, wird sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, das auch räumlich auszudrücken. In den 90er-Jahren haben sowohl das Wiener Schulbauprogramm als auch die Schulen, die von der Bundesimmobiliengesellschaft in ganz Österreich errichtet wurden, den Schulbau auf ein neues Niveau gehoben. Wirklich neu gedacht wurde die Schule dabei nur selten, zu sehr bauen die meisten Projekte auf konventionellen Typologien und Betriebsformen auf. Das soll die Leistung nicht schmälern: In seiner regionalen Vielfalt von den Städten bis zu ländlichen Gemeinden ist der österreichische Schulbau auch im internationalen Vergleich durchaus vorbildlich.

Die Schule auch architektonisch neu zu denken, geht allerdings über ästhetische Fragen hinaus. Wenn die Schule wirklich ein integraler Teil des Gemeinwesens werden soll, dann muss sie auch zum Teil des öffentlichen Raums werden, sich mit anderen Nutzungen verbinden und neue Betriebsformen entwickeln. Beispiele dafür sind noch selten. Umso erfreulicher ist es, wenn einmal nicht die Stadt, sondern eine Landgemeinde die Vorreiterrolle für ein solches Experiment einnimmt, wie es die Gemeinde Mattsee gerade mit ihrer neuen Polytechnischen Schule vorhat.

Aus einem Wettbewerb ist hier ein Projekt hervorgegangen, das so gar nicht aussieht wie ein Schulhaus. Im Anschluss an einen bestehenden Turnsaal haben die Architekten Thomas Forsthuber und Christoph Scheithauer drei klar ablesbare Baukörper arrangiert: Ein Sockelgebäude mit Werkstätten, die U-förmig einen Werkhof umschließen; einen quer dazu angeordneten Klassentrakt, der den Weg zum See begleitet; und einen auf Stützen über dem Werkstättensockel schwebenden Körper, in dem ein kleines Jugendzentrum untergebracht ist. Der Klassentrakt wird seitlich von einem verglasten Treppenhaus erschlossen, der als Gelenk- und Verteilerraum auch die Verbindung zum Altbau herstellt. Das Sockelgebäude mit den Werkstätten nutzt geschickt den Geländesprung: Sein Dach ist eine öffentliche begehbare Fläche, die unmittelbar die Straße erweitert. Ein paar Oberlichten für die Werkstätten wachsen als schräge Körper aus dem Asphalt heraus. Dass die Jugendlichen diese Elemente auf vielfältige Art in Gebrauch nehmen werden, ist ganz im Sinne des Architekten.

Kritiker des Projekt stoßen sich daran, dass es nicht nur nicht wie ein Schulhaus aussieht, sondern nicht einmal wie ein Haus. Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren, also die wesentlichen zukünftigen Nutzer des Gebäudes, haben damit wohl keine Schwierigkeiten. Sie würden sich wahrscheinlich für viel abseitigere Formen der Schule begeistern: Warum soll man nicht auf einem Schiff in die Schule gehen oder in der Eisenbahn? Das Schulhaus als fest gemauerte, nach außen klar abgegrenzte Institution ist wahrscheinlich für Lehrer und Direktoren ein viel wichtigeres Anliegen, gerade weil die Schule heute derartig unter Druck steht. Diesem Druck versucht das Projekt aber nicht durch Abgrenzung zu begegnen, sondern durch eine fließende Einbindung in den umgebenden öffentlichen Raum, wie sie mit konventionellen Formen gar nicht möglich wäre.

Forsthuber hat bereits in einem anderen Projekt, dem Kinder- und Jugendhaus in Salzburg Liefering - das neben vielen internationalen Auszeichnungen auch den Architekturpreis des Landes Salzburg erhalten hat -, bewiesen, dass ein solches Konzept funktioniert. Auch dieses Haus ist eine große, besteigbare Skulptur mit mehreren Eingängen für unterschiedliche Altersgruppen, die im Inneren ein dichtes Gewebe von Aktions- und Rückzugsräumen anbietet. Die Schule in Mattsee bietet ähnliche Qualitäten in Ergänzung zu all den Funktionen, die von einer polytechnischen Schule erwartet werden. Und so wie das Jugendhaus in Liefering sehr genau auf die Struktur - nicht die Form - der umgebenden städtischen Bebauung reagiert, so reagiert auch das Schulprojekt für Mattsee präzise auf den umgebenden Landschaftsraum. Der Bauplatz bildet mit einer kleinen Allee eine Art von Landschaftsschleuse zwischen dem Seeufer und dem von dort ansteigenden Buchberg. Durch die geschickte Staffelung der Baukörper lässt das Projekt diese Schleuse offen und gibt ihr durch das schwebende Jugendzentrum noch einen besonderen Akzent.

Ob sich die Gemeinde wirklich mit dem Projekt anfreunden kann, ist noch nicht ganz sicher. Obwohl die Jury sich einstimmig dafür ausgesprochen hat, keinen zweiten, sondern nur zwei dritte Preise zu vergeben, hat der Gemeinderat beschlossen, auch diese Projekte nochmals zu einer Präsentation einzuladen. Dass die Gemeindevertreter ein bisschen Angst vor der eigenen Courage bekommen haben, ist nachvollziehbar. Unkonventionelle Lösungen haben immer ein gewisses Konfliktpotenzial. Aber die Erfahrungen, die gerade kleine Gemeinden mit solchen umstrittenen Projekten gemacht haben, sind überwiegend positiv. Gerade weil diese Projekte Diskussionen auslösen und eine Auseinandersetzung der Bürger mit scheinbaren Selbstverständlichkeiten verlangen, steht am Ende die Akzeptanz und oft genug der Stolz darauf, dass man sich zu etwas Neuem entschlossen hat.

Sollte das Projekt noch gestoppt oder klein gekocht werden, wäre das jedenfalls ein schlimmes Signal für die Salzburger Baukultur: Es gab ein anonymes Wettbewerbsverfahren mit einer ausgewogenen Jury, in der neben renommierten Architekten auch Gemeindevertreter und die Schuldirektorin stimmberechtigt waren; die Jury hat einstimmig ein Projekt ausgewählt und zwei andere nur als eindeutig nachrangig auf die Plätze verwiesen. Auch Jurys können sich irren. Aber ein besseres Verfahren zur Einbindung von lokaler Verantwortung und fachlicher Kompetenz hat bis jetzt niemand erfunden. Die Landesregierung, die einen Großteil der Kosten trägt und das Projekt nicht zuletzt wegen seiner architektonischen Qualität für eine baldige Realisierung gereiht hat, trägt hier auch eine Verantwortung für die zukünftige Entwicklung. Wer die engagiertesten Architektinnen und Architekten als Projektanten und Jurymitglieder gewinnen will, muss auch in der Umsetzung Konsequenz beweisen.

Mattsee wird einer der schönsten Orte Salzburgs bleiben, auch wenn es sich ein Bauwerk leistet, das anders aussieht als alles, was bisher am Ort Brauch gewesen ist. Aber es könnte damit ein Signal an seine Jugendlichen aussenden: Das 21. Jahrhundert hat auch bei uns begonnen.

Spectrum, Sa., 2004.09.25

16. August 2004Christian Kühn
Spectrum

Prinzip Hoffnung

Lange galt sie als Wiener Vorzeigeprojekt mit Symbolkraft: die „Stadt des Kindes“. Jetzt soll sie verkauft und umgenutzt werden. Das Denkmalamt zieht sich aus der Affäre. Ein Plädoyer gegen die Macht der schleichenden Sachzwänge.

Lange galt sie als Wiener Vorzeigeprojekt mit Symbolkraft: die „Stadt des Kindes“. Jetzt soll sie verkauft und umgenutzt werden. Das Denkmalamt zieht sich aus der Affäre. Ein Plädoyer gegen die Macht der schleichenden Sachzwänge.

Es war einmal eine Stadt, die wollte ein Zeichen setzen. Anlässlich des 50. Geburtstags der Republik Österreich im Jahr 1969 beschloss die Stadt Wien, in Penzing, an der Wiener Westeinfahrt, ein Kinderheim zu errichten, wie es die Welt bisher nicht gesehen hatte: keine Bewahrungsanstalt für „schwer erziehbare Kinder“, sondern eine zur Umgebung hin offene Struktur mit Einrichtungen wie Schwimmbad und Sporthalle, Theater und Café, die allen Bewohnern des Bezirks offen stehen sollten. Schlafsäle sollte es keine mehr geben, sondern Familieneinheiten nach dem Vorbild der SOS-Kinderdörfer, freilich als „Stadt des Kindes“ in eine urbane Form übertragen.

Das Zeichen, das hier unter der Patronage der damaligen Stadträtin für Soziales, Maria Jacobi, gesetzt wurde, sollte nicht zuletzt die Reformfähigkeit der Wiener Sozialisten signalisieren. Während die junge Generation nach 1968 den langen Marsch durch die Institutionen antrat, der sie inzwischen zu Bürgermeistern und Stadträten gemacht hat, versuchten die alten Institutionen mit derartigen Projekten, neue Wege zu gehen. Es ist bezeichnend, dass die „Stadt des Kindes“ aus dem Magistrat ausgegliedert und einem unabhängigen Verein übertragen wurde, der außerhalb eingefahrener Bahnen agieren durfte.

Das Ergebnis ist eines jener Bauwerke geworden, denen Ernst Bloch in seiner unter dem Titel „Das Prinzip Hoffnung“ erschienenen Geschichte der Utopie ein eigenes Kapitel widmet: „Bauten, die eine bessere Welt abbilden“. Die „Stadt des Kindes“, wie sie 1969 bis 1974 nach den Plänen von Anton Schweighofer errichtet wurde, symbolisiert eine wohlgeordnete und sichere Welt, die als letzter Abglanz der heroischen Zeiten des Roten Wien gesehen werden kann.

Die Abstufung von öffentlichen, halböffentlichen und privaten Räumen ist vorbildlich gelöst, die Nutzungen sind sinnvoll zugeordnet und durch ein Wegesystem auf mehreren Ebenen verflochten, das sich durch die Spannung zwischen klarer Orientierung und überraschenden Wendungen auszeichnet. Entlang der Hauptachse stapeln sich Wege, Brücken und Treppen, ein schwebender Baldachin aus rot gestrichenem Stahl begleitet die Zugänge zu den Wohnungen und folgt dem sanft abfallenden Gelände. In der Mitte der Anlage verdichtet sich der Raum zu einem Labyrinth, in dem man sich geschützt, aber nicht gefangen fühlt.

Die Familiengruppen sind in fünf südseitig orientierten Wohnblöcken untergebracht, die in der Ansicht wie freundliche Riesen mit einladend geöffneten Armen aussehen. Die Innentreppen der Wohneinheiten zeichnen sich nach außen als schräge Glasprismen ab, auf denen die weiß gestrichenen Betonkuben der Obergeschosse zu ruhen scheinen. Jede Wohneinheit hat direkten Blick auf die Bäume des angrenzenden Parks sowie kleine Gärten und Terrassen als individuelle Freibereiche.

Dass diese scheinbar idealen Voraussetzungen nicht zum gewünschten pädagogischen Erfolg geführt haben, hat viele Gründe. Schon bald nach der Eröffnung wurde die „Stadt des Kindes“ wieder in die Strukturen des Magistrats integriert und als „normales“ Heim betrieben, das mit denselben Problemen in Bezug auf Drogen und Gewalt zu kämpfen hatte wie andere Großheime. Als die Stadt Wien in den 1990er-Jahren beschloss, alle Heime zu schließen und nur noch kleine, in normale Wohnbauten integrierte Einheiten zu betreiben, wurden die Bewohner der „Stadt des Kindes“ sukzessive abgesiedelt. 2002 wurde das Heim endgültig geschlossen, mit ihm die öffentlichen Einrichtungen wie Theater und Schwimmbad.

Warum die Stadt Wien mit dieser Anlage nichts Besseres anzufangen weiß, als sie an Private zu verkaufen, ist schwer nachzuvollziehen. Immerhin hat die „Stadt des Kindes“ für eine bestimmte Epoche denselben Symbolwert wie der Karl-Marx-Hof für eine andere. Es hätte sich aber - so behaupten zumindest die Verantwortlichen der Gemeinde - beim besten Willen keine adäquate öffentliche Nutzung gefunden. Bereits im Frühjahr 2002 wurde ein Auswahlverfahren ausgelobt, bei dem Investoren eingeladen wurden, Vorschläge für die Verwertung des Areals und der Gebäude einzureichen und einen Kaufpreis zu bieten. Als Sieger aus diesem Verfahren ging die Arbeitsgemeinschaft der Bauträger Wiener Heim/Mischek und Arwag mit einem Angebot von 4,7 Millionen Euro hervor. Das architektonische und städtebauliche Konzept dazu stammte von Margarete Cufer. Der entsprechende Bebauungsplan mit flankierenden Wohngebäuden wurde vor wenigen Wochen im Gemeinderat beschlossen.

Verkauft ist die „Stadt des Kindes“ aber bis heute nicht, und unklar ist auch, wie der Altbestand tatsächlich saniert und adaptiert werden soll. Wer die öffentlichen Einrichtungen betreiben wird und ob Bereiche wie das Schwimmbad je wieder zu bezahlbaren Preisen zugänglich sein werden, ist ebenso offen. Zwar wird von allen Seiten der gute Wille zu einem sensiblen Umgang mit der Substanz beteuert und darauf verwiesen, dass Anton Schweighofer ja als Berater und Juror in das Projekt eingebunden bleibe. Ob nach einem Verkauf der Druck der Sachzwänge nicht doch zu groben Veränderungen führen wird, ist aber nicht abzusehen.

Klare Verhältnisse könnte hier das Denkmalamt schaffen. Der Stellenwert der „Stadt des Kindes“ in kultur- wie architekturhistorischer Hinsicht ist in der Fachwelt unumstritten. Sie ist ein in Österreich einzigartiges Beispiel für eine internationale Architekturströmung, die mit Namen wie Alison und Peter Smithson und Aldo van Eyck verbunden ist. Charakteristisch für diese Architektur ist die souveräne Verbindung von klassischen und anti-klassischen Prinzipien und ein besonderer sozialer Anspruch, der jedoch nie in die Banalität des nur gut Gemeinten kippt. Die „Stadt des Kindes“ vermittelt die Absichten ihrer Zeit, lässt sich aber - wie jede große Architektur - nicht wirklich aus ihnen erklären oder gar auf sie reduzieren.

Umso befremdlicher ist eine vom Präsidenten des Denkmalamts, Gregor Rizzi, verfasste Stellungnahme, dass „ein öffentliches Interesse an der Erhaltung nicht gegeben“ sei. Die „Stadt des Kindes“ hätte, so Rizzi in seiner Begründung, „ihre inhaltliche sozialpädagogische Widmung verloren, die als Identitätsträger in sozialhistorischer Hinsicht auch einen Teil der Bedeutung ausmachte“. Dem Objekt sei in seinem „gegenwärtigen Baubestand zwar durchaus architektonische Bedeutung beizumessen, doch kann sie angesichts der für die weitere Existenzfähigkeit des Baukomplexes absehbaren unumgänglichen Veränderungen nicht die Grundlage für ein öffentliches Interesse an der Erhaltung abgeben“.

Der Zirkelschluss ist evident: Weil eine bevorstehende Umnutzung das Objekt gefährde, könne es leider nicht geschützt werden. Rizzi beruft sich dabei auf einen Paragrafen des Denkmalschutzgesetzes, der besagt, dass ein Denkmal nicht unter Schutz gestellt werden kann, wenn es nach den Maßnahmen zu seiner Erhaltung so verändert wäre, dass ihm keine Bedeutung als Denkmal mehr zukäme. Dieser Passus bezieht sich aber ausdrücklich auf Maßnahmen, die durch den „statischen oder sonstigen physischen Zustand“ erforderlich werden und nicht auf die Folgen einer Umnutzung.

Das Denkmalamt wird nicht darum herumkommen, sich auch in Österreich ernsthaft mit Baudenkmälern der jüngeren Vergangenheit auseinander zu setzen. Nach der kürzlich angekündigten Unterschutzstellung der Z-Filiale von Günther Domenig aus dem Jahr 1979 muss auch die Debatte über die „Stadt des Kindes“ neu aufgerollt werden. Ein Denkmalschutzbescheid würde den guten Absichten aller Beteiligten den Rücken stärken. Die Arwag als Projektträger hätte damit kaum ein Problem: Sie hat am Meiselmarkt und bei der Remise Kreuzgasse bewiesen, dass sie durchaus im denkmalgeschützten Bestand zu agieren versteht.

Spectrum, Mo., 2004.08.16



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Stadt des Kindes

03. Juli 2004Christian Kühn
Spectrum

Keine Zeit zum Feiern

Mit dem Steinhaus am Ossiacher See hat er eine Messlatte seines Anspruchs gelegt, wie sie höher nicht sein könnte. Von der Zentralsparkasse in Favoriten bis zum T-Center am Rennweg: Günther Domenig zum 70. Geburtstag.

Mit dem Steinhaus am Ossiacher See hat er eine Messlatte seines Anspruchs gelegt, wie sie höher nicht sein könnte. Von der Zentralsparkasse in Favoriten bis zum T-Center am Rennweg: Günther Domenig zum 70. Geburtstag.

Ab und zu leistet sich die Architekturgeschichte einen Ausbruch. Die klaren Formen der Renaissance lösen sich im Manierismus auf; die Stilkopien der Gründerzeit in den forcierten Neuschöpfungen des Jugendstils; der Funktionalismus nach 1945 in der kurzen Blüte der Pop-Architektur in den 1960er-Jahren. Immer schwingt in diesen Antithesen der Gegensatz zwischen Massenproduktion und künstlerischer Einzelleistung mit. Auf hunderte gute Baumeister der Renaissance kommt ein Michelangelo, auf tausende solide Architekten der Gründerzeit ein Antoní Gaudí.

Architekten dieser Gewichtsklasse sind notorische Verfechter des Überflusses. Sie liefern Formen, nach denen niemand gefragt hat, und Räume, die sich davor oft niemand vorstellen konnte. Über Qualität ist damit noch nichts gesagt. Aber weil wir zu 99 Prozent in rechteckigen Räumen ohne Besonderheiten leben, ist dieser Architektur zumindest Aufmerksamkeit sicher. Und oft genug gilt nur sie als „Architektur“, während alles andere aufs reine „Bauen“ reduziert wird.

Günther Domenig hat sich stets am äußersten Ende dieses Spannungsfelds positioniert. Mit der Zentralsparkasse in Wien-Favoriten wurde er für ein breites Publikum zum Inbegriff des Künstlerarchitekten. Dieses Gebäude besitzt alle Attribute, mit denen moderne Architektur schon immer den Volkszorn erregt hat: eine Fassade aus Stahl und Glas, Sichtbeton im Inneren. Aber hier ist Fassade organisch geschwungen, wölbt sich nach außen und ist beim Eingang hochgezogen wie ein leichter Vorhang. Im Schalterraum der Bank werden die Lüftungsrohre zu Eingeweiden, und um keinen Zweifel daran zu lassen, dass man es hier mit etwas Organischem zu tun hat, wird ein Teil des Stiegenhauses von einer großen, in Beton modellierten Hand gestützt. Man darf annehmen, dass es Domenigs eigene ist: Auf nichts anderes stützt sich dieses Gebäude als auf den persönlichen Gestaltungswillen seines Architekten.

Die Zentralsparkasse war das erste größere Projekt Domenigs nach der Auflösung seiner Partnerschaft mit Eilfried Huth 1974, die zehn Jahre gedauert hatte. Skulptural waren die Projekte dieser Partnerschaft von Anfang an gewesen. Das Pfarrzentrum in Oberwart etwa ist eine Betonskulptur im Stil des „Brutalismus“, der mit einiger Verspätung in den 1960er-Jahren auch nach Österreich kam. Mit Brutalität hat diese Architektur ursprünglich nichts zu tun, sondern mit dem charakteristischen rohen Beton, dem beton brut. Dass der Begriff des „Brutalen“ als Angriff auf herrschende Gemütlichkeiten hier mitschwingt, ist aber beabsichtigt.

So wie viele andere Vertreter ihrer Generation, deren Arbeiten aus den 1960er-Jahren derzeit im Architekturzentrum Wien unter dem Überbegriff des „Austrian Phenomenon“ zu besichtigen sind, suchten Domenig und Huth nach einer radikalen Erweiterung des Architekturbegriffs. „Medium Total“ heißt eine ihrer Arbeiten, die in der Galerie nächst St. Stephan ausgestellt war. Dass ein solches Medium organisch, netzwerkartig, selbstgenerierend und in gewisser Weise formlos sein müsste, stand im Widerspruch zum architektonischen Anspruch, ihm trotz allem eine Form geben zu wollen.

Mit dem Idealprojekt für Graz Raggnitz, in dem sie eine technoide Großstruktur mit organischen Zellen kombinierten, gewannen Domenig und Huth 1969 den Grand Prix International d'Urbanisme et d'Architecture, der sie auch international bekannt machte. 1970 verhalf ihnen dieser Erfolg zum Auftrag, Pavillons in die Schwimmhalle für die Olympiade in München einzubauen, leichte Strukturen aus Stahl, die wie versprengte Zellen aus dem Ragnitz-Projekt aussehen. „Holt mal die Artisten her“, soll Günther Behnisch, der zusammen mit Frey Otto für die Planung der Olympiabauten verantwortlich war, damals gesagt haben.

Die Partnerschaft mit Huth musste an dem inneren Konflikt zwischen der Formlosigkeit eines „Medium Total“ und dem architektonischen Gestaltungswillen zerbrechen. Huth konzentrierte sich nach der Trennung auf die Frage der Partizipation, also auf das Bauen als Kollektivanstrengung der späteren Nutzer. Domenig blieb der Künstler, der seine Architektur als individuelle Äußerung zelebrierte. Nun ist Architektur aber die Kunst, die am stärksten von externen Einflüssen abhängig ist. Radikale Künstlerarchitekturen sprengen daher nur selten den Maßstab, den die Gesellschaft für Experimente zu finanzieren bereit ist. Domenig ist es allerdings gelungen, in Dimensionen und Bauaufgaben vorzudringen, die ansonsten meist den Pragmatikern vorbehalten bleiben. Die Erweiterung der Architekturfakultät in Graz, wohin er 1980 als Professor berufen wurde, war ein erster großer öffentlicher Auftrag. Anfang der 1990er-Jahre folgten unter anderem die Rechts- und Sozialwissenschaftlichen Institute der Karl-Franzens-Universität in Graz, eine 300 Meter lange Megastruktur mit eingeschobenen Hörsälen, und das Landeskrankenhaus in Bruck an der Mur.

Grundlage dafür, Projekte dieser Komplexität anvertraut zu bekommen, war die Partnerschaft Domenigs mit Hermann Eisenköck, die später um den Partner Herfried Peyker erweitert wurde und heute unter dem Namen „Architektur Consult ZT Ges.m.b.H.“ firmiert. Über 20 Jahre hat diese Partnerschaft die Spannungen zwischen Vision und Umsetzung bearbeitet und daraus gelernt. In den ersten großen Projekten sind Kompromisse oft noch leicht abzulesen, wenn zwar gewisse Bauteile expressiv durchgeformt sind, anderswo aber die Pragmatik regiert. Mit dem Steinhaus, dem work in progress einer Bauskulptur am Ossiacher See, hat Domenig überdies eine Messlatte seines Architekturanspruchs gelegt, wie sie höher nicht sein könnte.

Die ersten Projekte, bei denen dieser Anspruch auch im großen Maßstab eingelöst wurde, waren dem Kulturbereich zuzuordnen: die Landesausstellung in Kärnten 1995 und vor allem das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, 2001. Für Domenig, der eine Kindheit im Nationalsozialismus hinter sich hat, ist dieses Projekt auch eine persönliche Abrechnung. Dass es gelingen kann, auch bei einer reinen „Investorenarchitektur“ Visionen umzusetzen, haben Domenig und die Architektur Consult vor kurzem mit dem T-Center am Wiener Rennweg bewiesen. Mit 120.000 Quadratmeter Nutzfläche ist dieses Objekt eine der größten Büroimmobilien in Wien. Zugleich ist das T-Center eine liegende Skulptur, die von einem der besten halböffentlichen Räume durchzogen ist, die sich in der neueren Wiener Architektur finden lassen.

Zu seinem 70. Geburtstag wird Domenig die Ehrenkreuzverleihungen und Feiern widerwillig über sich ergehen lassen, wie es sich für einen Künstlerarchitekten seiner Generation gehört. Immerhin kann er zu Recht behaupten, zum Feiern keine Zeit zu haben: Mit einem jungen Team hat er gerade ein neues Büro gegründet, das die Neugestaltung des A1-Rings in Spielberg bearbeitet. Noch ist das Projekt unter Verschluss. Man darf auf das Resultat gespannt sein.

Spectrum, Sa., 2004.07.03



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Domenig Günther [der 2012 verstorbene Domenig]

19. Juni 2004Christian Kühn
Spectrum

Wem das reicht

Das Problem besteht nicht in der mittelmäßigen Dekoration, sondern in den vielen Fragen, die hier nicht gestellt wurden: der neu gestaltete Schwarzenbergplatz eine erste Bilanz zwei Wochen nach der Eröffnung.

Das Problem besteht nicht in der mittelmäßigen Dekoration, sondern in den vielen Fragen, die hier nicht gestellt wurden: der neu gestaltete Schwarzenbergplatz eine erste Bilanz zwei Wochen nach der Eröffnung.

Der Schwarzenbergplatz ist den Wienern im Grunde nie aufgefallen. Er ist ein Platz ohne feste Grenze, der an der Ringstraße beginnt und 400 Meter weiter zu beiden Seiten des Hochstrahlbrunnens verschwindet. Auf halbem Weg verliert er sich beinahe in der quer zur Platzachse laufenden Lothringerstraße, die ihn an Breite um ein gutes Stück übertrifft. Für einen großen Wiener Platz ist es nichts Ungewöhnliches, keine Kontur zu haben. Auch vom Karlsplatz und vom Heldenplatz wissen wir ja nur vage, wo sie sind, aber nicht, wo sie beginnen oder enden.

In seiner ursprünglichen, von Heinrich von Ferstel 1863 geplanten Anlage war der Schwarzenbergplatz allerdings ein gut proportionierter, um das Reiterstandbild des Fürsten Carl Philipp zu Schwarzenberg herum angelegter urbaner Raum, der stadtauswärts vom damals noch offen fließenden Wienfluss begrenzt wurde. Erst mit der Einwölbung des Flusses verlor der Platz seine Proportion und wurde zu einer breiten Straße, die sich stadtauswärts aufweitet. In der allgemeinen Wahrnehmung war der Schwarzenbergplatz seit Jahrzehnten nichts anderes als ein Verkehrsknoten, den inzwischen täglich über 60.000 Autos passieren. Seine legendären Bodenwellen sind Autofahrern noch bestens in Erinnerung. 1997 wurde der Verkehrsplaner Werner Rosinak von der Stadt mit einem neuen Verkehrskonzept beauftragt, das vorschlug, die den Platz vor dem Hochstrahlbrunnen querende Straße aufzulassen. Eine Verkehrsinsel, die dem Wiener Stadtgartenamt für schrullige Inszenierungen wie Blumenuhren und Stadtäcker gedient hatte, konnte so gewissermaßen ans Festland - den Platz um den Hochstrahlbrunnen - angebunden werden.

Auf der Basis dieses Konzepts wurden vier Architektenteams zu einem Wettbewerb für die Platzgestaltung eingeladen, den der Spanier Alfredo Arribas gewann. Sein Plan sah vor, den rechteckigen Teil des Platzes um das Reitstandbild durch schlanke, dicht gestellte Laternenpfähle zu markieren. Bei Nacht sollte eine Lichtinszenierung den Platz völlig verwandeln. In Arribas' eigener Architektenpoesie: „Am Tag scheint der Platz unverändert - abgestufte Grauschattierungen verschmelzen Fassaden und Boden. Bei Nacht verwandelt sich die Symmetrie der Gebäude in Leuchtspuren. Funkelnde Laternenpfähle akzentuieren den dunkelgrauen Asphalt, ein Lichtstrahl vereint die fragmentierten Bodenbeläge. Strahlend rote Lichter zwischen den Schienen heben die Gleise hervor und warnen vor ankommenden Straßenbahnzügen; fluoreszierend grüne Lichter betonen und markieren die Übergänge.“

Seit kurzem kann man besichtigen, was aus Arribas' Konzept geworden ist. Am positivsten fallen sicher die Änderungen unmittelbar um den Hochstrahlbrunnen und das dahinter liegende Denkmal der Soldaten der Sowjetarmee auf. Die dichten Büsche, die bisher den Blick versperrten, wurden entfernt, die Bäume in Form gebracht. Die neu entstandene „Landzunge“ in der Hauptachse wurde nicht begrünt, sondern mit einem befestigten Boden versehen, in den Lichtstreifen eingelassen sind, die den Platz von unten beleuchten.

Nach Aussage der Stadt soll diese Fläche nur ausnahmsweise, und nicht - wie etwa vor dem Rathaus - kontinuierlich für öffentliche Veranstaltungen zur Verfügung stehen. Stadtbewohner und Touristen werden sich hier wohl fühlen und im Sommer den leichten Nebel des Hochstrahlbrunnens genießen - solange sie nicht auf Details achten. Denn Arribas hat sich zwar bemüht, Elemente wie Randsteine und Begrenzungsmauern mit mehr Liebe zu behandeln als sonst in Wien üblich. Die Ausführung bleibt aber stellenweise deutlich hinter der Ambition zurück, etwa dort, wo eine gekurvte Mauer aus identischen geraden Elementen zusammengesetzt ist und dicke Mörtelfugen die entstehenden Probleme „lösen“ sollen. So geht ein Häuselbauer vor, dem das Geld ausgegangen ist. Eine Großstadt sollte sich ein anderes Niveau leisten können.

Ähnliches gilt auch für die Lichtinszenierung. Arribas' Konzept ist auf ein Minimum reduziert. Kein Licht, das sich je nach Verkehrslage ändert, keine Haltestellen, die sich rot verfärben, bevor eine Straßenbahn einfährt. Die im Boden eingelassenen Lichterketten sind zwar programmierbar, blitzen aber eher eintönig vor sich hin. Und aus den schlanken Masten rund um das Reiterstandbild sind plumpe Rohre geworden, die vor allem in der Ansicht von vorne eine unangenehme Wirkung entfalten.

Die Beleuchtungskörper an diesen Masten sind zusätzlich über eine Seilabspannung gehalten, wodurch das Drahtgewirr über der Straße unnötig vermehrt wird. Jede Peitschenlampe aus den 1950er Jahren hat mehr Eleganz. Gescheitert ist Arribas' Lichtkonzept vor allem am hinhaltenden Widerstand der Wiener Linien gegen größere Lichtspektakel und an allgemeinen Bedenken in Hinblick auf die Verkehrssicherheit. Ursprünglich war eine diffusere Allgemeinbeleuchtung vorgesehen, um die Lichteffekte deutlicher hervortreten zu lassen. Der Schilder- und Ampelwald, der im Zuge der Neugestaltung noch leicht gewachsen ist, hat nur indirekt mit der Verkehrssicherheit zu tun. Er wächst im selben Maß, in dem Autofahrer nach einem Strafmandat die Behörden erfolgreich wegen mangelnder Beschilderung verklagen.

Insgesamt ist der neue Schwarzenbergplatz weder besonders geglückt noch besonders verunglückt. „It works“, sagte der Architekt bei der Eröffnung auf die Frage, ob er mit dem Ergebnis zufrieden sei. Wem das reicht, wird sich an die neue Gestaltung gewöhnen. Das eigentliche Problem besteht aber nicht in der mittelmäßigen Dekoration, sondern in den vielen Fragen, die hier gar nicht gestellt wurden. Was ist mit der „Kulturmeile“, die sich quer zum Platz an der Lothringerstraße vom Musikverein und vom historischen Museum bis zum Akademietheater und zum Konzerthaus entwickeln könnte? Wie sieht überhaupt das Nutzungskonzept für den Bereich um den Hochstrahlbrunnen aus? Ist es sinnvoll, die Verkehrsplanung vor der Platzgestaltung abzuschließen, statt interdisziplinär eine Lösung zu entwickeln? Und was ist mit der Geschichte des Platzes, die Arribas der „poetischen“ Idee opfert, die graue Tagesaktualität gegen einen nächtlichen Lichterzauber auszuspielen?

Denn weder das Reiterstandbild noch das „Russendenkmal“ sind beleuchtet, da sie sonst den Lichterketten Konkurrenz machen würden. Aber können wir sie wirklich so einfach aus dem öffentlichen Bewusstsein wegknipsen? Im Wettbewerb hatten die Architekten PAUHOF und der Künstler Hans Kupelwieser vorgeschlagen, die beiden Denkmäler von ihren Standorten zu entfernen und im vorderen Teil des Platzes einander gegenüber aufzustellen. Der Bereich um den Hochstrahlbrunnen wäre damit offen für eine völlig neue architektonische Lösung geworden. Allein die Idee hätte Diskussionen ausgelöst, die den Platz, seine Geschichte und Zukunft ins öffentliche Bewusstsein gebracht hätten, und vielleicht hätte sich am Ende eine Antwort gefunden, die einer selbstbewussten Großstadt angemessen ist. An derart grundsätzlichen Diskussionen zeigt die Wiener Stadtplanung aber schon lange kein Interesse mehr.

Spectrum, Sa., 2004.06.19



verknüpfte Bauwerke
Schwarzenbergplatz Wien - Neugestaltung

15. Mai 2004Christian Kühn
Spectrum

Neufert trifft Buster Keaton

Der EUROPAN-Architekturwettbewerb suchte Auswege aus der baulichen Ödnis der sogenannten „Speckgürtel“. Ergebnis: Es gibt Alternativen zu den Stereotypen des tristen Stadtrand-Massenwohnbaus.

Der EUROPAN-Architekturwettbewerb suchte Auswege aus der baulichen Ödnis der sogenannten „Speckgürtel“. Ergebnis: Es gibt Alternativen zu den Stereotypen des tristen Stadtrand-Massenwohnbaus.

Eines der augenfälligsten urbanistischen Phänomene der letzten Jahre ist die Verwandlung der ehemaligen Stadtränder. Der Stadtplaner Thomas Sieverts hat dafür den Begriff der „Zwischenstadt“ geprägt, eine charakteristische Ansammlung aus Shopping- und Entertainmentzonen, Betriebsgebieten, konturlosen Wohnsiedlungen und einem entsprechend raumgreifenden Verkehrssystem. In der Öffentlichkeit ist zuletzt immer öfter vom „Speckgürtel“ die Rede. Diese Metapher ist durchaus treffend: die Stadt als Herr in mittleren Jahren, dem beinahe unvermeidlich der Speck um die Mitte wächst. Eine Zeit lang wird mit „Brust-raus-Bauch-rein“-Übungen vor dem Spiegel die Illusion der schlanken Linie am Leben erhalten, aber letztendlich fügt sich das Selbstverständnis der Schwerkraft. Die Stadt ist aus den Fugen, und wir haben uns daran gewöhnt. Amerikanische Stadtforscher stellen zwischen Fettleibigkeit und „Suburbia“ übrigens sogar eine direkte Beziehung her: Weil das Häuschen im Grünen dazu zwingt, auch die alltäglichsten Besorgungen mit dem Auto zu unternehmen, ist der Anteil der Übergewichtigen dort inzwischen signifikant höher als in anderen Siedlungsformen. So finde, meinte kürzlich Ellen Dunham-Jones bei einer Konferenz an der Kunstuniversität Linz, der „Urban Sprawl“ seine Fortsetzung im „Human Sprawl“.

Bemerkenswert ist, dass es sich dabei um kein großstädtisches Phänomen mehr handelt. Der Speckgürtel ist überall, selbst in kleineren Gemeinden mit ein paar tausend Einwohnern. Wer heute mit offenen Augen durchs Land fährt, findet die immer gleichen Strukturen des Gleichgültigen, Kommerzschachteln ohne Beziehung zur Umgebung, die sich nur durch ihre Firmenlogos unterscheiden. Ausnahmen wie die „M-Preis“-Märkte in Tirol - die daher durchaus zu Recht als einer der österreichischen Beiträge zur diesjährigen Architekturbiennale nach Venedig ausgewählt wurden - bestätigen nur die Regel.

Der Wohnbau, der sich im Speckgürtel ausbreitet, ist entsprechend trist. Auf der einen Seite gibt es die üblichen Einfamilienhausteppiche in immer engerer Parzellierung. Auf der anderen Seite nutzen viele Wohnbaugenossenschaften das Fehlen jeglicher Strukturvorstellung für diese Zonen zum Bau geradezu skandalöser Stereotypen, die ihren Bewohnern alles vorenthalten, was eine zeitgemäße Wohnung zu kaum höheren Kosten an Komfort, Offenheit und Schönheit bieten könnte.

Dabei bietet gerade das Fehlen von etablierten Strukturvorstellungen eine Chance für Innovationen. Es ist kein Zufall, dass einer der wichtigsten Architekturwettbewerbe Europas, EUROPAN, seit Jahren auf dieses Thema ausgerichtet ist. Der EUROPAN-Wettbewerb, zu dem junge Planer bis 40 zugelassen sind, hat sich seit 1988 zu einer Institution entwickelt, die neue Ideen zum Wohnbau erforscht, diskutiert und umsetzt. Gerade in der Architektur, in der oft nur von Einzelprojekt zu Einzelprojekt gedacht wird, ist der langfristige Aufbau eines internationalen Netzwerks zur Reflexion über Ziele und Methoden ein Beitrag, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. EUROPAN 7, der aktuelle Wettbewerb, dessen Ergebnisse letzte Woche beim EUROPAN-Forum in Athen diskutiert wurden, befasste sich mit dem Thema „Suburban Challenge - Urbane Intensität und Vielfalt des Wohnens“. Damit ist EUROPAN endgültig in „Suburbia“ angekommen, nachdem sich frühere Wettbewerbe mit „Der Stadt über der Stadt“, also der Verdichtung innerstädtischer Räume, und mit dem Thema „Zwischenorte - Architektur im Prozess der urbanen Erneuerung“ befasst hatten.

Das Besondere des EUROPAN-Wettbewerbs liegt in seiner Organisation. Ein wissenschaftlicher Beirat legt alle zwei Jahre ein Thema fest. Dann bewerben sich in den inzwischen 16 Partnerländern Städte, die entweder direkt über die Gemeinde oder bereits über einen Bauträger Grundstücke anbieten und zugleich die Finanzierung der Jury und der EUROPAN-Administration übernehmen. Aus dieser Liste werden dann vom regionalen EUROPAN-Büro - dem in Österreich Klaus Kada als Präsident und Bernd Knaller-Vlay als Sekretär vorstehen - die Partnerstädte für den Wettbewerb ausgewählt. Die Jurierung erfolgt zweistufig: Zuerst wird etwa ein Fünftel der eingereichten Arbeiten - insgesamt über 2000, allein für die österreichischen Standorte 168 - von den lokalen Jurys ausgewählt und dann bei einem europaweiten Treffen aller Juroren diskutiert. Dann erfolgt die Endjury in den Ländern, bei der jeweils ein Projekt zur Ausführung, weitere Projekte für die Publikation vorgeschlagen werden. Bisher sind europaweit 200 Projekte realisiert oder befinden sich - wie etwa ein Wohnbau in Innsbruck von Frötscher/Lichtenwagner, ein Preisträger des Jahres 1996 - in Realisierung.

Beim aktuellen EUROPAN-Verfahren wurden in Österreich Projekte in Wien, Graz, Salzburg, Innsbruck und Krems bearbeitet. Einer Umsetzung am nächsten ist das Projekt in Salzburg-Lehen, wo die Gruppe Nil (Herold/Touzimsky) Wohnen für Senioren mit anderen Nutzungen in einer offenen Großform zusammenführt. In Innsbruck wird das Siegerprojekt von „architektur bn“ (Bradic/Nizic) in Hinblick auf eine höhere Dichte überarbeitet. In Krems könnte auf der Basis der Projekte von Sammer/ Streeruwitz mit ihren „Vorstadtzutaten“ und den diagrammatischen Ansätzen von Müller/Quednau ein neues Konzept für ein erweitertes Planungsgebiet entstehen. In Wien hat das expressive Siegerprojekt von Pallarés, Castellanos und Molina (Alicante/ London) gute Chancen auf eine Weiterbearbeitung in einem „Optimierungsverfahren“, in dem zuerst die wesentlichen Qualitäten des Projekts generell spezifiziert und dann von Bauträgern unterschiedliche Varianten der Umsetzung ausgearbeitet werden. Am weitesten von konventionellen Vorstellungen entfernt ist das Grazer Projekt mit dem Titel „Das nachgeholte Treffen von Neufert, Tessenow und Buster Keaton: Situationismus 2003“ von Benze/Kutz. Für Spezialisten: Eine simple Hülle (Tessenow) wird mit einem Katalog an Elementen (Neufert) gefüllt, deren Programmatik jedoch etwas bizarr anmutet (Buster Keaton). Das Ergebnis lässt höchst vergnügliche Wohnkombinationen erwarten, die alle Standards sprengen.

Der EUROPAN-Wettbewerb beweist, dass eine Weiterentwicklung des Wohnbaus auch jenseits rein marktgetriebener Strukturen möglich ist und dass es noch genug Architektenteams gibt, die bereit sind, ihre Kompetenz dabei einzubringen. Ähnlich intelligente Verfahren auch außerhalb von EUROPAN zu fördern sollte ein öffentliches Anliegen sein. Immerhin fließt ja - in Form von Wohnbauförderung und bereitgestellter Infrastruktur - auch in die übelsten Beispiele des Massenwohnbaus öffentliches Geld.


[Details zu den österreichischen Projekten finden sich unter www.europan.at. Von 5. Juni bis 11. Juli stellt das Vorarlberger Architektur-Institut alle europäischen
Siegerprojekte aus (Dornbirn, Achstraße 1, Montag bis Freitag 9 bis 18, Samstag, Sonntag 11 bis 18 Uhr) und bietet ein Begleitprogramm mit Vorträgen und Diskussionen.]

Spectrum, Sa., 2004.05.15

28. Februar 2004Christian Kühn
Spectrum

Ziegel, sorgfältig verpackt

Architektur: eine kostspielige Sache für besondere Anlässe? Oder doch vielleicht eher etwas, was jeden Häuslbauer interessieren sollte? Ein Plädoyer aus gegebenem Anlass.

Architektur: eine kostspielige Sache für besondere Anlässe? Oder doch vielleicht eher etwas, was jeden Häuslbauer interessieren sollte? Ein Plädoyer aus gegebenem Anlass.

Bauen - daran ließ kürzlich die Wiener Messe für Bauen und Energie keinen Zweifel aufkommen - ist eine komplexe Angelegenheit. Auf zwei große Hallen verteilt fand man hier die Einzelteile, aus denen sich das durchschnittliche österreichische Wohnhaus zusammensetzt: Wälder von Fertigkaminen, dicht arrangierte hölzerne Einbautreppen, die in ein nicht vorhandenes Obergeschoß führen, kleine Labyrinthe aus Hauseingangstüren und Sprossenfenstern, daneben Herden von Öltanks und Heizkesseln. In einer eigenen Halle plätscherten Wasserlandschaften aus Whirlpools und Schwimmbecken.

Das alles sah ein wenig danach aus, als hätte jemand nach fachkundiger Sprengung der Fertighausausstellung „Blaue Lagune“ in Vösendorf deren Bruchstücke nach Gruppen sortiert und wieder aufgebaut. Naturgemäß wurden auch Fertighäuser in allen Varianten angeboten, schlüsselfertig zum Fixpreis „mit Bestpreisgarantie in wenigen Wochen aufgestellt“. Inzwischen ist das Angebot auf diesem Sektor technisch und ästhetisch kaum mehr zu überblicken, bis hin zu Holzkonstruktionen mit einer dünnen innenliegenden Schicht aus Ziegel „zur Optimierung des Raumklimas“. Wer sich mit solchen einzigartigen, von Marketingexperten erdachten Synthesen von Leicht- und Massivbau noch nicht zufrieden geben will, kann sein Haus mit einem Dach aus Recycling-Kunststoff eindecken, das in Farbton und Form einem Ziegeldach täuschend ähnlich sieht und auf Wunsch mit eingelegten Solarzellen geliefert wird.

Energetisch optimiertes Bauen ist ein zentrales Verkaufsargument, auch wenn der Grenznutzen zusätzlicher Wärmedämmungen inzwischen vernachlässigbar ist, zumindest in Relation zum Energieverbrauch des von peripheren Siedlungen erzeugten Pendlerverkehrs. Angesichts von Außenwänden, bei denen auf 25 Zentimeter Ziegelmauerwerk eine ebenso starke Wärmedämmung aufgebracht ist, möchte man jedenfalls Mies van der Rohes berühmten Ausspruch vom Anfang der Architektur als dem „sorgfältigen Zusammensetzen zweier Backsteine“ modifizieren: Architektur beginnt heute mit dem sorgfältigen Verpacken eines Ziegelsteins in einer Schicht Dämmstoff.

Eingestreut zwischen die Produktanbieter dieser Messe waren Beratungsinseln, auf denen verschiedene Interessenverbände und „Cluster“ ihre Dienstleistungen anboten. Das Institut für Baubiologie- und Ökologie versprach Antwort auf die Frage, was „wirklich ökologisch, natürlich, wohngesund und baubiologisch“ ist, und zeigte neben Prototypen von Niedrigenergie- und Passivhäusern als Attraktion das 1:1-Modell einer innen mit Lehm verputzen Holzriegelwand. Niederösterreich war mit zwei „Clustern“ vertreten - Töchtern der Regionalentwicklungsagentur Eco Plus -, dem Holzcluster und dem Ökobau-Cluster, die mit Landes- und EU-Förderung versuchen, Klein- und Mittelbetriebe zu vernetzen und zu „innovativen Projekten“ zu ermutigen. Zum Programm gehören Qualifizierungsmaßnahmen für Handwerker, mit denen die hohen Anforderungen an die Ausführungsqualität, wie sie bei energetisch optimierten Gebäuden gestellt werden, erreicht werden sollen. Ein ähnliches Netzwerk ist die IG Passivhaus Ost, in der Planer und Ausführende ihr spezielles Know-how auf diesem Sektor gemeinsam bewerben.

In diesem Wald von Spezialisierungen fand sich eine Beratungsinsel unter dem schlichten Titel „Architektur“. Eingerichtet wurde sie von der IG-Architektur, einer Plattform mit heute rund 150 Mitgliedern, die zur Neudefinition des Berufsbildes des Architekten beitragen und die Rahmen- und Arbeitsbedingungen für die Architekturschaffenden verbessern möchte. Mit ihrer Präsenz auf der Messe wollte die IG-Architektur die oft gezogene Grenze zwischen Bauen als Handwerk und Architektur als Kunst gezielt ignorieren. Auf dieser Beratungsinsel wurden weder Einzelteile noch Fertighäuser angeboten, sondern Informationen darüber, was Architekten überhaupt leisten und was diese Leistung kostet. Und davon hatten die meisten Besucher der Messe nur wenig Ahnung. Oft genug wird in den Beratungsgesprächen nach dem Produkt „Kreativität“ gefragt, als ob sich diese irgendwo zwischen Wärmepumpe und Wintergarten einbauen ließe. Angesichts der vielen Spezialisierungen rundum war das verständlich: Warum sollte man sich mit dem Architekten nicht einen Spezialisten für Lifestyle und Schönheit leisten?

Architektur beginnt aber ganz woanders: nämlich bei der Entwicklung der Aufgabenstellung zusammen mit dem Bauherrn, der Analyse der Bedingungen und Bedürfnisse in einem konkreten Anlassfall. Und sie reicht weit ins Technische und in Fragen der Bauabwicklung und Kostenkontrolle hinein. Dass Architekten sich mit ihren Häusern Denkmäler setzen wollen, ist ein längst überholtes Klischee. Gerade jüngere Architekten haben sich in den vergangenen Jahren vermehrt an der Gestaltung von vorfabrizierten Bauteilen und Bausystemen beteiligt, die den Spielraum für individuelle Gestaltung nicht einengen, und damit die Grenze zwischen dem Fertighaus und dem individuellen Maßhaus zum Verschwimmen gebracht. Dass die Dienstleistung Architektur etwas kostet, ist klar, aber die Beträge sind, in Bezug zu den Gesamtkosten gesetzt, nicht hoch: beim Einfamilienhaus rund 15 Prozent der Bausumme oder 7 Prozent der Kosten inklusive Grundstück, Steuern und Abgaben. Nimmt man die Lebenszykluskosten des Hauses, also die Kosten inklusive Energie und Instandhaltung, zum Maßstab, ist der Prozentsatz noch geringer.

Mit solchen Vergleichszahlen argumentiert die Architektenkammer freilich schon seit Jahrzehnten, ohne dass es sich besonders positiv auf die Situation der Architekten ausgewirkt hätte. Kreative Dienstleistungen gehören zu den weichen Faktoren, an denen man gerne zu sparen beginnt, vor allem, wenn die Konsequenzen guter Planung schwer quantitativ darstellbar sind und oft nur langfristig über den Lebenszyklus eines Objekts zum Tragen kommen. Was die Aktion der IG-Architektur aber auszeichnete, war der Mut, sich auf das Terrain der „Häuslbauer“ zu wagen, zu dem sicher ein Großteil der Bauwilligen unter den rund 40.000 Besuchern der Messe zählte. Dass sich viele davon kurzfristig animieren ließen, ihr Haus mit einem Architekten zu planen, ist wohl kaum anzunehmen. Aber die bloße Präsenz in diesem Umfeld kann dem Trend entgegenwirken, Architektur nur mehr als eine kostspielige Sache für besondere Anlässe wahrzunehmen.

Ein breites Architekturverständnis braucht nämlich beides: die Stars, die - hoffentlich zu Recht - im öffentlichen Rampenlicht stehen und an Aufgaben tätig sind, bei denen eine gewisse Aufregung nicht nur toleriert, sondern gefordert wird; und es braucht eine selbstverständliche Akzeptanz im Alltag, damit auch dort nicht allein das Zweckdienliche und Nützliche, sondern auch jene Überschüsse an Raum und Form, ohne die es im Alltagsleben eng wird, Platz finden dürfen. Das Beispiel der positiven Architekturentwicklung in Vorarlberg zeigt, wie wichtig es ist, ein breites Interesse für Architektur auf dieser Ebene zu wecken. Warum sollte das in Ostösterreich unmöglich sein?

Spectrum, Sa., 2004.02.28

03. Januar 2004Christian Kühn
Spectrum

Café Gespenst

Als Mythos hat es 100 Jahre überlebt, obwohl kaum eine Schraube vom Original mehr erhalten war: das 1899 von Adolf Loos gestaltete Café Museum. Jetzt ist es rekonstruiert - und doch nicht mehr als eine Kulisse.

Als Mythos hat es 100 Jahre überlebt, obwohl kaum eine Schraube vom Original mehr erhalten war: das 1899 von Adolf Loos gestaltete Café Museum. Jetzt ist es rekonstruiert - und doch nicht mehr als eine Kulisse.

Nach einigen trostlosen Monaten, in denen man seinen kleinen Schwarzen anderswo trinken musste, hat das Café Museum am Karlsplatz wieder geöffnet. „Das Museum“ ist eine Institution: Nur Zugereiste und andere Ignoranten dürfen auf die Frage „Treffen wir uns im Museum?“ mit der Gegenfrage „In welchem?“ antworten, denn ohne weitere Bestimmungen wie „kunsthistorisch“ oder „technisch“ kann gar nichts anderes gemeint sein als das Café. Seit 1899 besetzt es einen strategisch wichtigen Punkt in unmittelbarer Nachbarschaft zur Secession mit Blick auf die Karlskirche, kulturgeografisch nicht zum alten Zentrum, sondern zur Vorstadt hin orientiert. Seinen Namen hat das Café von den Hofmuseen mitgebracht, in deren Nähe der erste Besitzer bereits ein Café betrieb, das er - samt Namen - hierher übersiedelte.

Mit der Gestaltung des neuen Lokals wurde ein junger, knapp 30-jähriger Architekt beauftragt, der zwar erst kleinere Umbauten realisiert hatte, aber 1898 durch eine Artikelserie in der „Neuen Freien Presse“ aufgefallen war, in der er anlässlich einer Ausstellung des Österreichischen Kunstgewerbes seine Ideen über zeitgemäßen Lebensstil formuliert hatte: Adolf Loos. Beeinflusst von englischen Vorbildern und von einem dreijährigen Aufenthalt in den USA von 1893 bis 1896, wandte er sich dabei sowohl gegen den damals dominierenden Historismus als auch gegen alle Versuche, mit Hilfe der bildenden Künste einen neuen Stil zu erschaffen. Ein neuer Stil - so Loos - sei schon längst da, in den zweckmäßigen, ornamentlosen und materialgerecht geformten Alltagsgegenständen, die das Handwerk überall dort hervorbringen könne, wo es sich von den bildenden Künstlern nicht bevormunden lasse.

Zu den Bevormundern rechnete Loos zeitlebens auch die Mehrheit der Architekten, nicht nur die historisierenden, sondern auch die modernen. Sein Freund Karl Kraus lieferte dazu in einem Aphorismus die knappste Zusammenfassung: Loos hätte nichts anderes getan, als auf den Unterschied zwischen einer Urne und einem Nachttopf hinzuweisen, während die anderen entweder - im Historismus und bei den Wiener Werkstätten - den Nachttopf zur Urne oder - im Funktionalismus - die Urne zum Nachttopf hätten machen wollen. Loos war bereit, traditionelle Lösungen zu übernehmen, wenn sie ihm für den „Menschen mit den modernen Nerven“ noch verwendbar erschienen. Aber Tradition war für ihn kein Wert an sich. Seine Architektur war radikal gegenwartsbezogen, ohne Sentimentalität für eine angeblich bessere Vergangenheit, aber auch ohne das utopische Erlösungspathos der klassischen Moderne.

Das Café Museum war das erste größere Werk, in dem Loos seine Ideen umsetzen konnte. Auf den historischen Fotografien ist ein Raum ohne Besonderheiten zu erkennen, einfache Thonet-Sessel, dunkle Wandverkleidungen aus Holz bis zur Höhe der Sessellehnen, darüber eine gestreifte Tapete, oben mit einer Messingleiste abgeschlossen. Die gewölbte, weiße Decke ist durch weitere Messingleisten gegliedert, die elektrische Leitungen abdecken. Gruppen von Glühbirnen sind an Kabeln von diesen Leisten abgehängt, weitere Beleuchtungskörper - offensichtlich mit Gas betrieben - befinden sich an den Wänden, wobei die offen geführten Gasrohre zugleich als Garderobestangen verwendet werden. Spiegel kommen mehrfach zum Einsatz, an den Stirnwänden und an der Kasse, um den Blick der über den Eckeingang eintretenden Besucher diagonal in die beiden Haupträume zu lenken.

Die Thonet-Sessel hat Loos nicht selbst entworfen, sondern Elemente aus mehreren verfügbaren Typen zu einem besonders leichten und eleganten Stuhl kombiniert. Das verwendete Bugholz hatte elliptische an Stelle von runden Querschnitten und war - wie sich an erhaltenen Originalen nachweisen lässt - in einem hellen Rot gebeizt.

Loos hat hier nichts neu erfunden, aber vieles weggelassen, was seinen Zeitgenossen als unverzichtbar erschien: Ornament und Plüsch, jede Art von forcierter Gestaltung. Was Karl Kraus über die Kritiker des Hauses am Michaelerplatz schrieb, gilt auch für jene, die schon das „Museum“ als „Café Nihilismus“ denunzierten: „Er hat ihnen dort einen Gedanken hingebaut. Sie aber fühlen sich nur vor den architektonischen Stimmungen wohl.“ Gar nicht gemütlich ist auch die Fassade des Cafés, an der Loos auf alle Zierelemente verzichtete und nur eine weiß verputzte Wand mit großen Fensteröffnungen übrig ließ, auf der in Goldbuchstaben der Schriftzug Café Museum angebracht ist.

Diese Fassade ist das einzige Element des ursprünglichen Lokals, das die Zeit halbwegs unbeschadet überdauert hat. Schon in den 1930er-Jahren wurde das Lokal von Josef Zotti, einem Schüler Josef Hoffmanns, völlig umgebaut. Seither hat es mehrfache Adaptierungen gegeben, die dem Lokal eine unverwechselbare, leicht verwegene Physiognomie verpassten. Als das Lokal im Frühjahr 2003 „wegen Renovierung“ geschlossen wurde, war zuerst davon die Rede, dass Eichinger oder Knechtl eine Sanierung durchführen sollten, und man durfte hoffen, dass den historischen Schichten und Mythen nun neue, aktuelle folgen würden.

Diese Hoffnung hat sich mit der Wiedereröffnung einer anhand der alten Fotografien aus dem Jahr 1899 erstellten Rekonstruktion zerschlagen. Das spekulative Motiv dieser Rekonstruktion, den großen Namen, der so gut ins „Wien-um-1900“-Klischee passt, umsatz- und gewinnbringend auszuschlachten, ist offensichtlich. Wissenschaftlich hat die Rekonstruktion nichts erbracht, was nicht auch bei einer korrekten Bauaufnahme hätte herausgefunden werden können. Farbe und Material der gestreiften Tapeten konnten an zwei Stellen entdeckt werden: gestrichenes Baumwollgewebe und nicht Velourstapeten, wie in einer zeitgenössischen Schilderung zu lesen ist. Bei der Beleuchtung zeigt sich aber die Unmöglichkeit, den historischen Zustand zu rekonstruieren: Die Beleuchtungskörper an Stelle der Gasbeleuchtung mögen in den Abmessungen korrekt sein, wirken aber größer und plumper, von der Lichtcharakteristik gar nicht zu reden. Dasselbe gilt von den die originalen Kohlefaserlampen ersetzenden Glühbirnen. Der Fußboden, der auf den Fotos am ehesten nach dem braunen Linoleum aussieht, das in zeitgenössischen Amtsgebäuden verlegt war, wurde ratlos mit einem Eichenparkett belegt, weil sich im Schichtenaufbau kein Linoleum nachweisen ließ.

Aber das sind Details. Selbst wenn die Fälschung echter wäre als das Original: Das Café Museum von 1899 war ein Schritt nach vorn, das neu-alte Café Museum ist ein Schritt zurück. Dass gerade ein Architekt wie Loos, der wie kein anderer an der Gegenwart interessiert war, bei einer solchen Charade vorgeführt wird, tut besonders weh. Aber Loos scheint geahnt zu haben, dass die Angst der Wiener vor der Gegenwart unheilbar ist: „Mir bangt nicht für mich“, sagt er in einem Vortrag über das Haus am Michaelerplatz aus dem Jahr 1911, in dem er mit seinen Kritikern abrechnet. „Mir bangt für die Baukünstler in 100 Jahren. Wen werden sie davon in 100 Jahren mit dem Haus am Michaelerplatz erschlagen?“

Spectrum, Sa., 2004.01.03



verknüpfte Bauwerke
Café Museum - Revitalisierung

28. November 2003Christian Kühn
Spectrum

Durch und durch und durch

Beratungsinseln statt eines durchgehenden Verkaufspults, ein großer Bereich für Selbstbedienung, ein „gläsernes“ Labor: „Zum Löwen von Aspern“, die etwas andere Apotheke von ARTEC.

Beratungsinseln statt eines durchgehenden Verkaufspults, ein großer Bereich für Selbstbedienung, ein „gläsernes“ Labor: „Zum Löwen von Aspern“, die etwas andere Apotheke von ARTEC.

Der alte Ortskern von Aspern - das klingt ein wenig nach guter alter Zeit. Hier hat im Jahr 1809 Erzherzog Karl in einer erfolgreichen Schlacht den Mythos von der Unbesiegbarkeit Napoleons zerstört, und weil Österreich an erfolgreichen Mythenzerstörern nicht gerade reich ist, führen ihn unsere Schul-bücher seither als den „Löwen von Aspern“. Dem Ort hat das ein Denkmal und einen Namen mit gutem Klang beschert, auch wenn das ehemalige Angerdorf heute längst in die Gemeinde Wien eingegliedert ist.

Von der guten alten Zeit ist in Aspern heute wenig zu spüren. Durch die enge Hauptstraße wälzt sich der Verkehr, viele Häuser haben ihre letzte Renovierung schon einige Zeit hinter sich. Seit kurzem findet sich hier ein Neubau, der zur Aufwertung des Orts beiträgt, gerade weil er sich - in architektonischer wie in funktioneller Hinsicht - nicht an die Spielregeln der guten alten Zeit hält. Wilhelm Schlagintweit, der Bauherr, hat nur bei der Namengebung eine Konzession an den Genius Loci gemacht: „Zum Löwen von Aspern“ heißt die Apotheke, die er hier von ARTEC Architekten entwerfen ließ. Das inhaltliche Programm weicht aber einigermaßen von dem ab, was man sich üblicherweise unter einer Apotheke vorstellt.

In den meisten Apotheken bildet die „Tara“, das große Verkaufspult, eine natürliche Grenze zwischen dem Apotheker und seinen Kunden. Platz für Beratungen ist knapp, in der Regel gibt es kaum Möglichkeiten für den Kunden, sich im Kosmetik- und Nahrungsmittelbereich selbst zu bedienen, wie er es heute aus den meisten Einzelhandelsgeschäften gewohnt ist. Dass Apotheken sich in ihrer Struktur weit weniger verändert haben als die Geschäftslokale anderer Branchen, liegt nicht an der besonderen Ware, die hier verkauft wird, sondern vor allem an der geringen Konkurrenz auf einem staatlich geregelten Markt. Aber auch hier ändern sich die Rahmenbedingungen: Die Handelsspannen sinken, und auch der Internethandel wird zumindest mittelfristig den Umsatz reduzieren.

Um hier wirtschaftlich zu bestehen, positioniert sich die Apotheke in Aspern als Gesundheitszentrum: Im Verkaufsraum finden sich Beratungsinseln anstelle eines durchgehenden Verkaufspults und zusätzlich ein großer Bereich für Selbstbedienung. Die Kunden können bei der Herstellung von Salben und Tinkturen zusehen. Ein kleiner Vortragssaal dient für Beratungs- und Kulturveranstaltungen, und am Samstag wird das Angebot durch einen „Bauernmarkt“ ergänzt. Auf dem Dach hat Schlagintweit einen Kräutergarten nach benediktinischem Muster anlegen lassen, in dem die Pflanzen nach den Krankheiten, zu deren Heilung sie eingesetzt werden können, geordnet sind. Ein Cartoon, mit dem die Apotheke für sich wirbt, zeigt einen zufriedenen Kunden mit dem Ausspruch: „Das ist keine Apotheke, das ist ein Event.“

Es ist kein Zufall, dass die Apotheke Anfang November nicht von der Gesundheitsstadträtin, sondern von Wiens Planungsstadtrat Schicker eröffnet wurde. Private Initiativen zur Schaffung von öffentlichem Raum sind gerade in den Randbezirken besonders wichtig, denen das Zentrum immer noch kulturelle Identität absaugt. Eine Apotheke mit Programm kann genauso gegen diesen Abfluss beitragen wie eine Schule oder ein Sozialzentrum.

Architektonisch haben ARTEC das anspruchsvolle Konzept ihres Bauherren kongenial umgesetzt und eine Apotheke entworfen, durch die man durch und durch sehen kann. Streng genommen, hat sie weder Wände - wenn man von den beiden Feuermauern absieht - noch ein Dach, denn die halbrunden Betonelemente, mit denen das Gebäude an den Schmalseiten abgeschlossen wird, lassen sich kaum in die Kategorie „Dach“ einordnen. Eigentlich handelt es sich um Träger, die die ganze Breite des Grundstücks von rund 15 Metern überspannen und es ermöglichen, die Fassade darunter stützenfrei auszubilden. Um die von den Architekten geforderte glatte und wasserdichte Oberfläche zu erzielen, mussten sie als Fertigteile hergestellt und auf der Baustelle mit der Ortbetondecke verbunden werden. Das klingt einfach, ist allerdings bei größeren Spannweiten höchst kompliziert umzusetzen. Oskar Graf, der bei diesem Projekt für die Tragwerksplanung und die Bauphysik verantwortlich war, hat in dieses Detail viel Zeit investiert. Teurer als ein konventionelles Konzept mit Mittelstützen ist die Lösung aber nicht geworden, denn immerhin hat man sich die zusätzlichen Fundamente erspart, die für die konventionelle Lösung nötig gewesen wären.

Das Thema das stützenfreien Raums haben ARTEC konsequent durchgezogen. Im Verkaufsraum hängen die Regale des Selbstbedienungsbereichs von der Decke und wirken durch ein raffiniertes Beleuchtungskonzept wie Lichtkörper. Dahinter schließt einer der beiden Höfe an, die ARTEC in den Baukörper eingeschnitten haben. Im Sommer lässt sich dieser Freiraum durch große Schiebetüren in den Verkaufsraum einbeziehen.

Auf der zweiten Ebene liegen die Sozialräume, das Büro für den Chef und der Ausgang in den Kräutergarten. Dass es ARTEC auch hier gelungen ist, die räumlichen Grenzen zwischen den Funktionsbereichen aufzuheben, ohne die Funktionen zu beeinträchtigen, ist ein besonderes Kunststück. Weder die Garderoben noch der Schlaf-bereich für die Nacht- und Wochenenddienste sind räumlich fix abgetrennt, ohne dass sich daraus Nachteile ergeben würden. Der Gewinn besteht in einer räumlichen Großzügigkeit, die jedem der Funktions-bereiche gewissermaßen gratis zugute kommt. Besonders wichtig ist in solchen offenen Strukturen eine gute Haustechnikplanung, für die hier Christian Koppensteiner, ein langjähriger Partner von ARTEC, verantwortlich war. Großflächige Heizung und Kühlung über die Betondecken sorgen für ein angenehmes Raumklima.

Seit der Eröffnung der neuen Apotheke hat sich der Umsatz - gegenüber dem Vorgängerlokal, das sich in einem Altbau befand - um 30 Prozent erhöht. Die Kunden schätzen die Offenheit und Großzügigkeit, den Wegfall der Barrieren und die bessere Beratung. Nur wenige fragen angesichts der Sichtbetonoberflächen an Decke und Feuermauern, warum man den Bau nicht zu Ende geführt habe. Für mehr Aufregung sorgen die glatten Betonträger, die das Erscheinungsbild der Apotheke zur Straße hin prägen. „In einem Vorarlberger Bauerndorf würde man solche Architekten mit Mist-gabeln davonjagen“, schrieb ein aufgebrachter Anrainer. Dass Vorarlberger Bergdörfer inzwischen für ihre Dichte an guter zeitgenössischer Architektur bekannt sind, hat sich offenbar noch nicht bis in den 22. Bezirk herumgesprochen. Zur Beruhigung: Hier wollte niemand provozieren, niemand sich ein Denkmal setzen. Bauherr und Architekten haben mit heutigen Möglichkeiten versucht, auf die Bedingungen und Bedürfnisse der Zeit zu reagieren. Unter Vorarlberger Bergbauern - immer schon pragmatischer als wir Ostösterreicher - gibt es darüber schon längst keine Debatte mehr: Wer sich in der trügerischen Sicherheit überkommener Formen einmauert, hat keine Zukunft.

Spectrum, Fr., 2003.11.28



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Apotheke „Zum Löwen von Aspern“

03. Oktober 2003Christian Kühn
Spectrum

Es bleibt alles besser

Ein ambitionierter Bauherr, eine kluge Wettbewerbsausschreibung, ein raffinierter Entwurf: Der Kaipalast von Henke und Schreieck beweist, dass dem guten Alten ein noch besseres Neues folgen kann.

Ein ambitionierter Bauherr, eine kluge Wettbewerbsausschreibung, ein raffinierter Entwurf: Der Kaipalast von Henke und Schreieck beweist, dass dem guten Alten ein noch besseres Neues folgen kann.

In der historischen Altstadt neu zu bauen war immer schon schwierig. Einerseits ist die Konkurrenz hier besonders hoch: Wer Geld und Macht hatte, wollte das von jeher im Zentrum der Stadt zum Ausdruck bringen und beauftragte die besten Architekten der jeweiligen Epoche. Andererseits ist die Öffentlichkeit hier besonders wachsam: Die Altstadt ist immer schön, wie sie ist, und jeder Neubau steht grundsätzlich unter dem Verdacht, ein vertraut gewordenes Bild zu zerstören.

Dieses Spannungsfeld zwischen Baulust und Bildbewahrung ist seit dem 19. Jahrhundert ein Faktor der Stadtentwicklung, inzwischen verregelt in einer Vielzahl von Gesetzen zum Denkmal- und Ensembleschutz. In Wien erlaubt die Bauordnung die Einrichtung von Schutzzonen, zu denen der erste Bezirk selbstverständlich gehört, und seit dieser auch noch zum Weltkulturerbe erklärt wurde, darf der Wiener sich im Gefühl sonnen, dass die Welt mit Argusaugen beobachtet, was er mit seiner Innenstadt anstellt.

Und siehe da: Trotz Schutzzone und Weltkulturerbe wird hier noch immer gebaut. Der Entwicklungsdruck ist höher als je zuvor. Wer Geld und Macht hat, drängt wie gehabt ins Zentrum, das Hotel Sacher will ein bisserl was draufsetzen, Häuser werden entkernt, um den Bedürfnissen des Handels nach großen Flächen entgegenzukommen, und in der Dachzone der Innenstadt - deren üppige skulpturale Ausstattung nach dem Krieg nie wieder hergestellt wurde - entstehen luxuriöse Wohnungen. Kurz: Die Stadt lebt und verändert sich. Und ab und zu darf, wie derzeit am Franz-Josefs-Kai zu besichtigen, sogar ein ganzes Haus abgerissen und neu gebaut werden.

Das abgerissene Haus, der sogenannte „Kaipalast“, 1912 nach einem Entwurf des Architekten Ignaz Nathan Reiser errichtet, war durchaus denkmalverdächtig. Es handelte sich um eines der frühen Stahlbetongebäude in Wien, bei denen dieses Material sowohl im Inneren als auch an der Fassade zum Einsatz kam. Stilistisch dem Späthistorismus zuzuordnen, war das Gebäude zugleich ein Experimentalbau, bei dem die Möglichkeiten des neuen Materials Stahlbeton ausgereizt wurden. Die Decken maßen an den dünnsten Stellen nur acht Zentimeter und hatten im Lauf der Jahre immer neue Schichten aufgedoppelt bekommen, um den statischen Vorschriften zu genügen. Ein Brand in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs hatte das Gebäude noch zusätzlich in seiner Substanz belastet.

Als bekannt wurde, dass sein Abbruch geplant war, formierte sich eine Initiative zur Rettung des Kaipalasts. Die MA 19 - Magistratsabteilung für Stadtgestaltung - beauftragte ein Gutachten, das eine Sanierung für möglich erklärte, wenn auch unter hohen Kosten. Die Zürich Kosmos Versicherung als Eigentümerin des Objekts hatte allerdings wenig Lust, den Bau, den sie bereits 1930 erworben und seither betrieben hatte, instand zu setzen. Für ein zeitgemäßes Bürohaus war er vom Grundriss her veraltet, das Treppenhaus dunkel, eine bauphysikalisch korrekte Sanierung der Fassade unter Bewahrung ihres alten Erscheinungsbilds so gut wie unmöglich.

Und außerdem hatte die Versicherung den Ehrgeiz, den schon alle früheren guten Bauherren in der Innenstadt hatten, nämlich ein besonderes Gebäude zu realisieren, das seine Nachbarn an Qualität übertrifft. Ob das gelungen ist, wird die Öffentlichkeit ab nächster Woche beurteilen können, wenn der neue Kaipalast offiziell eröffnet wird. Noch sind die geschoßhohen Lamellen aus satiniertem Glas, die jeweils paarweise vom Innenraum aus gesteuert werden können, geschlossen. Hinter dieser scheinbar hermetischen - aber im Gebrauchszustand durch die unterschiedlichen Stellungen der Lamellen sehr lebendigen - Fassade haben die Architekten Dieter Henke und Martha Schreieck ein raffiniertes Raum kunstwerk errichtet. Die beiden unteren Geschoße sind durchgehend verbaut und werden als Geschäft vermietet. Die Ebenen darüber sind um einen überdachten Hof herum gruppiert, an dem auch das gut belichtete Treppenhaus liegt. Trotz der scheinbaren Homogenität der Fassade ist jede dieser Ebenen etwas unterschiedlich. Es gibt zwei Durchbrüche vom Hof nach außen, die sich in der Fassade als große Öffnungen abzeichnen. Die Arbeitsplätze, die tief im Gebäude am Innenhof liegen, erhalten dadurch einen Blick nach außen auf den Kai, und weil sie zusätzlich noch am gut proportionierten und durch einige Terrassen auch gut nutzbaren Innenhof partizipieren, sind sie erstaunlicherweise mindestens ebenso attraktiv wie ein Fensterplatz an der Straße.

Durch das zentrale Stiegenhaus sind die Bürogeschoße leicht teilbar und können jeweils in zwei unabhängigen Einheiten vermietet werden. Überhaupt war die Flexibilität der Grundrisse ein wesentliches Anliegen: Alle technischen Einrichtungen bis hin zur Klimatisierung wurden so ausgeführt, dass jederzeit eine Umrüstung vom Großraum zu Einzel- oder Gruppenbüros erfolgen kann. Zur Flexibilität trägt auch das Konstruktionssystem bei, das mit wenigen Stützen auskommt und dafür im Parapetbereich der Fassade Träger anordnet, mit denen sich beispielsweise die weite Auskragung an der Ecke bewältigen lässt. Als Tragwerksplaner sind die Bauingenieure Gmeiner und Haferl zu nennen, bewährte Partner von Henke und Schreieck, die von der Konzeptphase an in ihre Projekte eingebunden sind.

Als besondere Ingenieurleistung schwebt über dem Gebäude parallel zum Kai ein verglaster Quader, der in den Skizzen der Architekten mit dem Ringturm in Verbindung gebracht wird. So wie der vertikale Quader des Ringturms nach oben hin aus der Gründerzeitlogik ausbricht, aber nicht mehr sein will als ein Eckstein der Ringstraße, bricht auch die kleine freche Schachtel über dem Kaipalast aus dieser Logik aus und bleibt trotzdem im Rahmen der sehr heterogenen Wiener Dachlandschaft. Der Ausnahmegenehmigung, die wegen einer Überschreitung der Baulinie dafür nötig war, haben auch die Anrainer rasch zugestimmt. Denn vom Volumen her unterschreitet das Gebäude in der Dachzone bei weitem das, was an dieser Stelle möglich gewesen wäre. Hätte der Bauherr darauf bestanden, dieses Volumen auszunutzen, wäre bereits die obere Dachkante um ein Stück höher; und wäre dann noch unter 45 Grad nach oben gebaut worden, hätte das den Dachwohnungen in der Nachbarschaft viel Licht und Ausblick geraubt.

Dass hier nicht das Maximum an Kubatur erzwungen wurde, liegt auch an einer klugen Wettbewerbsausschreibung. Im Bewusstsein, dass es um ein höchst sensibles Projekt geht, ließ sich die Zürich Kosmos Versicherung dahingehend beraten, auf ein genaues Raum- und Funktionsprogramm für ihr Büro- und Geschäftshaus zu verzichten, und gab auch keine Mindestkubaturen vor. Das hat sich gelohnt: Gewonnen hat ein Projekt, das bei weitem nicht die größte Fläche erreichte, aber die höchste Qualität. Wenn das Weltkulturerbe Wien Innere Stadt trotz des massiven Entwicklungsdrucks bleiben will, was es ist, nämlich ein Ensemble herausragender Bauten aus allen Jahrhunderten, wird es sich am Kaipalast ein Beispiel nehmen müssen.

Spectrum, Fr., 2003.10.03



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Büro- und Geschäftshaus k47

15. September 2003Christian Kühn
Spectrum

Jenseits des Lofts

Braucht es wirklich eine neue Gesellschaft, um die typologische Einfalt im heutigen Wohnbau sinnvoll zu durchbrechen? Nasrine Serajis Wohnbau in Wien-Penzing beweist, dass etwas Baukunst dafür ausreicht.

Braucht es wirklich eine neue Gesellschaft, um die typologische Einfalt im heutigen Wohnbau sinnvoll zu durchbrechen? Nasrine Serajis Wohnbau in Wien-Penzing beweist, dass etwas Baukunst dafür ausreicht.

Standardisierung im Wohnbau ist für viele Bauträger die natürlichste Sache der Welt. Sind Menschen nicht annähernd gleich zugeschnitten, leben in Kleinfamilien und haben alle ein Bedürfnis nach Licht, Luft, Sonne und ein bisschen Grün? Mehr als drei Wohnungstypen braucht man im Grunde für sie nicht, und stapelt man die übereinander, so hoch es die Bauordnung eben zulässt, ist ein Wohnbau entstanden.

Ein Unbehagen an dieser Form des Wohnens hat es schon immer gegeben. In der Gründerzeit wurden die immer gleichen Grundrisse der Mietskasernen in vielfältig variierte historische Fassaden verpackt, um ihren eigentlichen Charakter zu verschleiern. Der soziale Wohnbau nach dem Zweiten Weltkrieg war sich seiner guten Sache so sicher, dass er glaubte, auf diese Camouflage verzichten zu können, und hat damit jämmerlich Schiffbruch erlitten, nicht nur in ästhetischer, sondern auch in sozialer Hinsicht. Neue Verpackungen für den nicht nur in den Städten, sondern immer öfter auch an den Rändern kleinerer Gemeinden wuchernden Geschoßwohnbau sind längst gefunden, von postmodern bis rustikal. Die Inhalte sind aber nach wie vor von deprimierender typologischer Einfalt, woran auch die wenigen ambitionierten Ausnahmen nichts ändern können.

Aber warum sollte sich überhaupt etwas ändern? Hat nicht auch die anonyme Architektur, etwa das bäuerliche Wohnhaus im alpinen Raum, jahrhundertelang die gleichen Typologien verwendet? Und werden nicht auch im Einfamilienhausbau, der den Bauherren doch weit größere Freiheiten bieten würde, in der Regel nur die üblichen Stereotypen wiederholt? Warum sollte im Geschoßwohnbau Vielfältigeres entstehen?

Darauf gibt es zumindest zwei Antworten. Erstens haben sich die sozialen Strukturen verändert. An die Stelle der Familie als kleinster Einheit der Gesellschaft und damit des Wohnbaus ist der neutralere Begriff des Haushalts getreten, der höchst unterschiedliche Formen des Zusammenlebens bezeichnen kann: traditionelle Familienstrukturen, allein Erziehende, Singles unterschiedlichen Alters, Kinder, die nach einer Scheidung in zwei Haushalten gleichzeitig leben. Alle haben sie spezifische Wohnbedürfnisse, die noch dazu einem raschen Wandel unterliegen und im Einfamilienhaus kaum bedient werden können.

Eine andere Antwort findet sich auf der symbolischen Ebene. Anders als in der anonymen Architektur, in der Typologien Geborgenheit in einer Tradition ausdrückten, sind die Standards des heutigen Wohnbaus ein Ausdruck der Durchrationalisierung der Welt nach rein ökonomischen Gesichtspunkten. Keine noch so bunte Fassade kann darüber hinwegtäuschen, dass das hoch gestapelte, rationalisierte Glück nicht mehr sein kann als das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl. Nur wenn eine Wohnung auch unbestimmten Raum - ja sogar Einschlüsse von Unvernunft - enthält, Raum, den sich die Bewohner erst langsam aneignen müssen, bietet sie die Chance auf eine eigenständige Bestimmung von Glück.

Der Wiener Wohnungsmarkt hat auf diese Entwicklungen nur in Ansätzen reagiert. Es gibt Themensiedlungen, die sich einzelner Aspekte annehmen und sich als „frauengerecht“ oder „autofrei“ positionieren, es gibt Versuche, durch das Angebot von „Loftgrundrissen“ ein flexibleres Wohnen zu ermöglichen, und es gibt radikale Konzepte, den Warencharakter des Wohnens auf die Spitze zu treiben und nur noch neutrale Hüllen zu bauen, die erst durch schicke Oberflächen und flotte Werbesprüche mit Bedeutung aufgeladen werden. In der breiten Masse des Angebots dürften sich alle diese Strategien in abgeschwächter Form durchsetzen: simple Grundrisse, heftiger Oberflächenzauber und professionelles Marketing, das jedem Projekt eine besondere „Story“ mitgibt, die es einzigartig erscheinen lässt. Dass sich auf diese Art alles verkaufen lässt, haben die Wohnungen in den Gasometern in Wien-Simmering eindrucksvoll bewiesen.

Angesichts dieses Trends ist es erfreulich, auf ein Projekt zu stoßen, das höchst erfolgreich eine ganz andere Strategie verfolgt, die typologische Starre des Wohnbaus aufzubrechen. Nasrine Seraji, bis vor einem Jahr Leiterin einer Meisterklasse an der Akademie der bildenden Künste und heute Dekanin der renommierten Architekturschule der Cornell-Universität in den USA, hat in Wien-Penzing für die Firma Mischek einen Wohnbau mit 50 Einheiten entworfen, dessen Qualität auf nichts anderem beruht als auf dem etwas antiquiert klingenden Begriff der „Baukunst“: kein neues soziales Konzept, aber sorgfältig gestaltete Übergangsbereiche zwischen öffentlichen, halböffentlichen und privaten Bereichen; keine neutralen Lofts, aber ein enormes Angebot an unterschiedlichen Wohnungstypen mit eigenwilligen Grundrissen; kein plakatives Thema, dafür ebenso präzise wie sensibel ins Gelände gesetzte Baukörper.

Das Grundstück liegt an der Linzer Straße in Gehweite der U-Bahnstation Hütteldorf. Im Westen ist es vom Ferdinand-Wolf-Park und einem kleinen Bach begrenzt. Die Baukörper orientieren sich an der Logik des Grundstücks: Während sie im Süden von der Grundstücksgrenze abrücken, um einen besonnten Freiraum zu bilden, folgen sie ansonsten genau der Baulinie. Seraji hat diese mehrfach ihre Richtung ändernde Linie zum Ausgangspunkt für die Geometrie der Gebäude gemacht, was im Grundriss verwirrend aussieht, in natura aber einen selbstverständlichen Eindruck macht. Jedes der drei Gebäude hat ein eigenes, gut belichtetes Foyer, in dem man sich gerne länger aufhält. Hier ist tatsächlich alles Architektur, sogar der Abstellraum für die Fahrräder, der raffinierte Durchblicke zum Treppenhaus erlaubt und sich an einer Stelle zu einer Raumhöhe von fünf Metern aufschwingt.

„Verschwendung“ in der Vertikalen ist ein Thema, das Seraji auch in vielen Wohnungen in diesem Projekt durchspielt, in denen ein Teil des Wohnraums plötzlich die doppelte Raumhöhe erhält. „Constructing the Void“ - das Herstellen des Leerraums - ist ein zentrales Thema in Serajis Architekturauffassung. „Void“ bezeichnet dabei nicht einfach ein bisschen mehr Luft, sondern das Unbestimmte, Offene und Namenlose, das sich der schnellen funktionellen und symbolischen Zuordnung entzieht. Aus der Kombination von schrägen Raumachsen und über mehrere Geschoße reichenden Wohnungstypen hat Seraji ein räumliches Puzzle geschaffen, das sie virtuos und ohne Rest auflöst. Während bei vielen Beispielen dekonstruktiver Architektur die - manuell oder vom Computer - gezeichnete Linie unangenehm spürbar bleibt, ist hier der Raum entwurfsbestimmend. In Serajis Wohnungen sitzen Blickbeziehungen und Bewegungsfolgen, es gibt keine Schräge, die nicht räumlich sinnvoll eingesetzt wäre.

Nur in einem Punkt ist die Aussage, an diesem Bauwerk sei alles Architektur, zu relativieren: Die Qualität im Großen setzt sich nicht in den Details fort. Das liegt nicht am mischekschen Fertigteilsystem, das auch hier zum Einsatz gekommen ist, sondern an der generell niedrigen Erwartungshaltung, die man in Ostösterreich ans Detail stellt - in Vorarlberg wären einheitliche Fensterprofile aus Kunststoff, wie sie einem hier ganz gleich für welches Fensterformat zugemutet werden, schlicht unvorstellbar. Der für einen frei finanzierten Wohnbau in dieser Lage relativ moderate Preis von 2200 Euro pro Quadratmeter hätte nur um ein paar Prozent überschritten werden müssen, um hier auch im Detail Architektur zu realisieren.

Die Gesamtqualität des Projekts schmälert das aber nur unwesentlich. Es beweist, dass Baukunst auch heute noch im Wohnbau möglich und sinnvoll ist. Schade, dass Nasrine Seraji nicht mehr Gelegenheiten bekommen hat, in Wien architektonische Spuren zu hinterlassen.

Spectrum, Mo., 2003.09.15



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Wohnhausanlage Linzerstrasse

16. August 2003Christian Kühn
Spectrum

Strategie des Anpickens

Fünf Millionen Kubikmeter Stadt zeigt eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien. Städtebau zeigt sie nicht. Vielleicht, weil es ihn nicht gibt? Ein Zuruf ins Sommerloch.

Fünf Millionen Kubikmeter Stadt zeigt eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien. Städtebau zeigt sie nicht. Vielleicht, weil es ihn nicht gibt? Ein Zuruf ins Sommerloch.

Städtebau - schreibt Rem Koolhaas in seinem Essay „Whatever happened to Urbanism?“ aus dem Jahr 1994 - ist eine tote Disziplin. Ihre Vertreter sind Spezialisten für Phantomschmerzen geworden: Ärzte, die über den Gesundheitszustand eines längst amputierten Körperteils diskutieren. Das Wachstum der Städte hat die Disziplin überrollt. Eine Zeit lang habe sie sich noch der Hoffnung hingegeben, durch massenhafte Wiederholung ihre alten Ideale von Ordnung und Schönheit am Leben erhalten zu können. Immer wieder habe sie behauptet, aus ihren Fehlern gelernt zu haben und mit einem neuen, besseren Anfang aus der Misere ausbrechen zu können. Erreicht habe sie damit nicht mehr, als auch die Idee des neuen, besseren Anfangs endgültig zu diskreditieren.

Heute leben wir, so Koolhaas, in einer Welt, in der es keinen Städtebau mehr gibt, sondern nur noch Architektur, sogar mehr Architektur als je zuvor, immer hübscher herausgeputzt, um einen Anschein von Ordnung zu wahren. Aber dieser lenke nur vom Verlust der städtebaulichen Dimension ab, die als Nährboden von Erneuerung und Erfindung durch kein noch so schönes Objekt kompensiert werden könne.

Die aktuelle Situation Wiens, wie sie derzeit in einer Ausstellung im Architekturzentrum dokumentiert ist, liefert einen Beleg für Koolhaas' Thesen. Unter dem Titel „5 Millionen Kubikmeter Wien“ werden 16 Projekte präsentiert, die laut Pressetext „große städtebauliche Auswirkungen haben und somit das künftige Gesicht dieser Stadt prägen werden“. Von Stadtplanung ist in der Ausstellung aber nichts zu sehen. Eine Übersichtskarte zeigt zwar, wo sich die Projekte befinden. Warum sie aber jeweils gerade dort entstehen, inwiefern sie dabei mit dem Stadtentwicklungsplan übereinstimmen und was für Konsequenzen sie für die Bewohner des Umfelds haben, davon erfährt man in der Ausstellung nichts. Wie überhaupt die Besucher mit der Frage allein gelassen bleiben, was sie von der gezeigten Entwicklung halten sollen. Kritik kommt in der Ausstellung nicht einmal in Ansätzen vor.

Aber vielleicht wollte das AzW jede Illusion darüber vermeiden, die Stadtbewohner hätten noch einen wirklichen Einfluss auf das, was da vor ihren Augen entsteht. Das vorläufig gescheiterte Projekt Wien-Mitte - das in der Ausstellung nicht zu sehen ist - dürfte die Ausnahme sein, die die Regel bestätigt. Und dort ging es ja eher um den Schutz der Vergangenheit vor der Architektur als um die Sicherung der Zukunft durch sie. Und nur Letzteres kann man ja wohl als Stadtplanung bezeichnen.

Dass die Verwertungslogik der Immobilienentwickler heute die Stadtentwicklung bestimmt, steht außer Frage. Dass die bisherigen Konzepte der Stadtplanung nicht mehr funktionieren, ebenso. Wenn niemand mehr an die Verbindlichkeit der Planung glaubt, heißt das aber noch lange nicht, dass es keine Planung mehr gibt. Sie verwandelt sich nur - wie Koolhaas argumentiert - von einer technischen Leistung in eine kulturelle, ideologische und politische. Sie muss Risken eingehen, Potenziale und Freiräume eröffnen, in denen sich mit der Gier nach Renditen Katz und Maus spielen lässt.

Von diesem Zustand ist Wien noch ein gutes Stück weit entfernt. Zumindest ist der Ausgang des Katz-und-Maus-Spiels in den meisten Fällen ebenso simpel erklärbar wie vorhersehbar. Woran liegt es etwa, dass nahe liegende und gut erschlossene Entwicklungsgebiete wie der Nordbahnhof, Wien-Mitte und die Aspanggründe, für die bereits seit Jahren Projekte vorliegen, nicht vom Fleck kommen, während auf schlechter gelegenen Arealen der Bau von tausenden Quadratmetern bereits begonnen hat? Wie kann es sein, dass die PORR AG am Laaerberg die Bewilligung zur Errichtung von 200.000 Quadratmetern Nutzfläche an einem Standort bekommt, der weit weg von hochrangigen öffentlichen Verkehrsmitteln liegt und die A 23 massiv mit zusätzlichem Verkehrsaufkommen belastet? Dass der ehemalige Vizebürgermeister Hans Mayr bis vor kurzem Vorsitzender des Aufsichtsrats der PORR war, wird der Flächenwidmung nicht geschadet haben. Die von den Projektbetreibern betonte Intention, „zwei Stadtteile, die durch die A 23 getrennt waren“, endlich wieder zusammenwachsen zu lassen, ist dagegen mehr als fragwürdig - als ob man nicht schon immer über eine Fußgängerbrücke bequem in den Laaer Wald gekommen wäre.

Um keine Missverständnisse entstehen zu lassen: Eine offensive Einmischung der Politik in die Stadtplanung ist unter den heutigen Bedingungen notwendig und berechtigt, um die Investitionsströme im Interesse der Stadt zu lenken. Angesichts der meisten (und vor allem der größten) im AzW gezeigten Projekte gewinnt man aber den Eindruck, dass die Politik gar nicht mehr artikulieren kann oder will, worin die Interessen der Stadt bestehen. Hauptsache, es wird investiert, so viel und so rasch wie möglich - und am besten von den richtigen Leuten.

Dass dabei immer wieder dieselben Akteure - sowohl Investoren wie Architekten - profitieren, regt längst niemanden mehr auf, genauso wenig die Tatsache, dass Hans Hollein als Architekt in viele jener Großprojekte involviert ist, für deren kritische Bewertung er als Vorsitzender des Fachbeirats für Stadtplanung und Stadtgestaltung zuständig wäre.

Wenn die peripheren Standorte aber erst einmal entwickelt sind, wird es für die innere Stadtentwicklung auf Grund des Überangebots viel schwerer werden, Renditen zu erwirtschaften, vor allem wenn der aktuelle Büroflächenboom, in den sich die Branche hineinsteigert wie einst beim Bau von Kinocentern, wieder realistischeren Erwartungen gewichen ist.

Die Architektur nimmt in diesem Spiel brav die Rolle ein, die ihr Koolhaas in seinem Essay vorgeworfen hat. Sie versucht, auf hohem Niveau zu kaschieren. Freilich hat man kaum je die Entwurfsstrategie des „Anpickens“ in so reiner Form gesehen: Neutraler Investorenraster als Unterbau, oben drauf das gewisse Etwas in charakteristischer Handschrift. Viel mehr als ästhetisches Mittelmaß wird in der Summe aber nicht herauskommen, nicht zuletzt, weil die Mietpreise in Wien einfach nicht hoch genug sind, um Hochhäuser umzusetzen, die auch in der Ausführung mit den besten der Welt konkurrieren können.

In der Ausstellung machen daher auch jene Projekte den besseren Eindruck, die sich in der Horizontalen entwickeln, wie etwa das Zentrum St. Marx von Domenig/
Eisenköcks/Pyrker oder das Forum Schönbrunn von BUSarchitektur und Atelier Podsedensek. Dass der Blick durch ein offenes Fenster in einen gut gestalteten Innenhof interessanter sein kann als durch die Fix-verglasung eines klimatisierten Hochhauses in St. Marx aufs Kraftwerk Simmering, wird vielleicht erst den Benutzern auffallen, die in ein paar Jahren ihre Büros beziehen.

Alles in allem hinterlässt die Ausstellung einen zwiespältigen Eindruck. Immerhin ist die Bereitschaft da, wieder zu investieren, und nichts braucht die Branche so sehr wie Optimismus. Zugleich hat sich an der kraftlosen Patchwork-Ideologie der Stadtentwicklung, wie sie seit Jahren charakteristisch für Wien ist, nichts geändert. Sie hat nur monumentale Ausmaße erreicht. Ob das der Stadt gut tut, darf bezweifelt werden. Und die Stadt ist, so Rem Koolhaas am Ende seines Essays, „mehr als je zuvor alles, was wir besitzen“.

Spectrum, Sa., 2003.08.16

04. Juli 2003Christian Kühn
Spectrum

Was heißt schon Residenz?

Was kann Architektur beitragen, um ein „Altern in Würde“ zu ermöglichen? Neue Antworten darauf bietet Anton Schweighofers geriatrisches Zentrum im Wiener Kaiser-Franz-Josef-Spital.

Was kann Architektur beitragen, um ein „Altern in Würde“ zu ermöglichen? Neue Antworten darauf bietet Anton Schweighofers geriatrisches Zentrum im Wiener Kaiser-Franz-Josef-Spital.

Übers Altwerden spricht man nicht gern. Auch wenn Altern an sich keine Krankheit ist, so wird doch im Alter die Welt kleiner, stiller und einsamer. Wohnformen für das Alter müssen daher vieles kompensieren: den Verlust an Mobilität und sozialem Umfeld, an Selbstbestimmung und an Prestige. Es ist kein Zufall, dass die Immobilienbranche den Begriff der „Seniorenresidenz“ erfunden hat, in dem altersbedingte Unbeweglichkeit eine Art imperialer Aufwertung erfährt.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Wer je die geriatrische Station eines Krankenhauses besucht hat, weiß, wie schwer es ist, die Idealvorstellung von einem Altern in Würde zu realisieren. Das Gesundheitssystem hat auf den Wohnbedarf der immer größer werdenden Zahl alter Menschen, die zusätzliche medizinische Betreuung brauchen, nur langsam und unter dem Druck der hohen Kosten reagiert, die dadurch anfallen, dass teure Spitalsbetten von Pflegepatienten belegt werden.

Als die Gemeinde Wien 1996 über ihren Krankenanstaltenverbund einen Wettbewerb für die Planung eines geriatrischen Zentrums im Franz-Josef-Spital ausschrieb, ging es nicht nur um 240 neue Pflegeplätze, sondern auch um die Suche nach einem Bautyp, der zwar kein Spital sein sollte, aber auch mehr als ein reines Pflegeheim.

Wie immer im Krankenhausbau waren hohe Dichte, niedrige Baukosten und ein effizienter Betrieb maßgebliche Kriterien. Die Komplexität der Aufgabe wurde im konkreten Fall noch dadurch gesteigert, dass auf dem knappen Grundstück neben den Bettentrakten auch eine Großküche unterzubringen war, die mit 2200 Mahlzeiten pro Tag das gesamte Spital versorgen kann, sowie eine neue Haupteinfahrt mit angeschlossener Tiefgarage. Die Gesamtkosten lagen bei knapp 50 Millionen Euro.

Als Sieger aus dem Wettbewerb ging Anton Schweighofer hervor. Er ist kein „Krankenhausexperte“, auch wenn er Ende der 1970er Jahre mit dem Krankenhaus in Zwettl einen der wichtigsten, auch international nachgeahmten Beiträge zu diesem Thema geliefert hat. (Wie sich überhaupt zeigt, dass die herausragenden Krankenhausprojekte in Österreich nicht von den sogenannten Spezialisten stammen: Man denke etwa an die Krankenhäuser von Klaus Kada in Hartberg, von Günther Domenig in Bruck an der Mur oder von Katzberger und Loudon in Innsbruck.)

Hervorzuheben ist auch, dass Schweighofer im Franz-Josef-Spital als Generalplaner mit seinem leitenden Mitarbeiter Peter Weber für die Gesamtkoordination verantwortlich war, bei einem Projekt dieser Komplexität eine höchst strapaziöse Aufgabe. Aber ohne die Übernahme der planerischen Gesamtverantwortung wären viele zentrale Anliegen des Projekts nicht durchzusetzen gewesen.

Nähert man sich heute der Geriatrie über die neue Einfahrt ins Franz-Josef-Spital, erscheint - auch wenn das wohl kaum beabsichtigt war - der Begriff „Residenz“ nicht unangemessen. Es gibt eine imposante Auffahrt mit einer Pergola und einer Reihe großer Bäume (für die in der Tiefgarage entsprechender Wurzelraum geschaffen wurde) und eine insgesamt symmetrische Gliederung des Baukörpers. Konterkariert wird dieser Eindruck von den verwendeten Materialien: Die Pergola besteht aus verzinktem Stahl, die Fassade aus Holzpaneelen, die mit großen Glasflächen abwechseln. Als zusätzliche Schicht ist ein schmaler, durchlaufender Balkon mit Geländern ebenfalls aus verzinktem Stahl vorgeschaltet, der dem Schutz der Holzfassade und der Reinigung der Fenster dient. Die meisten Zimmer verfügen über kleine Wintergärten, deren Türen auf den Balkon aufgehen und damit im Sommer einen erweiterten Freiraum bilden.

Da es sich um den neuen Hauptzugang zum Franz-Josef-Spital handelt, hat Schweighofer besonderes Augenmerk auf die städtebauliche Situierung und die Ausformung der Freiflächen gelegt. Das geriatrische Zentrum orientiert sich nicht am Raster des Krankenhauses, sondern an der angrenzenden Wohnbebauung.

Als Drehpunkt zwischen den Systemen dient der Aufgang von der Tiefgarage, der als verglaster Pavillon ausgeführt ist. Die Bettenstationen sind in einem sechs-geschoßigen, rund 120 Meter langen Baukörper untergebracht, dem ein niedriges, von der begrünten Pergola überspanntes Sockelgeschoß vorgelagert ist. Im Erdgeschoß sind die beiden Trakte verbunden und nehmen Speisesäle, einen Andachtsraum und Räume für die ambulante Betreuung auf.

Eine besondere Innovation des Projekts liegt in der Raumaufteilung der Bettenstationen. Sie bietet den Bewohnern in der Diktion des Architekten nicht nur Zimmer und ein paar abgetrennte Sozialräume, sondern ein „Milieu“, einen erweiterten Lebensraum mit breiter Mittelzone als Gemeinschaftsraum, die ein gutes Drittel der Baukörpertiefe einnimmt und sich an einigen Stellen bis zur Fassade aufweitet. Umgekehrt ragen Nebenräume als niedrige, schrankartige Elemente in diese Mittelzone hinein und geben ihr eine rhythmische Gliederung.

Die Idee, die Wände der Zimmer zu dieser Mittelzone aus Glaselementen herzustellen, konnte Schweighofer nach langen Kämpfen mit den Betreibern zumindest teilweise durchsetzen. Auch bettlägrige Patienten sollten ursprünglich die Möglichkeit haben, ihr Zimmer in den halböffentlichen Raum zu erweitern, indem sie vom Bett aus per Knopfdruck die Wand ihres Zimmers öffnen. Jetzt kann zumindest von gehfähigen Patienten oder von den Schwestern eine vor das Glas gesetzte Faltwand aus Holz geöffnet werden, um einen Sichtkontakt herzustellen.

Auch die kleinen Wintergärten an der Fassade waren beim Bauherren - der stets das Kontrollamt der Gemeinde Wien als Kontrollinstanz gegen jede Art der Verschwendung hinter sich fühlte - nicht leicht durchzusetzen. Ausschlaggebend waren schließlich sehr pragmatische bauphysikalische Argumente. Dass für die Bewohner hier eine zusätzliche Möglichkeit geschaffen wurde, sich ihren Lebensraum durch Pflanzen zu gestalten, konnte allein nicht überzeugen.

Gerade die Aktivierung der Bewohner war für den Architekten aber ein zentrales Anliegen. Architektur kann das naturgemäß nicht allein leisten, aber sie kann die Möglichkeit dazu anbieten, und das bedeutet vor allem, Bereiche zu schaffen, deren Nutzung nicht von vornherein festgelegt ist.

Ein Beispiel dafür sind die lichtdurchfluteten Vorbereiche vor den Stationen direkt neben Treppe und Aufzügen: Ob dort in Zukunft Sitzgarnituren Hotelatmosphäre verbreiten werden oder ob es Arbeitstische für Gärtnerei und andere Hobbys geben wird, steht noch zur Debatte. Aber gerade im Angebot solcher Offenheiten liegt wie bei vielen anderen Bauten Schweighofers eine besondere Qualität.

Die Gemeinde Wien als Bauherr kann stolz sein, mit diesem Projekt eine außergewöhnliche, offene Architektur für alte Menschen realisiert zu haben. Jetzt muss sie deren Potenzial nur noch nutzen.

Spectrum, Fr., 2003.07.04



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Kaiser-Franz-Josef-Spital Geriatrisches Zentrum

12. April 2003Christian Kühn
Spectrum

Selber Schuld?

Als „Künstlerarchitekten“ verdächtig: Das Architektenduo „pauhof“ plant monumentale Großbauten und realisiert Installationen für den Augenblick.

Als „Künstlerarchitekten“ verdächtig: Das Architektenduo „pauhof“ plant monumentale Großbauten und realisiert Installationen für den Augenblick.

Architekten sind zum Optimismus verurteilt. Wer anderen Leuten die Umwelt herrichten möchte, hat gefälligst an eine bessere Zukunft zu glauben und entsprechend gestimmte Produkte in die Welt zu setzen: Wohnhäuser, die Harmonie und Sicherheit ausstrahlen, Bürogebäude, die als Symbole ewiger Prosperität in den Himmel ragen, oder öffentliche Bauten, denen Bürgernähe und Transparenz ins Gesicht geschrieben stehen. Je chaotischer und absurder die Welt rundherum erscheint, desto stärker wird die Sehnsucht nach etwas Ordnung zumindest im eigenen Haus.

Künstler sind an diesen stillschweigenden Vertrag zwischen Auftraggeber und Produzent nicht gebunden. In der Kunst gilt forcierte Harmonie als Kitsch und Ordnung nicht als primäres Ziel. Ernst zu nehmende Kunstwerke sind keine dekorative Ergänzung der Welt, sondern eine Herausforderung, die eigene Weltsicht neu zu bestimmen.

Dass Architekten die Grenze zwischen Kunst und Architektur, wie ich sie gerade dargestellt habe, oft überschreiten, ist klar. Sie haben dafür allerdings einen Preis zu bezahlen, der sich nicht zuletzt im negativen Beigeschmack des Worts „Künstlerarchitekt“ äußert. „Künstlerarchitekten“ interessieren sich bekanntlich nur für die Form und nicht für die Funktion, verstehen nichts vom Bauen und halten es für ein Zeichen ihres Künstlertums, das Budget um mindestens die Hälfte zu überziehen. Wer sich mit so jemandem einlässt, ohne ihm zumindest einen gestandenen Baumeister zur Seite zu stellen, ist selbst schuld.

Selbst schuld an seiner schlechten Auftragslage ist folgerichtig auch jeder Architekt, der sich offen als Künstler deklariert. Und die meisten Architekten haben inzwischen die Konsequenz gezogen und stellen die künstlerische Komponente ihrer Arbeit als private Liebhaberei dar, von der man besser nicht spricht. Das beruhigt so manchen Bauherren, macht es aber immer schwieriger, die Intention, die sich hinter der schlechten Nachrede des „Künstlerarchitekten“ verbirgt, aufzuklären. Der Schutz des Konsumenten vor wirren Ideen ist dabei nämlich nur ein vorgeschobenes Argument. In Wirklichkeit geht es darum, die Aufgabe der Architektur auf schöne Verpackung zu reduzieren und ihr andere Verantwortungen zu entziehen: die kritische Auseinandersetzung mit der funktionellen Aufgabenstellung; die wechselseitige Abstimmung von Form und Funktion, die keineswegs immer reibungslos sein muss, sondern ganz im Gegenteil auch Konflikte fassbar machen kann, die sich sonst nur verbergen, aber nicht auflösen lassen; und schließlich ein Kostenbewusstsein, das nicht die billigste, sondern die beste Lösung sucht.

Michael Hofstätter und Wolfgang Pauzenberger, die zusammen unter dem Kürzel „pauhof“ firmieren, sind seit Jahren mit dem Etikett „Künstlerarchitekten“ versehen. Bekannt wurden sie in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren mit einer Serie von
außergewöhnlichen Wettbewerbsprojekten, unter anderem für das Wiener Museumsquartier, für die Expo in Wien und den österreichischen Expo-Pavillon in Sevilla, für die Bibliothek in Alexandria, das Regierungsviertel in Berlin, die Revitalisierung der Linzer Tuchfabrik und die Kansai-Kan-Bibliothek in Japan. Diese Projekte, in der Regel durch aufwendige Metallmodelle repräsentiert, sind alles andere als Dienstleister-Architekturen. Für das Museumsquartier planten „pauhof“ beispielsweise, die Hofstallungen von Fischer von Erlach zum Stadtzentrum hin mit einem Baukörper zu verdecken, der in seiner Dimension auf die beiden Hofmuseen reagiert, und Teile des Museums in zwei über den Dächern schwebenden Brücken in den fünften Bezirk unterzubringen. Der Altbestand wäre weiterhin für die freie Szene zur Verfügung gestanden - im Vergleich zum heutigen, hinter Fischer von Erlach zusammengestauchten und zu Tode sanierten MQ eine visionäre Lösung.

Die Hoffnung, über diese Wettbewerbsbeiträge zu Aufträgen zu kommen, erwies sich als zu optimistisch. Realisiert haben „pauhof“ ein Wohnhaus in Oberösterreich, international viel beachtet und 1999 bei der Ausstellung „The Twentieth-century House“ in Glasgow neben einem Projekt von Herzog und De Meuron als wichtigstes privates Wohnhaus des letzten Jahrzehnts gewürdigt. Mit dieser Diskrepanz zwischen internationaler Reputation und desperater Auftragslage im Bereich der Architektur haben „pauhof“ zu leben gelernt und ihren Schwerpunkt erfolgreich in die Kunstszene verlagert, einerseits mit eigenen Ausstellungsbeiträgen, andererseits mit Ausstellungsgestaltungen, die sie in den letzten Jahren vor allem für die Wiener Secession und für die Kunsthalle Wien realisiert haben. Das jüngste Beispiel dieser Serie ist die Gestaltung der Walter-Niedermayr-Retrospektive in der Kunsthalle.

Zu Niedermayrs Arbeit haben „pauhof“ eine besondere Beziehung, nicht nur weil er zu ihrem berühmten Wohnhaus einen eigenen Fotoblock geschaffen hat. (Dass dieser vor drei Jahren, zusammen mit einigen von „pauhofs“ Stahlmodellen beim Transport zu einer Ausstellung in Tokio zerstört wurde, ist derzeit Gegenstand eines ebenso bizarren wie skandalösen Gerichtsverfahrens zwischen den Architekten und dem Außenministerium, das den Transport beauftragt hatte.) Architektur und Fotografie werden ja oft an entgegengesetzten Enden des künstlerischen Spektrums vermutet: Architektur als Produktion von Raum, Fotografie als dessen Abbild. Die Ausstellung zeigt, wie wenig Gültigkeit diese Differenzierung hat. Die leicht überbelichteten und dadurch flach wirkenden Fotografien Niedermayrs erzeugen durch die Gruppierung von unterschiedlichen Perspektiven desselben Motivs neue Räume, die vom räumlichen Aufbau des realen Motivs abweichen. Niedermayrs Blick erfasst Artefakte, die nicht zum Anschauen gemacht wurden - Skilifte, Krankenhausgänge, Baustellen -, und zeigt deren autonome Kraft. Eine ähnliche Recherche nach Strukturen, die dem Menschen nicht mehr vorspielen, die Welt sei nur für ihn und seinen Optimismus hergerichtet, zeichnet die Arbeiten von „pauhof“ aus.

Dass dabei keine menschenfeindliche Architektur entstehen muss, beweist die kongeniale Installation, die „pauhof“ für Niedermayrs Fotoblöcke (und zwei Videoinstallationen) in die Kunsthalle gesetzt haben, zwei labyrinthische Eingangszonen und ein großer, gut proportionierter Raum im Zentrum. Fotografieren lässt sich diese Architektur kaum, aber das Erlebnis eines Rundgangs macht klar, dass es „pauhof“ virtuos gelungen ist, die räumlichen Defizite der Kunsthalle zu überwinden. Es bleibt zu hoffen, dass man ihren Arbeiten bald wieder auch außerhalb des Museums begegnen wird.

[Die Ausstellung „Walter Niedermayr“ in der Kunsthalle Wien (VII., Museumsplatz 1) ist noch bis 27. April zu sehen (täglich 10 bis 19 Uhr, Donnerstag 10 bis 22 Uhr). ]

Spectrum, Sa., 2003.04.12

15. März 2003Christian Kühn
Spectrum

Sweet Home Alabama

Material: alte Autoreifen, Filzfliesen, Strohballen; Entwurfs-und Bauprozess: kollektiv; Ziel: „Let's make things better“. Das „Rural Studio“, dessen Arbeiten in einer Wiener Ausstellung zu sehen sind.

Material: alte Autoreifen, Filzfliesen, Strohballen; Entwurfs-und Bauprozess: kollektiv; Ziel: „Let's make things better“. Das „Rural Studio“, dessen Arbeiten in einer Wiener Ausstellung zu sehen sind.

Die „Wohnung für das Existenzminimum“ war eine jener Aufgaben, der sich zu Beginn des 20. Jahr hunderts die Avantgarde der Architekten verschrieben hatte. Für die Wohnungsnot in den großen Städten schien die einzig mögliche Antwort in der Industrialisierung und Standardisierung zu liegen, in der Verwandlung der Wohnung in ein massenhaft hergestelltes, billiges Industrieprodukt. Dass die quantitative Verbesserung der Wohnbedingungen nicht zwangsläufig zu einer besseren Welt führt, war nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch bald klar, und an Gegenbewegungen fehlte es nicht. „Die gerade Linie ist gottlos!“, postulierte Friedensreich Hundertwasser in seinem „Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur“ aus dem Jahr 1958 und reihte sich damit in eine Ablehnungsfront ein, die von konservativen Kritikern wie Hans Sedlmayr bis zu marxistischen wie Ernst Bloch reichte.

Wenn das Architekturzentrum Wien in seiner aktuellen Ausstellung Häuser zeigt, die aus alten Autoreifen, Windschutzscheiben, Filzfliesen und verputzten Strohballen bestehen, rührt es eine Diskussion innerhalb der Architekturszene auf, die seit vielen Jahrzehnten virulent ist und immer wieder aufbricht. Anstelle von Meisterwerken der Baukunst, von einsamen Genies entworfen, sind im Architekturzentrum Gebäude zu sehen, die Gruppen von Architekturstudenten der Universität von Auburn gemeinsam geplant und errichtet haben. Seit 1992 gehört ein Aufenthalt in Hale County, einem der ärmsten Bezirke des „Cotton State“ Alabama im Süden der USA, zum Ausbildungsprogramm der Architekturfakultät im Rahmen der „Studios“, wie in den USA die Entwurfsübungen heißen. Das „Rural Studio“ sollte den Studierenden die Möglichkeit geben, statt am Bauhof der Fakultät auf einer echten Baustelle mit echten Bauherrn zu arbeiten. Bisher haben rund 400 Studierende im zweiten Studienjahr und über 100 Diplomanden das „Rural Studio“ absolviert. Indem er mit dem „Studio“ nach Hale County übersiedelte, verfolgte Samuel Mockbee, der vor zwei Jahren verstorbene erste Direktor dieses Programms, aber noch eine zweite Agenda: Er wollte seine Studenten aus dem Mittelschichtmilieu, aus dem die meisten von ihnen stammen und das in der Regel auch ihren architektonischen Horizont bestimmt, herausführen und sie mit einer anderen sozialen Realität konfrontieren.

Die Studierenden bekamen es dabei mit Bauherrn zu tun, die mit ihren Familien in undichten Hütten ohne Sanitäreinrichtungen wohnten und vorerst nichts anderes wollten als ein Haus, in dem sie die Möbel bei Regen nicht in eine trockene Ecke des Zimmers schieben mussten. 1994 war das erste Projekt fertig gestellt, ein Wohnhaus für ein altes Ehepaar, das zuvor mit seinen Enkelkindern in einer derartigen undichten Hütte gewohnt hatte. Die Wände des Neubaus bestehen aus Heuballen, die in PU-Folie gewickelt und mit Draht gesichert sind. Eine dicke Putzschicht gibt dieser Konstruktion eine beachtliche Vertrauenswürdigkeit. Das Haus bietet eine große Veranda unter der offenen Holzkonstruktion des Dachstuhls, der teilweise mit Blech, teilweise mit Kunststoffplatten gedeckt ist. Für die Kinder gibt es drei tonnenförmige Nischen, die an der Rückseite an das Haus angedockt sind. Finanziert wurde das Haus - wie alle Projekte des „Rural Studio“ - teilweise aus Spenden, teilweise aus Mitteln von Sozialprogrammen.

Für Andrew Freear, den heutigen Direktor des „Rural Studio“, vereint bereits dieses erste Haus die zentralen Qualitäten: Neu-interpretation lokaler Traditionen, kollektiver Entwurfs- und Bauprozess, Verwendung von Recycling-Materialien. Die Wände eines anderen Wohnhauses bestehen etwa aus alten Nadelfilzfliesen, bei einer Kapelle kamen Autoreifen zum Einsatz, deren Kontur noch unter einer Betonschicht zu erkennen ist, bei einem Gemeindezentrum ist ein Teil des großen Flugdachs mit alten Chevrolet-Windschutzscheiben gedeckt, die wie Glasschuppen auf der Holzkonstruktion sitzen. In den letzten Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt des „Rural Studio“ vom Wohnbau auf Spielplätze und kleinere öffentliche Bauten, wie etwa einen Jugendclub und ein Beratungszentrum. Ökonomisch betrachtet, sind alle diese Projekte Architektur für das „Existenzminimum“, räumlich und formal gehen sie aber über die Mittelschichtästhetik, von der staatliche Wohlfahrtsprogramme in der Regel geprägt sind, weit hinaus.

Bei den meisten der Projekte ist auf den ersten Blick klar, dass es sich nicht um anonyme Architektur handelt, also nicht um Beispiele einer „Architektur ohne Architekten“, deren Qualitäten Bernhard Rudofsky in den 1950er Jahren in seinem berühmten Buch in Erinnerung rufen wollte, um die ästhetische Armut des Bauwirtschaftsfunktionalismus bloßzustellen. Es handelt sich um Architektenentwürfe, in denen sich Spuren der internationalen Entwicklung der letzten 20 Jahre mit einer spezifisch amerikanischen Tradition verbinden, die von Frank Lloyd Wright über Bruce Goff bis zu den Selbstbauhäusern der Hippies aus den 1970er Jahren reicht. Aus einer ähnlichen, spezifisch amerikanischen Tradition begründet sich auch die Selbstverständlichkeit, mit der im „Rural Studio“ soziale Probleme in einer „Let's-make-things-better“- Haltung adressiert werden, ohne die strukturellen Hintergründe besonders zu reflektieren: Dass im reichsten Land der Welt Menschen unter Verhältnissen leben müssen, die man sonst nur in einem Slum antrifft, erscheint dabei nicht als Skandal, sondern als individuelles Schicksal, aus dem man eben das Beste zu machen hätte. Aus europäischer Perspektive ist man mit dem Vorwurf der Sozialkosmetik, die nichts an den Ursachen zu ändern vermag, rasch zur Stelle. Das streitet Andrew Freear gar nicht ab, trotzdem handle es sich um mehr als Kosmetik, nicht zuletzt, weil man nicht abschätzen könne, welche Folgen die Erfahrungen der Studierenden in Hale County auf deren zukünftige Praxis haben würden. Dass alle Wiener Architekturschulen zugesagt haben, in den nächsten Monaten mit eigenen Projekten am Begleitprogramm zur Ausstellung mitzuwirken, wird Gelegenheit zum Vergleich der Ansätze geben.

Mit der Ausstellung über das „Rural Studio“ ist das Architekturzentrum seiner „glanzlosen“ Linie treu geblieben. Das ist sicher ein Risiko. Die nächste publikumswirksame Ausstellung über zeitgenössische Architektur ist ab Ende April ausgerechnet im Kunsthistorischen Museum zu sehen: Eine Retrospektive über Santiago Calatrava wird mehr als genug Gelegenheit geben, dem Starkult zu frönen. Um so dringender ist zum Besuch des AzW zu raten, nicht nur für diese, sondern auch für die nächste Ausstellung, die ab Juni Arbeiten von Anna Lacaton und Jean Philippe Vassal unter dem bezeichnenden Titel „Jenseits der Form“ zeigen wird. So einfach und offen kann Architektur sein, so alltäglich und bereichernd. Sicher: Alles ist Architektur. Aber jenseits des Starkults ist sie es noch ein bisschen mehr.


[Die Ausstellung „Just build it!“ im Architekturzentrum Wien (VII., Museumsplatz 1) ist noch bis 2. Juni zu sehen (täglich 10 bis 19 Uhr, Mittwoch 10 bis 21 Uhr). Information unter Tel. 522 31 15-23. ]

Spectrum, Sa., 2003.03.15

08. Februar 2003Christian Kühn
Spectrum

Und was ist hinterm Glassturz?

Billig und monofunktional statt sparsam und zweckmäßig: Bei vielen Bundesbauten aus den sechziger und siebziger Jahren wurden diese Begriffe verwechselt. Heute sind Sanierungen erforderlich. Darf man sich dabei mit den notdürftigsten Reparaturen zufriedengeben? Ein Beispiel.

Billig und monofunktional statt sparsam und zweckmäßig: Bei vielen Bundesbauten aus den sechziger und siebziger Jahren wurden diese Begriffe verwechselt. Heute sind Sanierungen erforderlich. Darf man sich dabei mit den notdürftigsten Reparaturen zufriedengeben? Ein Beispiel.

Erinnern Sie sich noch an die Zeiten, als es in Österreich ein Bautenministerium gab? Oder später zumindest eine Sektion für diesen Bereich im Wirtschaftsministerium? Alles Vergangenheit: Der öffentliche Hochbau ist längst in private Rechtsformen übergeführt. Das hat keineswegs schlechte Ergebnisse gebracht. Vergleicht man die Ära eines Bautenministers Sekanina mit den zehn Jahren, in denen die ausgegliederte Bundesimmobiliengesellschaft BIG für den Bundeshochbau verantwortlich war, stehen auf der einen Seite höchst bedenkliche Vergabepraktiken und entsprechend miserable Gebäude, auf der anderen Seite mehrere Bauherrenpreise für herausragende Realisierungen. Inzwischen hat die BIG auch den Immobilienbestand des Bundes übernommen und ist für dessen Instandhaltung verantwortlich, eine Aufgabe, die in Zukunft quantitativ den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit ausmachen wird.

Instandhaltung bedeutet bei vielen dieser Objekte weit mehr als nur ein neuer Anstrich. Vor allem in den sechziger und siebziger Jahren wurde der gesetzliche Auftrag, zweckmäßig und sparsam zu bauen, mit monofunktional und billig verwechselt. Das Ergebnis sind Bauten, die sich an neue Anforderungen nur mit Mühe anpassen lassen, technische Mängel aufweisen und an heutigen Standards gemessen unmoralisch viel Energie verbrauchen. Die Republik hat mit der Ausgliederung dieser Objekte zwar die direkte Verantwortung abgegeben, sie ist aber nach wie vor Eigentümerin der BIG und als solche indirekt dafür verantwortlich, ob billige Lösungen der Vergangenheit nur auf niedrigem Niveau instand gehalten oder an heutige, technisch und ästhetisch fortgeschrittene Maßstäbe herangeführt werden können.

Ein Beispiel für eine solche Aufgabe ist die Fassadensanierung für das Amtsgebäude in der Wiener Zollamtsstraße. Das Gebäude stammt aus den siebziger Jahren und zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß es sich durch nichts auszeichnet. Wer das nicht als Qualität anerkennen will, braucht nur das direkt anschließende Amtsgebäude von Peter Czernin und dessen abstrusordinäre und im übrigen sündteure Fassade zu studieren. Auch in der inneren Orientierung ist Czernins Amtshaus ein Irrgarten, während Bundesrechenzentrum und Statistik Austria klar angelegt sind: Vom jeweiligen Erschließungskern zwei gen kreuzförmig vier Gänge in die Amtsräume ab, die sowohl als Großraum- wie als Einzelbüros genutzt werden können. Insgesamt keine nennenswerte Architektur, aber zumindest zeitloser Charme der Bürokratie.

Die Fassadensanierung ist notwendig, weil Betonfertigteile, mit denen die Fensterbrüstungen verkleidet sind, herabzustürzen drohen. Zusätzlich sprechen hohe Heiz- und Kühlkosten für eine Sanierung. Im Frühjahr 2002 fand ein geladener Wettbewerb mit zehn Teilnehmern statt, den eine Arbeitsgemeinschaft, bestehend aus Rainer Pirker/ArchiteXture und den Bauingenieuren Oskar Graf und Peter Maydl, unterstützt von Walter Prause als Konsulent für Bauphysik, für sich entscheiden konnte. Der Entwurf sieht die Einkleidung des Bestandes in eine Glashülle vor, die abwechselnd nach innen oder nach außen um wenige Grad gefaltet ist. Auf den ersten Blick sieht diese Faltung zufällig aus, bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber eine präzis durchdachte plastische Komposition. Die Knicklinie umläuft das Gebäude in einer kontinuierlichen Auf- und-Ab-Bewegung, bei der sich geometrische Situationen in einem regelmäßigen Muster wiederholen. Durch diese Faltung wird die neue Fassade zu einer selbständigen Figur, die sich deutlich vom repetitiven, auf einem orthogonalen Raster aufgebauten Bestand abhebt und diesen wirkungsvoll konterkariert.

Das Projekt verzichtet auf die komplette Sanierung der insgesamt 28.000 Quadratmeter Fassade: Die alten Fenster und die Sonnenschutzraster aus Beton bleiben erhalten, einzig die
Parapete werden mit einer neuen Wärmedämmung versehen. Im hinterlüfteten Zwischenraum hinter der neuen Glashaut finden Wartungsstege und ein neuer Sonnenschutz Platz, in jedem dritten Geschoß können die Glaselemente gekippt werden, um eine Überwärmung im Sommer zu vermeiden.

Nach Angabe der Planer kann damit für eine Bürohausnutzung - bei der aufgrund der inneren Wärmequellen weniger die Heizung im Winter als vielmehr die Überwärmung im Sommer ein Problem darstellt - eine optimale Wärmebilanz erreicht werden. Die neue Hülle würde den visuellen Charakter des Gebäudes in einer Art und Weise zum Positiven verändern, wie es keine noch so gut gemeinte totale Aufrüstung der Fassade auf den heutigen Stand der Technik erzielen könnte. Entsprechend klar hat sich auch die Wettbewerbsjury in ihrem Bericht ausgedrückt: „Es wird festgestellt, daß keine
Alternative zu diesem Projekt vorhanden ist und daher keine Empfehlung für einen Nachrücker ausgesprochen werden kann.“

Ob das Projekt zur Ausführung kommt, ist dennoch fraglich. Zum einen muß geklärt werden, ob die Lösung in bauphysikalischer Hinsicht einhält, was die Autoren versprechen.

Berechnungen alleine werden dazu nicht ausreichen, aber die BIG hatte bereits unmittelbar nach dem Wettbewerb ein 1:1-Modell eines Fassadenteils in Aussicht gestellt. Zum anderen stellt sich die - auch von einigen im
Wettbewerb erfolglosen Teilnehmern in einer Kritik an der Juryentscheidung aufgeworfene - Grundsatzfrage, ob es sich überhaupt lohnt, ein derart durchschnittliches Gebäude hinter Glas zu konservieren. Wäre es nicht klüger, mit einer komplett neuen Fassade ohne Risiko die heute üblichen Standards zu erreichen?

Das Urteil der Jury, besser eine innovative Lösung anzugehen, als ein architektonisch schwaches Gebäude mit viel Aufwand in ein normgerechtes, aber architektonisch noch schwächeres Gebäude zu verwandeln, ist jedoch schlüssig. So bleibt am Ende das Kostenargument. Jede Fassadensanierung - ob als Glashaut oder als komplette Erneuerung - würde bis zu 16 Millionen Euro kosten. Da seit der Übernahme des Gebäudes ins Eigentum der BIG jede Sanierung über die Mieteinnahmen zu finanzieren ist, müßte die Republik jenes Geld zuschießen, das sie vor dreißig Jahren zu investieren vergessen hat. Man darf gespannt sein, ob sie dazu bereit ist.

Die Entscheidung hat jedenfalls Vorbildcharakter: In den nächsten Jahren wird bei vielen Bundesbauten aus den sechziger und siebziger Jahren die Frage zu beantworten sein, ob man sich mit einer notdürftigen Reparatur von Schäden zufrieden gibt oder eine funktionell wie ästhetisch seriöse Sanierung durchsetzt.

Spectrum, Sa., 2003.02.08



verknüpfte Bauwerke
Amtsgebäude - Fassadengestaltung

04. Januar 2003Christian Kühn
Spectrum

Wenn die Mitte im Wege steht

Die Stadtpfarrkirche von Korneuburg ist kein Meisterwerk. In den Blickpunkt öffentlichen Interesses rückte sie freilich durch eine kürzlich abgeschlossene Umgestaltung. Ein Pfarrer, ein Kardinal, das Denkmalamt und 700 Unterschriften: Geschichte einer Erregung.

Die Stadtpfarrkirche von Korneuburg ist kein Meisterwerk. In den Blickpunkt öffentlichen Interesses rückte sie freilich durch eine kürzlich abgeschlossene Umgestaltung. Ein Pfarrer, ein Kardinal, das Denkmalamt und 700 Unterschriften: Geschichte einer Erregung.

Sie ist kein herausragendes Meisterwerk des Kirchenbaus, die Stadtpfarrkirche von Korneuburg. Im 13. Jahrhundert als romanische Wehrkirche mit zwei niedrigen Seitenschiffen und einem hohen Mittelschiff errichtet, wurde sie im 14. Jahrhundert um einen langgestreckten Chor in den schlankeren Bauformen der Gotik erweitert.

1850 erhielt die Kirche ein Gewölbe im Langhaus, wobei auch die Höhen der drei Schiffe einander angenähert wurden. Um1900 errichtete man schließlich einen neugotischen Abschluß nach Westen. Der Versuch, das Langhaus durch die schlankeren Säulen und neuen Gewölbe an den Charakter des gotischen Chors anzugleichen, hat die spannungsvolle historische Substanz der im Mittelschiff ursprünglich flach gedeckten Anlage zwar grob beeinträchtigt, aber immerhin ist dem entstandenen Kirchenraum eine gewisse Großzügigkeit nicht abzusprechen.

Seit der jüngsten Renovierung, die im September vergangenen Jahres abgeschlossen wurde, hat die Geschichte dieses Raums mit einer neuen Facette aufzuwarten. Der Volksaltar befindet sich nun direkt im Hauptschiff auf einer oktogonalen Insel. Die Bänke im Langhaus sind so umgeordnet, daß die Gläubigen nun von drei beziehungsweise - wenn man die Bestuhlung auf den Stufen zum Chor mitzählt - von vier Seiten her der Messe beiwohnen können. Auch im Chor hat sich eine Veränderung ergeben: Das Taufbecken befindet sich nun direkt vor dem neugotischen Hochaltar in der Apsis des Chors und damit in der Hauptachse des Kirchenraums.

Diese Anordnung mit einem zentral aufgestellten Altar ist alles andere als revolutionär. Unter Berufung auf frühchristliche Zentralkirchen ist sie seit dem frühen 20. Jahrhundert im Gespräch und seit der Liturgiereform im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils auch offiziell zulässig.

Ausgeführt wurde sie nicht nur bei vielen Neubauten, sondern auch bei Revitalisierungen. Eines der bedeutendsten Beispiele dieser Art in Österreich ist St. Martin in Dornbirn, ein klassizistischer Bau, der 1967 durch Emil Steffann, neben Rudolf Schwarz der bedeutendste Kirchenbauer Deutschlands im 20. Jahrhundert, umgewandelt - oder besser: umgedeutet wurde.

Denn an der Bausubstanz selbst hat Steffann kaum etwas verändert, sondern vor allem an der Positionierung der liturgischen Elemente. Altar und Taufbecken stehen gewissermaßen als Brennpunkte auf der Mittelachse des Hauptschiffs und spannen zwischen sich einen rechteckigen liturgischen Aktionsraum auf. Die Bankreihen sind um 90 Grad gedreht und zu zwei großen Blöcken entlang der Seitenwände des Hauptschiffs zusammengefaßt, ein dritter, kleinerer Block schließt die Figur an der Schmalseite zum Eingang hin ab. Chorraum und Hochaltar liegen damit zwar außerhalb der Brennpunkte des liturgischen Geschehens, verlieren aber in der Gesamtfigur keineswegs an Bedeutung.

Architektonisch reicht die Lösung, die in Korneuburg gefunden wurde, nicht an St. Martin in Dornbirn heran. Das liegt zum einen am minimalen Budget von 350.000 Euro, das für die Gesamtrenovierung des Innenraums mit neuem Boden und Heizung zur Verfügung stand, zum anderen an subtilen Fragen von Proportion und Material, die man auch zu diesem Budget hätte anders lösen können.

Liturgisch erfüllt die Lösung aber die Anliegen, die auch die Neuordnung in St. Martin erreichen wollte: Die Gläubigen sitzen nicht in Bankreihen hintereinander, sondern erfahren einander als Gemeinde mit dem Altar im Zentrum.

Auch die Beziehung zwischen Priester und Gemeinde ist insofern verändert, als der Priestersitz zu einem Teil des den Altar umschließenden Kreises wird, wenn auch zu einem durch seine besondere Position auf der Hauptachse herausgehobenen Teil mit Chor und Hochaltar im Rücken.

Alles in allem also eine Veränderung, die nachvollziehbar ist, die sich großer Zustimmung in der Gemeinde erfreut und der man vielleicht einen einfallsreicheren Architekten gewünscht hätte, der auch mit einem kleinen Budget eine im Detail schlüssigere Lösung zustande gebracht hätte. Berichtenswert an dieser Umgestaltung ist freilich vor allem eines: Der Pfarrer der Gemeinde, Wolfgang Jöchlinger, hält einen vom Präsidenten des Bundesdenkmalamts, Georg Rizzi, unterzeichneten Brief in Händen, daß er die Versetzung des Altars unverzüglich rückgängig zu machen habe, da „durch die gesetzten Maßnahmen das historisch geprägte Erscheinungsbild des Kircheninneren und seine künstlerische Wirkung nachhaltig gestört sind“.

Im übrigen, so führt der Präsident weiter aus, stelle „die eigenmächtige Anordnung zur Versetzung des gegenständlichen Altars eine nicht legitime und nicht tolerierbare Vorgehensweise dar, die keinesfalls als Vorbild für ,Nachahmungstäter' dienen sollte“.

Die Verärgerung des Denkmalamts ist insofern verständlich, als der Pfarrer nicht nur eigenmächtig gehandelt hat, sondern auch entgegen der schon vorab in Gesprächen geäußerten Meinung des Denkmalamts. Zu berücksichtigen ist allerdings die Vorgeschichte: Die heftigste Ablehnung der neuen Altaraufstellung kam nämlich nicht vom Denkmalamt, sondern von der Erzdiözese, zuerst in Person der Diözesankustodin Hiltigund Schreiber, schließlich auch direkt durch Kardinal Schönborn, wobei für den Kardinal nicht die Denkmalpflege, sondern das Abgehen von der zum Hochaltar hin orientierten „Wegkirche“ ausschlaggebend war.

Ein Mitarbeiter des Denkmalamts hatte allerdings angedeutet, mit der Aufstellung leben zu können, wenn sie „temporären Charakter“ habe, und darauf berief sich der Pfarrer in seinem Antrag ans Denkmalamt, die Veränderungen nachträglich zu genehmigen. Das hölzernen Podest um den Altar sei ja offensichtlich nicht für die Ewigkeit gebaut.

Für das Denkmalamt wäre diese Genehmigung sachlich kein Problem. Die künstlerische Bedeutung des neugotisch geprägten Innenraums ist nicht herausragend, und nachhaltig gestört ist der Raum durch die neue Anordnung höchstens dann, wenn man eine bestimmte Art der Nutzung zum Teil des Denkmals erklärt - eine absurde Argumentation, bietet doch sogar das Denkmalschutzgesetz für religiöse Gebäude die Möglichkeit, bauliche Veränderungen zuzulassen, wenn sie liturgisch begründet sind.

Daß sich das Denkmalamt in diesem Fall so bereitwillig zur Exekution in einem an sich innerkirchlichen Streit hergibt, mag mit einem Anlaßfall zu tun haben, der schon einige Jahre zurückliegt. In der Wiener Augustinerkirche findet sich ein Altar aus dem Jahr 1999, den zu weihen sich Kardinal Schönborn bis heute weigert. Der Entwurf stammt von den Architekten Henke und Schreieck, ein schlanker Tisch aus zentimeterdünnen, massiven Stahlplatten, zwei Seitenwände und eine Platte darüber, darunter freistehend eine mehrschichtige transluzente Glasplatte, in deren einer Ecke das Reliquiar eingelassen ist. Das Denkmalamt hatte sich damals sehr für diesen Altar eingesetzt, obwohl die Patres der Augustinerkirche einen massiven marmorierten Block als Volksaltar vorgezogen hätten. Dieser hätte allerdings den Blick in den frisch renovierten Chor verstellt.

Henke und Schreieck versuchten mit ihrem Entwurf, einen Volksaltar zu schaffen, der gewissermaßen nur während der Meßfeier in Erscheinung tritt, ansonsten aber als zarter, dunkler Rahmen beinahe verschwindet.

Henke und Schreieck versuchten dabei, traditionelle Aspekte des Altaraufbaus zu berücksichtigen, etwa die ausgewogene Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament, indem für die beiden Seitenteile und die Platte exakt dieselbe Stahlmenge verwendet wurde, aber auch bei der Oberfläche des Stahls, die für die Salbung bei der Altarweihe geeignet sein sollte.

Die Patres schienen dieser Idee nach vielen Diskussionen folgen zu können, verlangten aber, daß die ursprünglich nur als schmale Stele geplante Glasscheibe mit dem Reliquiar beinahe auf die gesamte Breite des Altars verbreitert wurde, ein Kompromiß, der den angestrebten Durchblick deutlich beeinträchtigt.

Nachdem der Altar unter großem Zeitdruck für die geplante Einweihung am 1. November 1999 fertiggestellt war, verweigerte der Kardinal die Weihe und beschränkte sich auf eine Segnung, offiziell mit der Begründung, die Bodenarbeiten um den Altar seien noch nicht abgeschlossen. An diesem Zustand hat sich bis heute nichts geändert, und aus dem Umfeld der Gemeinde ist zu hören, daß der Altar durch einen anderen ersetzt werden soll.

Die beiden Fälle sind auf seltsame Art miteinander verwoben. In Korneuburg geht es um grundsätzliche liturgische Fragen, um eine für die Gemeinde deutlich spürbare Neuordnung des Gottesdiensts. In der Augustinerkirche geht es scheinbar um eine rein formale Auseinandersetzung und eine Neuinterpretation konventioneller Standards.

Die Reaktion der kirchlichen Stellen läßt in beiden Fällen auf eine große Verunsicherung schließen. Das ist kein Wunder: Kirchenbau ist Theologie ohne Worte, aber mit großer sinnlicher Wirksamkeit. Deshalb fürchten die Schriftgelehrten und Kopfmenschen - und seien sie auch Kardinäle - diese Disziplin wie der Teufel das Weihwasser und fühlen sich im Bewahren des räumlichen und rituellen Status quo auf der sicheren Seite.

In Korneuburg haben inzwischen fast 700 Gemeindemitglieder eine Petition für die Beibehaltung der neuen Aufstellung unterschrieben. Es wäre fatal, wenn die Entscheidung durch einen Bescheid des Denkmalamts fiele und nicht in einer längst fälligen, offen geführten Debatte zwischen den wirklich Betroffenen.

Spectrum, Sa., 2003.01.04

16. November 2002Christian Kühn
Spectrum

Wie man Winkel zieht

„Twist Tower“: Der Name ist Programm. Denn Georg Driendl hat die Geschoßebenen seines Bürohauses in der Schönbrunner Straße jeweils um einige Grad gegeneinander verschwenkt - nicht nur für das Gebäude ein Gewinn, sondern auch für den Straßenraum.

„Twist Tower“: Der Name ist Programm. Denn Georg Driendl hat die Geschoßebenen seines Bürohauses in der Schönbrunner Straße jeweils um einige Grad gegeneinander verschwenkt - nicht nur für das Gebäude ein Gewinn, sondern auch für den Straßenraum.

Eine weniger inspirierende Bauaufgabe kann es kaum geben: ein Bürohaus in der Schönbrunner Straße im fünften Wiener Gemeindebezirk, eingeklemmt zwischen alten Gründerzeithäusern. Der Bauherr, ein privater Bauträger, verlangt naturgemäß die maximale Ausnutzung des Grundstücks. An der Straßenseite erlaubt der Bebauungsplan ein achtgeschoßiges Gebäude, tief in den Hof hinein ist eine maximal zwei-geschoßige Bebauung zulässig.

Gute Beispiele für derartige Baulückenfüllungen im gründerzeitlichen Bestand sind selten. In den sechziger und siebziger Jahren wurden diese Löcher meist mit billiger funktionalistischer Massenware gefüllt, in den Achtzigern mit unbeholfenen Versuchen, sich ans historistische Stadtbild anzugleichen. Derart behandelt, drohen auch zentrumsnahe Stadtteile mit hoher Standortqualität herunterzukommen. Die Schönbrunner Straße mit ihrem dichten Verkehrsaufkommen und den beinahe ausgestorbenen Geschäftslokalen im Erdgeschoß gehört in diese Kategorie. Mit reiner Bestandssanierung ist hier nichts mehr auszurichten: Um das Image eines solchen Gebiets zu verbessern, braucht es auch deutliche Veränderungen, die den Ort neu interpretieren und ihn in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Genau das ist Georg Driendl mit seinem „Twist Tower“ gelungen. Der Name spielt einerseits auf die „Twin Towers“ am Wienerberg an - eine mutige Analogie, da der Twist leicht 20mal in den Twin Towers Platz fände und von einem Tower überhaupt nur dann die Rede sein kann, wenn man sich die umgebende Bebauung wegdenkt - und andererseits auf eine Eigenart des Grundrisses: Die annähernd quadratischen Geschoß- ebenen des Hauptgebäudes sind jeweils um wenige Grad gegeneinander verschwenkt, was sich in den Fassaden deutlich abzeichnet: So wie sich an den Häusern nebenan Erker in den Straßenraum vorschieben, sind hier ganze Fassadenflächen gegeneinander verschwenkt und geben dem Gebäude seine charakteristische Erscheinung.

Völlig irrational ist diese Verschwenkung nicht: Da nach der Wiener Bauordnung Erker bis zu 80 Zentimeter in den Straßenraum vorspringen dürfen, gewinnt man so ein paar Quadratmeter Nutzfläche. Aber der eigentliche Witz der Sache ist nicht in Zahlen zu fassen. Man kann die Fassade als ironischen Kommentar zur verbreiteten Illusion interpretieren, daß in der gründerzeitlichen Stadt alles mit rechten Winkeln zuginge. Orthogonal sind die Parzellenzuschnitte aber bestenfalls in den großflächigen Erweiterungs- gebieten außerhalb des Gürtels. In der Schönbrunner Straße sind uralte Feldgrenzen und der Verlauf des Wienflusses für die Zuschnitte der Parzellen verantwortlich, und so gibt es auf dem ganzen für den Twist Tower zur Verfügung stehenden Grundstück keinen einzigen rechten Winkel.

Noch in einem weiteren Punkt unterscheidet sich der Twist Tower von seinen Nachbarn. Statt Treppe und Aufzug im Inneren des Gebäudes zu verbergen, läßt Driendl sie an der Fassade zur Schönbrunner Straße sichtbar werden. Dahinter steht die Idee, den Straßenraum zu beleben und die vertikale Erschließung zur halböffentlichen Verlängerung des Gehsteigs zu machen. In seinen ersten Entwürfen wollte Driendl die Öffnung zu dem dahinter liegenden begrünten Hofraum noch deutlicher betonen. Immerhin gibt es jetzt einen schmalen zwei-geschoßigen Durchblick, der Tiefe erahnen läßt.

Die oben erwähnte Forderung, „den Ort in einem neuen Licht erscheinen“ zu lassen, darf man hier durchaus wörtlich nehmen: Driendl ist stolz darauf, daß um die Mittagszeit ein Lichtstreifen in die Schönbrunner Straße fällt und den Straßenraum aufhellt. Valie Export, die als Künstlerin eingeladen war, für das Gebäude eine Installation zu entwerfen, hat diesen Gedanken aufgenommen. In dem vertikalen Schlitz, den Driendl zwischen dem Treppenhaus und den Hauptnutzflächen offen läßt, sind gelbe, in der Nacht hinterleuchtete Streifen in die Außenhaut des Gebäudes eingelassen, die in einem un-regelmäßigen Rhythmus nach oben steigen.

Die Differenzierung der Geschoße vom Straßenniveau bis zur Attika ist ein besonderes Charakteristikum des Gebäudes. Der Grund dafür ist einfach: Auch wenn die Nutzung auf allen Geschoßen gleich ist, sind die Randbedingungen verschieden. Die unteren Geschoße erhalten weniger Licht und sind daher mit größeren Fenster-flächen gut bedient. Auch der vertikale Schlitz an der Fassade, in dem sich Valie Exports Lichtinstallation befindet, ist auf Straßenniveau am breitesten und verengt sich nach oben hin bis auf einen halben Meter. Dafür werden die Podeste der Treppe mit jedem Geschoß etwas tiefer und wachsen so bis aufs erlaubte Erkermaß von 80 Zentimeter in den Straßenraum hinaus, was in der Fassade zu einer leichten Schrägstellung der Verglasung führt.

Man ahnt bereits, daß ein derart zugleich in der Horizontalen wie in der Vertikalen differenziertes Konzept konstruktiv nicht ganz einfach zu bewältigen ist, schon gar nicht zu den Kosten eines konventionellen Bürohauses. Daß Driendl hier erfolgreich war, ist eine Meisterleistung, auch wenn er Abstriche bei manchen Materialien und Details - etwa beim Verzicht auf die Verglasung des Aufzugs - in Kauf nehmen mußte.

Mit diesem Bürohaus und dem Neubau der Österreichischen Schule in Budapest, die heuer eröffnet wurde, hat Driendl bewiesen, daß zur ersten Liga der österreichischen Architekten gehört. Daß dorthin mit Dieter Henke und Marta Schreieck zumindest noch zwei andere Architekten dieser Generation aufgestiegen sind, die aus Roland Rainers Schule kommen, wird den alten Meister freuen. Das Irrationale und Spielerische hat Driendl aber nicht bei ihm gelernt, sondern eher bei einem Vorbild wie Rudolf Schindler, an dessen spielerisch-gelassenen, technisch auch bei beschränkten Mitteln virtuosen Umgang mit räumlichen und formalen Problemen höchster Komplexität man sich erinnert fühlt.

Für den Auftraggeber, Kallco-Projekt, der gerade für ein anderes Gebäude in ähnlicher Lage den Bauherrenpreis erhalten hat, hat sich das Spiel jedenfalls gelohnt: Trotz geringer Nachfrage auf dem Büromarkt ist das Gebäude zu 90 Prozent vermietet.

Spectrum, Sa., 2002.11.16



verknüpfte Bauwerke
tt5 twist tower

10. August 2002Christian Kühn
Spectrum

Alles nicht so schlimm, oder?

Ein Landeshauptmann läßt sich von der „Kronen Zeitung“ vorschreiben, wie er über Architektur zu urteilen hat. Über „gesundes Volksempfinden“ und wie es in die Welt kommt: ein Lokalaugenschein in Salzburg anläßlich der Nicht-Verleihung des Landesarchitekturpreises.

Ein Landeshauptmann läßt sich von der „Kronen Zeitung“ vorschreiben, wie er über Architektur zu urteilen hat. Über „gesundes Volksempfinden“ und wie es in die Welt kommt: ein Lokalaugenschein in Salzburg anläßlich der Nicht-Verleihung des Landesarchitekturpreises.

Darüber lacht das ganze Land: Seit Monaten beklagen sich die Salzburger Bürger einhellig über den ,schwarzen Block'. Das Heizkraftwerk Mitte gilt längst als Schandfleck mitten im Zentrum der Mozartstadt. Nur die Architekten sehen das anders: Ein Teil des Industrie-Klotzes soll sogar den Landes-Architekturpreis 2002 erhalten!"

In ihrer Ausgabe vom 25. Juni berichtet die Salzburger Ausgabe der „Kronen Zeitung“ erstmals über einen sich ankündigenden Skandal. Unter den drei Preisträgern, die von der Jury für den Landes-Architekturpreis gekürt wurden, befinde sich das Heizkraftwerk Mitte, ein Industriekomplex, dessen Front zur Salzach - ein mächtiger Körper aus anthrazitgrauem Stahlbeton - gerade fertiggestellt wird. Aber noch, so berichtet die „Kronen Zeitung“ einen Tag später, sei Hoffnung: Auch der Landeshauptmann selbst - vom Chefredakteur der Salzburg-„Krone“ telephonisch befragt - halte „den ganzen Komplex für häßlich“ und habe bisher „keine Gelegenheit gehabt“, den Regierungsbeschluß zu unterschreiben. Ob die Preisverleihung am 1. Juli, für die bereits die Einladungen ausgeschickt sind, stattfinden werde, sei ungewiß.

Am 29. Juni gibt die „Krone“ Entwarnung: „Seit Freitag ist es fix: Fürs Heizkraftwerk Mitte gibt es keinen Architekturpreis vom Land Salzburg! In der Regierung verweigerte die ÖVP ihre Zustimmung, und die SPÖ wollte die Auszeichnung nicht im Alleingang beschließen - das hätte in Salzburg wohl zu viele Sympathien gekostet.“

Die Veranstaltung am 1. Juli findet zwar statt, allerdings ohne Preisverleihung: Kulturlandesrat Othmar Raus hatte sich - im Einvernehmen mit der Jury - dem Wunsch des Landeshauptmanns verweigert, für die anderen beiden Preisträger und die Anerkennungen gesonderte Regierungsbeschlüsse auszustellen.

Alles nicht so schlimm, oder? Warum soll eine Landesregierung sich bei einem Preis des Landes nicht auch einmal über das Urteil einer Fachjury hinwegsetzen dürfen, wenn dieses Urteil das „gesunde Volksempfinden“ beleidigt? Gehört es nicht zur Aufgabe der Politik, Entscheidungen zu treffen und sie nicht den Experten zu überlassen? Hat der Landeshauptmann hier nicht sogar Mut gegenüber elitären Fachzirkeln bewiesen, die „völlig abgehoben von den Menschen“ agieren?

Das Gegenteil ist der Fall. Die Entscheidung zeugt nicht von Mut, sondern von Inkompetenz und Opportunismus. Daß Franz Schausberger das Heizkraftwerk Mitte häßlich findet, ist ihm unbenommen. Daß Landeshauptmann Schausberger sich von der auflagenstärksten und daher für ihn gefährlichsten (beziehungsweise hilfreichsten) Zeitung vorgeben läßt, wie er sich im Rahmen eines öffentlichen Verfahrens sein Urteil über ein Projekt zu bilden hätte, ist jedoch unverantwortlich und wird nicht ohne Folgen auf andere Entscheidungen bleiben. Die Vorgänge um den Landesarchitekturpreis sind ein Musterbeispiel dafür, wie die Mechanik des Populismus den Handlungsspielraum der Politik einschränkt und letztlich die politische Kultur ruiniert.

Ein Teil dieser Mechanik besteht in der gezielten Fehlinformation: Die Jury für den Landesarchitekturpreis hatte nicht den noch unvollendeten „schwarzen Block“ des Kesselhauses ausgezeichnet, sondern ein anderes Gebäude auf dem Areal, das von denselben Architekten stammt. Der erste Artikel in der „Kronen Zeitung“ trägt jedoch den Titel: „Lob für ,perfekte Harmonie' im schwarzen Block an der Salzach!“. Im nächsten Artikel werden Unregelmäßigkeiten bei der Jury insinuiert: Das Kesselhaus hätte nur durch „blanken Zufall“ nicht den Preis bekommen. Erst als entschieden ist, daß es zu keiner Preisverleihung kommt, wird klargestellt, daß die Architekten „das Betriebsgebäude beim Heizkraftwerk Mitte, einen der drei Bauteile des heftig umstrittenen Industriegeländes“, eingereicht hätten.

Die Infamie besteht nicht zuletzt darin, daß in den ersten Artikeln die Begründung der Jury durch diese falsche Zuweisung lächerlich gemacht wird. Zwar wird korrekt aus dem Juryprotokoll zitiert: Das Gebäude mute „in seiner Klarheit überzeugend und selbstverständlich an“ und erreiche „in seinen baulichen Nuancen eine - fast möchte man sagen - perfekte Harmonie“. Es sei ein herausragendes Beispiel dafür, wie „klar und funktionell, ästhetisch und gleichzeitig persönlich und liebenswürdig erzählend“ gebaut werden könne. Auf das Kesselhaus bezogen - das gänzlich andere, eigenständige Qualitäten hat als das Betriebsgebäude - sind diese Aussagen freilich absurd.

Diese Mißachtung der Jury, der sich der Landeshauptmann mit seiner Entscheidung angeschlossen hat, ist jedenfalls beispiellos. Ein Preis, den ein Land vergibt, um hervorragende kulturelle Leistungen öffentlich als vorbildlich zu würdigen, braucht eine seriöse, also nachvollziehbare und diskutierbare Begründung. Die Jury hat ihre Arbeit entsprechend seriös geleistet.

Mit ihrer Entscheidung hat sie Bauaufgaben ins Rampenlicht gestellt, die - anders als Museen und Theater - oft nicht einmal mit Architektur in Verbindung gebracht werden: zwei Sozialbauten und einen Industriebau.

Das Altenwohnheim in Neumarkt am Wallersee von Klaus Kada und Gerd Wittfield mit seiner klassischen Eleganz ist offensichtlich für Senioren gebaut, die schon in der Moderne alt geworden sind. Das Kinder- und Jugendhaus in Liefering von Thomas Forsthuber, eines der außergewöhnlichsten Projekte der letzten Jahre, ist schon mehr im 21. Jahrhundert zu Hause: eine ruppige, in Stahlblech verkleidete Bauskulptur, die als offenes Milieu für Kinder und Jugendliche funktionell perfekt auf die Aufgabe zugeschnitten ist. Mit dem Betriebsgebäude von Bétrix & Consolascio und Eric Maier hat die Jury schließlich einen Industrie- und Verwaltungsbau ausgezeichnet, der ohne jeden Zweifel zum Besten zählt, was auf diesem Sektor in Österreich zu finden ist.

Explizit weist die Jury - bestehend aus Marianne Burkhalter, Hannelore Deubzer, Maria Flöckner, Otto Kapfinger und Margherita Spiluttini - darauf hin, daß ihre Entscheidung nicht allein von ästhetischen Kriterien bestimmt ist. In einem Protestbrief an die „Kronen Zeitung“ schreibt Otto Kapfinger, das Betriebsgebäude sei „vor allem auch im Inneren für die MitarbeiterInnen eine der attraktivsten modernen Arbeitsstätten, die ich in Salzburg und darüber hinaus kenne. Es wäre lohnenswert, wenn hier ein Tag der offenen Tür allen vorschnellen, uninformierten Lästermäulern zeigen könnten, wie funktionale Arbeitsstätten heute gestaltet werden können.“

Spielt alles keine Rolle. Der Populismus braucht keine denkenden Bürger, sondern verärgerte. Ich gehe eine Wette ein, daß jeder Besucher, der die Bauten von die Bétrix & Consolascio in Salzburg etwas näher kennenlernen darf, zumindest Respekt haben wird: vor der plastischen Durchbildung der Baukörper, vor der Qualität der Innenräume, der funktionellen Lösungen und der Details.

In der „Kronen-Zeitung“-Passanten-Umfrage werden die „Menschen von der Straße“ dagegen zu Karikaturen reduziert: „Meine Meinung: Es ist schiach, einfach schiach!“ „A Katastrophe, eigentlich a Schweinerei!“ „Wenn man privat etwas machen will, machen sie einem das Leben schwer.“ „So was sollen sie ins Ruhrgebiet stellen!“ „Es ist eine Qual, wie es ausschaut“, wird die „Inhaberin des wunderschönen Blumengeschäfts ,Pusteblume' genau gegenüber dem Bauwerk“ zitiert. Für den „Krone“-Redakteur Anlaß für ein wenig Pathos: „In ihrem Geschäft ist Schönheit Trumpf, ihre Blumen stehen für Wärme und Menschlichkeit, aber dieses Gegenüber! Eine schwarze Masse, ein finsterer Block, kalter Beton, Fenster wie Schießscharten.“

Wer so schreibt, hat einen Leser vor Augen, der dumm genug ist, nicht zwischen einem Blumengeschäft und einem Kesselhaus mit einem inneren Lärmpegel von 90 Dezibel unterscheiden zu können. Daß die Salzburger den dunklen Block nicht ins Herz schließen würden, war zu erwarten. Aber vielleicht werden sie bald akzeptieren, daß dieser Teil ihrer städtischen Infrastruktur einfach da ist, eine schmucklose, mächtige Figur, eine Betonkulisse, die es mit anderen Felsformationen in ihrer Nähe durchaus aufnehmen kann.

Und vielleicht werden sie irgendwann sogar anerkennen, daß Bétrix & Consolascio mit den Projekten, die sie seit 1987 auf diesem Areal und an anderen Orten im Stadtgebiet realisieren konnten, Architekturgeschichte geschrieben und wesentlich zum Image Salzburgs jenseits des Barocks beigetragen haben.

Für die aktuelle Diskussion ist diese Perspektive freilich zu langfristig. Die Mitglieder der Landesregierung, die ihre Unterschrift für den Landesarchitekturpreis verweigert haben, sollten erkennen, daß sie dadurch beim Mediaprint-Konzern unter Vertrag stehen. Wenn die Politik die offene und seriöse Diskussion über die Qualität der gebauten Umwelt dem billigsten Populismus opfert, verliert sie ihren Handlungsspielraum in einem Gebiet, das im Alltagsleben der Bürger immer noch zu den wichtigsten gehört.

Daß die Bürger klüger sind, als es die „Kronen Zeitung“ erlaubt, stellt sich vielleicht bei den nächsten Wahlen heraus.

Spectrum, Sa., 2002.08.10



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Betriebsgebäude HKW Mitte

13. Juli 2002Christian Kühn
Spectrum

Solitär oder im Rudel?

In die Vertikale wachsende Knoten im Stadtgeflecht, vielschichtig in Gestalt und Nutzung, die „neue urbane Qualitäten für den angrenzenden Stadtraum schaffen sollen“: Das Innsbrucker Hochhauskonzept versucht die Neuinterpretation eines umstrittenen Bautyps.

In die Vertikale wachsende Knoten im Stadtgeflecht, vielschichtig in Gestalt und Nutzung, die „neue urbane Qualitäten für den angrenzenden Stadtraum schaffen sollen“: Das Innsbrucker Hochhauskonzept versucht die Neuinterpretation eines umstrittenen Bautyps.

Das Hochhaus als amerikanische Steigerungsform des Städtischen hat in Europa nach wie vor einen zweifelhaften Ruf. Es ist eine genuine Erfindung Amerikas, geboren aus der radikalen Ausnutzung neuer technischer Möglichkeiten: Stahlkonstruktion, Aufzug, künstliche Belichtung und Belüftung. Der Unterschied zum europäischen Hochhaus liegt vor allem im Städtebaulichen. Während in Amerika die Agglomeration sehr hoher Häuser über einem rechtwinkeligen Raster zum urbanen Leitbild wurde, tendiert das Hochhaus in der europäischen Stadt zum Solitär. Je nach kultureller Großwetterlage wird es daher als Signal der Modernisierung oder als Bedrohung des historischen Bestands wahrgenommen.

Der Antrieb zur Errichtung von Hochhäusern geht in der Regel von kapitalkräftigen Bauherrn aus, die nach dem simplen Prinzip agieren, auf einem möglichst zentrumsnahen Grundstück eine möglichst große Anzahl identischer Geschoße zu stapeln. Wenn die Stadt kein eigenes Hochhauskonzept vorzuweisen hat, gilt in der Folge eine einfache, in Wien am Stumpfschen Millenniumstower abzulesende Spielregel: Das höchste Hochhaus baut immer der Investor mit den besten Beziehungen.

Die in Wien inzwischen verfolgte Strategie, Sichtkorridore festzulegen, die nicht durch Hochhäuser verstellt werden dürfen, und die Kreuzung möglichst vieler Verkehrsströme zum Hauptkriterium für einen Hochhausstandort zu machen, ist ein defensiver Weg zur Bewältigung des Problems, der auf ein klares Szenario für die zukünftige Entwicklung verzichtet. An diesem Weg ist alles durch und durch vernünftig, und gerade das ist seine Schwäche. Nach einem ähnlich vernünftigen Prinzip hatte schon der letzte Wiener Stadtentwicklungsplan eine Verdichtung entlang von Verkehrsachsen vorgesehen.

Am Ende fand die Entwicklung zwischen den Achsen statt, weil dort die Grundstückspreise niedriger blieben. Um mit den Hochhaus-Investoren, deren Motivation stets aus einer kreativen Mischung von Geldgier und irrationalem Gestaltungswillen besteht, mithalten zu können, muß die Stadtplanung konkretere und zugleich kreativere Regulierungen entwickeln.

In Innsbruck wurde kürzlich ein Hochhauskonzept vorgestellt, das einen Schritt in diese Richtung versucht. Anlaß dafür war die Entwicklung eines Siedlungsleitbildes für den Raum Innsbruck, in dessen Rahmen die Hochhausfrage als besonders heikles Unterthema erkannt und an eine eigene Planungsgruppe ausgelagert wurde. Das Architekturforum Tirol wurde beauftragt, ein EU-weites Bewerbungsverfahren für die Erstellung einer Hochhausstudie zu veranstalten und die ausgewählten Teams in mehreren Workshops unter Einbeziehung der Öffentlichkeit zu koordinieren (www.hoch hausinnsbruck.at). Ausgewählt wurden drei Architektenteams - Pietro Caruso/
rainer pirker ARCHItexture, Hermann Czech/ Rainer Köberl, Jourdan-Müller PAS - und ein Team für Sozial- und Kulturwissenschaften: helix (Hebertshuber, Marchner und Schoibl). Moderation und Konzeption der Workshops lagen bei Max Rieder.

Die Verfasser der Studie stellten sich zwei grundsätzliche Fragen. Erstens: Braucht Innsbruck aufgrund von Wirtschaftsentwicklung oder Baulandverknappung neue Hochhäuser? Zweitens: Können Hochhäuser für einen konkreten Ort besondere Synergien und städtische Vielschichtigkeit erzeugen? Die Antwort auf die erste Frage fällt in der Studie klar negativ aus. Allerdings sehen die Autoren gerade darin eine Chance: „Weil Innsbruck sich einer trivialen Hochhausentwicklung verweigern kann, besteht für anspruchsvolle Qualifikation von speziellen ,Ausnahmen' in dieser Stadt eine besondere Chance.“ Die Kriterien für die anspruchsvolle Qualifikation ergeben sich aus der positiven Antwort der Autoren auf die zweite Frage: Richtig geplant, können Hochhäuser zur städtischen Vielschichtigkeit beitragen.

Die Studie schlägt vor, im Talboden keine neuen konventionellen Hochhäuser zu errichten. Keine neuen deshalb, weil Innsbruck zwar im Vergleich zu anderen österreichischen Städten einen hohen Anteil an Hochhäusern aufweist, die vor allem in den sechziger und siebziger Jahren für Wohnzwecke errichtet wurden. Nur wenige der über 60 Objekte, die baurechtlich über der Hochhausgrenze liegen, sind aber hoch genug, um als „echte“ Hochhäuser wirksam zu werden. Von den umliegenden Bergen aus betrachtet, ist die städtische Baumasse zwar in der Höhe differenziert, aber doch einheitlich geblieben.

Als Standorte für konventionelle Hochhäuser bis zirka 90 Meter Höhe werden vier Zonen ausgewiesen, von denen drei am Rand des Talbodens entlang der Autobahn liegen. Die vierte Zone am Westbahnhof erlaubt wegen der Nähe zum Flughafen nur eine reduzierte Bauhöhe. Die Situierung an der Autobahn wird einerseits mit stadtgestalterischen Argumenten begründet: Nahe an die Gebirgswände gerückt, würden Hochhäuser eine dramatische Erscheinung gewinnen, die sie mitten im Talboden nie erreichen könnten. Andererseits sprechen die gute Verkehrsanbindung, die ausreichende Zentrumsnähe und nicht zuletzt der Werbeeffekt durch die Autobahn für den Standort. Daß diese nicht auf dem Talboden, sondern in der Bergflanke etwa auf der Höhe des sechsten Geschoßes geführt ist, wird aus dieser Perspektive zur Qualität. Das Besondere der Situation ließe auch bei konventioneller Bauweise der Einzelobjekte ein außergewöhnliches Ergebnis erwarten.

Für die innerstädtischen Bereiche (mit Ausnahme von Schutzzonen) schlagen die Autoren einen neuen Typus von Hochhaus vor, den sie als „Urbanissima“ bezeichnen. Es handelt sich dabei um einen in die Vertikale wachsenden Knoten im Stadtgeflecht, vielschichtig in Gestalt und Nutzung, der „neue urbane Qualitäten für den angrenzenden Stadtraum und das Quartier schaffen soll“. Wenn ein Investor sich für ein derartiges Projekt interessiert, sollen die konkrete Höhenentwicklung, der Nutzungsmix sowie die räumliche Zuordnung der öffentlich zugänglichen Flächen in einem verbindlich in den Richtlinien festgelegten „Kontextseminar“, in das auch Anrainer eingebunden sind, festgelegt werden. Die Obergrenze für diesen Gebäudetyp ist mit 60 Meter festgelegt. Im Stadtgebiet verteilt würden sie nicht als vertikale Spitzen, sondern eher als Inseln im Häusermeer erscheinen.

Die „Urbanissima“ ist die Steigerungsform der europäischen Stadt und ihrer Qualitäten. Die Autoren der Studie versprechen sich von ihr „sozialen Mehrwert, Intensivierung und Attraktivierung von Stadtleben und Stadtkultur, Kompensationschancen zum grassierenden Flächenverbrauch und ressourcenbewußte Vertikalität, Schaffung eines dynamischen Elements im Interesse sich wandelnder Bedürfnisse der StadtbewohnerInnen, stadtteil- oder themenbezogene Identitätsbildung“.

Spätestens hier schleicht sich die Frage ein, ob eine derartig geballte Ladung von guten Absichten unter den Bedingungen der kapitalistischen Stadtentwicklung eine Chance hat. Oder etwas pointierter: Fällt die Studie nicht in einen längst überholten, weltbaumeisterlichen Erlösergestus zurück, über den nicht nur die Investoren, sondern auch eine an Rem Koolhaas' antiplanerischer und antipolitischer Haltung geschulte, marktorientierte jüngere Architektengeneration nur milde lächeln?

Vielleicht. Daß die europäische Stadt aber keine andere Chance hat, als sich solch scheinbar naiv-optimistischer Vor- wärtsstrategien zu bedienen, war vor einer Woche bei einem Symposium zu erfahren, das vom Haus der Architektur Graz im Rahmen seines Jahresthemas „europe.cc - changing cities“ veranstaltet wurde.

Walter Siebel, deutscher Stadtsoziologe, sprach dort über die gewandelte Situation der europäischen Stadt, die Auflösung der Begriffe Peripherie und Zentrum und die zunehmende Autonomie des Umlands, das als verstädterte Landschaft nicht mehr auf ein Zentrum angewiesen sei. Pendler- und Besiedlungsströme, die von Umlandgemeinde zu Umlandgemeinde unter Auslassung der Zentren führen, lassen in den Kernstädten vor allem soziale Probleme zurück. Aus Bürgern werden Kunden, die städtische Dienstleistungen in mehreren Gemeinden einkaufen, ohne sich einer öffentlichen Körperschaft verantwortlich zu fühlen.

Wo der Tourismus die Hülle der europäischen Stadt konserviert, droht wiederum einer ihrer essentiellen Bestimmungsgründe verlorenzugehen, nämlich ein kontinuierlich geführtes Geschichtsbuch ihrer Bürger zu sein. Als verbleibende Chance für die Kernstädte sieht Siebel die Schaffung „innovativer Milieus“, die eine Voraussetzung des heutigen Wirtschaftssystems darstellen und von Ökonomen mit denselben Begriffen beschrieben werden, mit denen Stadtsoziologen die Qualitäten der europäischen Stadt darstellen - oder die Autoren der Innsbrucker Studie ihre „Urbanissima“.

Und die Investoren? Beim Grazer Symposium ließ ein Vertreter von McDonald's mit der Bemerkung aufhorchen, daß es ihm in erster Linie um klare, langfristig stabile Vorgaben und weniger Bürokratie gehe. Mit anspruchsvolleren Strukturen habe er kein Problem: In Vorarlberg, wo die Ansprüche an Architektur generell hoch sind, sehe jeder McDonald's eben anders aus. Klug umgesetzt, könnte die Innsbrucker Strategie auch ihre ökonomische Bestätigung finden.

Spectrum, Sa., 2002.07.13



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u04_hochhaustudie innsbruck

15. Juni 2002Christian Kühn
Spectrum

Die dekorierte Schuppenente

Das unternehmerische Selbstbild der High-Tech-Firma „Semperit Technische Produkte“ - von Najjar & Najjar umgesetzt in eine biomorphe Baufigur. Über Möglichkeiten und Grenzen der Superzeichen-Architektur.

Das unternehmerische Selbstbild der High-Tech-Firma „Semperit Technische Produkte“ - von Najjar & Najjar umgesetzt in eine biomorphe Baufigur. Über Möglichkeiten und Grenzen der Superzeichen-Architektur.

Dem amerikanischen Architekten Robert Venturi verdankt die Architekturtheorie die Unterscheidung von Gebäuden in „Enten“ und „dekorierte Schuppen“. Bei letzteren sind bauliche Struktur und inhaltliche Aussage klar voneinander getrennt: Dem Schuppen ist ein Zeichen aufgesetzt, das auf die Bestimmung des Gebäudes verweist, sei es ein Zunftzeichen, ein klassischer Giebel oder eine monumentale Leuchtwand wie in Las Vegas. „Enten“ sind dagegen Gebäude, deren Form mit der Botschaft verschmolzen ist, etwa ein Würstelstand in Form einer Wurst oder - Venturis begriffsprägendes Beispiel - ein Geschäft für Lockenten in Form einer großen Ente. Venturi ging es nicht primär um diese offensichtlichen Skurrilitäten, sondern darum, die moderne Architektur generell als eine „Enten-Architektur“ zu entlarven.

Tatsächlich war es das erklärte Ziel des Modernismus, Form und Funktion so miteinander zu verschmelzen, daß die Form als Aussage über die Funktion jedes Gebäudes gelesen werden kann. Ihre Rechtfertigung suchte diese Art von Funktionalismus nicht zuletzt in der Natur: Louis Sullivan, jener amerikanische Architekt, von dem die Formel „Form follows function“ stammt, illustrierte seine Behauptung nicht etwa an Hand von Maschinen, sondern an Hand von Naturphänomenen wie dem Aufbau eines Vogelflügels. Die Idee der organischen Einheit von Form und Funktion ist zwar grundsätzlich inspirierend, führt in der Architektur jedoch rasch zu dem Problem, daß die Funktionen von Gebäuden in der Regel unklar definiert, von widersprüchlichen Interessen verschiedener Nutzergruppen abhängig und über längere Zeiträume betrachtet so gut wie nie stabil sind. Die funktionalistische Architektur ist daher dazu verurteilt, mit beachtlichem Aufwand eine nur scheinbare Einheit von Form und Funktion aufzubauen, eine „Als-ob-“, oder, in Venturis Worten, eine „Enten-Architektur“.

Die Postmoderne, zu deren Vätern Venturi zählt, bekannte sich zum „dekorierten Schuppen“ und damit zu einer erneuerten Auffassung von Architektur als Sprache: Die „Ente“ ist - semiotisch ausgedrückt - ein „ikonisches“ Zeichen, bei dem der Signifikant (die Form) bestimmte Merkmale mit dem Signifikat (dem Inhalt) gemeinsam haben muß. Der „dekorierte Schuppen“ ist dagegen als „symbolisches“ Zeichen abhängig von erlernten Bedeutungen und damit offen für jede Art von Sprachspiel, Bedeutungsverschiebung und Subversion - ein Potential, von dem die Postmoderne so ausgiebig Gebrauch machte, daß fast zwangsläufig eine Gegenbewegung einsetzen mußte, die im begrifflichen Umfeld von Bionik, Blobs und Biomorphismus Projekte und in jüngster Zeit auch vermehrt Gebautes hervorbringt. Nach den endlosen Sprachspielen von Postmoderne und Dekonstruktion scheint der biomorphe Blob endlich wieder natürliche Sicherheit in der architektonischen Formfindung zu versprechen.

Das Forschungs- und Entwicklungsgebäude, das Karim Najjar und Rames Najjar für die Firma Semperit Technische Produkte in Wimpassing, Niederösterreich, entworfen haben, ist ein hervorragendes Beispiel für diesen Trend. Semperit Technische Produkte - nicht zu verwechseln mit der inzwischen eingestellten Reifenproduktion - ist ein höchst erfolgreiches High-Tech-Unternehmen, das sich mit dem Neubau der Forschungszentrale ein neues, diesem Image entsprechendes Gesicht geben wollte.

Im Jahr 1999 wurde ein Gutachterverfahren ausgeschrieben, aus dem das Projekt von Najjar & Najjar, eine röhrenförmige glänzende Struktur, die sich diagonal an die Grundstücksgrenze vorschiebt, als Sieger hervorging. Die Hülle aus Aluminium schwingt sich in einer Wellenbewegung zu einer beinahe monumentalen, schräg über zwei Geschoße angeschnittenen Öffnung zur Bundesstraße hin auf, hinter der ein Großraumbüro mit eingezogener Galerie liegt. Auf dem oberen Niveau - also innerhalb der Aluminiumhülle - sind weitere Büros angeordnet. Im fast durchgehend verglasten Erdgeschoß liegen Laborräume. Eine großzügige zentrale Halle mit Oberlicht verbindet die
Ebenen räumlich miteinander.

Das Gebäude ist eine geglückte Umsetzung eines unternehmerischen Selbstbilds: Die Perfektion der Oberfläche suggeriert entsprechend hohe Standards der Produktion, die geschwungene Linienführung verweist auf die Kernkompetenz des Unternehmens Semperit, die Verformung von Kautschuk und Kunststoffen, die Raumschiffmetapher auf die globale wirtschaftliche Ausrichtung. Es verwundert also nicht, daß der Vorstand sich im Wettbewerb für dieses Projekt begeisterte. Daß er diese Begeisterung bis zuletzt durchgehalten und dem jungen Architektenteam genug Vertrauen auch in der Umsetzungs-phase entgegengebracht hat, ist dagegen besonders hervorzuheben.

Die Auszeichnung des Gebäudes mit dem diesjährigen „Aluminium Architektur Preis“ ist nicht zuletzt eine Anerkennung für die Konsequenz, mit der hier ein bestimmtes, im ersten Entwurf vorgestelltes Bild zur Realisierung gebracht wurde.

Bis auf den Wegfall eines Semperit-Logos, das im ersten Entwurf die große Frontöffnung wie einen Kühlergrill geteilt hätte, scheint das ausgeführte Projekt vom Entwurfsmodell kaum abzuweichen.

Daß Najjar & Najjar aber mehr wollten, als nur ein eingängiges Bild zu schaffen, zeigt ein Blick auf ihre früheren Arbeiten wie etwa die kinematische Skulptur BUG, die sie 1998 beim „steirischen herbst“ vorführten: eine beweglich gelagerte Metallrüstung mit Flügeln aus Aluminium, in deren Innerem der Umriß einer menschlichen Figur zu erkennen war.

Im gesteigerten Pathos dieser Inszenierung manifestierte sich eine Vision von Architektur als „Natur aus Stahl“, die im Semperit-Gebäude genauso angelegt ist. Aber im großen Maßstab stößt der Versuch, eine solche künstliche Natur zu schaffen, offensichtlich an seine Grenzen. Organische Einheit zwischen Form und Funktion würde ein Gebäude voraussetzen, das wirklich dynamisch ist und nicht nur so aussieht. Das Ziel der biomorphen Architektur, authentischer zu sein als der „dekorierte Schuppen“, verkehrt sich so in sein Gegenteil: Ihre Produkte werden zu aufwendigen Superzeichen, die zwar als solche höchst erfolgreich sein können, aber dabei ihre eigentliche Intention aufgeben müssen.

Blob-Architektur wird so lange Als-ob-Architektur bleiben, bis neue Materialien und Herstellungsverfahren existieren, die eine wirklich dynamische Architektur zulassen. Als Versuch in diese Richtung hat das Semperit Forschungszentrum jedenfalls Anerkennung verdient.

Spectrum, Sa., 2002.06.15



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Semperit F & E

04. Mai 2002Christian Kühn
Spectrum

Eine Bastelstube im Irrenhaus

Wann wird aus einem Geschmacksurteil ein Argument? Wo beginnt eine deutliche Mehrheit? Ist demokratische Entscheidungsfindung ab einer gewissen Medienkonzentration schlicht nicht mehr möglich? Grundsätzliche Fragen zum Anlaßfall Wasserturm Hainburg.

Wann wird aus einem Geschmacksurteil ein Argument? Wo beginnt eine deutliche Mehrheit? Ist demokratische Entscheidungsfindung ab einer gewissen Medienkonzentration schlicht nicht mehr möglich? Grundsätzliche Fragen zum Anlaßfall Wasserturm Hainburg.

Über Geschmack läßt sich bekanntlich schlecht streiten. Ich halte das Wittgensteinhaus für ein Kunstwerk und das Hundertwasserhaus für Kitsch. Meine Nachbarin, mit der ich sonst oft einer Meinung bin, sieht das anders. Sie fühlt sich nicht wohl angesichts der schmucklosen Fassaden des Wittgensteinhauses; ich freue mich über die Klarheit des Baukörpers, die ruhige Wirkung der Oberfläche und die ausgewogenen Proportionen. Das Hundertwasserhaus löst in ihr Erinnerungen an das bunte Spielzeug ihrer Kindheit aus; ich sehe dort nichts anderes als einen mißglückten Abklatsch jener Häuser, die Gaudí vor 100 Jahren in Barcelona errichtet hat.

Um meine Nachbarin zu überzeugen, könnte ich mich auf meine Autorität berufen: Immerhin habe ich Architektur studiert und betreibe seit vielen Jahren Architekturkritik. Du kleiner Fachidiot, sagt meine Nachbarin mitleidig, Häuser werden nicht für die Kritiker gebaut, sondern für den Mann von der Straße, an der sie stehen. Im übrigen halte sie Helmut Zilk für eine größere Autorität in Fragen der Stadtgestaltung als mich: Der sei immerhin Bürgermeister gewesen und habe als solcher schon gewußt, warum ein Hundertwasserhaus für Wien wichtiger war als ein Ronacher-Theater von Coop Himmelb(l)au.

Also gut. Dann besser keine Autoritäten mehr. Aber wer soll entscheiden, wenn es nicht um ein Urteil im nachhinein, sondern um die Frage geht, ob etwas in einer bestimmten Form gebaut werden soll oder nicht? Dafür gibt es demokratische Regeln, sagt meine Nachbarin, die darauf hinauslaufen, eine Mehrheit für eine Sache zustande zu bringen: Statt einer Hierarchie von Autoritäten ein freies, öffentlich ausgetragenes Spiel der Meinungen. Wer schließlich die Entscheidung fällt, ist eine andere Frage. Das kann eine Behörde sein, ein politisches Gremium oder alle Betroffenen per Volksabstimmung. Immerhin hätten sich sogar die Bauten auf der Akropolis in Athen einem Plebiszit stellen müssen, und da könne man wirklich nicht behaupten, daß die Architektur darunter gelitten hätte.

Gut, sage ich. Aber um in der Öffentlichkeit über eine Sache zu streiten, müssen wir Geschmacksurteile in Argumente verwandeln. Unsere Urteile über das Wittgenstein- und das Hundertwasserhaus vorhin waren eine Mischung aus Gefühlen, Erinnerungen und Kenntnissen. Daß ich die Architektur von Gaudí kenne, hat nichts mit Autorität zu tun, sondern mit Wissen, das du vielleicht nicht hast. Und selbstverständlich hat jedes Urteil einen Bezugsrahmen, der flexibel ist. Das Wittgensteinhaus hat neben einem Gemeindebau aus den fünfziger Jahren eine andere Bedeutung als neben dem Palais Stoclet von Josef Hoffmann. Ein Geschmacksurteil in Argumente zu verwandeln, die einem demokratischen Entscheidungsprozeß förderlich sind, heißt anzuerkennen, daß unsere Urteile nicht absolut sind. Sie ändern sich durch Erfahrung, durch Verschiebung des Bezugsrahmens und durch den allgemeinen Zeitenwandel.

Richtig, sagt meine Nachbarin. Aber etwas hast du vergessen: Es geht nicht zuletzt um Macht. Demokratie ist kein Paradies. Denk an das AKW Zwentendorf, denk an die Hainburger Au. Nicht Argumente haben dort den Ausschlag gegeben, sondern eine Politik der Gefühle, die sich mit Hilfe der Medien gegen die Macht des Staats durchsetzen konnte. Es braucht heute mehr denn je starke Überzeugungen und Menschen, die mit allen Mitteln für ihre Überzeugungen eintreten. Sonst setzen sich doch erst wieder die Mächtigen gegen die Interessen der kleinen Leute durch.

Das ist doch reinster Fundamentalismus, kontere ich. Und erzähle ihr die Geschichte vom Wasserturm in Hainburg. Dort fand 1999 ein Wettbewerb für das Besucherzentrum des Nationalparks Donau-Auen statt, den Coop Himmelb(l)au für sich entscheiden konnten. Als geeigneter Standort hatte sich in einer Studie ein Turm der mittelalterlichen Befestigungsanlage gefunden, neben den die Architekten ein verglastes Stiegen- und Lifthaus projektierten, das über eine ebenfalls verglaste Brücke mit dem Turm verbunden ist. Finanziert wird das Projekt von der Nationalparkgesellschaft, an der Bund, Land Niederösterreich und Gemeinde Wien beteiligt sind. Die Gesamtkosten betragen 2,58 Millionen Euro, wobei in diesem Betrag nicht nur die Baukosten, sondern auch die Kosten für die Ausstellungsgestaltung enthalten sind. Funktionell bietet der Aufstieg auf den Turm einen Überblick über das Nationalparkgelände, im Inneren soll eine inszenierte Liftfahrt nach unten - gestaltet von den Mediendesignern Nofrontiere - die ökologischen und historischen Zusammenhänge des Nationalparkprojekts präsentieren. In einem niedrigen Gebäude neben dem Turm erhält die Verwaltung des Parks ihre Büros.

Von Anfang an gab es Stimmen, die sich gegen das Projekt wandten. Warum ist das Gebäude so expressiv und aus Materialien errichtet, die gefühlsmäßig nichts mit dem Thema Natur zu tun haben, nämlich Stahl, Glas und Beton? Und mit welchem Recht überragt es den alten Wehrturm? Auf beide Einwände gibt es plausible Antworten: Der Nationalpark in seiner Gesamtheit ist ein komplexes politisches, juristisches und wasserbautechnisches Projekt. Warum sollte man für das Besucherzentrum nicht eine entsprechend komplexe Architektursprache wählen? Das Projekt läßt den alten Turm zwar in seiner Substanz bestehen, verändert aber seine Symbolik in einer Weise, die durchaus bedeutsam ist: Aus einem Turm, der zur Abwehr von Fremden erbaut wurde, wird eine symbolische Einladung, ein „Tor in die Zukunft“, wie die Architekten etwas pathetisch, aber angesichts der Fernwirkung des Gebäudes durchaus schlüssig formulieren.

Dazu kommen wirtschaftliche Argumente: Im Tourismus spielt nicht mehr allein die Konservierung des Bestands eine Rolle, sondern auch die Attraktivität des Neuen. In dieser Kategorie könnte Hainburg mit der Realisierung eines „Star-Architekten-Projekts“ punkten, noch dazu, wenn einer der „Stars“, nämlich Wolf D. Prix, aus Hainburg stammt.

Der Gemeinderat von Hainburg gab dem Projekt seinen Segen, zuerst 1998 in einer Grundsatzentscheidung, dann 1999 durch den einstimmigen Beschluß, der Nationalparkgesellschaft das Baurecht auf dem Grundstück zu übertragen. Auch das Bundesdenkmalamt prüfte die Pläne und gab seine Zustimmung. Am 3. September 2001 erfolgte der Spatenstich durch Landeshauptmann Erwin Pröll. - Doch nun traten die Kritiker erneut auf den Plan, forderten eine Volksbefragung und begannen, unterstützt von der „Kronen Zeitung“, eine Kampagne gegen die Realisierung. Am 17. März 2002 fand diese Befragung statt, bei einer Beteiligung von 36 Prozent sprachen sich 60 Prozent gegen das Projekt aus. In der Sitzung vom 22. März beschloß der Gemeinderat, das Projekt dennoch weiter zu verfolgen: Die Beteiligung sei zu gering gewesen, und das Ergebnis besitze laut Gemeindeordnung keinerlei bindende Wirkung.

Auch in Hinblick auf die Geschichte des gesamten Nationalparkprojekts war diese Entscheidung konsequent: 1993 hatte eine Volksbefragung in den betroffenen Gemeinden bei doppelt so hoher Wahlbeteiligung eine Ablehnung des Nationalparks von 80 Prozent ergeben. Auch damals hatten sich die politisch Verantwortlichen entschieden, dieser Volksmeinung nicht zu folgen.

Nun zeigte die „Kronen Zeitung“, was mediale Macht bedeutet. In beinahe täglichen Brandartikeln wurde Stimmung gegen das Projekt gemacht: Bernd Lötsch - für den die Architektur von Coop Himmel- b(l)au einer „Bastelstube aus dem Irrenhaus“ entstammt - warnte vor einem „architektonischen Super-GAU“, einer „Todesfalle für geschützte Vogelarten“ (ein Punkt, den die Projektbetreiber längst durch den Einsatz von bedrucktem Glas zu lösen versprochen hatten), der Stadthistoriker Stefan Scholz vor einer „Verschleuderung von Steuergeld“. Eine „Mehrheit von 60 Prozent der Bevölkerung“ - so war wahrheitswidrig zu lesen - hätte sich gegen das „Wahnsinns-Projekt“ ausgesprochen.

Als die „Kronen Zeitung“ berichtete, die Gegner des „Beton-Monsters“ würden sich - wie damals in der Au - an die Baggerschaufeln ketten, gab Carl Manzano, Direktor des Nationalparks und selbst ehemaliger Hainburg-Aktivist, am 23. April auf und ließ die Bauarbeiten bis auf weiteres einstellen: Das Image des Nationalparks würde unter der Situation zu sehr leiden. Nach dem aktuellen Stand der Dinge werde man die bisher in das Projekt investierten 500.000 Euro abschreiben und das Besucherzentrum in einer anderen Gemeinde errichten.

Zugegeben, sagt meine Nachbarin, eine häßliche Geschichte. Aber ist es denn wirklich wichtig, ob dieses Projekt so oder anders realisiert wird? Ja, denke ich. Denn was hier verraten wird, sind nicht elitäre Architekturvorstellungen, sondern demo- kratische Prinzipien. Ein etwas von der Norm abweichendes Gebäude in Hainburg zu verhindern ist für die Populisten und ihre Partner aus dem Mediaprint-Konzern nur eine Fingerübung. Man sollte lernen, sich rechtzeitig zu wehren.

Ein Diskussionsforum zu diesem Thema ist auf der Homepage der Architekturstiftung Österreich (www.aneta.at) eingerichtet.

Spectrum, Sa., 2002.05.04



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Wasserturm Hainburg

30. März 2002Christian Kühn
Spectrum

Wenn die Stadt sich totstellt

Zum „Kunstplatz“ sollte der Karlsplatz im Windschatten des U-Bahn-Ausbaus werden. Von allen guten Geistern verlassene Peripherie im Zentrum wird er wohl auch in Zukunft bleiben. Über eine vergebene Chance, intelligente Stadtgestaltung zu betreiben.

Zum „Kunstplatz“ sollte der Karlsplatz im Windschatten des U-Bahn-Ausbaus werden. Von allen guten Geistern verlassene Peripherie im Zentrum wird er wohl auch in Zukunft bleiben. Über eine vergebene Chance, intelligente Stadtgestaltung zu betreiben.

Man muß es offen sagen: Der Wiener Karlsplatz entwickelt sich zusehends von der „Gegend“ - als die ihn Otto Wagner einmal charakterisierte - zur „G'stättn“, auf der liegenbleibt, was niemand mehr haben möchte. Die Drogenszene, deren angebliche Eskalation von der „Kronen Zeitung“ gerade wieder thematisiert wird, ist nicht die Ursache, sondern nur eines der Symptome für seine zunehmende Verwahrlosung. Ein intelligent konzipierter städtischer Raum von der Dimension mehrerer Fußballfelder sollte problemlos 200 Sandler und Süchtige aufnehmen können, ohne daß sich das sonstige Publikum bedroht fühlen müßte.

Die ästhetische Verwahrlosung des Karlsplatzes und des gesamten Stadtraums bis zur Opernpassage ist offensichtlich. Das Stadtmobiliar ist abgewirtschaftet, die Kinderspielplätze - eine der spannendsten Gestaltungsaufgaben überhaupt - sind lieblos mit Gerätschaften verstellt, das Grün wuchert und bemüht sich, Aulandschaft zu spielen. Neben der Karlskirche wurde jüngst ein Marmorblock aufgestellt, der Kaiserin Elisabeth auf das Wesentliche - ihren Fächer - reduziert zeigen soll. Daß dieses Gebilde von der Stadt Wien um knapp über 100.000 Euro als Skulptur angekauft wurde, ist Skandal genug. Es neben die barocken Statuen der Karlskirche zu plazieren läßt sich höchstens mit der Behauptung entschuldigen, man hätte den symmetrisch auf der anderen Seite aufgestellten Waschbetontrögen ein würdiges Gegenüber bieten wollen.

Auf ähnlichem Niveau bewegen sich die in den Boden ein-gelassenen bronzenen Musikerporträts in der Opernpassage. Tröstlich sind diese naturalistischen Darstellungen großer Männer nur für die Sandler:
Sogar Claude Debussy ist offenbar nicht davor gefeit, ein-mal ganz unten im Dreck zu landen.

Nun klingt das alles so, als wäre der Karlsplatz ein ästhetisches Problem auf der Ebene der Stadtmöblierung. Das ist er
natürlich nicht. Der Karlsplatz ist primär ein Verkehrsproblem, bei dem die Gewichtung zwischen öffentlichen Verkehrsmitteln, motorisiertem Individualverkehr und Fußgängerverkehr über die Jahre aus der Balance gekommen ist. Seit der Überbauung des Wienflusses und der Errichtung der Stadtbahn ist der Karlsplatz ein gigantisches und in seiner Komplexität faszinierendes Verkehrsbauwerk, der eigentliche „Hauptbahnhof“ des Wiener U-Bahn-Netzes, an dem drei U-Bahn-Linien (U1, U2 und U4) zusammentreffen. Durch die Verlängerung der Linie U2 nach Transdanubien wird sich diese Bedeutung noch vergrößern.

Schon heute kommen hier täglich 50.000 Passagiere an, die sich vor allem durch die unter-irdischen Passagen bewegen. An der Oberfläche kreuzen sich wichtige Verkehrsströme des Individualverkehrs mit Straßenbahnen und einer Buslinie, die einen eigenen „Stationshügel“ besetzt.

Es hat den Anschein, als wäre der Karlsplatz das Resultat von Verkehrsflüssen, die sich hier beinahe von selbst ihren Raum geschaffen hätten, ähnlich wie ein Fluß sich sein Flußbett schafft. In Wahrheit ist er das Resultat jener Ideologien, die in den siebziger Jahren bestimmend für die Verkehrsplanung waren: weitgehende Trennung von Verkehrsströmen und Funk- tionen möglichst auf mehreren Ebenen, Schaffung von großzügigen Reserven für den Individualverkehr. Jan Tabor, der gerade im Künstlerhaus eine Ausstellung zum Thema „mega: manifeste der anmaßung“ vorbereitet, hat kürzlich bei einer Podiumsdiskussion im „Architektur Zentrum Wien“ einen passenden Vergleich gefunden: So wie das Militär den Truppenübungsplatz in Allentsteig brauche, so würden die Verkehrs-planer den Wiener Karlsplatz als Übungsplatz nutzen, um ihre jeweils aktuellen Ideologien zu erproben.

Die sechsspurige Stadtautobahn, die direkt vor dem Künstlerhaus den Karlsplatz quert, um dann unvermittelt in ein- bis zweispurige Straßen zu münden, ist keine funktionelle Notwendigkeit, sondern ein Manifest der siebziger Jahre, die sich anmaßten, jedes Strömungsproblem durch Vergrößerung des Kanals lösen zu können.

Bei der Podiumsdiskussion ging es freilich vor allem um das Schicksal des Projekts „Kunstplatz Karlsplatz“, das alle am Karlsplatz angesiedelten öffentlichen Einrichtungen (die Secession, die Technische Universität, den Musikverein, das Künstlerhaus und das Historische Museum) zu einer Interessengemeinschaft zur Aufwertung des Karlsplatzes zusammenführen sollte.

1998 hatte Manfred Nehrer, der Präsident des Künstlerhauses, die Idee, die anstehende Verlängerung der U-Bahn-Linien zum Anlaß zu nehmen, wieder einmal konkrete Konzepte zur Neugestaltung des Karlsplatzes ausarbeiten zu lassen. Für das Künstlerhaus bot die Verlängerung der U2 eine besondere Chance: Da die neue Wendeanlage großteils in offener Bauweise errichtet wurde, bleiben Hohlräume zurück, die sich ideal für Ausstellungszwecke nutzen lassen. Ein international bekanntes Beispiel ist die Erweiterung des Lenbachhauses in München, das in einem derartigen Raum eine attraktive neue Galerie eingerichtet hat. Nehrer schlug auch eine gemeinsame Nutzung mit dem Historischen Museum der Stadt Wien vor, das trotz kürzlich erfolgter Überdachung des Hofs an einem Mangel an hochwertiger Ausstellungsfläche leidet.

Unterstützt vom damaligen Planungsstadtrat Bernhard Görg, wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, der eine detaillierte Bearbeitung des unmittelbaren Umfelds des Künstlerhauses und ein allgemeines Konzept für die Neuordnung des Karlsplatzes zum Inhalt hatte. Als Sieger aus dem Wettbewerb gingen die Architekten Jabornegg und Pálffy hervor. Für das Künstlerhaus schlugen sie eine Schließung des unwirtlichen „Atriums“ und der nicht behindertengerechten Rampe vor, die in den siebziger Jahren als Aufgänge von der Passage errichtet worden waren. In diesem Bereich sieht das Projekt eine Oberlichthalle und eine großzügige Erschließung der neuen Ausstellungsräume über der U-Bahn vor. Der Aufgang von der Passage sollte so weit wie möglich nach oben geöffnet und durch einen zusammen mit dem Künstler Heimo Zobernig entworfenen 40 Meter langen Glaskörper betont werden.

Für den gesamten Karlsplatz entwickelten Jabornegg und Pálffy ein neues Konzept, das den Rückbau der sechsspurigen Stadtautobahn auf je zwei Fahrspuren und eine Verlegung der derzeit sinnloserweise diagonal über den Karlsplatz am Künstlerhaus vorbeiführenden Straßenbahntrasse vorsieht. Damit wäre auf dem Karlsplatz Spielraum für eine Neukonzeption des Stadtraums geschaffen, die nicht nur an der Oberfläche kratzt, sondern radikal neue Chancen eröffnet.

Die Kosten für diesen Umbau bewegen sich in der Größenordnung von 30 Millionen Euro. Ein beachtlicher Betrag, gewiß, der sich aber im Vergleich zu anderen Infrastrukturmaßnahmen und aufgeteilt auf mehrere Jahre relativiert. 1999 schien auch von seiten der Stadt durchaus Bereitschaft vorhanden, dieses Leit- bild langfristig zu übernehmen und kurzfristig die Maßnahmen beim U-Bahn-Bau vor dem Künstlerhaus darauf abzustimmen. Eine Zusage von Stadt-rätin Ederer über 4,3 Millionen Euro war vorhanden - freilich gekoppelt an die Voraussetzung, daß von seiten des Künstlerhauses genügend Sponsoringmittel eingeworben werden könnten.

Inzwischen ist viel Zeit vergangen: Das Künstlerhaus befindet sich nach der Einstellung der Bundesförderung in einer finanziellen Krise, das Nulldefizit macht den Kampf um private wie öffentliche Mittel noch härter als je zuvor, und scheinbar staatstragende Institutionen wie die Albertina und das Kunsthistorische Museum haben in diesem Wettrennen bessere Chancen als ein Künstlerhaus, das sich in den letzten Jahren mit einem innovativen Programm profilieren konnte. So bleibt es vorläufig bei großen Worten: Noch Ende Jänner dieses Jah-res hat Kulturstadtrat Mailath-Pokorny die „Aufrüstung des Kunstraums Karlsplatz“ zu einem wichtigen Ziel erklärt. Aber nach heutigem Stand werden die Wiener Linien ihre Baustelle abbauen, nicht mehr tun, als die Rampe notdürftig wiederherzustellen, das Stadtgartenamt wird neue Bodendecker pflanzen, und als einzige Neuerung wird ein weiterer Lüftungspilz vor dem Künstlerhaus zurückbleiben. Immerhin: Für die nächsten fünf Jahre haben sich die Wiener Linien verpflichtet, die neuen, jetzt leerstehenden Räume an niemand anderen zu vermieten.

Also doch ein Erfolg: Es bleiben alle Möglichkeiten offen. Und zugleich eine Bankrott-erklärung: Ohne private Investoren ist offensichtlich keine Verbesserung des Stadtraums mehr denkbar, ja nicht einmal ein neuer behindertengerechter Zugang zum Künstlerhaus. Im armen reichen Wien wird bis auf weiteres für die sozialen Probleme des öffentlichen Raums die Polizei und für die ästhetischen das Stadtgartenamt zuständig bleiben. Aber wäre der Karlsplatz mit seinen vielfältigen Herausforderungen in sozialer, technischer und kultureller Hinsicht nicht die ideale Probe für eine zeitgemäße Stadtpolitik, die durch eine integrale Heran-gehensweise den größten Effekt für die Bürger erreicht?

Spectrum, Sa., 2002.03.30

23. Februar 2002Christian Kühn
Spectrum

Zu dicht - gibt's denn das?

404 Wohnungen in vier achtgeschoßigen, parallelen Zeilen, durch die quer zwei dreigeschoßige Riegel durchgesteckt sind: ein Prototyp für zeitgemäßen Urbanen Wohnbau in Wien-Favoriten, entworfen von Bettina Götz und Richard Manahl alias ARTEC

404 Wohnungen in vier achtgeschoßigen, parallelen Zeilen, durch die quer zwei dreigeschoßige Riegel durchgesteckt sind: ein Prototyp für zeitgemäßen Urbanen Wohnbau in Wien-Favoriten, entworfen von Bettina Götz und Richard Manahl alias ARTEC

Der neue Wohnbau an der Ecke Laxenburger Straße/Dieselgasse im zehnten Wiener Gemeindebezirk versucht gar nicht erst, seine Dimension zu kaschieren: 404 Wohnungen in einem einzigen großen Bauwerk, gegliedert zwar, aber mit der kühlen Logik des Maschinenbaus. Vier achtgeschoßige, parallele Zeilen sind in Nord-Süd-Richtung angeordnet, in Querrichtung durchdrungen von zwei dreigeschoßigen Riegeln, die an den Enden gefährlich auskragen. Einer der beiden Riegel schwebt bodennah an der Nordseite und bildet eine breite gedeckte Passage. Der andere setzt auf der Höhe des vierten Geschoßes an und überbrückt die zwischen den Zeilen liegenden begrünten Zwischenräume.

Bettina Götz und Richard Manahl - die zusammen unter dem Namen ARTEC firmieren - haben mit diesem Wohnbau für die Genossenschaften GSG und Heimbau ihr bisher größtes Projekt realisiert. In Wien sind sie zuvor vor allem durch einen Schulbau in der Zehdengasse bekannt geworden, bei dem sie zu einer eigenwilligen poetischen Sprache fanden: plötzliche Materialwechsel, unvermitteltes Aneinanderstoßen von Raumschichten und im Inneren eine Kombination aus kräftigen Farben und Texturen. Der Wohnbau in der Dieselgasse ist in einem einheitlicheren Takt komponiert. Als Grundmaß könnte man die schweren, unbehandelten Betonbrüstungen ansehen, die - jeweils von zwei kreisrunden Öffnungen durchbrochen - als Balkon-geländer das Fassadenbild zu den Höfen hin bestimmen und auch in den inneren Erschließungshallen den Takt vorgeben. Der Massivität dieses Elements steht die Leichtigkeit der sonstigen Fassadenkonstruktion gegenüber, die zu großen Teilen aus einer glänzenden Metallschale besteht, die üblicherweise im Industriebau zum Einsatz kommt.

Es lohnt sich, den ARTEC-Bau mit Martin Kohlbauers unmittelbar angrenzendem Wohnbau zu vergleichen, einer weiß verputzten, klassische Stadtmuster zitierenden Anlage von annähernd gleicher Dichte. Der wesentliche Unterschied ist, daß ARTEC versuchen, eine dieser Dichte angemessene Bebauungsstruktur zu finden und nicht einfach noch mehr Wohnungen noch höher übereinanderzustapeln. Sie variieren dazu den Typus des „Passagenwohnhauses“: In den nord-südgerichteten Zeilen ist je eine über alle Geschoße reichende, mit einem Glasdach gedeckte Halle mit Galerien angeordnet, von denen aus die Wohnungen erschlossen werden.

Dieser Typus ist keine neue Erfindung: In der Wiener Donau-City ist er beispielsweise - unter ähnlichen Dichtevorgaben - von Mike Loudon erfolgreich eingesetzt worden. Durch die Kombination mit den quer zu den Zeilen durchgesteckten Baukörpern bekommen diese Hallen allerdings eine neue Qualität. Über dem dritten Geschoß gelangt man zur Dieselgasse hin aus jeder Halle auf eine durchgängige, 150 Meter lange Dachterrasse, die allen Bewohnern zur Verfügung steht. Auch über dem zweiten Riegel findet sich, auf der Ebene des siebten Geschoßes, eine solche Terrasse mit Ausblick über ganz Wien.

Durch dieses Erschließungssystem wird ein halböffentlicher Raum erzeugt, der sich als Netzwerk durch das Gebäude zieht. Im Unterschied zu konventionellen Stiegenhäusern ist dieses Netzwerk nicht nur ein Verkehrsweg, der von der Straße auf möglichst kurzem Weg in die Wohnung führt. Es bietet eine große Anzahl von potentiellen Ruhe- und Begegnungspunkten und mehrere Wege, vom öffentlichen Raum der Straße zur eigenen Wohnung zu gelangen. Ob die Bewohner diese Möglichkeiten nutzen und die zufälligen Begegnungen als Bereicherung oder Bedrohung erleben, wird sich zeigen. Aber schon das Angebot dieses halböffentlichen Raums ist wichtig.

Die Grundsatzdebatte, ob eine solche Dichte sozial überhaupt verträglich ist, wurde lange mit ideologischer Inbrunst geführt, etwa in der Polarisierung zwischen der Gartenstadt Roland Rainers und den terrassierten Hochhausapparaturen Harry Glücks. Heute scheint diese ideologische Diskussion durch einen Wohnungsmarkt überholt, auf dem es - in der Donau-City, in den Gasometern oder bald in den Wohntürmen auf dem Wienerberg - offenbar genug Interessenten für das Wohnen in dichten Strukturen gibt.

Man könnte nun behaupten, daß diese Nachfrage keineswegs die wirklichen Bedürfnisse der Bewohner widerspiegelt, sondern die harten Zwänge der Ökonomie. Das mag sein: Immer noch träumt die große Mehrheit vom Häuschen im Grünen. Aber die flächenhafte Agglomeration dieses Traums führt nicht nur zu einem ökologisch völlig unverantwortlichen Bodenverbrauch, sondern in der Regel auch zu einer Trostlosigkeit, wie man sie vor kurzem in Ulrich Seidels Film „Hundstage“ prototypisch vor Augen geführt bekam. Etwas Artifizielleres als eine jener Siedlungen im Süden Wiens, die im Film eine desperate Hauptrolle spielen, ist kaum mehr vorstellbar. Insofern kann man das Interesse für dichte Wohnformen durchaus als ein unsentimentales Bekenntnis verstehen: Wenn schon künstlich, dann mit allen Vorteilen städtischen Lebens, einer gewissen Anonymität, in der man seine Nachbarn grüßen kann, aber nicht muß, und vor allem mit kurzen Wegen zu verschiedenen städtischen Angeboten. Einer der großen Vorteile des Standorts an der Dieselgasse ist die unmittelbare Nähe zu einem der größten Schulzentren Wiens, das über ein Netz von begrünten Wegen kreuzungsfrei zu erreichen ist.

Die gesamte Anlage ist damit ein Prototyp für zeitgemäßes urbanes Wohnen. Im Vergleich zu den Großstrukturen im sozialen Wohnbau der siebziger Jahre ist sie besser an die städtische Infrastruktur angebunden, in höherer Qualität ausgeführt (etwa mit Holz-Aluminium-Fenstern) und auch in den Grundrissen wesentlich intelligenter konzipiert. Immerhin gibt es Wohnungstypen mit zwei Eingängen, in denen eine Generationswohnung oder eine Ordination als eigene Einheit betrieben werden kann, oder - in den unteren drei Geschoßen - kleine, unabhängige Räume, die als Büro angemietet werden können.

Eine größere Anzahl solcher flexibler Zonen wäre der nächste Schritt zu einer zeitgemäßen urbanen Dynamik. Mit diesem Anliegen stößt man aber rasch an die engen Grenzen der heu-tigen Baugesetze und Förderungsmechanismen. Die Anpassung der Raumhöhen von Büro- und Wohnbauten und die Einbeziehung halböffentlicher und erst langsam auszubauender Zonen in die Wohnbauförderung sind längst fällig und seit Jahren in Diskussion. ARTEC haben sich mit einigen Kollegen - Jabornegg-Palffy, MA-null, Max Rieder, PAUHOF, Elsa Prochazka, Manfred Wolff-Plottegg, Maria Welzig, Gerhard Steixner - zu einer interdisziplinären Gruppe zusammengeschlossen, die diesen Reformstau durch Forschung und Projekte auflösen möchte. Gerade weil Wien sich in den nächsten Jahren in hohen Dichten entwickeln wird, ist die Botschaft an Bauträger und Politik wichtig: Dichte allein ist keine Qualität, sondern nur ein Potential für reichhaltigere, im Raum gewebte Strukturen. In der Dieselgasse kann man ein Modell dafür besichtigen.

Spectrum, Sa., 2002.02.23



verknüpfte Bauwerke
Wohnbebauung ´Laxenburger Strasse´

26. Januar 2002Christian Kühn
Spectrum

Und das ohne Blumenkübel!

Technisch: die kreative Verbindung von Esembleschutz und Innovation. Politisch: die projektbegleitende Einbeziehung von Bürger- und Anrainerinteressen. In Summe: ein preisgekröntes Projekt mit hoher Akzeptanz. Ernst Beneders „Stadtprojekt Waidhofen“.

Technisch: die kreative Verbindung von Esembleschutz und Innovation. Politisch: die projektbegleitende Einbeziehung von Bürger- und Anrainerinteressen. In Summe: ein preisgekröntes Projekt mit hoher Akzeptanz. Ernst Beneders „Stadtprojekt Waidhofen“.

Provinz und Zentrum zu unterscheiden ist manchmal schwieriger, als man glaubt. Wien versteht sich als kulturelles Zentrum Österreichs, aber die Kärntner Straße ist einer der am provinziellsten eingerichteten Stadträume des Landes: ein Shopping-Center ohne Dach, garniert mit skurrilen Trinkbrunnen und sternförmigen, berühmte Musiker abbildenden Einlegearbeiten im Straßenbelag, in denen die Ästhetik des ehemaligen Ostblocks wieder auflebt. Waidhofen an der Ybbs liegt dagegen geographisch in der Provinz, kann sich aber seit kurzem offiziell rühmen, einen der am besten gestalteten Stadträume des Landes zu besitzen: Ernst Beneder hat für das seit 1991 von ihm architektonisch betreute „Stadtprojekt Waidhofen“ einen der wichtigsten österreichischen Architekturpreise erhalten, den Otto-Wagner-Städtebaupreis.

Dieser vom „Architektur Zentrum Wien“ und der Österreichischen Postsparkasse ausgelobte Preis ist benannt nach jenem Architekten, der das Wien der Jahrhundertwende als Metropole geprägt und ihm die Entwicklung zur „unbegrenzten Großstadt“ vorhergesagt hat. Den heutigen Tiefstand der Stadtmöblierung im Zentrum Wiens konnte Wagner nicht ahnen, ebensowenig, daß dieselbe Wiener Innenstadt vor kurzem zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Seine Warnung vor „Phrasen wie Heimatkunst, Einfügen in das Stadtbild und Erhaltung desselben“, mit der er sich gegen all jene wandte, die „den Begriff der Kunst mit jenem der Archäologie verwechseln“, hat damit jedoch an Aktualität gewonnen.

Welche Auswirkungen der neu erworbene Status als Weltkulturerbe haben wird - die Forderung nach musealen Kulissen oder jene nach höchstem Niveau bei allen zeitgenössischen Projekten -, werden die nächsten Jahre zeigen.
Die Stadt Waidhofen und Ernst Beneder haben den Otto- Wagner- Preis nicht zuletzt für den kreativen Umgang mit der historischen Substanz erhalten. Eine wesentliche Qualität des Projekts besteht in der Verbindung von Denkmalpflege, Ensembleschutz und Innovation zu einem über Jahre laufenden Gesamtprojekt, das in vielen Etappen umgesetzt werden kann. Im ersten Entwicklungskonzept, mit dem Beneder 1991 einen städtebaulichen Wettbewerb für sich entscheiden konnte, ist ein urbanistisches Gesamtziel beschrieben, das die allgemein anerkannten Gestaltqualitäten einer historischen Kleinstadt aus ihrer Bildhaftigkeit befreit und als lebendiges städtebauliches Kraftfeld in Szene setzt.

Zum Gesamtkonzept gehörten neben der Gestaltung der Platz- und Straßenräume auch eine Lösung der Verkehrsfrage mit einer - noch nicht ausgeführten - Garage im Stadtgraben in unmittelbarer Nähe des historischen Zentrums, die Erschließung stadtnaher Naturräume und die radikale Neugestaltung des Rathauses, die Beneder bereits in den Jahren 1993 bis 1995 umsetzen konnte.

Der im Kern aus dem 13. Jahrhundert stammende Bau stellte höchste denkmalpflegerische und konstruktive Herausforderungen. Um die älteste Bausubstanz mit ihren Tram- und Gewölbedecken erhalten zu können, konzipierte Beneder ein brückenartiges Fachwerk, das den Baukörper von Außenwand zu Außenwand überspannt und die Lasten über einem im Biedermeier errichteten Theatersaal abträgt. Mit der Kombination von alter Substanz mit zeitgenössischen Konstruktionen und Materialien - die in der vorherrschen-den Routine-Denkmalpflege oft nicht mehr darstellt als eine ungekonnte Pflichtübung - gelingen Beneder in diesem Gebäude außergewöhnlich riskante und spannungsvolle Momente. Daß sein „Offenes Rathaus“ durch innere Erweiterungen und die Verwendung leichter Tragkonstruktionen über den massiven Bauteilen über 32 Prozent mehr Nutzfläche aufweist als vor dem Umbau, ist ein erfreulicher Nebeneffekt.

Auch in der Gestaltung des öffentlichen Raums kann man von einem glücklichen Zusammentreffen von innovativer Gestaltung und Pragmatismus sprechen. Auf den ursprünglichen Plan, die Altstadt als Fußgängerzone zu musealisieren, hat die Gemeinde auf Drängen der Geschäftsleute nach kurzer Diskussion verzichtet. Die Forderung, den Straßenraum mit jenem Mobiliar zu verstellen, das in den meisten Fußgängerzonen unverzichtbar erscheint, also Blumenkübel, Sitzbänke und Kandelaber, trat damit von Anfang an in den Hintergrund. Die Plätze sind weiterhin befahrbar, allerdings mit einer raffinierten Markierung der Parkflächen, die anstelle von Farbmarkierungen mit kleinen Metallhülsen arbeitet, die in den Boden eingelassen sind und bei Bedarf als Halterungen für temporäre Stadtmöblierungen dienen können. Die Stadträume sind ansonsten frei von der üblichen Stadtmöblierung und von ornamentalen Bodenbemusterungen.

Das heißt nicht, daß die Verlegung nicht bis ins Detail durchgeplant wäre: Pflastersteine unterschiedlicher Größe und Feinheit sind nach einem genauen, aus der jeweiligen Situation entwickelten Plan verlegt. Ein zurückhaltendes Beleuchtungskonzept, das auf die üblichen Laternen verzichtet, unterstützt die stadträumliche Wirkung durch eine gezielte Steigerung der Lichtintensität an bestimmten räumlichen Knotenpunkten.

Der wesentlichste Eingriff in den Stadtraum ist überhaupt nur nachvollziehbar, wenn man alte Photographien zur Hand nimmt: Die Platzräume, die ursprünglich pombiert - also in der Mitte erhöht - waren, wurden im Zuge der Neugestaltung und der gleichzeitigen Erneuerung der technischen Infrastruktur wannenförmig ausgebildet, sodaß nun die Platz- und Straßenflächen zur Mitte hin abfallen.

So kam die Mariensäule auf dem Oberen Stadtplatz knapp einen Meter über dem neuen Niveau zu liegen und erhielt ein paar neue Stufen. Diese scheinbar unspektakuläre Maßnahme der Umkehrung des früheren Straßenquerschnitts ist der eigentliche Erfolgsfaktor des Projekts: Die Straße wird vom Verkehrsträger wieder zum öffentlichen, gemeinsamen Raum.

Die Neugestaltung ist auch ein exemplarisches Beispiel dafür, wie ein durchaus kontroversielles Projekt nach demokratischen Spielregeln umgesetzt werden kann. Das Gesamtprojekt und die einzelnen Bauphasen wurden mehrfach öffentlich präsentiert, in Bürgerforen, Aus- stellungen an den jeweiligen Bauplätzen und in einem eigenen Leitprojekt, in dem die einzelnen Planungselemente konkretisiert wurden. Das Gesamtprojekt hat mehreren Wellen der Herausforderung durch andere Sichtweisen (von seiten der NÖ Stadterneuerung, des City Marketing et cetera) standgehalten. Das „Offene Rathaus“ und die Gestaltung des „Ybbsufers I“ konnten noch ohne besondere Diskussionen realisiert werden.

Die Platzgestaltungen sollten dagegen noch zu Beginn des Jahres 2000 durch eine von einer privaten Gruppe initiierten Bürgerbefragung verhindert werden. Nach einem beispiellosen Wahlkampf, in dem sich alle Parteien - ÖVP, SPÖ, FPÖ, Grüne und Bürgerliste - hinter das Projekt stellten, wurde im März 2000 bei einer Beteiligung von 38 Prozent ein Votum von 78 Prozent für das Projekt durchgesetzt, das danach in verkürzter Bauzeit innerhalb weniger Monate umgesetzt werden konnte.

Die durch die Bürgerbefragung gedrängte Logistik des Umbaus und die projektbegleitende Einbeziehung von Anrainerinteressen wurde von Ernst Beneder wöchentlich in öffentlichen Versammlungen dargelegt. Auf dieser ständigen und mitunter heftigen Auseinandersetzung baut jedoch auch die hohe Akzeptanz des Projekts auf. Architektur und Städtebau sind inzwischen ein Thema des kulturellen Lebens. Das ist nicht nur gut für die Qualität der Architektur.

Die Debatte über den öffentlichen Raum ist zugleich als demokratische Praxis ein Wert für sich: Der gemeinsam erstrittene Stadtraum in Waidhofen ist eben kein Kompromiß, der niemandem weh tut, weil er alle Kontroversen im Kitsch erstickt, sondern eine Leistung, auf die man noch in Jahrzehnten genauso stolz sein wird wie auf das, was schon heute als „kulturelles Erbe“ außer Streit steht.

Der vorläufig letzte Akt in der Gestaltung der Plätze ist die heftige Debatte um die beiden Brunnen, die Ernst Beneder für den Oberen und den Unteren Stadtplatz entworfen hat. Die Leistung eines guten Brunnens besteht seit der Barockzeit in nichts anderem, als Wasser in Bewegung zu bringen: Je aufwendiger die Wasserführung, je charakteristischer der Klang, desto besser. Auf dem Unteren Stadtplatz läßt Beneder das Wasser kontemplativ auf eine kreisrunde Glasscheibe fließen und durch Bohrungen in ein quadratisches Becken plätschern. Auf dem Oberen Stadtplatz ist der Brunnen ein schmaler Waschtisch aus Glas und Stahl, ein räumlicher Auftakt für die Zeile von Ständen, die an Markttagen auf dem langgestreckten Platz aufgebaut wird.

Daß Stahl und Glas im historischen Kontext anfangs zu Protesten führen, ist nicht wirklich überraschend. Den Brunnen auf dem Oberen Stadtplatz zu verschieben, wie das nun als Kompromiß im Raum steht, um einer neuerlichen Bürgerbefragung zur Entfernung der Brunnen auszuweichen, wäre dagegen ein Schildbürgerstreich, der nicht nur die Architektur, sondern auch die Demokratie beschädigt.

Spectrum, Sa., 2002.01.26



verknüpfte Bauwerke
Stadtprojekt Waidhofen / Ybbs

01. Dezember 2001Christian Kühn
Spectrum

Denkmalschutz mit Brechstange

Nur noch dort investieren, wo es dem Patienten direkt zugute kommt, heißt die Sparmaxime im Krankenhauswesen. Daß es sich dabei lohnt, das Geld in guter Architektur anzulegen, zeigt der Umbau eines Pavillons im „Otto-Wagner-Spital“ durch Runser/Prantl.

Nur noch dort investieren, wo es dem Patienten direkt zugute kommt, heißt die Sparmaxime im Krankenhauswesen. Daß es sich dabei lohnt, das Geld in guter Architektur anzulegen, zeigt der Umbau eines Pavillons im „Otto-Wagner-Spital“ durch Runser/Prantl.

Die Landes-Heil- und Pflege-Anstalten für Geistes- und Nervenkranke „Am Steinhof“ in Wien waren zu ihrer Zeit die größte derartige Anlage der Welt. Auf einem Areal von fast einer Million Quadratmetern entstanden zwischen 1905 und 1907 Pavillons mit rund 2000 Betten, gegliedert in ein Sanatorium für Adel und Großbürgertum und einen doppelt so großen Teil für die weniger begüterten Kranken. Der Lageplan für die Anlage stammt von Otto Wagner, der auch die Anstaltskirche „Am Steinhof“ entwarf, eines der bedeutendsten Bauwerke des Wiener Jugendstils.

In seinem Lageplan versinnbildlicht Wagner, was seine Zeit unter einer vernünftigen Ordnung versteht. Die Anlage ist streng symmetrisch beiderseits einer Hauptachse, die vom schloßartigen Verwaltungsbau am Eingang bis zur Kirche führt, angeordnet, eine „weiße Stadt, überragt von der goldenen Kuppel einer weißmarmornen Kirche“, wie es in einem zeitgenössischen Bericht heißt. Die Rationalität der Anlage verfolgt therapeutische Absichten, ähnlich wie das auf ein Minimum reduzierte Ornament in Josef Hoffmanns Sanatorium Purkersdorf zur Heilung der dort behandelten Hysteriker beitragen sollte.

Wagner hat stets das „peinlich genaue Erfüllen des Zwecks“ als eine Hauptaufgabe der Architektur dargestellt. „Sola artis domina necessitas“ - nur einen Herrn kennt die Kunst, das Bedürfnis - lautete das auf Gottfried Semper zurückgehende Motto, das er auf seinem Wohnhaus anbringen ließ. Daß er die Forderung nach maximaler Vernunft gerade in einer Irrenanstalt exemplarisch umsetzen durfte, ist weniger irritierend als die Tatsache, wie viele seiner Überlegungen zur Disziplinierung jeder Unordnung sich auch in den „normalen“ städtebaulichen Konzepten Wagners wiederfinden - etwa im Entwurf für den 22. Wiener Gemeindebezirk als Teil einer unbegrenzten Großstadt - und von dort ihren Weg in die klassische Moderne gefunden haben, die dazu tendiert, alles Dunkle und Irrationale zu verdrängen. Ähnliches gilt für manche Details in den (nicht von Wagner entworfenen) Pavillons am Steinhof, etwa die abgeschrägten Fensterbänke, die das „unordentliche“ Abstellen von Gegenständen verhindern sollten und sich heute etwa in Werkstätten und Schulen wiederfinden.

Etwas überspitzt ließe sich behaupten, daß die weiße Stadt „Am Steinhof“ den Charakter eines Irrenhauses deshalb nie ganz abschütteln kann, weil sie durch und durch vernünftig angelegt ist. Nachdem die Psychiatrie zu großen Teilen abgesiedelt und durch geriatrische und neurologische Stationen ersetzt worden war, konnte das Spital immerhin seinen Namen ändern und wird derzeit als „Sozialmedizinisches Zentrum Baumgartner Höhe - Otto-Wagner-Spital“ saniert. Für den Umbau der großteils unter Denkmalschutz stehenden Pavillons wurde 1997 ein Wettbewerb veranstaltet, aus dem drei Büros - Beneder/Fischer, Runser/Prantl und Sarnitz/Silber/Soyka - als Sieger hervorgingen. Sie sollten an ausgewählten Pavillons unterschied- liche Konzepte erproben, die alte Substanz auf zeitgemäßen Stand zu bringen.

Als erster Pavillon wurde nun jener von Christa Prantl und Alexander Runser fertiggestellt. Die Architekten haben sich der Aufgabe mit einem Rationalismus genähert, der dem Wagnerschen nicht nachsteht. Die Grundidee ihres Entwurfs besteht im wesentlichen darin, dem Gebäude Masse zu entziehen, indem die Mittelmauern entfernt werden. Rational argumentiert, bedeutet diese Maßnahme einen Flächengewinn, der es erleichtert, den Zimmern die notwendigen Bäder zuzuordnen. Viel wesentlicher ist jedoch der Gewinn an Transparenz durch Lichtbänder über den Bädern, die Licht von der Südseite in den Gang bringen und diesen größer erscheinen lassen. An den Enden des langgestreckten Pavillons weitet sich der Gang zu je einem Tagraum, was ebenfalls erst durch die Entfernung der Mittelmauern in den Quertrakten möglich wird. Da es sich um eine geriatrische Station handelt, ist die Qualität dieser inneren Straße, die zwischen den Tagräumen hin und her führt, von großer Bedeutung für das Wohlbefinden der Patienten.

Das alles klingt wenig spektakulär. Aber wie so oft, wenn das Ergebnis besonders schlüssig und selbstverständlich aussieht, stehen dahinter eiserne Konsequenz in der Planung und die Bereitschaft, eine Idee gegen jeden Widerstand zu verteidigen. Das Denkmalamt ließ sich erst durch Sachargumente wie die Wendekreise von Rollstühlen davon überzeugen, dem Abriß der Mittelmauern zuzustimmen. Und als die Bewilligung von dieser Seite vorlag, war der Tragwerksplaner gefordert, eine konstruktive Lösung für die Unterfangungen zu finden, die auch ästhetisch Sinn hat. Oskar Graf schlug dafür eine Mischbauweise aus schlanken Ortbetonstützen und Stahlträgern vor. Während diese Konstruktion eingebracht und das Mauerwerk entfernt wurde, mußten alle Deckenlasten über eine Stützkonstruktion in die Fundamente abgetragen werden - ein sehr labiler Zustand, der aber sogar ein leichtes Erdbeben überstand, das sich genau in dieser kritischen Phase ereignete.

Der Aufwand hat sich gelohnt. Trotz geringer Gesamt-errichtungskosten von 20.500 Schilling (1490 Euro) pro Quadratmeter Bruttogeschoßfläche haben die Stationen eine Detailqualität, die für das Wohlbefinden älterer, in ihrer Wahrnehmung teilweise eingeschränkter Patienten entscheidend ist. Die scheinbar luxuriöse Ausführung von Mobiliar, Licht und Oberflächen - etwa die durchgängigen Ulmenholzfurniere - ist deshalb kein Luxus, sondern Zeichen von Respekt vor den Patienten. Dasselbe gilt für das kleine Glashaus, das die Architekten als Eingangsfoyer an den Pavillon gesetzt haben. Auch hier ist ein Detail symptomatisch: Um den wuchtigen Ramm- schutz zu vermeiden, der in ähnlichen Situationen zum Schutz gegen Transportwagen eingesetzt wird, verwenden die Architekten vorgespannte Stahlseile.

Zu Recht hat das Projekt beim jüngsten Staatspreis für Consulting eine lobende Erwähnung erhalten: So viel unspektakuläre Intelligenz dürfte nicht nur im Wiener Krankenhausbau eine Seltenheit sein.

Spectrum, Sa., 2001.12.01



verknüpfte Bauwerke
Otto Wagner Spital mit Pflegezentrum, Umbau Pavillon 9 - Geriatrie

20. Oktober 2001Christian Kühn
Spectrum

Mehr Sturm, weniger Ruhe bitte!

In Wien allein gibt es mehr Avantgarde-Architekturbüros als in den ganzen Niederlanden. Freilich: Nach dem dritten Geschäftslokal den Sprung zur nächstgrößeren Dimension zu schaffen, das wird nur wenigen gelingen. Über junge und etablierte Szene – und mangelnde Debattenkultur.

In Wien allein gibt es mehr Avantgarde-Architekturbüros als in den ganzen Niederlanden. Freilich: Nach dem dritten Geschäftslokal den Sprung zur nächstgrößeren Dimension zu schaffen, das wird nur wenigen gelingen. Über junge und etablierte Szene – und mangelnde Debattenkultur.

Auf dem Plakat steht: „Sturm der Ruhe“. Und: „What is architecture?“ Das „Architekturzentrum Wien“, kurz AzW, schon in den ehemaligen Hofstallungen angesiedelt, als es dort außer heruntergekommenem Barock, ein paar Messehallen und dem Glacis-Beisel keinerlei Attraktionen gab, liegt heute im Zentrum eines Kulturbezirks, der sich zu den zehn größten der Welt rechnet.

Entsprechend hoch hat sich das AzW die Latte für seine Eröffnungsausstellung nach der jüngsten Renovierung und Erweiterung gelegt. Warum die Frage, was Architektur ist, auf englisch gestellt werden muß, bleibt unklar. Die Antwort findet sich in der Ausstellung jedenfalls auf deutsch: „Wenn wir im walde einen hügel finden, sechs schuh lang und drei schuh breit, mit der schaufel pyramidenförmig aufgerichtet, dann werden wir ernst und es sagt etwas in uns: hier liegt jemand begraben. Das ist architektur.“ Direkt neben diesem Zitat von Adolf Loos wird dessen Skizze für das eigene Grab präsentiert, ein Würfel aus grauem Granit.

Ewigkeit überall:„Zu den Gebirgsformationen, die sich nicht mehr aus dem Gedächtnis drängen lassen, gehört der Dachstein“, wird Laurids Ortner mit einer Inspiration zitiert, der wir den benachbarten Basaltblock des „Museums Moderner Kunst“ zu verdanken haben.

Architektur mit Ewigkeitsanspruch auch bei Raimund Abraham: „Elementare Architektur“, das Buch mit Photographien anonymer Bauten von Josef Dapra, erschienen 1963.

Ein Stück Außenwand es Kunstmuseums Liechtenstein in Vaduz: Spiegel und polierter, grünlich-schwarzer Beton. Als Gegenpol dazu das Alltägliche und Ephemere: David Franck photographiert von Kindern im Wal errichtete Hütten, Bas Princen Wohnungsinterieurs mit kunstvoll beiläufig arrangiertem Hausrat in einem Wohnbau von Riegler Riewe. Eine Vitrine dokumentiert Thomas Bernhards Bauernhof in Ohlsdorf, daneben findet sich eine Photoserie über den minimalistischen Umbau einer Farm in Essex von John Pawson. Videos zeigen unter anderem Donald Judds „Chinati Foundation“ und die „Tate Modern Gallery“ in London von Herzog und de Meuron.

Für wen diese in der Präsentation unscheinbar wirkende Ausstellung gemacht ist, wissen wahrscheinlich nicht einmal die Kuratoren. Auch der Katalog – eine unkommentierte Anthologie von Texten über Körper, Raum und Subjekt – hilft nicht weiter: Wie die Auswahl zustande gekommen ist, kann mangels eines Vorworts nur geraten werden.

Hinter dieser Ungenießbarkeit blitzt jedoch die Andeutung hervor, daß die Ausstellung sehr wohl weiß, wogegen sie auftreten möchte: gegen die fortschreitende Einbindung der Architektur in die Mechanismen der Kulturindustrie, gegen die Reflexionsverweigerung jener, die Architektur auf die Formel Hochbau plus Haustechnik reduzieren möchten, gegen die Propheten der radikalen Beschleunigung.

Für das breitere Publikum sind diese Themen aber kaum nachvollziehbar, weil es in der Ausstellung nirgendwo dem angekündigten „Sturm der Ruhe“ begegnet, sondern nur einer Anzahl von Fragmenten. (Am ehesten vermag noch das Restaurant des AzW – von den französischen Architekten Lacaton/ Vassal gestaltet – diesen Eindruck zu vermitteln.) Aus demselben Grund fehlt der Ausstellung aber auch die Kraft, die potentiell höchst spannende fachinterne Debatte über diese Themen zu provozieren.

Gerade die Wiener Szene könnte von dieser Debatte profitieren. Am selben Abend, an dem im AzW die Etablierten zum obligaten Pre-Opening – Dinner geladen waren, präsentierte der Verein „Architektur in Progress“ im „Semper Depot“ ein Buch, in dem je drei Projekte von 20 „jungen österreichischen Architekten“ im Alter zwischen 30 und 50 Jahren vorgestellt werden.

Auch das Az W kümmert sich seit vergangenem Jahr um dieses Thema (die aktuelle Auflage von „Emerging Architecture“ wird derzeit in Budapest gezeigt), aber es ist bemerkenswert, mit welcher Energie die Szene selbst daran arbeitet, ihr „Sichtbarkeitsproblem“ zu lösen. Eine ähnliche Initiative ist die Ausstellung über die „innere szene wien“, die vom Verein „podroom“ initiiert und unter anderem in St.Petersburg gezeigt wurde. Als offene Plattform konzipiert, in die auch andere künstlerische Disziplinen einbezogen sind, produziert „podroom“ eine CD mit einer Projektauswahl von 44 jungen Büros, die Anfang nächsten Jahres der Zeitschrift „Wohnen “ mit einer Auflage von 40.000 Exemplaren beigelegt wird. So wichtig Sichtbarkeit und Marketing sind, so können sie doch allein keine strukturellen Probleme lösen. In Wien gibt es mehr Avantgardebüros, die eine Karriere nach dem Modell von Coop Himmelb(l)au anstreben, als in den ganzen Niederlanden. Nach dem dritten Geschäftslokal den Sprung zur nächstgrößeren Dimension zu machen wird aber nur wenigen gelingen, weil die Netzwerke dafür fehlen.

Sich als Altersgruppe zu formieren, ist dafür nicht genug. Eine Debatte, in der die Jungen inhaltlich – und damit zwangsläufig auch gegeneinander – Position beziehen, könnte der Szene jedenfalls weit mehr Profil und Struktur geben. Voraussetzung für den Erfolg sind inhaltliche Konzepte, fachliche Kompetenz und geeignete Netzwerke, die weit über die eigene Berufsgruppe hinausgehen. Fehlt einer dieser Faktoren, nützt auch die beste Öffentlichkeitsarbeit nichts.

Das „Haus der Architektur Graz “hat mit seinem aktuellen Programm unter dem etwas kryptischen Titel „HDAX “– einer Anspielung auf den deutschen Aktienindex – versucht, eine Diskussion in diese Richtung auszulösen. In der soeben erschienen Publikation mit Reflexionen über den „Mehrwert“ der Architektur empfiehlt der Developer Ludwig Morasch den Architekten, sich aufs Design von Hüllen zu beschränken, der Hamburger Großarchitekt Hadi Teherani spricht vom Haus als „ganzheitlich zu gestaltender Marke“, während Joost Meuwissen die Idee des Mehrwerts künstlerischer Produktion zuerst auf John Ruskins „Politische Ökonomie der Kunst“ zurückverfolgt und dann auf den Kopf stellt: Nicht die „perfekt gelösten“ Stellen des Entwurfs, sondern die offen gebliebenen, ungelösten seien heute die wertvollen.

Mit derart kontroversiellen Debatten ist der Architektur mehr gedient als mit er Nabelschau alternder Nachwuchsarchitekten. Als Anlaß für eine solche Debatte genommen, könnte auch die Ausstellung im „Architekturzentrum Wien “– trotz aller Defizite – noch Folgen haben. Mehr Sturm, weniger Ruhe ist gefragt.

Spectrum, Sa., 2001.10.20

13. Oktober 2001Christian Kühn
Spectrum

Provokation und Konus

Wie behaust man den Menschen des 21.Jahrhunderts angemessen? Und warum findet das breite Publikum die Antworten der klassischen Moderne auf diese Frage scheußlich? Und was hat das alles mit Revitalisierung und Erweiterung von Lois Welzenbachers Turmhotel Seeber in Hall in Tirol zu tun?

Wie behaust man den Menschen des 21.Jahrhunderts angemessen? Und warum findet das breite Publikum die Antworten der klassischen Moderne auf diese Frage scheußlich? Und was hat das alles mit Revitalisierung und Erweiterung von Lois Welzenbachers Turmhotel Seeber in Hall in Tirol zu tun?

Das Wissen der Europäer über ihre Architekturgeschichte wird sich mit der Einführung des Euro schlagartig erhöhen: Die neuen Geldscheine zeigen einen Querschnitt dessen, was in der EU gerne als unser „architektonisches Erbe“ bezeichnet wird. Auf den Vorderseiten der Scheine finden sich Portale und Fenster, auf den Rückseiten Brückenbauwerke jeweils einer Epoche. Eine eigenwillige Stilgeschichte führt von der „Klassik“ auf dem Fünf-Euro-Schein über Romanik, Gotik und Renaissance zu Barock und Rokoko, dann etwas holprig zur „Eisen- und Glasarchitektur“ und schließlich, auf dem 500-Euro-Schein, zur „modernen Architektur des 20.Jahrhunderts“. Eine besondere Herausforderung für die Gestaltung bestand darin, keine spezifischen Objekte abzubilden – wodurch einzelne Länder bevorzugt worden wären –, sondern generelle, aus verschiedenen Vorbildern abgeleitete Typen. Wenn man bedenkt, daß derartige Generalisierungen immer schwächer sein müssen als konkrete Einzelobjekte, ist es dem österreichischen Banknotengestalter Robert Kallin für die meisten Epochen leidlich gelungen, generische Stilbeispiele zu schaffen. Nur bei der „modernen Architektur des 20.Jahrhunderts“ ist dieser Versuch derart mißglückt, daß man über die eher geringe Verbreitung der 500-Euro-Scheine froh sein muß: Eine Stahl- und Glasfassade, die verdächtig an eine Brüsseler Tintenburg erinnert, wird von einem im Schrägriß abgebildeten Portal überlagert, das in seiner gestalterischen Unbedarftheit dem Katalog eines Baumarkts entsprungen sein könnte.

Diese Darstellung ist symptomatisch für ein Grundmißtrauen gegenüber der Architektur des 20.und wohl auch des 21.Jahrhunderts, das in Österreich deutlicher zu spüren ist als in anderen europäischen Ländern. Das liegt nicht etwa daran, daß es hierzulande gröbere Fehlleistungen der Moderne gegeben hätte als anderswo. Eher im Gegenteil: Die klassische Moderne in Österreich war selbstkritischer und reflektierter als der europäische Durchschnitt. Architekten wie Adolf Loos und Josef Frank sahen ihre Aufgbe nicht in der Zerstörung aller Tradition, sondern darin, den Menschen des 20.Jahrhunderts mit seinen – wie Loos sich ausdrückte – unumkehrbar „modernen Nerven“ angemessen zu behausen. Daß dabei viele Traditionen zum Einsturz kamen, erschien ihm als evolutionäre Notwendigkeit. Auch die Auswüchse des „Bauwirtschafts-Funktionalismus“ nach dem Zweiten Weltkrieg – in formaler Hinsicht eine brutale Vergröberung der klassischen Moderne – waren hierzulande weniger dramatisch als etwa in Deutschland.

Es muß also einen anderen Grund haben, daß die breite Mehrheit österreichischen Publikums Bauten der klassischen Moderne schlicht scheußlich findet. Am ehesten ist dieser Grund in der für österreichische Verhältnisse unerhörten Provokation zu finden, diese Gebäude nach wie vor ausstrahlen: Sie sind Symbolbauten einer Kultur, die schöpferisch sein möchte, ohne sich permanent an großen Vorbildern der Vergangenheit zu messen. Wer Zweifel daran hat, daß derartiges heute noch eine Provokation des „gesunden Volksempfindens“ ist, braucht nur die Kulturdebatten im Hohen Haus zu verfolgen, wo im vergangenen Jahr die Kultursprecherin der Freiheitlichen Partei – im Hauptberuf Fachärztin – ihre Rede folgendermaßen eröffnete: „Meine Damen und Herren! Österreich ist eines der traditionsreichsten Länder, was Kunst und Kultur betrifft. Sogar die Venus von Willendorf, eines der ältesten Kunstwerke der Welt, wurde in Österreich gefunden. Solch historischer Tiefgang verbindet sich gern mit dem Wunsch, ganz vorne dabei zu sein. Das Resultat ist jener Apetit auf Alt-Neu, vorsichtig auf kleiner Flamme gekocht und lauwarm serviert, der heute als typisch wienerisch bezeichnet werden muß und beispielsweise die Gasometer und das Museumsquartier hervorgebracht hat.

Als Provokation dieser Haltung und nicht nur wegen ihrer Seltenheit sind die Baudenkmäler der klassischen Moderne in Österreich schützenswertes Kulturgut ersten Ranges. Aus der Zeit nach 1918 sind hierzulande nur wenige Beispiele jener Richtung erhalten, die von den Architekturhistorikern Henry Russel-Hitchcock und Philip Johnson in ihrer im Wortsinn epochemachenden New Yorker Ausstellung des Jahres 1932 als „internationaler Stil“ bezeichnet wurde. Meist weiß verputzt, flach gedeckt und mit Bandfenstern belichtet, zeigten diese Bauten genug Gemeinsamkeiten, um daraus einen neuen Stil zu konstruieren. Als einziger Österreicher fand der Tiroler Lois Welzenbacher mit zwei Bauten Aufnahme in die New Yorker Ausstellung: mit dem Haus Schulz in Krefeld (1928/29) und dem Haus Treichl in Innsbruck (1929/31), beide heute durch Umbaumaßnahmen zerstört. Das eigentliche Hauptwerk Welzenbachers aus dieser Periode ist jedoch das Turmhotel Seeber in Hall in Tirol, 1930/31 für einen privaten Auftraggeber unmittelbar neben dem kurz zuvor entstandenen Kurhaus im Stadtpark errichtet.

Im kollektiven Gedächtnis der österreichischen Architektur ist dieses Gebäude vor allem durch eine Entwurfsskizze und eine Reihe hervorragender Photographien präsent, mit denen Welzenbacher seinen Entwurf nicht einfach abbildete, sondern unter verschiedenen Lichtverhältnissen und Perspektiven analysierte. Der knapp 25 Meter hohe, sechsgeschoßige Turm ist im Grundriß annähernd quadratisch, wobei allerdings zwei gegenüberliegende Seiten leicht gekrümmt sind, wodurch einmal eine konkave und einmal eine konvexe Fassade entsteht. Vor diesen Fassaden sind schmale Balkone geführt, die sich an den Ecken vom Baukörper lösen und frei auskragen. An der Westfassade löst sich schließlich der blockhafte Kern des Gebäudes in Flächen auf, die symmetrisch über Ecken gezogen sind und das windmühlenartige Spiel der auskragenden Balkone unterstützen.

Weder die gekrümmten Fassaden noch das freie Spiel der Balkone haben etwas mit Funktion zu tun: Welzenbacher lotet hier – Guiseppe Terragni viel näher als den Bauhaus-Funktionalisten – in manieristischer Weise die Möglichkeiten der neuen Architektur jenseits funktionalistischer Scheinzwänge aus. Daß Russel-Hitchcock und Johnson nicht dieses, sondern das zeitgleich fertiggestellte Haus Treichl in ihre Publikation aufnahmen, ist kein Zufall: Welzenbacher bricht im Turmhotel Seeber beinahe unmerklich alle Codes des Funktionalismus, an denen die Autoren die Moderne festmachen wollten. Derartige Überlegungen zum Turmhotel Seeber ließen sich bislang nur anhand von Skizzen und zeitgenössischen Photos anstellen: Das Haus selbst ist seit 1945 kontinuierlich heruntergekommen, die Dachterrasse zugebaut, die auskragenden Balkone abgeschnitten, durch mehrere Anbauten und eine bräunliche Färbelung bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

1997 kaufte die Stadt Hall das desolate Gebäude, um es mit einer Erweiterung als Seminarhotel zur Ankurbelung des Tourismus zu nutzen. Bruno Sandbichler, Gharakhanzadeh und Inge Andritz, die als Architekten eines Schulzentrums in Hall ein erstklassiges Beispiel für die neue Vitalität der Tiroler Baukultur realisieren konnten, erfuhren von dem Vorhaben und konnten die Gemeinde davon überzeugen, das einfältige Projekt ihres touristischen Beraters zu sistieren und einen Wettbewerb auszuschreiben, indem die Revitalisierung des Turmhotels und seine Verbindung mit der zu schaffenden Erweiterung ein zentrales Kriterium darstellte. (Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß diese Überzeugungsarbeit eine österreichweite Unterschriftenaktion für die Erhaltung des Hotels, ein kleines Symposium sowie eine Exkursion mit Gemeindevertretern und dem Leiter des Architekturforums Tirol zu neuen Hotelbauten in der Schweiz einschloß.)

Der erste Preis im Wettbewerb ging einstimmig an Gerold Wiederin und Andrea Konzett: Sie schlugen einen frei im Park stehenden, im Grundriß leicht trapezförmig verzerrten Block mit einer strengen Fassadengliederung vor, die allerdings durch ein leichtes Zurückspringen der inneren Glasfassade von den Ecken zur Mitte hin gelockert ist. Welzenbachers subtile Behandlung der Fassaden wird hier ohne jede Anbiederung weitergedacht. Auf den zweiten Rang kamen Dieter Henke und Marta Schreieck mit dem Projekt eines kreisrunden, leicht konischen Turms mit Glasfassade und Metalllamellen, der Welzenbachers Turm noch um ein Stück überragt.

Die Vertreter des Bauherrn in der Jury verlangten einige funktionelle Änderungen am Projekt von Wiederin/ Konzett, die Fachjuroren schlugen vor, diese Überarbeitung der Jury nochmals vorzulegen. Eine solche zweite Vorlage eines ersten Preises dient vor allem dem Schutz des Projekts vor Zudringlichkeiten des Bauherrn: Wiederin/ Konzett konnten die Anbindung zwischen Neubau und Turmhotel konzeptionell schlüssig umsetzen, die geforderte Verbindung zum Kurhaus mit einem Küchentrakt, die eine beidseitige Umklammerung des Turmhotels mit Ergänzungen zur Folge hat, verweigerten sie jedoch. Statt dessen versuchten sie, unterstützt von Fachberatern aus dem Hotelmanagement, den Bauherrn von organisatorischen Alternativen zu überzeugen. Der Bauherr hatte zu diesem Zeitpunkt aber bereits die Zweitgereihten zur Überarbeitung ihres Projekts eingeladen. Henke/Schreieck willigten ein, forderten allerdings, daß die Jury beide Überarbeitungen begutachte. Die Architekten in der Jury wollten mehrheitlich an ihrer ursprünglichen Entscheidung für den ersten Preisträger festhalten, wurden aber schließlich überstimmt.

Welzenbachers Turm wird also einen jüngeren Bruder aus Stahl und Glas erhalten, der sich der architektonischen Konkurrenz durch die Auflösung der Tektonik ins Objekthafte geschickt entzieht. 2003, zur 700-Jahr- Feier der Stadt Hall, wird man sich, wenn alles läuft wie geplant, davon überzeugen können, ob dieses Konzept aufgegangen ist.

Spectrum, Sa., 2001.10.13



verknüpfte Bauwerke
Turmhotel Seeber (heute: Parkhotel)
Parkhotel, vormals Turmhotel Seeber

18. August 2001Christian Kühn
Spectrum

Warum nicht von der Stange?

Trotz einer aktiven Architekturszene und Bauaufgaben wie dem Stadion, Museen und der Mehrzweckhalle auf dem Messegelände bleiben Salzburg bei öffentlichen Großprojekten Erfolge versagt. Die Baugeschichte des neuen Kongreßhauses läßt die Gründe ahnen.

Trotz einer aktiven Architekturszene und Bauaufgaben wie dem Stadion, Museen und der Mehrzweckhalle auf dem Messegelände bleiben Salzburg bei öffentlichen Großprojekten Erfolge versagt. Die Baugeschichte des neuen Kongreßhauses läßt die Gründe ahnen.

Manche Gebäude sind stumm, andere sind geschwätzig, nur ganz wenige singen. Wer am neuen Salzburger Kongreßhaus vorbeikommt, wird unwillkürlich an diese Unterscheidung aus Paul Valérys Dialog „Eupalinos, oder der Architekt“ erinnert. Viel stummer kann ein Gebäude kaum sein: ein kantiges Ensemble aus prismatischen Körpern, das trotz aller Verglasungen wenig einladend wirkt. Wer sich vom Großkaufhaus-Ambiente der Fassaden nicht abschrecken läßt und das Haus betritt, ist angesichts mancher Details und Materialkombinationen froh, daß es zumindest an Fluchtwegen nicht fehlt.

Interessanter als das Gebäude ist seine Vorgeschichte. 1992 war in einem Gutachterverfahren das Projekt des spanischen Architekten Juan Navarro Baldeweg zur Ausführung empfohlen worden, ein räumlich raffinierter Entwurf mit polygonaler Außenhaut, von oben belichteter Erschließungshalle und einem Saal, der von einer außergewöhnlichen, diagonal geführten Konstruktion getragen wird. Räumlich, konstruktiv und in der äußeren Erscheinung hätte nach diesem Entwurf eines der raren „singenden“ Gebäude entstehen können.

Zwei Jahre lang entwickelte Baldeweg sein Projekt weiter, bis der Gemeinderat 1995 auf Betreiben des VP-Klubobmanns Erwin Klemm mit knapper Mehrheit beschloß, ihm den Auftrag zu entziehen. Die Kosten des Projekts von 440 Millionen Schilling (32 Millionen Euro) seien zu hoch, die Auskragungen der Obergeschoße in den Hofgarten würden den Bebauungsbestimmungen widersprechen, außerdem fehle es dem Projekt an Fluchttreppen. Friedrich Brandstätter, einer der Preisträger aus dem ursprünglichen Verfahren, erhielt den Auftrag, sein Projekt baureif zu machen.

Aber nicht er allein: Die Hypo-Bank Niederösterreich als Bauträger bildete mit dem Salzburger Büro Zipperer eine Arbeitsgemeinschaft für die Projektsteuerung, garantierte für die Kosten und eine Fertigstellung im Sommer 2000 - für die öffentliche Hand allem Anschein nach eine Ideallösung, bei der sie die Verantwortung in finanzkräftige Hände auslagern konnte. Im Dezember 1997 geschah freilich etwas Unerwartetes: Die ARGE kündigte Brandstätter den Architektenvertrag, weil er durch verspätete Planlieferung die rechtzeitige Fertigstellung des Projekts gefährde. Brandstätters Sicht der Dinge sieht anders aus: Schon im Frühjahr 1997 habe er der ARGE empfohlen, den Entwurf noch vor der Einreichung der Salzburger Altstadt-Sachverständigenkommission vorzulegen. Dies sei jedoch mit dem Hinweis, die Kommission werde sich bei einem Projekt dieser Dringlichkeit dem politischen Willen beugen, nicht erfolgt. Als die Kommission am bereits eingereichten Projekt Veränderungen forderte, waren Umplanungen erforderlich, die den Projektverlauf verzögerten. Nachdem die ARGE in Brandstätter einen Schuldigen gefunden hatte, beauftragte sie den Architekten Ernst Maurer aus Hollabrunn, dessen zu etwa 70 Prozent abgeschlossene Planung fertigzustellen und die Bauaufsicht zu übernehmen.

Ein Protest namhafter österreichischer Architekten - unter anderem Volker Giencke, Rüdiger Lainer, Laurids Ortner und Helmut Richter - bei den verantwortlichen Politikern blieb ohne Erfolg: Wie die ARGE das Projekt umsetze, sei schließlich ihre Sache. Unter den Händen Maurers reifte der Entwurf zu jenem traurigen Ergebnis, das heute in Salzburg zu sehen ist. Wo die technoide Ästhetik Brandstätters einer perfekten Umsetzung bedurft hätte, regiert hier die grobe und im Zweifelsfall überzogene Lösung. Die absurde Pointe der Geschichte: Die Fertigstellung des Gebäudes war um fast ein Jahr verspätet, und die Kosten lagen mit knapp über 700 Millionen Schilling deutlich über den ursprünglich geplanten 529 Millionen.

Man könnte annehmen, daß eine solche Erfahrung die Verantwortlichen veranlassen sollte, die Kontrolle über Großprojekte nicht an finanzkräftige Bauträger mit zweifelhafter Sachkompetenz auszulagern.

Umso befremdlicher ist es, daß in Salzburg bei einem weiteren Großprojekt ein ähnlicher Weg eingeschlagen wurde. Ähnlich wie beim Kongreßhaus spielt auch in diesem Fall eine bankennahe Firma, die Sabfinanz, als Baumanager eine zentrale Rolle. Vor einem Jahr konnten sich die Wiener Architekten Krismer und Waldhart in einem Wettbewerb für die Mehrzweckhalle auf dem Salzburger Messegelände gegen Konkurrenten wie Massimiliano Fuksas und Betrix/Consolascio durchsetzen. Heute haben sie den Auftrag an das nicht am Wettbewerb beteiligte deutsche Großbüro KSP-Engel und Zimmermann verloren, das eine bereits in Braunschweig errichtete Veranstaltungshalle für Salzburg adaptieren wird.

Daß es so weit kommen konnte, hat mehrere Ursachen, unter anderem, daß die Halle auf einem inzwischen neu erworbenen, rund 100 Meter entfernten Grundstück errichtet wird. Der Hauptgrund ist aber die Tendenz, Gebäude entweder von bekannten Stararchitekten planen zu lassen oder eben risikominimierend von der Stange zu kaufen. Krismer, der immerhin mit der Eishalle in Wien-Kagran (zusammen mit Müller und Berger) sein Talent für große Bauaufgaben bewiesen hat, war dieser Mentalität gegenüber chancenlos. Noch während er seinen Entwurf für den neuen Standort adaptierte, besuchten die Bauherrn bei einer Exkursion die Braunschweiger Halle und beschlossen, dieses Muster für Salzburg zu übernehmen. KSP bot Krismer und Waldhart vorerst an, die Behördenwege für sie in Salzburg zu erledigen; nachdem der Gestaltungsbeirat vermittelnd eingegriffen hatte, zeichnete sich als Kompromiß eine Projektpartnerschaft ab.

D ie aber daran scheiterte, daß Krismer die Federführung im Entwurf beanspruchte und sich nicht von vornherein auf eine ovale Halle festlegen wollte. - Und der Wettbewerb? Obwohl zu je einem Drittel im Eigentum des Landes, der Stadt und der Wirtschaftskammer, sieht sich die SAZ, die Salzburger Ausstellungszentrum G.m.b.H., nicht an die Vergaberichtlinien für den öffentlichen Sektor gebunden und hat den Auftrag direkt an KSP vergeben.

Abgesehen vom negativen Signal für die Wettbewerbskultur: Daß sich die mächtigen Männer im SAZ-Aufsichtsrat, unter anderem Bürgermeister Schaden und Wirtschaftskammerpräsident Gmachl, mit einer Kopie zufriedengeben, statt für das bestmögliche Original zu kämpfen, läßt für Salzburgs Architektur wenig Gutes erwarten.

Spectrum, Sa., 2001.08.18

14. Juli 2001Christian Kühn
Spectrum

Wer stets die Treppe vergißt

„Zwischenorte - Architektur im Prozeß zur urbanen Erneuerung“ war das Thema des Europan-Wettbewerbs 2000/2001. Mit Projekten für Wien, Graz und Villach bewährte er sich als Großlaboratorium der innovativen europäischen Architekturszene.

„Zwischenorte - Architektur im Prozeß zur urbanen Erneuerung“ war das Thema des Europan-Wettbewerbs 2000/2001. Mit Projekten für Wien, Graz und Villach bewährte er sich als Großlaboratorium der innovativen europäischen Architekturszene.

In Gustave Flauberts „Wörterbuch der Gemeinplätze“ findet sich unter dem Stichwort Architekten der Eintrag: „Lauter Trottel. Vergessen immer die Treppen.“ Tatsächlich: Auftraggeber aus gehobenem bürgerlichem Milieu können ein Lied davon singen, woran Architekten zu denken vergessen haben. Zuoberst in der Rangliste stehen Fragen der Reinigung, dann die stets viel zu geringe Dimension der Abstellräume - von der unter Architekten verbreiteten Abneigung gegen Vorhänge ganz zu schwiegen. Aber Treppen: Geht das nicht zu weit?

Vielleicht nicht. Beim jüngsten Europan-Wettbewerb, einer europäischen Initiative für innovativen Wohnbau mit einer Altersgrenze für die beteiligten Architekten von 40 Jahren, war unter den für den Standort Wien prämierten Projekten eines zu finden, das den Eindruck vermittelte, die Architekten hätten die Treppen vergessen. Für das Grundstück in Simmering schlug das estnische Team aus Tallin - Ott Kadarik, Katrin Koov, René Valner und Siiri Vallner - eine Gruppe schlanker Türme mit jeweils einer Wohnung pro Geschoß vor. In die Wohnungen gelangt man direkt über einen Lift, der die einzige Vertikalverbindung im Turm darstellt.

Rund um die Türme findet sich eine wild wuchernde Vegetation, aus der das Projekt seinen Namen ableitet: „Out of Africa“ - für das Grundstück an der Simmeringer Hauptstraße, mit Remise, Gewerbebauten und Wohnhausscheiben aus den siebziger Jahren dispers bebaut, eine nachvollziehbare Assoziation, zumindest vom Zentrum Wiens oder gar von Tallin aus betrachtet.

Statt diesen, wie man in Wien sagen würde, „entrischen“, also etwas unheimlichen Ort zu domestizieren, möchte das Projekt den fremdartigen Charakter noch steigern. In bezug auf das Thema des Europan-Wettbewerbs, „Zwischenorte - Architektur im Prozeß zur urbanen Erneuerung“, trifft dieses Konzept jedenfalls eine klare Aussage: Zwischenorte an den Randzonen der Städte sollten nicht mit den üblichen Mitteln verdichtet, sondern eigenständig entwickelt werden, als künstliche Landschaften mit Implantaten ohne Ewigkeitsanspruch. Der Turm als individueller Fluchtpunkt mit Blick über den Dschungel ist dafür die angemessene Wohnform.

Den ersten Preis gewonnen hat freilich ein ganz anderer Ansatz. Anna Popelka und Georg Poduschka schlagen eine Struktur mit hoher Dichte vor, die den Straßenraum zur Fickeystraße mit einem viergeschoßigen Trakt schließt und von dort aus zu einem achtgeschoßigen Volumen ansteigt, das schließlich zur Grundstücksmitte hin nach Süden und Westen in Terrassen abfällt. Über dieses Projekt gab es in der Jury eine intensive Diskussion. Ist es eine Wiederaufnahme von Stadthügelideen der siebziger Jahre, eine terrassierte Megastruktur im Geiste Harry Glücks? Joost Meuwissen, Jurymitglied und Professor für Städtebau an der TU Graz, interpretiert das Projekt ganz anders: Man dürfe es nicht als Baumasse betrachten, sondern als Ergebnis der unsentimentalen Auseinandersetzung mit städtebaulichen Parametern.

Popelka und Poduschka machen eine Bestandsaufnahme: Baulinien und Bauhöhen, Belichtung der Nachbarbauten, bestehende Bäume. Daraus ergibt sich ein Maximalvolumen, an dem dann die weitere räumliche und funktionelle Bearbeitung erfolgt. Nicht in jedem Punkt deckt sich dieses Maximum mit dem baurechtlich möglichen: An der Fickeystraße bleiben die Architekten deutlich unter der möglichen Traufhöhe, um die Belichtung der gegenüberliegenden Wohnbauten nicht einzuschränken.

Das imaginäre Volumen bezeichnen Popelka und Poduschka (wohl mit Seitenblick auf den Investor) als „Nugget“ und haben sich von dieser Idee dazu verführen lassen, ihr Gebäude auch in den Visualisierungen als goldfarbenen Batzen darzustellen.

Die Qualitäten des Projekts liegen aber gerade nicht in der Masse, sondern in den Leerräumen, die das Gebäude durchziehen und ein System von öffentlichen Zonen bilden, die sich nach verschiedenen Richtungen öffnen und so Licht ins Innere des großen Volumens bringen. In diesen Räumen kommt das Interesse der Architekten an formalen Fragen, das in der Ableitung des „Nuggets“ zumindest argumentativ hintangestellt wurde, wieder deutlich zum Vorschein. Diese Spannung zwischen objektiven Parametern und künstlerischem Eigensinn ist für Popelka und Poduschka charakteristisch: Es gehe ihnen darum, das „Normale“ anzunehmen und dann radikal, also vom Grundsätzlichen her, zu verändern.

Der Europan-Wettbewerb wurde Ende der achtziger Jahre ins Leben gerufen, um solchen Anliegen Chancen zu geben, innovative Ansätze für den Wohnbau aus ganz Europa zu bündeln, zu publizieren und, wenn möglich, auch zu realisieren. Daraus leitet sich die reichlich komplexe Organisation des Europan-Verfahrens ab. Ein wissenschaftlicher Beirat legt alle zwei Jahre ein Thema fest; in den Partnerländern beginnt die Suche nach Städten, die bereit sind, ein geeignetes Grundstück zur Verfügung zu stellen und neben den lokal anfallenden auch die Kosten für die zentrale Europan-Organisation zu übernehmen, die sich pro Land auf 750.000 Schilling (54.500 Euro) belaufen.

Nachdem Österreich aus finanziellen Gründen beim vorletzten Europan-Verfahren nicht mehr als Auslober vertreten war, konnte Bernd Knaller-Vlay als neuer österreichischer Europan-Sekretär diesmal mit Wien, Graz und Villach drei Städte zur Teilnahme gewinnen und mit dem von Heidi Pretterhofer betreuten Forschungsprojekt „habitat plus“ auch zum ersten Mal eine wissenschaftliche Begleitung des Verfahrens und der Umsetzung ins Leben rufen.

Beim Eröffnungskongreß zum Wettbewerb, der im November vorigen Jahres in Berlin stattfand, wurden neben den Grundstücken auch die Jurys der einzelnen Länder vorgestellt: jeweils vier Architekten, ein städtischer Beamter, ein Vertreter der Bauwirtschaft, ein Vertreter des Landes und zwei „Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“. Die österreichische Jury bestand diesmal aus Nasrine Seraji, Klaus Kada - zugleich Präsident von Europan Österreich -, Joost Meuwissen und Therry Verdier als Architekten, Wolfgang Krejs als Stadtvertreter, Hartmut Spiluttini als Vertreter der Wirtschaft, Johannes Voggenhuber als Vertreter der Republik sowie der britischen Künstlerin Angela Bulloch und dem Philosophen Peter Sloterdijk.

Die Jurierung erfolgt zweistufig: Zuerst wird etwa ein Fünftel der eingereichten Arbeiten ausgewählt und bei einem Treffen aller europäischen Juroren und des wissenschaftlichen Komitees - das diesmal in Karlskrona, Schweden, stattfand - diskutiert. Dann erfolgt die Endjury in den einzelnen Ländern, bei der pro Standort ein Projekt für die Ausführung vorgeschlagen wird und zusätzlich Ankäufe und lobende Erwähnungen vergeben werden, die in die europäische Gesamtpublikation aufgenommen werden. Für das Siegerprojekt sollte danach die Suche nach einem Bauträger beginnen. In Wien, wo mit der Grundeigentümerin Michaela Mischek ein auch architektonisch ambitionierter Bauträger bereits feststeht, stehen die Chance für eine Umsetzung gut.

Allerdings ist die Realisierung nicht immer das Hauptmotiv für die Beteiligung der Städte. Oft ist die öffentliche Diskussion über einen Standort und über neue Konzepte im Wohnbau für die teilnehmenden Städte der kurzfristig wichtigere Grund für die Teilnahme. Bei Graz und Villach steht dieses Motiv im Vordergrund, obwohl man auch dort um Realisierungen bemüht sein wird.

In Graz erhielt ein slowenisches Team - Rok Oman, Spela Rogel und Josip Konstantinovic - den ersten Preis für ein Projekt mit dem Titel „Curly Landscape“. Das Areal im Entwicklungsgebiet Graz West ist eine Industriebrache der besonderen Art: Nach der Absiedlung einer Brauerei stehen hier agrar-industrielle Flächen zur Disposition, das Gebiet soll mit Fachhochschulen und Betrieben aus dem tertiären Sektor entwickelt werden. Die „Curly Landscape“, die in der
Draufsicht einem Teppichmuster aus den fünfziger Jahren ähnelt, transformiert die übliche Einfamilienhausdichte in eine neue Form kollektivenWohnens, ein Netzwerk aus Abgeschiedenheit und Öffentlichkeit, das sich in der aufgefalteten Landschaft ausbreitet.

Das Areal in Villach ist ebenfalls ein Zwischenort, obwohl es nur wenige Minuten vom Zentrum entfernt liegt. Hier war vor allem eine langfristige Strategie gefordert, um ein Gebiet mit sehr heterogener Eigentümerstruktur, das teilweise zwar profitabel, aber für den zentralen Standort höchst unangemessen als Parkierung für die Einkaufsstraßen des Zentrums genutzt wird, im Lauf der nächsten 20 Jahre zu einem attraktiven Standort zu entwickeln. Den ersten Preis erhielt hier ein Team aus Berlin - Zeynep Ayse Hicsasmaz, Thorsten Bunk und Jahn Monner - mit einem Projekt, das diesen abstrakten Prozeß mit einprägsamen Bildern zu vermitteln versteht.

Am Anfang steht die „Entsiegelung“ einer inneren Zone quer über die Eigentumsgrenzen hinweg und die Umlegung der Parkierung. Dann werden im Bebauungsplan Zonen festgelegt, die sich in der Folge in Innenhöfe verwandeln sollen. Um diese Zonen zu markieren, könnten hier in Zusammenarbeit mit Künstlern temporäre Installationen entstehen, die im Laufe der baulichen Realisierung sukzessive wieder abgebaut werden.

Im Meer der architektonischen Gemeinplätze des heutigen Wohnbaus zeigt Europan mit diesen Ergebnissen ernsthafte Alternativen. - Und die vergessenen Treppen? Dafür wird sich eine Lösung finden.

Spectrum, Sa., 2001.07.14

26. Mai 2001Christian Kühn
Spectrum

Flach auf dem Bauch

Architektonischer Triumph oder doch nur gefälliges Kunsthandwerk des Medienzeitalters? Hans Holleins Bürohaus in der Wiener Leopoldstadt: vom Sieg des lebenslangen Marketingfeldzugs eines Architekten über seine Architektur.

Architektonischer Triumph oder doch nur gefälliges Kunsthandwerk des Medienzeitalters? Hans Holleins Bürohaus in der Wiener Leopoldstadt: vom Sieg des lebenslangen Marketingfeldzugs eines Architekten über seine Architektur.

Der Wiener Donaukanal ist innerstädtisches Entwicklungsgebiet, das jahrzehntelang vernachlässigt wurde. Vielleicht liegt es nur am Namen: Würde man den Bereich zwischen Roßauer Brücke und Aspernbrücke in Anlehnung an den ersten Bezirk nicht „Kanal“, sondern „Innere Donau“ nennen - wie es letztes Jahr eine Gruppe jüngerer Wiener Architekten in einer Entwicklungs-studie über den gesamten Verlauf des Donaukanals vorgeschlagen hat -, dann könnte ein ähnlicher Effekt eintreten wie beim „Entlastungsgerinne“, das den Wienern erst nach seiner Verwandlung in eine Donauinsel samt Copa Cagrana ans Herz gewachsen ist.

Tatsächlich findet derzeit am nördlichen Ufer des Schwedenplatzes eine Aufwertung der Bausubstanz statt, die eine Umbenennung in „Innere Donau“ rechtfertigen würde. Die massive Betonscheibe des IBM-Hauses wird von Rudolf Prochazka in eine leicht gekrümmte Glashaut eingekleidet, die Uniqa-Versicherung saniert einen ganzen Baublock und wird hier nach Plänen des Büros Neumann ein Hochhaus errichten, wobei im Erdgeschoß eine großzügige öffentliche Zone entsteht: Hier sollen sich die Wiener so zu Hause fühlen, daß sie auch ihre Pensionsmilliarden gerne beim Hausherrn anlegen.

Wenn der neue Wiener Planungsstadtrat, Rudolf Schicker, seine Ankündigung wahr macht, die Entwicklung im Bereich der „Inneren Donau“ zu fördern und dabei in Zukunft bei der Bewilligung von Aufzonungen die Bauträger dazu zu verpflichten, einen Teil ihrer Widmungsgewinne in die Sanierung des öffentlichen Raums zu investieren, dann könnte der Schwedenplatz zu einem der interessantesten Punkte der Stadt werden.

Als erster Neubau fertiggestellt wurde jüngst das Bürohaus von Hans Hollein, das ursprünglich für die Generali-Versicherung geplant war und nun an den News-Verlag vermietet wurde. Hollein gewann 1995 das Gutachterverfahren unter anderem gegen Jean Nouvel, der ein eher kompaktes Gebäude mit einer mehrschichtigen, an den Ecken abgerundeten und im Sockelbereich konkav nach innen gezogenen Glasfassade vorgeschlagen hatte. Die unterschiedlich transparenten, leicht gekrümmten Gläser sollten „ein lustvolles Spiel von Realität und Virtualität“ in Gang setzen.

Hollein setzte dagegen auf die skulpturale Wirkung einer dreidimensionalen Collage, die aus diversen Versatzstücken der Umgebung gebildet ist. Auf die gründerzeitliche Bebauung der Taborstraße reagiert Hollein mit einem die Traufhöhe aufnehmenden, mit Stein verkleideten Block mit Lochfassade. Dann springt das Gebäude etwas zurück und setzt sich zum Donaukanal hin in einem Block fort, der die Fassadenteilung der früheren Bundesländerversicherung von Georg Lippert aus dem Jahr 1961 in leicht modifizierter Form übernimmt. Zur Häuserzeile an der Oberen Donaustraße schließt Hollein wieder mit einem Zwischenelement an, in dem ein Fluchtstiegenhaus untergebracht ist.

Der höchste Gebäudeteil ist ein schlanker, leicht geneigter Turm, der von einer leuchtenden Anzeigetafel gekrönt wird, einem 14 Millionen Schilling (zirka eine Million Euro) teuren Gerät mit beeindrucken der Leuchtkraft, auf dem sich im abwechselnden Aufleuchten der Titel „profil“, „Format“, „News“ und „TV-Media“ der jeweils aktuelle Stand der Konzentration in der österreichischen Medienlandschaft ablesen läßt.

Im unteren Bereich hat Hollein die Ecke zum Schwedenplatz bis zum fünften Stock in Glas aufgelöst und schräg aus der Fassade gezogen, eine Bewegung, mit der die Neigung des Turms ausbalanciert wird. An die Fassade zur Taborstraße hat Hollein auf einer Stele noch einen metallisch schillernden, aber ansonsten am klassischen Vorbild orientierten Markuslöwen plaziert.

An derselben Fassadenseite hat Hollein einen Erker angebracht, der aus einem der Bürogeschoße des News-Verlags herausragt und nicht - wie oft vermutet wird - des Fellnersche Büro, sondern einen Besprechungsraum aufnimmt. (Die Verlagsleitung residiert im obersten Stockwerk des schlanken Turms mit beneidenswertem Blick über Wien.) Auf das Dach des vorderen Bauteils hat Hollein unter ein metallisches, vielfach gekrümmtes Dach einen Veranstaltungsraum gesetzt, dessen Kontur in der Frontalansicht die ebenfalls leicht konkave Dachlinie des Lippertschen Baus nebenan aufnimmt.

Hollein versteht sich als Bildhauer im Großen. Architektonische Elemente verschmelzen ihm zu einer skulpturalen Masse, die geformt, geschichtet, angeschnitten und aufgedoppelt wird, bis eine Balance hergestellt ist. Stadträumlich hat das Ergebnis hier durchaus Sinn, wenn man es darauf anlegt, die unglückliche städtebauliche Situation zu kaschieren, die halbherzig zwischen der zurückgesetzten modernistischen Scheibe des Lippertschen Baus und der geschlossenen Verbauung an der Oberen Donaustraße entstanden ist.

Für sich betrachtet, fehlt dem Gebäude aber die Substanz. Es erinnert ein wenig an die Geschichte von dem Mann, der sich seinen Maßanzug vom Schneider abholen möchte. Der Anzug wirft bei der Anprobe überall Falten, und als sich der Kunde beim Schneider beschweren will, bekommt er zur Antwort, daß er den Anzug nur nicht zu tragen verstehe: Eine Schulter nach vor, die Hüfte etwas heben, den linken Arm nach unten strecken, und so weiter. Stolz und faltenlos geht der Mann auf die Straße. Da kommen zwei Passanten: „Schau, so ein armer Behinderter.“ Darauf der andere: „Ja, aber einen phantastischen Schneider hat er!“

Das ist nun sicher eine Grundsatzfrage. Ich wünsche mir bei einem Gebäude zumindest die Auseinandersetzung mit dem Zweck jenseits eines eindimensionalen Funktionalismus, ich wünsche mir rationale und ökonomische Konstruktion und im Sinne Jean Nouvels eine Erforschung der neuesten, nicht nur technischen, sondern auch poetischen Möglichkeiten der Gebäudehülle, also kurz: zeitgemäße Tektonik.

Keines dieser Kriterien kann Holleins Bau erfüllen. Aber vielleicht ist meine Forderung altmodisch. Hollein hat bereits in den sechziger Jahren geschrieben, daß es beinahe gleichgültig sei, ob die Akropolis oder die Pyramiden in Wirklichkeit existieren, da die meisten Menschen sie ohnehin nur von Bildern und nicht aus eigener Erfahrung kennen würden. Eigentlich müsse man Gebäude gar nicht bauen: Es sei ausreichend, sie zu simulieren. Die Schlußfolgerung, die Hollein damals zog, war die Idee einer „absoluten Architektur“, die nur nach ihren eigenen Gesetzen zu bilden sei, und wenn man schon ein Haus bauen müsse, dann würde es irgendwann „seine Verwendung finden“. So betrachtet, ist es vertretbar, unter „Fassade“ nicht mehr zu verstehen als die Oberflächenschicht einer Skulptur, die ihrerseits gar nicht als Skulptur, sondern nur auf einer photographischen Abbildung zur Wirkung zu kommen braucht.

Den Gedanken, daß die Bedeutung und die Rolle eines Bauwerks auf dem Effekt der medialen Vermittlung beruhen, hat Hollein auf eine spezifische Art weitergedacht. Als er 1999 von einem Wodkahersteller zu einem Beitrag zur Serie „Absolut Originals“ eingeladen wurde, die als Inserat im „Time-Magazine“ erschien, wurde als Text ein Interview abgedruckt, in dem Hollein gefragt wurde, ob er schon einmal an einer Werbekampagne teilgenommen habe. „Nein“, war die Antwort, aber „als Architekt ist man dauernd auf einem Werbefeldzug für sich selbst.“ Holleins Beitrag bestand in einer Photomontage des Haas-Hauses, dessen vorderer Turm durch eine riesige Wodkaflasche ersetzt wurde.
„Alles ist Architektur“: Auch das ist ein Satz Holleins aus den sechziger Jahren. „Absolut“ im ursprünglichen Sinn ist diese Architektur freilich längst nicht mehr, sondern dienstbares Kunsthandwerk des Medienzeitalters.

In dieser - und nur in dieser - Hinsicht ist Holleins News-Gebäude tatsächlich ein Triumph. Sein lebenslanger Marketingfeldzug ist so gelungen, daß auch ein ansonsten klar argumentierender Kritiker wie Jan Tabor im „Falter“ vor diesem Gebäude flach auf dem Bauch liegt (und für diese gymnastische Übung von seinem Kollegen Dietmar Steiner im „profil“ in einer noch gesteigerten Eloge auf Holleins Gesamtwerk umgehend als Wiens „originellster Architekturkritiker“ apostrophiert wird). In Bauchlage ist freilich die Sicht etwas beschränkt: So undifferenziert von Österreichs bestem Architekten seit 1945 und von einem Meisterwerk zu sprechen fördert nicht gerade die Kritikfähigkeit des Publikums. Innerhalb von Holleins Oeuvre ist das Gebäude etwa im Vergleich zu dem für seine Zeit innovativen Mönchengladbacher Museum oder zu dem tatsächlich riskanten und räumlich irritierenden Museum moderner Kunst in Frankfurt bieder und gefällig. Und jemanden kurzerhand zum besten, wichtigsten und erfolgreichsten Architekten des Landes zu küren ist noch unseriöser als die sonst im News-Verlag üblichen Rankings zu allen möglichen Themen.

Diese Verflachung der kritischen Auseinandersetzung hat Konsequenzen. Nicht zufällig heißt der Hollein des kleinen Mannes Friedensreich Hundertwasser. Mit ihm teilt Hollein die ungebremste Verzierungslust und das collageartige Vorgehen. Wenn in Zukunft in der breiten Öffentlichkeit reflexartig an dieser Art von Architektur Maß genommen wird, läuft der Diskurs in die falsche Richtung.

Spectrum, Sa., 2001.05.26



verknüpfte Bauwerke
Generali Media Tower

07. April 2001Christian Kühn
Spectrum

Begräbnis letzter Klasse

Daß Richard Lugner die Renditen seiner Projekte wichtiger sind als deren architektonische Qualität, ist ihm schwerlich vorzuwerfen. Das Versagen der Wiener Planungspolitik ist hingegen sehr wohl zu monieren. Ein Einwurf aus gegebenem Anlaß.

Daß Richard Lugner die Renditen seiner Projekte wichtiger sind als deren architektonische Qualität, ist ihm schwerlich vorzuwerfen. Das Versagen der Wiener Planungspolitik ist hingegen sehr wohl zu monieren. Ein Einwurf aus gegebenem Anlaß.

Bernhard Görg - zum damaligen Zeitpunkt wahlkämpfender Stadtrat für Planung und Zukunft - freute sich: Ganz ohne öffentliche Mittel werde es gelingen, eine Brücke über den Gürtel zu errichten, die den Fußgängern endlich den sicheren Übergang an der gefährlichen Kreuzung mit der Gablenzgasse ermögliche.

In der auflagenstärksten Tageszeitung Österreichs erschien dazu eine farbige Abbildung, die stutzig machte. Eher unbeholfen in ein Photo hineinmontiert war hier eine verglaste Bücke zu sehen, die zielstrebig auf die Flanke der neuen Stadt- und Landesbibliothek zuläuft, an deren Außenwand plötzlich abknickt und in einer beinahe endlos langen, nun aber nicht mehr glas-gedeckten Treppe parallel zum Gürtel endet. Das andere Ende der Brücke war auf der Abbildung nicht zu erkennen, was insofern mysteriös ist, als auf dem Gehsteig gegenüber weder für Auflager noch für Treppen Platz ist.

Das Rätsel klärt sich auf, wenn man erfährt, welchem Wohltäter die Fußgänger diese Brücke zu verdanken haben: Richard Lugner erweitert seine Lugner-City um ein Kinocenter und verbindet dieses durch die Brücke auf kürzestem Weg mit der U-Bahn-Station Burggasse.

Mittelfristig ist eine Verbindung bis zur Stadthalle vorgesehen, um Fußgängerverkehr und damit Kaufkraft dorthin zu bringen, wo Lugner sie am liebsten sieht. Für den Straßenraum der Umgebung bedeutet das zwar Konkurrenz, aber es wäre weltfremd, gerade hier den Verlust von Öffentlichkeit zu beklagen: Lugner hat mit seinen Investitionen sicher viel zur Sanierung des Gebiets beigetragen und zugleich verhindert, daß noch mehr Kaufkraft an die Peripherie abfließt.
Vorwerfen kann man Lugner allerdings, daß alles, was er bisher am Gürtel realisiert hat, vollständig architekturfreies Gebiet ist. Das gilt schon für die Lugner-City, und auch das neue „Lugnerplex“ wird keine ästhetische Bereicherung darstellen. Die Brücke ist schließlich auf beinahe groteske Art verunglückt: die drei Auflagersäulen neben der Bibliothek, die seltsamen Verknickungen des Glasdachs und schließlich die Treppe, die im Unterschied zur Photomontage natürlich nicht als normale Treppe (über die niemand freiwillig hinaufsteigen würde), sondern als Rolltreppe ausgeführt werden soll - mit allen Konsequenzen in bezug auf zusätzliche Konstruktionen und Maschinerie.
Mit der Transparenz der Brücke ist es ohnehin nicht weit her: Lugner wird kaum darauf verzichten, die Brücke als Werbeträger zu nutzen. Daß Lugner die Renditen seiner Projekte ein größeres Anliegen sind als deren architektonische Qualität, ist unerfreulich, aber nicht mehr. Besorgniserregend ist dagegen das bei diesem Beispiel symptomatische Versagen der öffentlichen Hand, von den politischen Entscheidungsträgern bis zu den für Stadtplanung und Stadtgestaltung zuständigen Behörden. Denn die Brücke ist nur das letzte Glied in einer Entwicklung, die sich bis ins Jahr 1995 zurückverfolgen läßt.

Richard Lugner war damals mit einem ersten Projekt zur Nutzung des Gürtelraums aufgetreten, nämlich einer Parkgarage, von der aus eine Brücke in die Lugner-City führen sollte. Der damalige Planungsstadtrat, Hannes Swoboda, lehnte diese Idee, die den Gürtelraum noch mehr als Verkehrsträger abgestempelt hätte, ab. Eine Überbauung der Stadtbahn wurde jedoch grundsätzlich positiv aufgenommen, allerdings nur für eine Nutzung, die mit der Idee einer „Jugend- und Kulturmeile“, die im Rahmen des von der EU geförderten URBAN-Projekts am Gürtel entstehen sollte, kompatibel wäre.

Swoboda empfahl Lugner auch einen Architekten für ein solches Projekt, nämlich Adolf Krischanitz, der sich bereits in den siebziger Jahren zusammen mit Otto Kapfinger in typologischen Studien mit der Stadtbahn beschäftigt hatte.
Krischanitz entwarf ein über der Stadtbahn schwebendes Gebäude, das - in Anlehnung an die Wolkenbügel-Projekte, die der russische Konstruktivist El Lissitzky und der Schweizer Ingenieur Emil Roth für das Moskau der 1920er Jahre entworfen hatten - „Wolkenspange“ getauft wurde: ein 200 Meter langes, eingeschoßiges Brückenbauwerk über der Stadtbahntrasse, getragen von vier Scheibenpaaren entlang der Futtermauern der U-Bahn. Die Außenwände waren aus Gläsern unterschiedlicher Transparenz gedacht, hinter denen sich die Silhouetten der Besucher abzeichnen sollten. Die Unterseite der Wolkenspange sollte im Bereich der Bahntrasse mit Lichtbändern versehen und zusätzlich in wechselnden Lichtinszenierungen bespielt werden.

Nach dem Wechsel von Hannes Swoboda nach Brüssel hatte das Projekt seinen politischen Fürsprecher verloren. Bald wurden Bedenken laut, daß Lugner unter der von ihm angekündigten Nutzung der Wolkenspange als „Jugend- und Kulturzentrum“ in Wahrheit eher eine Art von besserer Spielhalle verstehen würde und zumindest mittelfristig eine rein kommerzielle Nutzung über öffentlichem Grund entstehen würde.

Ob diese Spekulationen zutreffen, ist schwer zu sagen: Im Projekt von Krischanitz war ein Nutzungsmix vorgesehen: Geschäfte, Bars, Discotheken und Internetcafés ebenso wie explizit „konsumfreie“ Zonen, die tatsächlich als Jugendzentrum zu bespielen gewesen wären.

Bevor es notwendig wurde, sich über die Frage zu einigen, was denn heute unter Jugendkultur zu verstehen wäre, lieferte eine andere Institution einen willkommenen Anlaß, das Projekt zu begraben:

Der Wiener Fachbeirat für Stadtplanung und Stadterweiterung sprach sich aus Gründen des Stadtbildes gegen eine Überbauung des Neubaugürtels aus. Zwar gab es unter der Wiener Architektenschaft einigen Protest gegen diese Entscheidung, aber ohne Erfolg. Die Idee, den Gürtel durch neue bauliche Einrichtungen an dieser Stelle zu beleben, schien ad acta gelegt.

Allerdings nur für kurze Zeit: Anfang 1998 kam die Idee auf, statt der Wolkenspange eine neue Hauptbibliothek für die Wiener städtischen Büchereien zu errichten. Daß ein solches Bauwerk ein Mehrfaches des Volumens der Wolkenspange einnehmen würde, schien plötzlich nicht mehr zu stören. Von einem Aufschrei des Fachbeirats war zumindest öffentlich nichts wahrzunehmen.

Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben, den der Wiener Architekt Ernst Mayr für sich entscheiden konnte. Das Projekt besetzt den Gürtelraum massiv und reagiert auf den Urban-Loritz-Platz mit einer gigantischen Treppe, die zu einem kleinen Tempel auf dem Dach der Bibliothek führt - offensichtlich eine Metapher für Bildung, mit der sich die verantwortlichen Stadtpolitiker identifizieren konnten, vielleicht in Erinnerung an jene Zeiten, als man in den Wiener städtischen Büchereien nur dann ein belletristisches Buch entlehnen konnte, wenn man zusätzlich ein Sachbuch mit nach Hause nahm.

Daß keines der zahlreich vorhandenen besseren Projekte gewählt wurde, lag an den Kosten: Wer Bücher (Deckenbelastung pro Quadratmeter: rund 2,3 Tonnen) unbedingt an der lautesten Stelle Wiens freischwebend über die Stadtbahn hängen möchte, dem bleibt kein Geld mehr für Architektur.

Wenn Richard Lugner nun doch seine Brücke erhält, ist das nur die traurige Pointe dieser Geschichte. Die Brücke selbst läßt sich mit etwas gutem Willen vielleicht noch so gestalten, daß sie die Passanten nicht beleidigt. Skandalös wird aber bleiben, was der Stadt entgangen ist: die private Investition Lugners von über 200 Millionen Schilling (14,53 Millionen Euro), die ausnahmsweise in hochwertige Architektur geflossen wären, und eine Belebung des Stadtraums in einer Form, die der aktuellen kulturellen Entwicklung entsprochen hätte und nicht der in Wien nach wie vor herrschenden Fürsorge-Mentalität des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl, die statt Glück nichts anderes erzeugt als dumpfe Unzufriedenheit. Wenn die neue Landesregierung das jüngste Wahlergebnis als Bestätigung dieser Mentalität interpretiert, kann man der Architekturentwicklung in Wien harte Zeiten vorhersagen.
In den letzten Jahren wurden stadtplanerische Entscheidungen nicht vom zuständigen Ressort, sondern dort getroffen, wo Macht und Budget zu finden waren. Bernhard Görgs Nachfolger wird Stadtplanung in Wien erst wieder zu einer ernstzunehmenden und ernstgenommenen Größe machen müssen. Es bleibt zu hoffen, daß er sich auch als Kulturstadtrat verstehen und die richtigen Verbündeten für diese Aufgabe suchen wird.

Neben der Reform und internationalen Öffnung des Fachbeirats ist eine Auffrischung auf Beamtenebene längst überfällig. Eine erste Gelegenheit dazu ergibt sich bei der Magistratsabteilung 19, der Abteilung für Stadtgestaltung. Wer dort nach der Pensionierung Dieter Pals mit welchen - in der Ausschreibung geforderten - „konzeptiven Vorstellungen über die zukünftigen Schwerpunkte“ der Abteilung als neuer Leiter zum Zug kommt, wird ein erstes wichtiges Signal sein.

Spectrum, Sa., 2001.04.07

03. Februar 2001Christian Kühn
Spectrum

Der silberne Mittelweg

Ob Gestaltungsbeiräte nur als Hürde im Bauverfahren wahrgenommen werden oder als von allen Seiten akzeptierte Schiedsrichter, hängt von der Rückendeckung der Politik ab. Die Arbeit des Feldkircher Fachbeirats für städtebauliche und architektonische Fragen liefert Lehrstücke geglückter Moderation.

Ob Gestaltungsbeiräte nur als Hürde im Bauverfahren wahrgenommen werden oder als von allen Seiten akzeptierte Schiedsrichter, hängt von der Rückendeckung der Politik ab. Die Arbeit des Feldkircher Fachbeirats für städtebauliche und architektonische Fragen liefert Lehrstücke geglückter Moderation.

Architektur ist so gut wie immer mit Konflikten verbunden. Das liegt in der Natur der Sache: Grund und Kapital sind knappe Güter, und gerade öffentliche Bauvorhaben müssen sich ihre demokratische Legitimation oft hart erkämpfen. Das Niveau der damit verbundenen Auseinandersetzung ist stets auch ein Gradmesser der Konfliktkultur: Das unwürdige Gezerre um das Wiener Museumsquartier ist noch in schlechtester Erinnerung, ebenso die Art, wie jüngst das Linzer Musiktheater verhindert wurde.

Monika Forstinger, neue Infrastrukturministerin, scheint nun diese Strategie von Oberösterreich auf die Bundespolitik übertragen zu wollen, wenn sie der Bahnhofsoffensive der ÖBB ein ähnliches Schicksal voraussagt: Man solle sich, ließ sie kürzlich verlauten, besser um die Sanitäranlagen der Bahnhöfe kümmern, statt architektonische Selbstdarstellung zu betreiben.

Vor der Anregung der Grünen, Forstinger möge sich bei ihrem Vorgänger, dem Architekten Schmid, Anregungen zum Umgang mit dem Thema Architektur holen, ist zu warnen. Dessen Beitrag als zuständiger Landesrat in der Steiermark bestand im Versuch, die steirische Baukultur auf Provinzniveau abzusenken. Empfehlenswert wäre jedoch eine Nachfrage in Vorarlberg, wo die systematische Qualifikation des Baugeschehens von allen Parteien getragen wird. Eine jüngst von der Stadt Feldkirch herausgegebene Publikation über die Arbeit des dortigen Fachbeirats für städtebauliche und architektonische Fragen könnte als einführende Lektüre dienen. Walter M. Chramosta, selbst seit 1995 Mitglied dieses Beirats, hat darin das Wechselspiel zwischen Bauherren, Architekten, demokratisch gewählten Entscheidungsträgern und externen Experten anhand ausgewählter Projekte dargestellt.

Der Gestaltungsbeirat, schreibt Bürgermeister Wilfried Berchtold im Vorwort, sei in den acht Jahren seines Bestehens von der „anfänglich als weitere ,Hürde' im Bauverfahren wahrgenommenen Rolle in die Position eines von allen Seiten akzeptierten ,Schiedsrichters' hineingewachsen“. Er habe „nicht nur einige drohende ,Bausünden' zu verhindern gewußt, sondern Vorhaben ermöglicht, die sonst möglicherweise auf der Strecke geblieben wären“. Das gilt besonders für die heikle Frage des Bauens im historischen Zentrum, wo mit den Projekten der Braugaststätte Rösslepark, die schließlich vom Atelier Rainer + Amann realisiert wurde, und dem Wohn- und Geschäftshaus Furtenbach-Areal von Bruno Spagolla und Wolfgang Ritsch Maßstäbe gesetzt wurden.

Im Fall der Braugaststätte konnte dem Bauwerber deutlich gemacht werden, daß die von einem Spezialisten für Erlebnisgastronomie projektierte Fassadenkulisse als Ersatz für ein 1994 niedergebranntes altes Gebäude eine Beleidigung der historischen Substanz darstellte. Der daraufhin abgehaltene Wettbewerb brachte 1996 ein respektables Ergebnis, das im Gestaltungsbeirat noch zwei Begutachtungsrunden zu absolvieren hatte. Für den Beirat war dieses Projekt ein Meilenstein: Daß sich die Frastanzer Brauerei als „alteingesessener“ Bauherr zu einer derart anspruchsvollen Lösung durchringen konnte, erregte Aufsehen und wurde durch die in allen Altersschichten hohe Akzeptanz der neuen Braugaststätte belohnt.

Beim Furtenbach-Areal war die Aufgabe des Beirats noch wesentlich heikler. Einerseits galt es, den für die Belebung der Altstadt dringend benötigten Investor in seinen ökonomischen Ansprüchen zu befriedigen, andererseits dieselbe Altstadt vor den zerstörerischen Nebeneffekten einer rein ökonomischen Logik zu bewahren - ein drei Jahre dauernder Balanceakt mit einer Vielzahl von Abstimmungen im großen und in den ebenso bedeutsamen Details, etwa der Ausbildung der Geschäftsportale.

Der Beirat sieht in seinen oft pointiert formulierten Einwendungen den Versuch, die Kompetenz der Architekten herauszufordern. Nur in wenigen Fällen fühlen sich die Planer dabei bevormundet, viel öfter sehen sie sich in ihren Anliegen gegen den Druck des Auftraggebers bestärkt, der gerade bei Geschäftsbauten meist nur in quantitativen Kriterien zu denken gewohnt ist. Aber auch er kann in der Regel davon überzeugt werden, daß die totale Ausschlachtung eines Grundstücks seinen eigenen Interessen zuwiderläuft: Zumindest im Vorarlberger Umfeld, das Qualität zu schätzen weiß, lassen sich mit Brachiallösungen keine Renditen mehr erzielen.

Ein Projekt von der Komplexität des Furtenbach-Areals zeigt freilich auch die Grenzen des Fachbeirats auf, der sich für eine solche Materie zu selten und zu kurz trifft. „Für derartige Großvorhaben“, schreibt Chramosta, „wäre ein mit dem Fachbeirat koordinierter Projektbeirat mit eigener Geschäftsordnung und interdisziplinärer Besetzung empfehlenswert.“

Daß der Bürgermeister von einem spezifischen „Feldkircher Beiratsmodell“ sprechen kann, liegt vor allem am engen Kontakt zwischen Beirat und politischen Entscheidungsträgern. Anders als bei vielen Beiräten, deren Mitglieder zwar eng mit Beamten kooperieren, aber kaum mit gewählten Mandataren zusammenkommen, gibt es in Feldkirch ein interessiertes politisches Gegenüber in Form des Planungsausschusses. Unmittelbar nach jeder der alle zwei Monate stattfindenden Sitzungen des Beirats werden diesem Ausschuß die behandelten Projekte, die Befunde und die Stellungnahmen des Beirats erläutert: bisher 81 positive, 72 bedingte - also mit Auflagen verbundene - und 150 negative Stellungnahmen, wobei rund 10 Prozent aller Bauvorhaben dem Beirat vorgelegt werden. Weil die meisten dieser Projekte noch vor der formalen Einreichung behandelt werden können, ist der Beirat auch ein nützliches Instrument, um Verfahrensabläufe für den Bauherren zu erleichtern und mitunter auch zu beschleunigen.

Die Publikation gibt einen guten Einblick in die Arbeit des Beirats: Das Auf und Ab der einzelnen Projekte wird nachvollziehbar, die Abfolge von positiven und negativen Zwischenbefunden, die Bedeutung der präzisen, auch allgemein verständlichen Begründung. Die beginnt schon bei der Formulierung der jeweils den spezifischen urbanistischen Bedingungen angepaßten Ziele: „das historische Zentrum ertüchtigen, die öffentliche Dienstleistung verorten, die urban-alpine Landschaft weiterbauen, die Siedlungsränder verdichten“. Gerade im letztgenannten Bereich, der für die besondere Situation im Rheintal strategisch bedeutsam ist, finden sich interessante Beispiele, etwa ein Verbrauchermarkt in der Nähe einer alten Kapelle, der dem Beirat fünf Mal vorgelegt wurde. Schrittweise gelang dabei die „Bewältigung der schwierigen, weil die Umformung einer dörflichen in eine vorstädtische Struktur radikalisierenden Bauaufgabe“.

Das Ergebnis beweist, daß derartige Entwicklungen nicht sich selbst überlassen bleiben müssen, sondern durchaus Gelegenheit für gestaltende Eingriffe bieten. Gerade an solchen Beispielen wird deutlich, daß die Arbeit des Beirats als Lehrstück geglückter Moderation nur möglich war, weil er die volle Rückendeckung einer wohlinformierten Politik hinter sich wußte.

Als Mitglieder des Beirats, die laut Statuten nicht in Vorarlberg niedergelassen sein dürfen, hat die Stadt immer Personen gewählt, die Statur genug haben, sich weder von Politikern noch von „Star-Architekten“ beeindrucken zu lassen: Marcel Meili, Hanno Schögl, Ernst Beneder, Rudolf Prohazka, Andreas Egger, Margarete Heubacher-Sentobe, Max Rieder sowie die drei aktuellen Mitglieder: Carl Fingerhuth, Marta Schreieck und Walter M. Chramosta.

Direkte Beeinflussung ist freilich weniger das Problem. Fingerhuth gehört beispielsweise auch dem Salzburger Gestaltungsbeirat an, der nicht an Beeinflussung leidet, sondern daran, daß er in wichtigen Fragen, etwa der Situierung des neuen Stadions schlicht übergangen wurde. Schon Ende 1998 hat er sich gegen den Standort beim Schloß Kleßheim ausgesprochen, ein Jahr später auf die „verkrampfte Tarnkappen-Ästhetik“ des siegreichen Wettbewerbs- projekts aufmerksam gemacht und den Vorschlag erneuert, das Stadion in Liefering zu situieren. Und für die Altstadt, die in Feldkirch zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Architektur wurde, ist der Salzburger Beirat überhaupt nicht zuständig. In Wien gibt es zwar nominell einen Fachbeirat für Stadtplanung und Stadtgestaltung, der jedoch durch seine beinahe sozialpartnerschaftliche Besetzung mit ortsansässigen Mitgliedern kaum als Instrument der Stadtgestaltung in Erscheinung tritt.

Auch wenn man Kleinstädte wie Feldkirch nicht mit Salzburg oder Wien in einen Topf werfen darf: Fachbeiräte sind, wie Chramosta schreibt, unverzichtbar als „silberner Mittelweg zwischen vollständiger Verregelung und vollständiger Liberalisierung“. Je größer der ökonomische Druck auf die Bauproduktion wird, desto mehr wird es in Zukunft eine unabhängige, fachlich kompetente Moderation brauchen, um die öffentlichen Ansprüche an den Stadtraum durchzusetzen.
Die Politik kann die notwendigen Rahmenbedingungen dafür schaffen - oder zerstören, wenn sie Qualitätsansprüche mit architektonischer Selbstdarstellung verwechselt.

Der von Walter M. Chramosta konzipierte und redigierte Band „Sichtung 1 - Bilanz zur Qualifikation von Planen und Bauen in Feldkirch 1997-99“ ist im Buchhandel und via E-Mail erhältlich (bauamt@rathaus.feldkirch.com).

Spectrum, Sa., 2001.02.03

30. Dezember 2000Christian Kühn
Spectrum

Rettet das Tirolerhaus!

Kann es in den Alpen neben Schnee- und Stimmungskanonen lebendige zeitgenössische Kultur geben? Sankt Anton vor der Skiweltmeisterschaft: von Architektur, die Anlaß zur Hoffnung gibt.

Kann es in den Alpen neben Schnee- und Stimmungskanonen lebendige zeitgenössische Kultur geben? Sankt Anton vor der Skiweltmeisterschaft: von Architektur, die Anlaß zur Hoffnung gibt.

Stellen Sie sich ein Feriendorf in den Alpen vor. 2400 Einwohner, 1400 Saisonarbeiter, 120 Kilometer Piste mit 40 Liften, 250 Skilehrer, 8500 Touristen in der Hochsaison: „Zwischen Genuß und Gipfelglück liegt St. Anton am Arlberg.“ Am Austragungsort der alpinen Skiweltmeisterschaften 2001 werden längst keine Betten mehr vermietet, sondern Erlebnisse verkauft: Von weißem Rausch, Spaß im Schnee und gleißend vergletscherten Bergen, die sich felsig in den blauen Himmel recken, erzählt das Gästemagazin.

Tourismus hat hier Tradition. Den Skiklub Arlberg gibt es seit 1901, die erste Skischule seit 1921. Damals hätte sich niemand träumen lassen, daß der Tourismus eines Tages zu den wichtigsten Wachstumsbranchen gehören würde. Nach Angaben des „World Travel and Tourism Council“ produziert der Tourismus heute mehr als elf Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts und wird seinen Anteil bis 2008 auf mehr als 20 Prozent verdoppeln. Die Reise- und Tourismusindustrie ist damit die Avantgarde eines neuen Kapitalismus, der seine Renditen immer weniger mit Sachgütern erwirtschaftet als vielmehr mit Erlebnissen und Träumen.

Einer dieser Träume, das Bergdorf mit den kernigen Einheimischen, verliert zunehmend an Attraktivität. Er läßt sich auch nur schwer weiterträumen, wenn auf jeden Einheimischen vier Gäste kommen und von diesen - wie in Tirol - 93 Prozent aus dem Ausland stammen. Wie die Zukunft jenseits dieses Klischees aussehen könnte, läßt sich in St. Anton an Hand einiger bemerkenswerter Neubauten erkennen. Die Ski-WM ist dabei nur der unmittelbare Anlaß. St. Anton hat dieses Ereignis geschickt mit dem Ausbau des Bahntunnels durch den Arlberg verbunden, dem der Ort seinen frühen touristischen Aufstieg verdankt. Seit 1880 quert die Bahn den Arlberg, von der Vorarlberger Textilindustrie als neuer Absatzweg mitfinanziert.

Mit dem 1998 begonnenen zweigleisigen Ausbau des Arlbergtunnels bot sich für den Ort eine einmalige Chance: Der Bahnhof konnte aus der Ortsmitte 200 Meter auf die andere Seite der Rosanna verlegt werden. Damit verschwand eine Barriere, die bisher den Ort geteilt hatte. Zugleich wurde aus dem Bahnhofsareal eine Freifläche in bester Lage, an deren Rändern Neubauten errichtet wurden, die alle alpinen Klischees elegant hinter sich lassen: das neue Zielstadion, eine Sporthalle mit angeschlossenem Wellness-Bad und das Hotel Anton.

Zuerst aber ein Blick auf den neuen Bahnhof: Hier haben die ÖBB ihr Versprechen, Einrichtungen der neuen Hochleistungsstrecken nicht nur technisch, sondern auch architektonisch auf höchstem Niveau zu errichten, eingelöst. Der Bahnhof - nach einem Entwurf von Gerhard Manzl, Manfred Sandner und Johann Ritsch errichtet - wirkt als langgestreckte Skulptur, die zwischen zwei Tunnelbauwerken eingespannt ist. Die Architekten haben die Lärmschutzwand und das Bahnhofsgebäude zu einer ruhigen Großform zusammengefaßt, deren Außenhaut mit dünnen Edelstahlnetzen verkleidet wird. Wenn sie bis zur Ski-WM fertiggestellt ist, wird sie wie ein vereister Wasserfall wirken, durch den man die Schalterhalle betritt. Als technisches Objekt mit hoher Ortsbindung ist dieser außergewöhnliche Bahnhof mehr gestaltete Landschaft als Gebäude. Die Bahn hat hier bewiesen, daß sie neben technischen und organisatorischen Spitzenleistungen im Trassenbau - die sechs Kilometer lange und 1,6 Milliarden Schilling (116 Millionen Euro) teure Teilstrecke wurde inklusive aller Behördenverfahren in zehn Monaten geplant und in zweieinhalb Jahren errichtet - auch im Hochbau höchste Standards erreichen kann.

Vom selben Architektenteam, das den neuen Bahnhof geplant hat, stammt der Entwurf für das Zielstadion, das schon im vergangenen Winter in Betrieb war, ebenfalls ein ruhiger Baukörper, holzverkleidet und sanft in den Hang geschoben. Für die WM ist er derzeit von zusätzlichen Tribünen überwuchert. Frei geblieben ist das große Fenster zum Zielhang, hinter dem bereits bei den Rennen in der vergangenen Saison die im Fernsehen gezeigten Interviews mit Blick auf die Piste stattfanden.

Direkt daneben steht die neue WM-Halle von Much Untertrifaller und Helmut Dietrich, eine geschickt in den Hang plazierte große Box mit einer Sport- und Veranstaltungshalle und einem Wellness-Bad, das im Herbst in Betrieb gehen wird. Zur Freifläche des ehemaligen Bahnhofs hin haben die Architekten der Halle eine Art Paravent vorgesetzt, eine mit Holzlamellen verkleidete Stahlkonstruktion, die der Box mehr Leichtigkeit gibt. Ein gerahmtes Freibecken an der Seite sorgt für zusätzliche Belebung. Hangseitig ist das Gebäude vollständig in den Berg gegraben, sodaß die Skiabfahrt direkt aufs Dach führt. Vom Hang aus sind vom Gebäude nur drei kleine mit Holzlamellen verkleidete Aufbauten zu sehen, in denen Ruheräume der Sauna und eine Bar untergebracht sind, sowie die Oberlichtbänder der Sporthalle, die quer zum Hang stehen und das Gebäude optisch im Berg verankern.

Am anderen Ende des ehemaligen Bahnhofs findet sich das einzige privat errichtete Objekt in dieser Reihe von Neubauten, das Hotel Anton. Es verdankt sein Entstehen ebenfalls der Bahnhofsverlegung: Die Besitzerfamilie Falch hatte sowohl ihr Wohn- als auch ihr Gästehaus auf dem Areal des neuen Bahnhofs und mußte beides aufgeben. Mit der Ablöse wurde zuerst am Hang ein neues Wohnhaus errichtet. Weil sich die Verhandlungen mit den ÖBB in die Länge zogen und der Baubeginn für den neuen Bahnhof näher rückte, wurde die Zeit knapp. Erst im Frühjahr 1999 war ein Grundstück gefunden, mit Unterstützung des Architekturforums Tirol machte man sich auf die Suche nach einem Architekten. Wolfgang Pöschl aus Innsbruck legte im Juni einen ersten Entwurf vor - und im Dezember desselben Jahres wurde das Haus bezogen. Dieser knappe Zeitplan hat der Qualität nicht geschadet, im Gegenteil: Es blieb keine Zeit für Kompromisse. Im Querschnitt ein Terrassenhaus auf zwei Ebenen, zeigt sich das Gebäude vor allem an der Eingangsseite unkonventionell. Statt einer Garage findet sich ein großes Flugdach aus Stahltrapezblech, statt eines Satteldachs eine Flachdach mit einem aufgesetzten, beidseitig verglasten und innen verspiegelten Kasten, der Licht von der Südseite bis in den Wohnraum auf der unteren Ebene reflektiert. Hangseitig sind die beiden Ebenen großteils bis zum Boden verglast. Konstruiert ist das Gebäude in einer Mischbauweise: An ein Rückgrat aus Stahlbeton sind Holzelemente angedockt, Stahl und Glas sind zweckmäßig damit kombiniert.

Die Auftraggeber waren mit ihrem Haus derart zufrieden, daß sie bei der Planung des Hotels nur kurz überlegten, den konventionellen Standards des Tirolerhauses zu folgen. Warum sollten ihre Gäste schlechter wohnen als sie selbst? Das Hotel, das Wolfgang Pöschl für sie entworfen hat, überträgt die Qualitäten des privaten Wohnhauses auf die Gastronomie. Ein funktionell perfektes Haus mit Zimmern, die sich durch Schiebewände verwandeln lassen und die Träume eines urbanen Publikums erfüllen. Die Fassade ist als Filter ausgebildet, große Glaswände, kombiniert mit Alkoven, die in die Fassade gestülpt sind und so zusätzlich zu den normalen Betten einen besonderen Liegeplatz mit Ausblick in die Berge bieten.

Daß solche Bauten nicht ohne Widerspruch bleiben, ist klar: „Bürger von St. Anton! Es ist höchste Zeit, gegen die weitere Verschandelung des Tiroler Stils unseres Ortes etwas zu unternehmen“, war kürzlich im Gemeindeblatt zu lesen. Daß es dabei nicht um den alten Streit zwischen Tradition und Moderne geht, zeigt der Nachsatz: „Noch kommen die Gäste zu uns. Aber wie lange noch?“ Geht es also bloß um unterschiedliche Marketingkonzepte, ob man eher eine traditionelle oder eine urban-moderne Zielgruppe ansprechen möchte? Nicht nur. Es geht vor allem um die Frage, ob es in der Welt des Tourismus noch eine Identität außerhalb der kalkulierten Wirkung gibt. Die Tiroler Baukultur beweist nicht nur in St. Anton, daß sie dieser Herausforderung gewachsen ist: Wenn in einem Dorf wie Gaimberg in Osttirol ein Feuerwehrgebäude wie jenes von Rainer Pirker einen Wettbewerb gewinnen kann, dann besteht Hoffnung. An solchen Tirolerhäusern werden auch die Gäste des 21. Jahrhunderts erkennen, daß sie nicht in einer Disneyland-Konserve gelandet sind, sondern in einer lebendigen Kultur.

Spectrum, Sa., 2000.12.30

09. Dezember 2000Christian Kühn
Spectrum

Es geht auch ohne Kichern

Kostenoptimierung mehrgeschoßiger Wohnbauten: Unter diesem Motto stand die Errichtung einer Siedlung im Süden Wiens. Und Puchhammer, Krischanitz, Prohazka & Co. stellten eindrücklich unter Beweis, daß sie auch die Kunst des Sparens beherrschen.

Kostenoptimierung mehrgeschoßiger Wohnbauten: Unter diesem Motto stand die Errichtung einer Siedlung im Süden Wiens. Und Puchhammer, Krischanitz, Prohazka & Co. stellten eindrücklich unter Beweis, daß sie auch die Kunst des Sparens beherrschen.

Wien ist, zumindest was die Bausubstanz aus dem 20. Jahrhundert betrifft, im wesentlichen vom Wohnbau geprägt. Bedeutende öffentliche Bauten, die nach dem Ersten Weltkrieg errichtet wurden, sind rar, während sich die Gemeinde Wien nicht nur zum größten „Hausherrn“ Österreichs entwickelt hat, sondern mit den Gemeindebauten des „Roten Wien“ auch einen respektablen Beitrag zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts geleistet hat.

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war die Wohnbautätigkeit vor allem von quantitativen Kriterien bestimmt: „Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“ lautete die utilitaristische Devise. Wenn diese Entwicklung irgendwo ihren Höhepunkt gefunden hat, dann in Harry Glücks Wohnhausscheiben in Alt-Erlaa am Südrand des Wiener Stadtgebiets. Soziologische Studien attestieren diesen Bauten seit Jahren, Orte des größtmöglichen Glücks im Sinne der „Wohnzufriedenheit“ zu sein, und über die größtmögliche Zahl kann es angesichts von über 3000 Wohneinheiten in einer Anlage keine Diskussionen geben.

Seit die U-Bahn-Linie U6 bis Siebenhirten ausgebaut ist, ist das Gebiet südlich von Alt-Erlaa attraktiv für neue Wohnbebauung geworden. Unmittelbar anschließend an die terrassierten Hochhäuser liegt das Areal „In der Wiesen“, das als städtebauliche Antithese zu Glücks utilitaristischer Vorstellung konzipiert wurde. Der Bebauungsplan von Franziska Ullmann mit seinen Höfen und Straßenräumen ist zwar gut gemeint, das gebaute Ergebnis jedoch alles andere als glücklich: Jenseits einer bestimmten Gebäudehöhe funktioniert der Städtebau nach den mühsam adaptierten Vorbildern des 19. Jahrhunderts einfach nicht mehr. Was im Lageplan vertraut aussieht, wirkt in der Realität so zwanghaft, daß
die Hochhausscheiben daneben eine vergleichsweise poetische Ausstrahlung bekommen.

Im städtebaulichen Wettbewerb für „In der Wiesen“ gab es im übrigen durchaus Projekte, die sich der Herausforderung des Orts stellten, insbesondere einen Vorschlag von Rudolf Prohazka, der sich den Dimensionen der Glückschen Hochhausscheiben zwar annäherte, jedoch eine typologisch vielfältigere Bebauung und einen urbanen Park zwischen parallelen Zeilen vorschlug. Dieser öffentliche Raum hätte sich von Glücks Abstandsgrün unterschieden, ohne auf traditionelle, bei der geforderten Dichte aber unbrauchbare Muster zurückgreifen zu müssen.

Zwei U-Bahn-Stationen weiter stadtauswärts findet sich ein Beispiel für eine Urbanisierung, die im Gegensatz zu „In der Wiesen“ ihren Namen verdient. Am Anfang stand hier zu Beginn der neunziger Jahre die Idee eines „Multifunktionalen Zentrums Perfektastraße“, das im Rahmen der U-Bahn-Verlängerung entstehen sollte. Raimund Abraham hatte ein monumentales Leitkonzept entwickelt, das sich als nicht realisierbar erwies, Hans Puchhammer und Rudolf Prohazka konzipierten schließlich für einen Teil des Areals eine neue städtebauliche Figur.

Puchhammer schlug entlang der U-Bahn-Trasse zwischen zwei Stationen eine gestaffelte Abfolge von fünf Türmen vor, denen niedrige, nach Süden orientierte Zeilen vorgelagert sind. Rudolf Prohazka entwickelte für den Abschluß des Areals im Süden eine Randbebauung, die zur U-Bahn-Station überleitet.

Das alles ist nicht spektakulär, aber im Detail raffiniert: Puchhammer hat die 26-Meter-Türme nicht einfach neben die Zeilen gesetzt, sondern jedem Turm einen niedrigeren Baukörper angefügt, der die Höfe zwischen den Zeilen abschließt und typologische Variationen der Türme herausfordert. Die interessanteste Variation ist Puchhammer selbst gelungen, ein Bau mit starker Physiognomie und vertrackten Symmetrien, die aber insgesamt ein spannungsvolles Gleichgewicht halten. Im Erdgeschoß führt eine Passage durch das Gebäude zu einer gut belichteten inneren Halle mit zwei einander gegenüberliegenden offenen Treppenhäusern.

Von Puchhammer stammt auch noch der Kopfbau der anschließenden Zeile, die das nach Norden hin schmäler werdende Grundstück abschließt. Die Zeile selbst ist von Ganahl / Ifsits / Larch entworfen, ein typologisch interessanter, fünfgeschoßiger Bau: Im ersten und zweiten Stock liegen Geschoßwohnungen, im dritten Stock eine gut 80 Meter lange Straße mit Zugängen zu 21 sehr großzügigen Maisonetten. In diesem Gang macht sich das Motto der Siedlung - „Kostenoptimierung mehrgeschoßiger, ökologisch sinnvoller Wohnbauten“ - freilich unangenehm bemerkbar: Die vorgesehenen Fenster, die diesen halböffentlichen Raum mit den Küchen visuell verbunden hätten, konnten aus Kostengründen nicht realisiert werden. Sie sind tatsächlich „unnötig“ und von den Bewohnern angeblich gar nicht gewünscht, aber selbst rüschenverhangen hätten sie diesem Gang ein soziales Potential gegeben, das man nun schmerzlich vermißt.

Daß man bei dieser Siedlung versucht hat, die Kosten zu reduzieren, ist an sich begrüßenswert. Es handelte sich um einen der ersten „Bauträgerwettbewerbe“, bei denen bereits in der Wettbewerbsphase Architekt und Bauträger gemeinsam antreten müssen. Die Kosten konnten durch diese Konkurrenzform um bis zu zehn Prozent gesenkt werden. (Beim Wohnbau von Ganahl / Ifsitz / Larch betragen die monatlichen Mieten 60 Schilling (4,36 Euro) inklusive Betriebskosten pro Quadratmeter, bei einem Bau- und Grundkostenanteil von 5700 Schilling. Nach zehn Jahren besteht die Möglichkeit, die Wohnung ins Eigentum zu übernehmen.)

Die Drohung, bei Überschreiten der Baukosten die gesamte Förderung zu streichen, hat jedoch den unangenehmen Nebeneffekt, daß oft für wenige Prozent Ersparnis entscheidende Qualitäten jenseits der funktionellen Grundanforderungen gestrichen werden. Die Kunst des Sparens will unter diesen Bedingungen gelernt sein. Adolf Krischanitz hat in seinem Bauteil eine Lösung gefunden: Das Projekt muß von Anfang an Elemente enthalten, auf die man ohne gravierende Verluste verzichten kann. Krischanitz hatte in seinem Wettbewerbsprojekt eine aufwendige, schräg vor die Fassade gestellte Solarzellenwand vorgesehen. Im Lauf der Planung ist sie aufs Dach gewandert und spielt dort kaum mehr eine visuelle Rolle. Geschadet hat das dem Bau nicht: Er ist der zurückhaltendste in der ganzen Anlage, eine urbane Zeile ohne Effekte, aber mit hohem Nutzwert, etwa den großzügig bemessenen Terrassen. Die formalen Effekte, mit denen Krischanitz arbeitet, sind gerade deshalb wirkungsvoll, weil sie nicht sofort ins Auge springen - im Gegensatz etwa zu den Nachbarbauten von Hermann und Valentiny, die sich an der russischen Revolutionsarchitektur zu orientieren scheinen und mit einem entsprechenden Arsenal an Farben, Materialien und Formen auffahren.

Bei Krischanitz finden sich Stahlbeton und warm-grauer Putz und als Hauptthema die Spannung zwischen der langgestreckten Zeile und den tragenden Querwänden. Eine Verschränkung von Baukörpern in den obersten beiden Stockwerken gibt dieser Zone eine besondere plastische Qualität. Die Innenräume sind gut proportioniert und zeigen im übrigen, daß man auch ohne vollflächige Verglasungen zeitgemäße Raumqualitäten herstellen kann.

Krischanitz verwendet dieselben Bandfenster auch auf der Nordseite, wo sie ohne Variation durchlaufen. Tristesse? „Gemütlich bin ich selbst“, sagt Karl Kraus. Der strenge formale Kanon der frühen Moderne, den Krischanitz hier transformiert, steht dem Leben jedenfalls nirgends im Weg. Wenn ein Haus schon „auf ewig“ gebaut sein muß, dann ist diese Reduktion noch allemal erträglicher als das Kichern der Postmoderne.

Ein völlig anderer Ansatz findet sich im Bauteil von Rudolf Prohazka, der die Anlage nach Süden, zur Perfektastraße hin, abschließt. Prohazkas Thema ist die Verschränkung von Räumen mit dem Ziel, auf der symbolischen wie auf der konkreten Ebene Begegnungen zu ermöglichen. Die Idee, die Perfektastraße als Straßenraum mit einer breiten Arkade abzuschließen, verdient Respekt, ist diese Straße doch der Prototyp der „bösen“, weil vielbefahrenen Verkehrsstraße - und doch kein bißchen lauter als die Wiener Ringstraße im Frühverkehr. Diese Arkade ist ein urbanistisches Signal gegen neue Funktionstrennung in der „Zwischenstadt“, die zu autonomen Inseln inmitten eines breiten Verkehrsstroms führt. Die hängenden Lärmschutzwände aus Glas, mit denen Prohazka südorientierte Höfe zu diesem Straßenraum schafft, sind ein weiteres Signal in diese Richtung. In den Ecken der Höfe hat er Stiegenhäuser und Lifte teilweise offen plaziert, um den Kontakt zwischen den Bewohnern zu fördern.

Auch die übrigen Bauteile - von NFOG und Georg Feferle - erreichen ein erfreulich hohes Niveau. Die sehr unterschiedlichen formalen Ansätze lassen den Besucher zwar mit dem Gefühl zurück, eine Oper in fünf Akten gesehen zu haben, die zuerst nach Verdi, dann nach Prokofjew und schließlich nach Krenek klingt. Im Vergleich zu „In der Wiesen“, wo ganz andere Melodien viel zu laut und meist schlecht intoniert auftreten, scheint an der Perfektastraße die Urbanisierung der „Zwischenstadt“ gelungen zu sein.

Spectrum, Sa., 2000.12.09



verknüpfte Ensembles
Siedlung Perfektastrasse

11. November 2000Christian Kühn
Spectrum

Es entsteht halt überall was

Es sind scheinbar kleine Projekte: U-Bahn-Abgänge, Straßenbahn-Stationen, Kioske. Aber sie haben große Auswirkungen auf die Stadt. Über Höhe- und Tiefpunkte der Wiener Stadtmöblierung. Eine Polemik.

Es sind scheinbar kleine Projekte: U-Bahn-Abgänge, Straßenbahn-Stationen, Kioske. Aber sie haben große Auswirkungen auf die Stadt. Über Höhe- und Tiefpunkte der Wiener Stadtmöblierung. Eine Polemik.

Als der parlamentarische Ausschuß für Öffentlichkeitsarbeit endlich seine Entscheidung für das neue Wahrzeichen des österreichischen Parlaments getroffen hatte, herrschte Erleichterung. „Hohes Haus“ - wie ließe sich dieser Begriff besser vermitteln als durch die direkte Übersetzung ins Räumliche? Kein Hochhaus, sondern ein Haus hoch oben, schlicht gestaltet, eine Urhütte über den Dächern. Für die nächsten Jahre wird es uns mit seiner schnörkellosen und doch bodenständigen Sachlichkeit als Wahrzeichen des allgemeinen Sparwillens und symbolische Bauhütte für den Umbau unseres Landes begleiten.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Was staunende Passanten seit einigen Wochen vom Ring aus bewundern können, ist ein Schutzhaus für die Renovierung der acht bronzenen Pferdegespanne auf dem Dach des Parlaments, die in einem so schlechten Zustand sind, daß sie nicht mehr transportiert, sondern nur noch an Ort und Stelle renoviert werden können. Weil diese Arbeit pro Gespann etwa ein halbes Jahr in Anspruch nimmt und das Schutzhaus dann zum nächsten Gespann übersiedelt, ist in den nächsten vier Jahren für immer neue surrealistische Effekte im Stadtbild gesorgt. Selbst wer es grundsätzlich richtig findet, daß eine Hütte nicht mehr sein will als eben eine Hütte, wird sich in diesem Fall fragen, ob es nicht andere, technologisch avanciertere und vielleicht sogar preiswertere Wege gegeben hätte, einen Klimaschutz für die Renovierungen zu errichten.

Die Gleichgültigkeit gegenüber den größeren städtebaulichen Auswirkungen eines scheinbar kleinen Projekts, mit der hier vorgegangen wurde, ist in Wien leider kein trauriger Spezialfall, sondern verbreitet. Die „Stadttore 2000“, die seit dem Nationalfeiertag die Wiener Innenstadt umgeben und bis Mitte Jänner stehen bleiben sollen, sind ein weiteres Beispiel. Auf Initiative von Vizebürgermeisterin Laska und bezeichnenderweise im Auftrag einer „stadt wien marketing service gmbh“ durften junge Künstler und Künstlerinnen die wichtigsten Zufahrtsstraßen zur City dekorieren - als gelte es, eine Shopping-Mall fürs Weihnachtsgeschäft aufzurüsten. Der- artige Dauerspektakel führen zu keiner neuen Erfahrung von Stadt, wie es etwa die kurzfristig rot gefärbelte Secession getan hat; sie haben jedoch eine fatale Konsequenz: Wo dauernd dekoriert wird, braucht sich niemand mehr über Gestaltung ernsthafte Gedanken zu machen.

Am deutlichsten wird das im Moment im Umfeld der Wiener Oper. Nicht, daß man hier keine ambitionierten Architekten beschäftigt hätte: Henke und Schreieck haben den Abgang zur Opernpassage umgestaltet und um einen verglasten Lift ergänzt. Luigi Blau hat den neuen Kiosk für die Vereinigten Bühnen Wien mit integriertem Abgang und Lift zur behinderten-freundlichen Erschließung der Tiefgarage entworfen. Ein Ersatz für den von Maria Auböck für eine Mozart-Ausstellung entworfenen Pavillon der Vereinigten Bühnen, der seit Jahren wie ein verirrtes Kulissenteil vor der Oper stand, war tatsächlich längst überfällig.

Luigi Blaus erster Entwurf sah einen kleinen Pavillon auf dreieckigem Grundriß mit einem kreisrunden Dachschirm vor, einen noblen, dem besonderen Ort angemessenen Verwandten der Straßenbahnstationen, mit denen Blau seinen bisher gelungensten Beitrag zur Wiener Stadtmöblierung geleistet hat. Vor Baubeginn stellte sich jedoch heraus, daß der Betreiber der Operngarage ein paar Meter weiter einen Lift an die Oberfläche führen wollte. Die MA 19, in Wien zuständig für Stadtgestaltung, schaltete sich ein: Blau solle eine kombinierte Lösung finden. Das Ergebnis ist ein Edelstahlflugdach, unter dem sich - wie Blau sagt - die diversen Nutzungen „parasitär ansiedeln“. Ob dieses Thema vor der Oper klug gewählt ist, sei dahingestellt: Für den unvorbereiteten Betrachter sieht die Lösung einerseits aufwendig, andererseits reichlich verquetscht aus, und die nachts bestrahlten Edelstahloberflächen, die den Dialog mit Henke und Schreiecks Lösung ein paar Meter weiter aufnehmen sollen, erzeugen alles andere als angenehme Reflexionen. Immerhin ist es Blau gelungen, die Abtragung der bollwerkartigen Einfassung der Tiefgaragenabfahrt zu bewirken. Wenn nichts dazwischenkommt, wird nächstes Jahr statt dessen ein Geländer aus Edelstahl angebracht.

Trotzdem: An einem Gestaltungskonzept für das gesamte Umfeld der Oper scheint niemand ernstlich interessiert zu sein. Auf Anfrage bei der MA 19 erhält man dazu eine reichlich resignative Antwort: „Überall entsteht halt irgendwas.“ Und da versuche man eben, das Beste daraus zu machen, wie etwa im Falle des Pavillons der Vereinigten Bühnen. Bei diesem Anspruch gelingt in der Summe nicht einmal das Mittelmäßige. Und von dort geht es dann rasch weiter ins Inferiore: Kürzlich wurde, direkt nach dem von Henke und Schreieck gestalteten Abgang, die „Vienna Opera Toilet“ eröffnet. Ein privater Betreiber, der im Hundertwasser-Haus die „Vienna Art Toilet“ führt, hat die Toilettenanlage mit rotem Plüsch und Theaterplakaten dekoriert, spielt Musik vom Band und verlangt dafür den stolzen Preis von sieben Schilling. Die Holzverschalung neben diesem Tiefpunkt der Wiener Gastlichkeit markiert übrigens den Ort, an dem eine Videoinstallation von „museum in progress“ geplant ist: Überall entsteht halt was.

Zyniker werden in diesem Aufeinandertreffen ein natürliches Phänomen sehen: Jede Stadt bekommt, was sie verdient, und morgen sieht alles wieder anders aus. In einer pluralistischen, vom Markt beherrschten Gesellschaft von gestalterischen Zusammenhängen zu träumen sei - selbst wenn man nur von den 100 Metern zwischen Kärntner Straße und Opernpassage spricht - schlicht naiv. Aber was ist daran naiv, von der öffentlichen Hand zu verlangen, daß sie eine Toilettenanlage ohne Plüsch betreibt? Oder daß sie das Café in der Opernpassage nicht an eine Fast-food-Kette vermietet, nur weil das ein paar tausend Schilling im Jahr mehr an Mieteinnahmen bringt? Welche Nutzung diesem zentralen Raum der Opernpassage gegeben wird, ist nämlich eine städtebauliche Frage, von der die Qualität des gesamten Umfelds wesentlich abhängt.
Auch der scheinbare Pluralismus bei der Gestaltung der diversen Abgänge und Kioske, mit dem sich die MA 19 vor einer Qualitätsdiskussion drückt, ist alles andere als selbstverständlich. Als nächster wird Kurt Schlauss zum Zug kommen. Sein Entwurf für die Überdachung der Badner-Bahn-Station auf der anderen Seite des Rings ist eine bizarre Kombination aus einem Flugdach - das von über dem Dach liegenden, nach hinten abgespannten Fachwerks-trägern in Position gehalten wird - und einer Glastonne, die an den bestehenden schlichten Aufgang anschließt: Überall entsteht halt was.

Nun gibt es in Wien seit kurzem einen „Strategieplan“ - vom Stadtrat für Planung und Zukunft initiiert und als wesentliches Instrument einer neuen Stadtplanung vorgestellt -, in dem diese Fragen durchaus angesprochen werden. Wien müsse einen „kultivierten Umgang mit dem Stadtraum“ pflegen, der auch die „Rücknahme funktioneller und gestalterischer Überfrachtung“ mit einschließe. Der Stadtraum sei nicht nur Erlebniswelt, sondern auch ein „Medium für Vertiefung und Reflexion“. Die „Qualitätssuche im Wettbewerb“ wird ausdrücklich befürwortet, ebenso die „Managementorientierung in der Planung“. Solange dieser Plan als Liste frommer Wünsche belächelt und nicht als Kampfschrift gegen die herrschenden Zustände gefürchtet wird, darf man sich freilich nicht allzu viele Hoffnungen machen.

Um eines klarzustellen: Es geht hier nicht um Stadtbildschutz und Ortsbildpflege. Was im Umfeld der Oper zu sehen ist, sind die Spuren von Geldgier, Dummheit, Frustration, Zynismus und vor allem Gleichgültigkeit. Gute öffentliche Räume entstehen dort, wo um Qualität gekämpft wird, in Wien etwa zuletzt auf dem Judenplatz, einem der wenigen wirklich urbanen Plätze Wiens. Er wäre ein Modell: nicht in der Art der Gestaltung, denn nicht jeder urbane Platz muß autobefreit und hochkonzentriert sein - sondern im kompromißlosen Qualitätsanspruch, mit dem hier der Stadtraum in Auseinandersetzung mit kontroversiellen Interessen als öffentliche Sache verhandelt wurde.

Spectrum, Sa., 2000.11.11

14. Oktober 2000Christian Kühn
Spectrum

Ironie im Hamsterrad

Ausgelobt war ein Ideenwettbewerb zum Thema „Wohnen“. Die 357 Einsendungen zu „Future Vision Housing“, die in Linz zu sehen sind, zeigen vor allem eines: Beim Haus der Zukunft kommt es nicht darauf an, wie es aussieht, sondern wie es sich verkauft.

Ausgelobt war ein Ideenwettbewerb zum Thema „Wohnen“. Die 357 Einsendungen zu „Future Vision Housing“, die in Linz zu sehen sind, zeigen vor allem eines: Beim Haus der Zukunft kommt es nicht darauf an, wie es aussieht, sondern wie es sich verkauft.

Die Architekten der klassischen Moderne verstanden sich als professionelle Visionäre. Ihre Hausentwürfe waren Lebensentwürfe, ihre Stadtplanungen Skizzen neuer Gesellschaftsformen. Le Corbusiers Schlachtruf „Baukunst oder Revolution!“ zeugt von der Hoffnung, die Gesellschaft verändern zu können, indem man ihr neue Häuser baut. Gegen diese Hoffnung lassen sich viele Argumente anführen. Der Philosoph Ernst Bloch, der architektonische Utopien als „Bauten, die eine bessere Welt abbilden“, durchaus zu würdigen wußte, diagnostizierte in ihr eine Verkehrung von Ursache und Wirkung: „Eben weil die Architektur weit mehr als die anderen bildenden Künste eine soziale Schöpfung ist und bleibt, kann sie im spätkapitalistischen Hohlraum überhaupt nicht blühen.“ Zuerst, bitte, eine andere Gesellschaft, die Architektur wird dann schon folgen.

So läßt sich freilich nur aus einer zähflüssigen Gegenwart heraus argumentieren. Wenn sich die gesellschaftliche Entwicklung beschleunigt, steigt auch in der Architektur der Bedarf nach visionären Entwürfen. Motiv dafür ist weniger der Wunsch nach einer Vorhersage der Zukunft als vielmehr jener nach einem besseren Verständnis der Gegenwart und ihrer Potentiale.

Das „Art & Tek Institute“ an der Universität für Gestaltung in Linz, dem Herbert Lachmayer vorsteht, hat sich vor zwei Jahren mit Visionen für die Arbeitswelt auseinandergesetzt: „Future Vision Work“ hieß eine Ausstellung, die von einem internationalen Ideenwettbewerb begleitet war. Zusammen mit dem Architekturforum Oberösterreich hat das „Art & Tek Institute“ diesen Wettbewerb zu einer Biennale weiterentwickelt, die der visionären Auseinandersetzung mit architektonischen Grundproblemen dienen soll. „Future Vision Housing“ hieß das diesjährige Thema. Erholung und Verkehr stehen für die nächsten beiden Wettbewerbe auf dem Programm. Die Auslober bedienen sich damit - wenn auch nur als „Orientierungsfolie in einer zunehmend orientierungslosen Gegenwart“ - einer Gliederung, die von den Hauptvertretern der klassischen Moderne als Lösung für die funktionellen Probleme der Stadt gesehen wurde.

Dieser implizite Rekurs auf den Funktionalismus ist geradezu eine Einladung, ironische Beiträge zu liefern. Die Jury, bestehend aus Olaf Gipser, Odile Decq, Hans Frei, Bettina Götz und Margit Ulama, hat Humor bewiesen, indem sie eine derartige Einreichung mit dem dritten Preis auszeichnete. Das Team TTT&T aus Berlin reichte eine „Future Vision Wohnpaste“ ein, komplett mit Verpackung und Warnung vor unerwünschten Nebenwirkungen. Neu ist diese ironische Abrechnung mit dem Funktionalismus freilich nicht: Schon Hans Hollein und Peter Noever haben Ende der sechziger Jahre den Raumspray „Svobodair“ konzipiert, der statt simplem Tannenduft eine ganze Büroumwelt hervorzaubern sollte.

Unter den Preisträgern, auf die das von Sponsoren aus der Industrie beigestellte Preisgeld von beachtlichen 17.500 Euro aufgeteilt wurde, finden sich noch andere, die in die sechziger Jahre zurückweisen. Der erste Preis tarnt sich als Werbebroschüre für ein „Haus der Zukunft“, allerdings unter dem paradoxen Slogan: „SOLID - we don't build houses“. Das Produkt selbst ist nur schemenhaft dargestellt, eine pneumatische Hülle mit abgerundeten Ecken, deren Oberfläche chamäleonartig jede beliebige Textur annehmen kann. Was in den sechziger Jahren ein Ausbruch aus den Konventionen war, ist hier, ganz im Gegenteil, die bedingungslose Kapitulation des Wohnens vor der Konsumgüterindustrie. Wie das SOLID-Haus aussieht, ist völlig gleichgültig: SOLID paßt in jede Lücke, übernimmt jedes Muster, das gerade gefällt, ermöglicht den Partnerlook mit dem eigenen Haus. Wichtig ist das Lebensgefühl, das mit ihm verkauft wird. Heimat wird zur Dienstleistung: Während SOLID übersiedelt wird, wohnt der Besitzer gratis in einem Fünf-Sterne-Hotel.

Direkt aus den sechziger Jahren importiert wirkt auch das „urban.sushi“ der Wiener Gruppe „awg-alleswirdgut“, eine Art Hamsterrad aus Kunststoff, in dem alle Wohnfunktionen auf kleinstem Raum bereitstehen. Als durchgedrehte Tonne des Diogenes hat das Objekt, dessen Prototyp kürzlich in der Ausstellung „Den Fuß in der Tür“ im Wiener Künstlerhaus zu sehen war, einen hohen Unterhaltungswert. Ob es tatsächlich „realistisch konzipiert“ ist, wie der Wettbewerbsbericht hervorhebt, darf jedoch - trotz aller Referenzen zur Autoindustrie und zu Produkten wie dem „smart“ - bezweifelt werden.

Aus den weiteren Projekten ragen zwei hervor, die weitgehend ohne Ironie auskommen. Im Beitrag „swap“ wird von den Autoren - Christoph Falkner, Thomas Grasl, Georg Unterhohenwartner und Rainer Fröhlich - ein Experiment über nomadisches Wohnen dokumentiert. Der Name „swap“ ist Programm: Zwölf Testpersonen wechselten in einem Rhythmus von zwei Tagen ihre Wohnungen, um die Notwendigkeit der „eigenen“ Wohnung zu hinterfragen. Sie übersiedelten dabei jeweils mit einem „Survival-Kit“, in den sie alles für sie Lebens- und Arbeitsnotwendige gepackt hatten. Im Unterschied zum SOLID-Projekt kommt „swap“ ohne Lifestyle-Vorgaben aus und zielt nicht allein auf gesteigerte Individualität ab, sondern auf ein offenes Netzwerk von Individuen. Auf die Chance, damit der massenhaften Individualität der Lifestyle-Inszenierungen eine Alternative entgegenzusetzen, hat schon Vilém Flusser hingewiesen: „Die offene Vernetzung ist eine Alternative zur inkompetent gewordenen Vermassung. Die Hände, die sich an keinen Ast mehr klammern können, woanders hin können sie langen als in Richtung der Hand des Anderen?“ Auf diesen Satz bezieht sich auch das poetischste der prämierten Projekte, das „sensible house“ von Frederike Putz aus Hamburg. Neuen Wohnraum zu schaffen bedeute, neue Beziehungen herzustellen. Ihr Beitrag dazu ist eine Maschine, die Wahrnehmungen verwandelt und in den Herstellungsprozeß von Kultur eingreift. Die Stadt, von Flusser einmal als Wellental in der Bilderflut bezeichnet, wird in dieser Maschine als Interferenz zwischen Gewohntem und Ungewohnten generiert.

Bis 29. Oktober sind alle 357 eingereichten Beiträge zu „Future Vision Housing“ im Offenen Kulturhaus Linz (Dametzstraße 30; täglich von 10 bis 18 Uhr, dienstags bis 20 Uhr) zu sehen. Wer nach der Architekturbiennale in Venedig noch mehr Verwirrung über den aktuellen Zustand der Architektur verträgt, wird an dieser Ausstellung seine Freude haben.

Spectrum, Sa., 2000.10.14

12. August 2000Christian Kühn
Spectrum

Wie ein Gebäude auf die Welt kommt

Direktauftrag oder Ideenkonkurrenz? Es gibt kein Rezept für die glückliche Begegnung zwischen Architekt und Bauherr. Wie das Beispiel der Mittelschule Wolkersdorf zeigt, hat der Wettbewerb aber einen unbestreitbaren Vorzug: Er eröffnet einen Spielraum für die Architekturentwicklung.

Direktauftrag oder Ideenkonkurrenz? Es gibt kein Rezept für die glückliche Begegnung zwischen Architekt und Bauherr. Wie das Beispiel der Mittelschule Wolkersdorf zeigt, hat der Wettbewerb aber einen unbestreitbaren Vorzug: Er eröffnet einen Spielraum für die Architekturentwicklung.

Wann kommt ein Gebäude auf die Welt? Bei der Eröffnung? Bei Baubeginn? Wenn die erste Skizze entsteht? Oder noch früher, wenn der Bauherr den Wunsch äußert, etwas zu bauen? Die Architekturkritik legt den Geburtstermin in der Regel auf den Tag der Eröffnung: Da steht das Gebäude ohne Gebrauchsspuren da, schön wie ein fabriksneues Auto, und läßt sich publikationsgerecht photographieren. In die Zeitung kommt es erst wieder, wenn es undicht wird oder einstürzt - und vielleicht eines Tages, bevor es abgerissen werden soll.

Seine spannendsten Zeiten erlebt ein Haus aber viel früher, wenn noch fast alles möglich ist. Es ist die Stunde des Bauherrn: Weiß er überhaupt, was er wirklich braucht? Diese Frage ist schon für einen privaten Bauherrn schwer genug zu beantworten; beim öffentlichen Bau multiplizieren sich die Probleme mit der Anzahl der Betroffenen. Bei jedem Schulbau wollen sich Schüler und Lehrer, Schulwarte und mitnutzende Sportvereine berücksichtigt wissen, und wenn es um die äußere Erscheinung geht, kommen noch Anrainer hinzu, denen jede Veränderung zum Problem wird.

Könnte man eine Schule kaufen und wie ein Auto probefahren, wären diese Probleme leichter zu lösen. Aber Häuser haben ihre individuelle Geschichte, ihren besonderen Ort und ihre kulturellen Bedingungen. Sie sind weder Ware noch Designobjekt, sondern entstehen aus der spezifischen Begegnung eines guten Bauherrn mit einem guten Architekten im Rahmen einer gut definierten Bauaufgabe. Gut definiert heißt dabei nicht, daß jede Anforderung im Detail beschrieben ist, sondern daß das Wesentliche zu einer Hierarchie von Wünschen geordnet ist, die auch für unkonventionelle Antworten offen bleibt. Für die glückliche Begegnung zwischen Architekt und Bauherr gibt es kein Rezept: Unter den herausragenden Bauten finden sich Direktaufträge ebenso wie Ergebnisse offener Wettbewerbe. Die Ideenkonkurrenz hat aber unbestreitbare Vorteile. Abgesehen davon, daß sie dem Bauherrn ein breiteres Spektrum an Lösungen anbietet, ist die Möglichkeitswelt, die sie dabei eröffnet, einer der wesentlichen Orte der Architekturentwicklung.

Die Konkurrenz für den Neubau einer Mittelschule im niederösterreichischen Wolkersdorf ist ein Paradebeispiel dafür. An Bauherren fehlt es hier nicht: Da ist einmal die Bundesimmobiliengesellschaft als Auftraggeber, dann das Bildungsministerium als oberste Vertretung der Nutzer; der Bürgermeister der Gemeinde hat ein verständliches Interesse an einem Neubau, der auch seinen Wählern gefällt; und dann gibt es noch die letztlich Betroffenen, Schüler und Lehrer, und zumindest letztere wollen bei „ihrer“ Schule mitreden.

Gleich zu Beginn stellte sich heraus, daß eine Grundfrage noch nicht geklärt war: Die Gemeinde verfügte über mehrere Grundstücke, aber über kein Entwicklungskonzept, aus dem sich zwingend ein Standort hätte ableiten lassen. Gerade in einer kleinen Gemeinde im Gravitationsbereich einer Großstadt, die von massiver Zersiedlung betroffen ist, stellt eine Schule eine Chance zur städtebaulichen Neuordnung dar. Der Bürgermeister von Wolkersdorf beauftragte den Architekten Erich Raith mit einer Studie, die empfahl, ein Grundstück auf der Entwicklungsachse zur Katastralgemeinde Obersdorf zu wählen. An Stelle des üblichen, mehr oder weniger zufälligen Zusammentreffens kleingliedriger Siedlungsformen könnte so eine zentrale Einrichtung in einem langsam anwachsenden Siedlungsband entstehen. - Auf dieser Grundlage schrieb die Bundesimmobiliengesellschaft ein Verhandlungsverfahren aus, also eine Konkurrenz mit beschränkter Teilnehmeranzahl. Nach einer EU-weit offenen Bewerbungsphase wird dabei eine beschränkte Anzahl von Büros ausgewählt, die gegen eine finanzielle Entschädigung Konkurrenzprojekte ausarbeiten. Nach welchen Kriterien die Auswahl der Büros stattfindet, ist freilich problematisch. Üblicherweise zählen Referenzprojekte, Anzahl der Mitarbeiter und wirtschaftliche Potenz. In Kennziffern gefaßt, bleibt bei immateriellen Leistungen das Kriterium der Qualität leicht auf der Strecke. Als rechnerisch bester Bewerber ergab sich etwa in diesem Fall das Büro Peter Czernin, das unter anderem architektonische Tiefpunkte wie das Bundesamtsgebäude in der Wiener Radetzkystraße zu verantworten hat.

Keine Jury kann sich über diese Spielregeln hinwegsetzen. Sie kann allerdings den Kreis der Bewerber ausweiten, und in diesem Fall gelang es Marta Schreieck als Vorsitzender, die Bauherren davon zu überzeugen, zu den geplanten acht sechs weitere Bewerber zuzulassen. Das kostet zwar Geld, im Vergleich zu den Baukosten ist dieser Betrag aber verschwindend klein, und die Ergebnisse zeigen, daß er durch die Lösungen leicht aufgewogen wird. Einige Projekte nutzten die Tiefe des Grundstücks und schlugen langgestreckte Baukörper vor: Bei Boris Podrecca entsteht dabei eine urbane Skulptur mit großer Rhetorik, bei Martin Kohlbauer eine feingliedrigere, manieristisch durchgeformte Komposition. Hans Mesnaritsch trennt Schule und Turnsaal in zwei scheinbar hermetische Blöcke mit einer überraschenden Offenheit im Erdgeschoß. Franziska Ullmann und Peter Ebner schlagen eine mäanderartige Struktur mit ungewöhnlichen Innenräumen vor. Die Entscheidung fiel letztlich zwischen zwei kompakten Projekten, die sich auf einen Teil des Grundstücks beschränkten: Den Zuschlag erhielt die Architektur Consult Ziviltechniker GmbH, hinter der Namen wie Günther Domenig, Hermann Eisenköck und Herfried Peyker stehen. Sie öffnen in drei parallel geführten Klassentrakten zwei verschränkte Hallenräume, die sich in einer überzeugenden Abfolge zum seitlich angesetzten, teilweise in die Erde eingegrabenen Turnsaal staffeln - ein im besten Sinn gefälliges Musterschülerprojekt, bei dem keine Fragen offen bleiben. Szyszkowitz/Kowalski schlugen dagegen eine nur zweigeschoßige Anlage mit wellenförmigen Dächern und fünf Höfen vor, ein Schüleruniversum abseits des Konventionellen, mit Widersprüchen und Irritationen, dessen großes Potential in der Jury aber keine Mehrheit finden konnte.

Angesichts solcher Konkurrenzen auf hohem Niveau beweist sich die Republik, vertreten durch die Bundesimmobiliengesellschaft, als kompetenter Bauherr. Die BIG, die in den acht Jahren seit ihrem Bestehen immerhin vier Bauherrenpreise erhalten hat, wird in Zukunft eine noch größere Verantwortung bekommen: Bis Anfang 2001 soll ihr auch die Bundesbaudirektion unterstellt werden. Im derzeit in Begutachtung befindlichen Gesetzesentwurf zur Ausgliederung der Bundesimmobilien finden sich freilich bedenkliche Anzeichen jener österreichischen Tendenz, Richtlinien festlegen zu wollen, wo Entscheidungen gefordert wären.

In Zukunft sollen der BIG vom Wirtschaftsministerium zu erarbeitende „bundeseinheitliche Standards für architektonische Gestaltung“ vorgeschrieben werden - im schon jetzt überreich verregelten Milieu des Bauwesens eine absurde Idee.
Daß in Zukunft bei allen größeren Projekten anonyme baukünstlerische Wettbewerbe vorgeschrieben sind, ist dagegen zu begrüßen. Dafür spricht beispielsweise, daß beim jüngst durchgeführten zweistufigen Wettbewerb für die Erweiterung der Wiener U2 nicht die Platzhirsche, sondern mehrere junge Büros in die Letztauswahl kamen. Maßnahmen zur Förderung jüngerer Architekten gibt es aber auch im Bewerbungsverfahren, indem etwa eine Quote für Bewerber ohne einschlägige Referenzprojekte eingeführt wird. Ob die amtliche Festlegung einer numerischen Grenze von 70 Millionen Schilling (5,09 Millionen Euro) Bausumme, ab der in Zukunft anonyme Wettbewerbe vorgeschrieben sein sollen, eine Architekturpolitik ersetzt, die auf klare Zielvorgaben flexibel mit der jeweils besten Strategie reagiert, ist jedoch mehr als fraglich.

Spectrum, Sa., 2000.08.12

22. Juli 2000Christian Kühn
Spectrum

Wer spricht hier schon vom Siegen?

Er versteht sich als Chronist des Zerfalls urbaner Strukturen in den Vereinigten Staaten: Camilo José Vergara. Kühl dokumentiert er, wie dicht verbaute Viertel verwahrlosen, wie sie abgerissen und durch vorstädtische Strukturen ersetzt werden. Im Grazer „Haus der Architektur“ ist derzeit eine Ausstellung seiner Photozyklen zu sehen.

Er versteht sich als Chronist des Zerfalls urbaner Strukturen in den Vereinigten Staaten: Camilo José Vergara. Kühl dokumentiert er, wie dicht verbaute Viertel verwahrlosen, wie sie abgerissen und durch vorstädtische Strukturen ersetzt werden. Im Grazer „Haus der Architektur“ ist derzeit eine Ausstellung seiner Photozyklen zu sehen.

Die Ausdehnung der Städte gilt als unaufhaltsamer Prozeß. Tatsächlich leben heute mehr als die Hälfte aller Menschen in Städten oder, allgemeiner gesagt, in urbanen Strukturen unterschiedlichster Art. Das Entwicklungstempo dieser Strukturen ist am höchsten in Asien. Am niedrigsten ist es in Europa, wo der kulturelle Wert der Städte im allgemeinen an historischen Stadtzentren gemessen wird, die sich zum letzten Mal im 19. Jahrhundert massiv verändert haben. Das Spannungsfeld von „Erinnerungswerten“ und „Gegenwartswerten“, vom Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl in seiner Schrift über den „Modernen Denkmalkultus“ aus dem Jahr 1903 eingeführt, hat die Entwicklung der europäischen Stadt im 20. Jahrhundert trotz aller Zerstörungen maßgeblich beeinflußt. Erneuerung geschieht hier in der Regel an der Peripherie, ohne an Image und Selbstbild der Stadt Wesentliches zu verändern.

Amerikanische Städte konnten sich dagegen weitgehend ungebremst von denkmalpflegerischen Vorstellungen, die Eingriffe ins Privateigentum erforderlich gemacht hätten, entwickeln. Anders als in Europa, wo Stadtentwicklung als kontinuierlicher Prozeß der Verdichtung wahrgenommen wird, geht die Entwicklung in den USA potentiell in beide Richtungen: Auf rasches Wachstum kann ein ebenso rascher Verfall folgen, wenn sich die wirtschaftliche Lage ändert. Das berüchtigtste Beispiel ist Detroit, die einstige Hauptstadt der Automobilindustrie. Im Jahr 1989 wurden bei einer Aufnahme des baulichen Zustands 15.215 in Folge der Rezession leerstehende, mit Sperrholz und Blech versiegelte Häuser gezählt. Darunter befanden sich unter anderem auch große Teile des ehemaligen Stadtzentrums mit seinen architekturhistorisch zum Teil bemerkenswerten Hochhäusern.

Der aus Chile stammende amerikanische Photograph Camilo José Vergara versteht sich als Chronist der Vernachlässigung und des Zerfalls urbaner Strukturen in den USA. Als studierter Soziologe betrachtet Vergara diese Prozesse vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die immer größere soziale Ungleichheiten in Kauf zu nehmen bereit ist. Sein Interesse gilt dem „Neuen amerikanischen Ghetto“, über das er 1995 ein gleichnamiges Buch veröffentlichte. Dazu gehören jene heruntergekommenen Viertel mit Sozialwohnungen, die in den Jahren 1950 bis 1970 mit der Hoffnung errichtet wurden, die soziale Situation der Bewohner aus den Slums durch die Umsiedlung in menschenwürdigere Hochhausblocks verbessern zu können.

Vergara dokumentiert diese Orte der Hoffnungslosigkeit kühl und ohne Voyeurismus, wobei er sich nicht auf Momentaufnahmen beschränkt, sondern dieselben Orte immer wieder besucht, teilweise seit über 25 Jahren. Er dokumentiert, wie dichte, verwahrloste Strukturen abgerissen und durch neue „townhouses“ oder durch Einfamilienhäuser ersetzt werden, um so etwa mitten in der South Bronx ein Stück normiertes Suburbia entstehen zu lassen.

Das gepflegte Bild hat eine Kehrseite: Hier können trotz hoher Förderungen nur die wirtschaftlich stärksten Bewohner der ehemaligen Ghettos leben. Die unausgesprochene Hoffnung der Stadtverwaltungen - schreibt Vergara in seinem Begleittext - ist, daß die ärmsten Bewohner schließlich in eine andere Stadt übersiedeln, während das aufgeräumte Stadtbild das Vertrauen der Investoren in den Stadtteil wiederherstellt. Daß in diesem Prozeß aber auch viel an sanierbarer alter Bausubstanz zerstört wird, nehmen die Kommunen in Kauf: Es geht weniger um die Lösung, sondern um das Verdrängen sozialer Probleme.

Vergaras Interesse beschränkt sich nicht auf die soziologische Dimension der Prozesse, die er dokumentiert. Er ist ebenso fasziniert vom Schicksal der Häuser: Wie im Lesesaal einer 1905 errichteten öffentlichen Bibliothek in Camden nach Jahren der Verwahrlosung eine kleine Baumgruppe wächst. Oder wie der Zuschauerraum des Michigan Theaters in Detroit zu einer mehrgeschoßigen Garage wird: Über den parkenden Cadillacs auf dem obersten Parkdeck schwebt eine dünne Stukkaturschale mit verblichenen Fresken. Die Winteraufnahme eines sozialen Wohnbaus in Chicago zeigt ein achtgeschoßiges Gebäude, an dessen Fassade vereiste Wasserfälle aus zerborstenen Leitungen herablaufen. Die Architekten der fünfziger Jahre hatten hier von Nachbarschaften auf jedem Stockwerk, von Spielfluren und Gartenlandschaften geträumt.

Mit der Sprengung ähnlicher Blocks - der Pruitt-Igoe-Siedlung in St. Louis - im Jahr 1972 hatte der Architekturtheoretiker Charles Jencks das Ende der Moderne und den Beginn der Postmoderne datiert. In Chicago, der Stadt Mies van der Rohes, leistete die Moderne offenbar länger Widerstand. Die Blocks wurden 1995 gesprengt. Vergaras Aufnahme aus dem Jahr 1998 zeigt postmodern verzierte, niedrige Wohnhäuser am selben Ort.

In seinem 1999 erschienenen Buch „American Ruins“ konzentriert sich Vergara auf einen anderen Aspekt der verlassenen Bauten. Ein Rilke-Zitat steht am Anfang: „Wer spricht von Siegen? Übersteh'n ist alles.“

Der Zustand des Verfalls sei keiner Kultur so unerträglich wie der amerikanischen, und gerade deshalb fordert Vergara die Erhaltung der großen amerikanischen Ruinen, etwa im Zentrum von Detroit. Vergara sieht in den verfallenden Hochhäusern ein Ruinenfeld, das es atmosphärisch mit den Ruinen Roms aufnehmen könne, und schlägt

Als der seinerzeit größte Department Store der Welt, das 25 Stock hohe „Hudson's“ im Zentrum Detroits, gesprengt wurde, verkündete der Bürgermeister: „Jetzt kann die Zukunft beginnen.“

vor, das gesamte Zentrum in seinem ruinösen Zustand unter Denkmalschutz zu stellen. Mit dieser Vorstellung ist Vergara offensichtlich nicht allein: Im Internet finden sich Websites wie www.infiltration.org, die Tips für illegale Exkursionen in verlassene Bauten in Detroit und anderen Städten der USA anbieten. Trotzdem ist die „Renaissance“ des Zentrums von Detroit bei anspringender Konjunktur wohl kaum aufzuhalten.

Hudson's, seinerzeit der größte Department Store der Welt, ein 25 Stock hoher, mächtiger Block aus dem Jahr 1911, wurde 1998 gesprengt. Die Stadtverwaltung nannte das Gebäude, in dessen besten Jahren 3500 Mitarbeiter bis zu 100.000 Kunden pro Tag bedient hatten, einen Mühlstein am Hals Detroits. Als das es - zu Kosten von 12 Millionen Dollar - in sich zusammenstürzte, verkündete der Bürgermeister: „Jetzt kann die Zukunft beginnen.“

Mit der Ausstellung der Photozyklen Camilo José Vergaras setzt das Haus der Architektur in Graz seinen aktuellen Versuch fort, Architektur aus einer geänderten Perspektive zu betrachten. Nicht die Objekte und ihre Ästhetik stehen dabei im Mittelpunkt, sondern die Prozesse, in die Architektur bei ihrer Entstehung und Benutzung eingebunden ist. Was bedeutet Architektur für die Investoren, die Politiker, die Bauindustrie? Brauchen sie den Begriff noch, oder operieren sie lieber in einem Feld zwischen Lifestyle und Infrastruktur? Wie funktioniert Architektur in einer funktional immer mehr differenzierten Gesellschaft? Für Vergaras durch die Erfahrung der amerikanischen Ghettos geschärften Blick ist bereits diese Frage suspekt: Er fordert ein Grundrecht auf Dysfunktionalität - für die nicht funktionierenden Häuser ebenso wie für ihre nicht funktionierenden Bewohner - als Basis für eine dauerhafte Sanierung der Verhältnisse.

[ Die Ausstellung „The New American Ghetto“ im Haus der Architektur Graz, Engelgasse 3 bis 5, ist noch bis 1. September (Montag bis Freitag 10 bis 19, Samstag 10 bis 13 Uhr) zu sehen. ]

Spectrum, Sa., 2000.07.22

03. Juni 2000Christian Kühn
Spectrum

Bank aus Stahl, Dach aus Luft

Gegen etablierte Standards setzten sie wieder einmal auf eine eigenwillige Maß-Lösung: Jabornegg und Pálffy schufen beim Umbau des Schoellerbank-Hauptsitzes im Zentrum Wiens eine Leichtigkeit, die nachdrücklich kulturtopographische Akzente setzt.

Gegen etablierte Standards setzten sie wieder einmal auf eine eigenwillige Maß-Lösung: Jabornegg und Pálffy schufen beim Umbau des Schoellerbank-Hauptsitzes im Zentrum Wiens eine Leichtigkeit, die nachdrücklich kulturtopographische Akzente setzt.

Bauen und Zerstören gehören enger zusammen, als es manchen Architekten und Bauherren lieb ist. Man kann nicht bauen, ohne Bestehendes zu verändern, die Erde aufzureißen und den Horizont umzustellen. Gerade im historischen Stadtkern, wo in der Regel nichts anderes gewünscht ist als liebevolle Ergänzung, steht und fällt so manches Projekt mit der Frage, was abzureißen und was zu erhalten ist. Der Gebäudekomplex im Zentrum Wiens, in dem die SKWB-Schoellerbank ihren neuen Hauptsitz errichtet hat, ist ein solcher Fall.

Er besteht aus einem Vorderhaus an der Renngasse und einem Hinterhaus, das an den Hof des Schottenstifts grenzt. Durch Einbauten war diese klare Anlage im Lauf der Zeit zu einem Labyrinth geworden, das den Bedürfnissen eines modernen Bankgebäudes nicht mehr entsprach. Eine Möglichkeit wäre der Abriß des gesamten Innenlebens unter Erhaltung der Fassaden gewesen, ein Verfahren, mit dem beispielsweise der Hochholzerhof auf der Tuchlauben, der Hauptsitz der BAWAG, zu Tode saniert wurde. Das andere Extrem wäre die technische Aufrüstung des Bestandes im Rahmen einer vorsichtigen Entkernung gewesen.

Die Lösung, mit der die Architekten Jabornegg und Pálffy auf dieses Problem reagiert haben, besticht durch ihre klare Organisation. Der Bestand bleibt von den Fassaden weg bis zur Mittelmauer erhalten. In den erweiterten Zwischenraum wird ein rechteckiger, überdeckter Innenhof gesetzt, an dessen längeren Seiten die neuen Büroräume zu liegen kommen.
Die zwei Schmalseiten dienen der Erschließung: Auf der einen Seite verbindet ein schmaler Gang die Büros der jeweiligen Etage, auf der anderen Seite ist Platz für zwei Lift- und Sanitärtürme und ein äußerst großzügiges, zweiläufiges Treppenhaus. Eine zusätzliche Glasdecke über dem Erdgeschoß erlaubt es, die Eingangshalle ohne akustische Störungen für Veranstaltungen zu nutzen. Mit wenigen Linien verbindet dieser Grundriß bestehende und neue Teile wie selbstverständlich zu einem Ganzen.

Solche typologisch klaren, aber zugleich hochspezifischen Lösungen sind charakteristisch für die Arbeit von Jabornegg und Pálffy. Schon mit ihrem ersten größeren Bau, der Generali-Foundation in der Wiedner Hauptstraße, haben sie einen Raum für Kunstausstellungen geschaffen, in dem sich die Architektur nie in den Vordergrund spielt. Trotzdem hat der Besucher den Eindruck, Kunst an einem bestimmten Ort gesehen zu haben und nicht in einer weißen Schachtel. Der Erfolg der Generali-Foundation, die sich in den letzten Jahren zu einer der aktivsten Kunstinstitutionen Wiens entwickelt hat, verhalf Jabornegg und Pálffy zum Auftrag für die Ausstellungsarchitektur der Documenta X in Kassel. Sie entwickelten ein Konzept, das statt vieler kleiner Raumnischen großzügige Raumsequenzen vorsah.

Die geforderte Klimatisierung der Räume erreichten sie mit einfachsten Mitteln: Fensterdichtungen wurden entfernt, die Ausstellungswände so ausgeführt, daß sie für die nötige Luftzirkulation sorgten, und die bestehende Fußbodenheizung vorübergehend nicht durch einen Heizkessel, sondern durch den kalten Brauchwasserstrang geführt. In der Schoellerbank wird der Hof zur Wärmerückgewinnung genutzt, wodurch die notwendige Heizleistung für die neuen Büroflächen praktisch auf Null reduziert werden konnte.

Intelligentere Lösungen gegen etablierte Standards durchzusetzen ist freilich ein mühsames Unterfangen. In der Schoellerbank haben die Architekten zusammen mit ihrem Trag-werksplaner, Karlheinz Wagner, eine Konstruktion gewählt, die sich angesichts des engen Bauplatzes angeboten hat. Nur Liftkerne und Feuermauern sind aus Stahlbeton, Decken und Treppen dagegen aus Stahl konstruiert. Weil Stahl bei höheren Temperaturen seine Tragfähigkeit verliert, wird er üblicherweise mit brandhemmenden Materialien ummantelt. Die zweiläufige Stahltreppe der Schoellerbank - das einzige Fluchttreppenhaus im Gebäude - kommt ohne solche Maßnahmen aus: In einer Computersimulation konn- te nachgewiesen werden, daß bei einem Brand des übrigen Hauses die Temperatur der Stahlträger 90 Minuten lang nicht über den geforderten Grenzwerten liegen würde.

Durch das Offenlegen von Konstruktion und Material überträgt sich die Präzision des Stahlbaus auf den Raum. Neben Sichtbeton, Edelstahl und Glas finden sich in den Büroräumen Akustikplatten aus Ahorn. In der Glasdecke über der Eingangshalle kommen spezielle, mit Flüssigkristallen versehene Gläser zum Einsatz, die von einem matten auf einen transparenten Zustand umgeschaltet werden können.

Die visuelle Höhe des Raumes läßt sich damit zwischen fünf und 20 Metern regulieren. Bankschalter wird man in der Halle übrigens vergeblich suchen: Für die normalen Schaltergeschäfte, die in Zukunft großteils elektronisch abgewickelt werden, gibt es gerade noch einen kleinen Raum neben dem Eingang. In der Halle finden sich nur ein Empfangspult und einige Schiebewände für Veranstaltungen.

Eine technische Sonderleistung ist die Überdachung des Innenhofs. Statt Glas kommen hier pneumatische Kissen aus durchsichtigen Kunststoffolien zum Einsatz, die im Prinzip wie Luftmatratzen funktionieren. Weil die Folie im Vergleich zu Glas leicht und gegen Verformungen unempfindlich ist, kann auch die Unterkonstruktion wesentlich zarter ausfallen.
Die luftgefüllten Kissen werden durch Bögen aus Stahlprofilen in Form gehalten, die bei asymmetrischer Belastung durch Wind oder Schnee die entstehenden Kräfte über zarte Verbindungsglieder auf fünf horizontal liegende Seile von nur zwei Zentimeter Dicke übertragen, die mit je 18 Tonnen Zug vorgespannt sind.

Jabornegg und Pálffy sind die wichtigsten unsichtbaren Architekten Wiens: Weder die Schoellerbank noch die Generali-Foundation, noch der Umbau des Misrachi-Hauses am Judenplatz mit dem Zugang zu den Ausgrabungen unter dem Holocaust-Mahnmal, noch die großteils unterirdische Erweiterung des Künstlerhauses, die sie in den nächsten Jahren realisieren werden, hat eine Außenfassade.

In der kulturellen Topographie der Stadt werden sie trotzdem deutliche Spuren hinterlassen.

Spectrum, Sa., 2000.06.03



verknüpfte Bauwerke
SKWB Schoellerbank

29. April 2000Christian Kühn
Spectrum

Architektur macht Schule

Lifestyle oder Philosophie? Dekoration oder Moral? Mit Architektur assoziieren Laien entschieden andere Begriffe als Fachleute. Architekturunterricht als fächerübergreifendes Thema, das bewußte Raumwahrnehmung vermittelt, könnte diesen kategorialen Differenzen abhelfen. Eine erste Bilanz heimischer Initiativen.

Lifestyle oder Philosophie? Dekoration oder Moral? Mit Architektur assoziieren Laien entschieden andere Begriffe als Fachleute. Architekturunterricht als fächerübergreifendes Thema, das bewußte Raumwahrnehmung vermittelt, könnte diesen kategorialen Differenzen abhelfen. Eine erste Bilanz heimischer Initiativen.

Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Fachwerkhaus und einem Fachwerkträger? Wissen Sie, was man unter einer Gaube, unter einer Maisonette oder unter Sichtbeton versteht? Können Sie die Namen von mindestens drei lebenden Architekten nennen?

Falls Sie diese Fragen nicht beantworten können - und nicht zufälligerweise selbst Architekt sind -, sind Sie zumindest keine Ausnahme. Bei einer Studie, die an der Universität Münster durchgeführt wurde, konnten ganze zwei Prozent der Befragten drei lebende Architekten nennen, Fachbegriffe wie die oben angeführten waren nur etwa einem Fünftel bekannt. Befragt wurde dabei kein Querschnitt aus der Gesamtbevölkerung, sondern Studierende verschiedener Fachrichtungen, also durchwegs Personen mit Gymnasialabschluß. Die Studie beschränkte sich allerdings nicht darauf, den Wissensstand von Laien abzufragen: Ihr eigentlicher Gegenstand war die Kommunikation zwischen Experten und Laien. Daher wurde auch erfragt, wie Architekten ihrerseits die Verbreitung des Wissens über Architektur einschätzten, und dabei zeigte sich, daß Architekten das Laienwissen in den meisten Bereichen kraß überschätzten: Die Antwort auf die Frage nach den drei lebenden Architekten trauten sie immerhin 20 Prozent der Befragten zu, und bei den Fachbegriffen schätzten sie auf 60 Prozent.

Erschwerend für das Gespräch zwischen Experten und Laien kommt dazu, daß Architekten Gebäude meistens in anderen Kategorien betrachten als ihre Nutzer. Die Psychologen ließen die beiden Gruppen Beispiele nach frei wählbaren Kategorien ordnen. Das Ergebnis ist wenig überraschend: Während Laien etwa ein rotes Holzhaus und ein rotes Ziegelhaus in die Kategorie „rote Häuser“ zusammenfassen, teilen die Experten nach abstrakteren, visuell weniger deutlichen Kategorien der Konstruktion und des Materials. Generell haben Laien kaum einen Zugang zu einer Kategorie, die für Architekten bereits in der Ausbildung zentrale Bedeutung hat, zur Kategorie des Konzeptionellen, mit der die verschiedenen, oft einander widersprechenden Aspekte einer Bauaufgabe geordnet werden sollen. Für Laien steht das Konkrete, Sichtbare und Benutzbare im Vordergrund, während Architekten in komplexeren Zusammenhängen denken. Komplex heißt dabei nicht unbedingt besser: Es gibt richtige und falsche, sinnvolle und unsinnige Konzepte. Der springende Punkt ist, daß die meisten Laien für eine Diskussion auf der konzeptionellen Ebene kein Verständnis haben, schon gar nicht, wenn andere, handgreiflichere Kategorien durch eine konzeptionelle Überlegung in den Hintergrund treten müßten.

Als zusätzliches Problem erweist sich, daß sich viele architektonische Begriffe mit Alltagsbegriffen decken, ohne daß dasselbe gemeint wäre. Die Kommunikation unter Architekten erfolgt oft jenseits der begrifflichen Ebene über die Referenz auf Beispiele, Richtungen oder einzelne Persönlichkeiten. Es ist für Architekten - so die Autoren der Studie - kaum vorstellbar, wie man als Laie mit Architektur umgehen kann, ohne wenigstens einige dieser herausragenden Referenzpunkte zu kennen. Schließlich zeigte die Studie auch eine gravierende Diskrepanz auf der prinzipiellen Ebene. Auf die Bitte, den Begriff Architektur mit anderen zur Auswahl stehenden Begriffen zu assoziieren, sahen die Laien signifikant stärkere Zusammenhänge zu Begriffen wie Lifestyle, Mode, Dekoration und Luxus, während die Architekten Begriffe wie Moral, Gesundheit, Aktivität und Berührung, Technik, Philosophie und Natur öfter nannten als die Laien. Der oft beklagte Mangel an „guten Bauherren“ dürfte zu einem guten Teil auf derartige kategorialen Differenzen zurückzuführen sein. Mit der Aufforderung an die Architekten, sich doch besser zu erklären und bei der Vermittlung ihrer Absichten die Perspektive von Laien zu berücksichtigen, wird es aber allein nicht getan sein. Architektur gehört als Thema in den Schulunterricht, am besten bereits in die Grundschule - und natürlich nicht nur, um Architekten bessere Voraussetzungen für ihre Arbeit zu bieten. „Ein intaktes Raumbewußtsein ist Teil des Rüstzeugs zu einer mündigen Existenz“, beschreibt Walter M. Chramosta den umfassenderen pädagogischen Rahmen einer Architekturerziehung in der Schule. In Österreich gibt es bereits seit mehreren Jahren Ansätze, das Thema Architektur verstärkt in den Unterricht einzubeziehen, die vom Österreichischen Kulturservice, einer Initiative des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur, gefördert werden. Eine wichtige Vorbildwirkung hat der Arbeitskreis Architektur und Schule der Salzburger Architektenkammer, in dem an Ausbildungskonzepten für verschiedene Schultypen experimentiert wurde. Seit zwei Jahren kooperiert der ÖKS mit der Architekturstiftung Österreich, einer Institution, die von österreichischen Architekturhäusern und Initiativen als gemeinsame Plattform gegründet wurde. Seit 1998 läuft in ganz Österreich das seit neuestem auch von der Architektenkammer geförderte Pilotprojekt „RaumGestalten“, in dessen Rahmen Architekten zusammen mit Lehrern ein Semester lang den Unterricht mitgestalten. Die Architekturstiftung betreut die geförderten Projekte und übernimmt die Dokumentation. In den nächsten Jahren sollen die Erfahrungen in Workshops an interessierte Lehrer und Architekten weitergegeben werden.

Die bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend. Bemerkenswert ist vor allem, daß einige Projekte über den engeren Rahmen des Fachs „Bildnerische Erziehung“ hinausgehen und die besondere Chance nutzen, an einem Querschnittsthema wie Architektur Projektunterricht zu betreiben. Kombinationen mit Fächern wie Deutsch und Psychologie geben die Möglichkeit, sich einerseits mit der eigenen Wahrnehmung von Architektur auseinanderzusetzen, andererseits erlauben sie, Ansprüche an die Architektur zu reflektieren und sprachlich auszudrücken. Gerade der beschleunigte Bilderwechsel der neuen Medien macht eine solche kritische Auseinandersetzung mit dem Raum als Grundlage jeder visuellen Kultur wichtiger als je zuvor. Architekturunterricht wird so zu einer Schule des Sehens, die hinter der oberflächlichen Wahrnehmung zusätzliche Wirklichkeitsschichten vermittelt.

Das eigenständige architektonische Gestalten - das im österreichischen Fach „Bildnerische Erziehung“ tendenziell stärker im Vordergrund steht als in der bundesdeutschen „Kunsterziehung“ - kann im Unterricht nur ansatzweise gelingen und wird immer nur eine kleine Zahl begabter Schüler ansprechen können. Eine Gefahr, von der die Studie der Universität Münster spricht, daß nämlich die Schüler eine heile Welt der Gestaltungsfreiheit vorgegaukelt bekommen könnten, stellt sich in der Praxis nicht, wenn tatsächlich an eine Umsetzung kleiner Veränderungen gedacht wird. Daß dann die Reflexe der Ablehnung genauso greifen wie sonst auch überall, ist für die Schüler ebenso lehrreich wie vielleicht frustrierend - etwa bei jenem Salzburger Beispiel des Gymnasiums Zaunergasse, wo eine von den Schülern mit Unterstützung des Architekten Thomas Forsthuber und des Lehrers Klaus Fleischhacker geplante Adaption der Aula am Widerstand des Lehrerkollegiums scheiterte. Ein anderes Schülerprojekt, das Forsthuber mit der Architektin Maria Flöckner und dem Lehrer Wolfgang Richter unter dem Titel „Swinging Liefering“ am Privatgymnasium der Herz-Jesu-Missionare in Salzburg betreut hat, eine Laube im Schulgarten, scheiterte an der Finanzierung und an der Skepsis der Lehrer. Bis sich die Schule so weit als Ort des Experiments versteht, daß solche „außerplanmäßigen“ Veränderungen nicht nur geduldet, sondern begrüßt werden, wird wohl noch einige Zeit vergehen.

Derartige Projekte werden immer die Ausnahme bleiben. In den allgemeinen Unterricht sollte Architektur als aktive Raumerfahrung und Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswirklichkeit Eingang finden, als fächerübergreifendes Thema, an dem sich konzeptionell-gestalterisches Denken ebenso vermitteln läßt wie das Verstehen ökonomischer Abläufe und letztlich der Umgang mit Fragen der Macht. Ob die bisherigen Pilotprojekte ausreichen werden, um im Unterrichtsministerium eine größere Öffnung für dieses Thema zu bewirken, bleibt abzuwarten. Interessenten können jedenfalls bis 29. Mai 2000 bei der Architekturstiftung Österreich (www.aneta.at) ihre Projekte im Rahmen von „RaumGestalten“ für das nächste Wintersemester einreichen. Bevorzugt werden laut Ausschreibung Projektteams, die eine fächerübergreifende und projektorientierte Auseinandersetzung mit Architektur verwirklichen wollen.

Spectrum, Sa., 2000.04.29

01. April 2000Christian Kühn
Spectrum

Verwertungslogik und Inspiration

Auratisches Objekt oder schlicht veredelte Infrastruktur? Seit man die Künste in schöne und nützliche einteilt, führt die Architektur ein seltsames Zwitterdasein. Extreme Positionen beziehen in dieser Frage Sir Norman Foster und Daniel Libeskind. Zwei Markenartikel im Vergleichstest.

Auratisches Objekt oder schlicht veredelte Infrastruktur? Seit man die Künste in schöne und nützliche einteilt, führt die Architektur ein seltsames Zwitterdasein. Extreme Positionen beziehen in dieser Frage Sir Norman Foster und Daniel Libeskind. Zwei Markenartikel im Vergleichstest.

Seit man die Künste in schöne und nützliche einteilt, führt die Architektur ein seltsames Zwitterdasein. Zwar ist sie durch den Zwang zur Nützlichkeit belastet, zugleich jedoch dadurch ausgezeichnet, daß, im Gegensatz zu den anderen schönen Künsten, niemand ohne sie auskommen kann. Adolf Loos hat mit seiner Feststellung, daß außer dem Denkmal und dem Grabmal kein Bauwerk zur Kunst gezählt werden dürfe, die Demarkationslinie zwischen Kunst und Architektur zu bestimmen versucht. Das ist lange her. Kein Künstler kümmert sich heute mehr um Grenzen dieser Art, außer um sie zu verwischen.
Trotzdem - die Spannung zwischen Schönheit und Nützlichkeit verfolgt die Architektur noch immer. Während andere Kunstformen die Nützlichkeit für ihre Zwecke umformen können - wie etwa jene österreichischen Beiträge bei der letzten Kunstbiennale in Venedig, die sich als Sozialprojekte ausgaben -, hat die Architektur nach wie vor keine andere Wahl, als nützlich zu sein. Liegt ihre aktuelle Bestimmung vielleicht darin, das Nützliche zur Kunst zu erheben?

Kürzlich konnte man in Wien an zwei aufeinanderfolgenden Abenden die Vorträge zweier Architekten hören, die extreme Positionen zu dieser Frage markieren. Beide zählen zu den renommiertesten Figuren der internationalen Architekturszene: Sir Norman Foster, der nach Wien gekommen war, um einem Immobilienprojekt am Landstraßer Gürtel ein wenig Glanz zu verleihen, sprach im Rathaus vor angeblich 2000 geladenen Gästen. Daniel Libeskind hielt seinen Vortrag vor 600 zahlenden Hörern im Museum für angewandte Kunst, das einige Zeichnungen des Architekten besitzt und kürzlich Modelle für Libeskinds jüdisches Museum in Berlin in seine Schausammlung aufgenommen hat.

„Is it infrastructure or is it architecture?“ war die rhetorische Frage, die Norman Forster mehrmals in seinem Vortrag stellte, als hinter ihm Bilder des Stansted-Flughafens, des Funkturms in Barcelona oder der U-Bahn von Bilbao erschienen.
Der Unterschied hätte sich erledigt, ist Fosters implizite Antwort, mit der er die klassische Theorie des Schönen auf den Kopf stellt. Sein Leitmotiv, die Veredelung der Infrastruktur, muß vor dem Hintergrund eines „Angriffs auf die Welt der akademischen Architektur“ gesehen werden, den er - wie Martin Pawley im jüngst erschienenen Werkbuch mit dem Titel „Norman Foster - A Global Architecture“ schreibt - seit den sechziger Jahren unternimmt. Es handelt sich, so Pawley, um eine selbstbewußt „unkreative Architektur“, die das Nützliche so lange zur Perfektion treibt, bis es jede spezifische künstlerische Äußerung überstrahlt. Diese Architektur ohne Ideen läßt sich nur scheinbar leicht imitieren: Qualitätsmaßstab ist die Konsequenz der Umsetzung, und darin ist Foster seiner Konkurrenz immer um Jahre voraus.

Im Vortrag hört man viel über den Einfluß Richard Buckminster Fullers, eines der schärfsten Kritiker des architektonischen Establishments. Dessen Rolle eines Weltingenieurs versucht Foster heute weiterzuspielen, freilich längst aus dem innersten Zirkel der Disziplin heraus. Andere, weniger technologiegläubige Repräsentanten der Anti-Architektur vergißt er zu erwähnen: Cedric Price etwa oder Walter Segal, der in den fünfziger Jahren Hochhäuser mit hängenden Gärten entwarf, aber sich schließlich darauf beschränkte, für seine Kunden Selbstbau-Häuser zu entwickeln, die billig aus den Halbfertigprodukten der Bauindustrie gezimmert werden konnten.

Fosters größter Coup als Angriff auf die akademische Architektur ist das Sainsbury Center for the Visual Arts in Norwich, ein aluminiumverkleideter „Flugzeughangar“, der sich im Vergleich zum expressiven Kraftakt des Centre Pompidou in Paris auf eine glänzende, tragende und versorgende Hülle beschränkt. Die globale Ästhetik perfekter Nützlichkeit eroberte sich hier die letzte Bastion der „schönen Baukunst“, den Museumsbau. Der Erfolg scheint Foster recht zu geben. Foster Associates beschäftigt knapp 500 Mitarbeiter und hat in den letzten vierzig Jahren über tausend Projekte bearbeitet. Der so erworbene Markenname ist denn auch der eigentliche Grund für Fosters Besuch in Wien. Für die Aspanggründe, ein Areal am Landstraßer Gürtel, haben Foster Associates im Auftrag einer Investorengruppe im vergangenen Jahr eine Studie vorgelegt - zur Überraschung der Wiener Stadtplanung und des Bezirks, die nichts davon wußten, daß hier abseits der Stadtentwicklungsachsen und der Brennpunkte des öffentlichen Verkehrs ein neues Zentrum mit Hochhäusern um einen künstlichen Teich herum entstehen soll.

Städtebaulich ist das Projekt mehr als fragwürdig: Vielleicht hätte man in Linz nachfragen sollen, wo Roland Rainers Konzept für die Solar City Pichling nicht zuletzt unter Fosters Einfluß zu einem seichten Allerweltsprojekt geworden ist. Aber hier wie dort geht es nicht um Qualität, sondern um die Erfüllung einer Verwertungslogik, in Wien konkret um die Kompensation von Spätfolgen des verunglückten Expo-Projekts. Auf dem Grundstück am Gürtel sollte ursprünglich die Maschinenbaufakultät der TU-Wien entstehen. Ein Wettbewerb war entschieden und die Planung bereits weit fortgeschritten, als man sich - gegen die Interesse der zukünftigen Nutzer - entschloß, das Projekt und die damit verbundene Investition in die Donau-City umzulenken. Daß die Bundesimmobiliengesellschaft die Kosten für diese aufwendige Rochade wieder einbringen muß, ist klar, und so tritt sie jetzt zusammen mit der Donau-City-Entwicklungsgesellschaft WED, der Bank Austria und den ÖBB als Betreiber eines Projekts auf, das zumindest den Buchwert der Aspanggründe etwas freundlicher aussehen lassen soll. Foster wird seine Studie jetzt zum Vorprojekt ausarbeiten: Städtebau, wie er heute überall auf der Welt als Liegenschaftsverwertung betrieben wird, freilich mit dem nicht unbedeutenden Unterschied, daß die Investoren in Wien großteils aus dem öffentlichen Sektor kommen und daher die Renditen nicht das primäre Ziel sein müßten.

Daniel Libeskind könnte sich im Schlußsatz seines Vortrags auf diesen Fall bezogen haben: Der Boden der Stadt sei heute tatsächlich nichts anderes mehr als eine der Verwertungslogik der Investoren ausgelieferte Ansammlung von Liegenschaften. Die Fundamente seiner Architektur befänden sich freilich immer „einen Zentimeter über oder unter dieser Ebene“.

Noch vor ein paar Jahren hätten Großarchitekten wie Foster über solche esoterischen Sprüche eines Architekturprofessors, dessen Werk nur aus Zeichnungen und Modellen besteht, milde lächeln können. 1989 gewann Libeskind jedoch den Wettbewerb für das jüdische Museum in Berlin.

Mit diesem Projekt konnte er beweisen, daß seine Visionen realisierbar sind und daß er fähig ist, sie auch unter komplexesten Bedingungen umzusetzen: Das jüdische Museum hat ein halbes Dutzend Kultursenatoren und Museumsdirektoren und immer neue inhaltliche Konzepte erlebt, ohne an Qualität zu verlieren. Trotzdem blieben die Baukosten um 15 Prozent unter dem veranschlagten Budget. Heute ist Libeskind verantwortlich für eine ganze Reihe großer Kulturbauten, unter anderem für das Musicon in Bremen, das Imperial War Museum in Manchester und den Erweiterungsbau für das Victoria & Albert Museum in London.

Libeskind vertritt in jeder Hinsicht die Antithese zu den Produkten von Foster Associates: Er predigt Architektur als spezifisches Kunstwerk, als auratisches, bedeutungsvolles Objekt, das die Geschichte eines Orts vermittelt und zugleich eine eigene erzählt. Beim Imperial War Museum in Manchester ist diese Geschichte simpel und plakativ: Eine zerbrochene Weltkugel, deren Scherben zu einer Großskulptur aufgehäuft sind. Im Inneren realisiert Libes- kind ein Museumskonzept, das vor allem von projizierten Bildern getragen wird und militärisches Gerät nur sehr sparsam einsetzt. Die Dynamik neuer Medien in den architektonischen Raum zu integrieren ist seit Le Corbusiers Philips-Pavillon bei der Brüsseler Weltausstellung Ende der fünfziger Jahre kaum in dieser Konsequenz versucht worden.

Noch spektakulärer ist Libeskinds Entwurf für den Zubau zum Victoria & Albert Museum in London. Ein mit Keramikplatten verkleidetes, spiralförmig geknicktes Band windet sich zwischen denkmalgeschützten Altbauten in die Höhe und kragt weit über die Dächer des Bestands aus. Trotz dieser abstrakten Grundidee ist die innere Logik des Gebäudes bestechend: Die Erschließung ist selbstverständlich und klug geführt, die Räume sind geeignet, konventionelle Objekte zu präsentieren, wenn sie auch mehr auf eine Kunst neugierig machen, die erst im Entstehen begriffen ist.

Daß es Libeskind gelungen ist, die konservativen Kräfte in London von seinem Projekt zu überzeugen, ist eine besondere Leistung. Ausschlaggebend dafür war, daß Libeskind sich nicht auf die arrogante Position einer überlegenen Moderne zurückgezogen hat, sondern sein Projekt als „Verbindung von Inspiration und Wissen in der Tradition der großen viktorianischen Denker“ darzustellen verstand.

Die Eröffnung des Zubaus ist für 2003 geplant. „The Spiral“ - so der offizielle Name des Erweiterungsbaus - hat das Potential, zum ersten Gebäude des 21. Jahrhunderts werden.
Schade, daß es in London stehen wird, denkt man sich, nach dem Vortrag am Ronacher vorbeigehend, wo Coop Himmelb(l)au vor 13 Jahren knapp daran waren, das Millennium vorzufeiern.

Spectrum, Sa., 2000.04.01

19. Februar 2000Christian Kühn
Spectrum

Weichen, hört die Signale!

8,2 Milliarden Schilling investieren die ÖBB in die Modernisierung ihrer Bahnhöfe. Die Bahnhofsoffensive zeitigte bisher ein gestalterisch durchwegs hohes Niveau - eine dubiose Vergabepraxis läßt jedoch für die anstehenden Wettbewerbe wenig Erfreuliches erwarten.

8,2 Milliarden Schilling investieren die ÖBB in die Modernisierung ihrer Bahnhöfe. Die Bahnhofsoffensive zeitigte bisher ein gestalterisch durchwegs hohes Niveau - eine dubiose Vergabepraxis läßt jedoch für die anstehenden Wettbewerbe wenig Erfreuliches erwarten.

Helmut Draxler, Generaldirektor der Österreichischen Bundesbahnen, ist ein erklärter Architekturliebhaber. Das kleine Haus in den Alpen, das er sich von Johannes Spalt entwerfen ließ, findet sich auf dem Titelblatt des Katalogs zur Ausstellung über österreichische Architektur des 20. Jahrhunderts, die 1995 im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt zu sehen war.
Als Generaldirektor der ÖBB hat Draxler sich von Anfang an dazu bekannt, den Ausbau der Bahn nicht nur als verkehrstechnische, sondern auch als architektonische Aufgabe wahrnehmen zu wollen. Von dem 140 Milliarden Schilling (10,17 Milliarden Euro) umfassenden Investitionspaket für die „Neue Bahn“ werden in den nächsten fünf Jahren 8,2 Milliarden in die bauliche Modernisierung der 43 meistfrequentierten Bahnhöfe Österreichs fließen. Die ÖBB sind damit einer der wichtigsten Bauherren des Landes, wobei nicht die Investitionssumme allein ausschlaggebend ist: Wegen der zentralen Lage der meisten Bahnhöfe geht es auch um folgenschwere stadtgestalterische Entscheidungen.

Bereits unter Draxlers Vorgänger, Heinrich Übleis, hatten die ÖBB eine Initiative zur „Bahnhofsverbesserung“ begonnen. Die Architekten Zechner und Zechner entwickelten ein Handbuch für die Gestaltung von Perrondächern, Passagen und anderen Teilbereichen. Zur „Bahnhofsoffensive“ umgetauft, bekam diese Aktion eine neue Gewichtung, als die ÖBB - wie viele andere europäische Bahnlinien - den Wert ihrer Liegenschaften auf dem Immobilienmarkt erkannten: Auf den meisten Bahnhöfen entstanden beachtliche Baulandreserven, als der Güterverkehr in neue Verschubbahnhöfe an der Peripherie verlagert wurde. Ursprünglich verfolgten die ÖBB daher die Strategie, den Ausbau der Bahnhöfe großteils über Immobiliengeschäfte zu finanzieren.

Das Zauberwort für derartige Projekte hieß in den neunziger Jahren „Public Privat Partnership“, also die Verbindung öffentlicher und privatwirtschaftlicher Interessen zum beiderseitigen Vorteil. Das klingt zwar durchaus vernünftig, macht die Planung jedoch nicht einfacher: Für Investoren ist der ideale Bahnhof ein Büro- und Geschäftszentrum mit Gleisanschluß, bei dem das Umsteigen von einem Verkehrsmittel zum anderen durch die Geschäftspassage führt.

Für den Anbieter von Verkehrsdienstleistungen sind dagegen kurze Wege und die Signifikanz des Abfertigungsgebäudes entscheidend. Die Architekturwettbewerbe im Rahmen der Bahnhofsoffensive waren daher von einem Zielkonflikt geprägt: Wie läßt sich die Maximierung vermietbarer Flächen mit der Optimierung von Verkehrsströmen und dem Charakter des Bahnhofs als signifikanter Ort öffentlichen Lebens in Einklang bringen?

Als zusätzliches Problem erwies sich, daß eine Maximierung von Flächen allein nicht die erhoffte Finanzierung sichert. Was sich tatsächlich vermieten läßt, hängt vom Immobilienmarkt ab.

A ls sich die hohen Erwartungen der in dieser Branche unerfahrenen ÖBB als unrealistisch erwiesen, mußten für mehrere Standorte neue Planungen durchgeführt werden. In einigen Fällen - wie etwa beim Bahnhof Innsbruck - folgte auf einen bereits entschiedenen Wettbewerb ein Gutachterverfahren unter neuen Bedingungen. Insgesamt scheint der Versuch, den Bahnhofsausbau primär als großangelegtes Immobilienprojekt zu betreiben, die Bahnhofsoffensive um mehrere Jahre zurückgeworfen zu haben.

In qualitativer Hinsicht war das nicht unbedingt ein Nachteil: Die neue Doktrin der ÖBB, sich vornehmlich auf das Abfertigungsgebäude und auf die möglichst enge Verknüpfung der verschiedenen Verkehrsmittel zu konzentrieren, hat jedenfalls mehr architektonisches Potential als das „Geschäftszentrum mit Gleisanschluß“.

Zur Umsetzung dieser Doktrin haben die ÖBB vor wenigen Monaten Norbert Steiner, zuvor für das Land Niederösterreich verantwortlicher Bauherrenvertreter beim Bau der neuen Landeshauptstadt in St. Pölten, zum Leiter der Bahnhofsoffensive bestellt. Steiner wird in dieser Funktion eine Reihe vielversprechender Projekte zu betreuen haben. Der Salzburger Hauptbahnhof, der gerade einen übersichtlich und ruhig gestalteten Vorplatz erhalten hat, wird bis 2004 nach einem Entwurf von Klaus Kada umgebaut. Er erhält neue Bahnsteige für den Nahverkehr und eine Passage mit Geschäften und Reise-Kundenzentrum auf dem Niveau des Südtiroler Platzes, die von der Bahnhofstraße bis zur Lastenstraße reichen wird. Unter einer geschwungenen Glaskonstruktion, die an den Altbau anschließt, entsteht so eine großzügige Bahnhofshalle.

Ob sich das Projekt in dieser Form umsetzen läßt, hängt von einer Entscheidung des Denkmalamts ab: Um Platz für die neuen Bahnsteige zu schaffen, muß das auf dem jetzigen breiten Mittelbahnsteig stehende Restaurant abgerissen werden. Der denkmalgeschützte Marmorsaal und das Kaiserzimmer sollen in einen anderen Teil des Altbaus übersiedelt werden.
In Innsbruck entsteht bis zum Jahr 2003 ein komplett neuer Bahnhof nach Plänen der Grazer Architekten Riegler und Riewe. Wie in Salzburg wird auch hier die Hauptebene der neuen Halle unter dem Gleisniveau liegen, um eine direkte Anbindung zu den angrenzenden Tiefgaragen zu ermöglichen. Riegler und Riewe haben einen ruhigen Baukörper mit einer 18 Meter breiten und 75 Meter langen Halle entworfen, ein städtebaulich klares und einprägsames Projekt, das stark von der Qualität des Lichts in der großen Halle leben wird.

I nsgesamt zeigen die bisherigen Projekte der Bahnhofsoffensive ein erfreulich hohes Niveau, wobei Architek-
ten verschiedener Generationen und Architektursprachen zum Zug kommen: neben Klaus Kada und Riegler/Riewe - die jeweils mit einem weiteren Projekt, nämlich den Bahnhöfen in Klagenfurt beziehungsweise Bruck an der Mur beauftragt sind - planen unter anderem Henke und Schreieck in Baden bei Wien, Zechner und Zechner in Graz und Feldkirch, Hermann Czech in Wien-Hütteldorf, Luger und Maul in Wels und NFOG in Leoben.

Als jüngstes Projekt wurde im Jänner die Entscheidung über den Bahnhof Linz vorgestellt: Wilhelm Holzbauer soll das neue Abfertigungsgebäude planen. Etwas in den Hintergrund trat dabei, daß Holzbauer beim Wettbewerb 1997 nur den vierten Platz gemacht hatte. Das siegreiche Büro Neumann und Steiner hatte das Projekt seither weiterentwickelt, einen Vorentwurf ausgearbeitet und im Juli des Vorjahres den Auftrag für die weiteren Architektenleistungen erhalten. Bereits im März war der Entwurf vom Linzer Gestaltungsbeirat bewilligt worden.

Die Umsetzung drohte jedoch an den hohen Baukosten zu scheitern, die sich vor allem aus der in der Wettbewerbsausschreibung geforderten Erhaltung der bestehenden Bahnhofshalle ergaben. Da erwies es sich als günstig, daß der Denkmalschutz für das alte Gebäude im November 1999 aufgehoben wurde. Für die ÖBB kam das nicht überraschend, hatte sie doch nach ihrer Privatisierung den ex lege für Bundesbauten bestehenden Denkmalschutz in jedem Einzelfall durch das Denkmalamt überprüfen lassen.

Neumann und Steiner wurden über dieses Faktum, das wesentliche Einsparungen und organisatorische Verbesserungen für den Neubau ermöglicht, von den ÖBB erst informiert, als der Bescheid schon auf dem Tisch lag - gleichzeitig mit der Nachricht, daß Wilhelm Holzbauer mit einem neuen Vorentwurf beauftragt würde. Immerhin dürften sie noch innerhalb von vier Wochen eine Überarbeitung ihres Projekts vorlegen. Die Entscheidung würde vom Generaldirektor getroffen werden, beraten von einem Gestaltungsbeirat der ÖBB, dem Johannes Spalt, Klaus Kada und Hermann Czech angehören.
Die Wahl fiel auf Holzbauers Projekt, eine Abfolge von Tonnendächern, die zum Bahnhofsplatz hin schräg angeschnitten sind. Der Entwurf macht kaum den Eindruck, als hätte sich der Architekt einem Qualitätswettbewerb stellen wollen. Formal erinnert er in der Hauptansicht an Norman Fosters neuen Flughafen in Hongkong, ohne dessen Qualität auch nur annähernd zu erreichen. Sind dort alle Tonnenschalen über die gesamte Länge des Bauwerks leicht variiert, bleibt es hier bei einer plumpen Aneinanderreihung von Elementen. Auch städtebaulich kann man der beabsichtigten Herauslösung des Bahnhofsgebäudes aus der Gesamtfigur - sie stammt noch aus dem ursprünglichen Bebauungsplan von Neumann und Steiner - nicht viel abgewinnen.

Was immer die Entscheidung der ÖBB bestimmt hat - von diesem Verfahren und seinem Ergebnis geht ein falsches Signal aus. Bei den noch heuer anstehenden Wettbewerben für den Wiener Westbahnhof und den Praterstern wird sich zeigen, ob die ÖBB auch bei den großen Projekten in Wien die Weichen für gut vorbereitete und transparente Verfahren zu stellen imstande sind. Ob sie dafür in der Gemeinde Wien den geeigneten Partner finden, sei dahingestellt. Für den Bereich des Westbahnhofs gibt es bereits eine vielpublizierte städtebauliche Vorstudie im Auftrag der Gemeinde. Einer der Autoren: Wilhelm Holzbauer.

Spectrum, Sa., 2000.02.19

24. Dezember 1999Christian Kühn
Spectrum

Avantgarde mit Bodenhaftung

Themen wie Ökologie und Soziales galten in der Architekturdiskussion bis vor kurzem als verstaubt – für die Avantgarde eine Gelegenheit, sich gerade dort neu zu positionieren: WilliamAlsop versucht das mit einer Neuinterpretation der Community Architecture.

Themen wie Ökologie und Soziales galten in der Architekturdiskussion bis vor kurzem als verstaubt – für die Avantgarde eine Gelegenheit, sich gerade dort neu zu positionieren: WilliamAlsop versucht das mit einer Neuinterpretation der Community Architecture.

An der Oberfläche ist alles in bester Ordnung: Architektur hat sich in den letzten Jahren zu einem florierenden Teil der Kulturindustrie entwickelt. Ausstellungen, Symposien und Vorträge zum Thema sind allein in Wien unüberschaubar geworden. Neben dem „Architektur Zentrum Wien“ bemühen sich auch das Künstlerhaus und seit neuestem die Albertina verstärkt um Architekturschwerpunkte.

Weil Architekten sich in diesem Umfeld – entsprechend der Ökonomie der Aufmerksamkeit – heute grundsätzlich als Stars positionieren müssen, ist ein diversifizierter Publikationsmarkt entstanden, indem selbst schmale Œuvres, theoretisch unterfüttert und glänzend präsentiert, ihren Platz finden.

Architekturtheorie hat sich als schillernde Subdisziplin mit enormem publizistischem Output etabliert, was beim Publikum zu beachtlichem Streß führt: Zwar lesen Architekten laut Angabe der Verlage nur ungern, aber selbst das Durchblättern des Jahresoutputs an berucktem Papier und die Aneignung der wichtigsten Schlagworte ist heute nicht mehr zu leisten. Das freut wiederum den Kritiker, kann er sich doch in den beschleunigten Richtungskämpfen innerhalb er Disziplin als Orientierungsgehilfe wichtig machen.

Das geschilderte System genügt sich selbst. Ins Extrem getrieben, könnte es auf real gebaute Architektur mit all ihren ökonomischen Beschränkungen, kunstfeindlichen Bauordnungen und ewig nörgelnden Nutzern getrost verzichten. Die oft beschworene Trennlinie zwischen Architektur und Bauen wäre damit neu gezogen. Architektur wäre eine abgehobene Disziplin, die gelegentlich als Nebenprodukt bauliche Manifestationen hervorbrächte, während das Bauwesen sich um die massenhafte Bereitstellung klimatisierter Infrastruktur zu kümmern hätte. Der Großteil jener Bauten, an die heute ein architektonischer Anspruch gestellt wir ,hat in diesem Szenario denselben kulturellen Stellenwert wie eine Autobahn oder das Kanalsystem.

Für sentimentale Geister mag das nach Untergang des Abendlandes klingen. Aber welche Nachteile hätte die Abschaffung der Architektur aus dem Bauen tatsächlich? Technische Herausforderungen, die einer grundlegenden architektonischen Bearbeitung bedürfen, sind kaum mehr zu erwarten. Das HighTech-Design hat sich längst zu einer manieristischen Verfeinerung bekannter Figuren entwickelt, die man den Ingenieuren überlassen kann. Und im formalen Bereich? Innovation findet hier bestenfalls in einigen avancierten Gebieten der Geometrie statt, deren konstruktive Alltagstauglichkeit mehr als bescheiden ist. Ansonsten sind die Archive gefüllt mit Musterbüchern für jeden Anlaß, deren Variation keine Herausforderung mehr darstellt.

Bevor man die Architektur endgültig in einer erhöhten Nische am Rande der Bauindustrie deponiert, sollte man sich freilich die Frage stellen, ob es nicht doch Themen jenseits des Technischen und des Formalen gibt, die eine innovative architektonische Bearbeitung verdienen. Zwei Themen bieten sich an, die in der Architekturdiskussion zumindest bis vor kurzem als reichlich verstaubt galten: Ökologie und Soziales. Verstaubt sind sie deswegen, weil eine halbe Generation von Architekten sich in den siebziger und achtziger Jahren an ihnen zu schaffen gemacht hat und am Versuch, einen Idealzustand der Welt baulich wiederherzustellen, gescheitert ist.

Wer heute von ökologischen und sozialen Fragen spricht, darf sich daher an keinen Ideologien mehr orientieren. Er kann aber davon ausgehen, daß je es technische Problem er Architektur primär als ökologisches zu betrachten ist und je es formale Problem als soziales: Im radikalen Umbruch fortgeschrittener Gesellschaften haben Architektur und Städtebau das Potential, als wesentliches Medium zur geistigen und kulturellen Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels zu funktionieren.

Voraussetzung dafür ist allerdings, daß diese Disziplinen ihre erhöhten Nischen verlassen und sich jenen Kräften aussetzen, in denen dieser Wandel sich manifestiert: den angeblich engstirnigen Nutzern, den klischeehaft inkompetenten Beamten und den Niederungen knapper Budgets.

William Alsop, Architekt mit Büros in London, Hamburg und Moskau – die er gemeinsam mit seinem Partner Jan Störmer betreibt – und Professor für Hochbau an der TU-Wien, gehört zu jenen Architekten, die man eher in der sicheren Nische vermuten würde. Er zeichnet sich durch eine Entwurfsmethode aus, die sich dem architektonischen Projekt über die Malerei nähert, oft in Zusammenarbeit mit anderen Künstlern.

Seine Bauten sind technologisch anspruchsvoll, erheben aber im Unterschied zum HighTech-Design nicht den Anspruch auf die Überhöhung einer konstruktiven Idee. Selbst die größten unter ihnen – etwa die Regionalverwaltung in Marseille oder die U-Bahn-Stationen in London – sind bemerkenswert vielschichtige Gebilde, die sich viel vom leichten Charakter der ersten freien Entwürfe bewahrt haben. Umso überraschter durfte man sein, als Alsop kürzlich einen Vortrag in Wien mit dem Titel „Community Architecture“ ankündigte. Der Begriff wir heute unter britischen Architekten abwertend für eine Bewegung verstanden, die eine sozialverträgliche kleinteilige Architektur zum Ziel hatte, traditionell im Maßstab, vorsichtig modern in der Form.

Dennoch stellte Alsop seine jüngsten Arbeiten bewußt unter diesen Titel und forderte die gezielte Verstrickung des architektonischen Projekts in gesellschaftliche Prozesse. In einer unruhigen Gesellschaft wie der britischen finde sich unter Nutzern und Bauherren zumindest bei öffentlichen Bauaufgaben eine Bereitschaft zum Experiment, von der die Architektur nur profitieren könne.– Ein gerade fertiggestelltes Beispiel ist Alsops Bibliothek in Peckham, einem benachteiligten Stadtteil in der inneren Peripherie Londons. Im Unterschied zur Behutsamkeit dessen, was man üblicherweise unter „Community Architecture“ versteht, ist die Bibliothek ein in jeder Hinsicht extravagantes Gebäude. Der Leesesaal schwebt auf schlanken Stützen drei Geschoße über dem Boden und liegt an der Nordseite auf einem schmalen, mit bunt gefärbten Gläsern verkleideten Baukörper auf, indem sich Treppen, Lifte und Nebenräume befinden.

In den Lesesaal, von dem aus sich ein Blick über die Dächer des Viertels bis zum Zentrum Londons bietet, sind holzverkleidete Rundkörper eingestellt, in denen sich Leseräume für Kinder und ein vermietbarer Seminarraum befinden. Die Rundkörper durchbrechen das Dach und erhalten Licht von oben. Weil die Peckham Library täglich bis zehn Uhr abend geöffnet sein wird, legte William Alsop besonderen Wert auf die Wirkung des Gebäudes bei Nacht: Ein blau beleuchtetes Metallgitter, das die Untersicht des Lesesaals bildet und sich als Vorhang über die Hauptfassade zieht, soll dem Gebäude ein magisches Aussehen verleihen und den vom Lesesaal überspannten öffentlichen Raum zu einem attraktiven Treffpunkt machen.

Ein ähnliches Projekt, allerdings in einem wesentlich größeren Maßstab, wird voraussichtlich nächstes Jahr in West Bromwich in Bau gehen. Für „Jubilee Arts“, einen halböffentlichen Kunstverein, plant William Alsop seit zwei Jahren ein Kulturzentrum mit rund 10.000 Quadratmetern. Ein erstes Schema gleicht der Peckham Library, ein gigantischer Tisch mit abgehängten Objekten, der einen öffentlichen Raum unter sich freigibt.

Inzwischen hat sich das Projekt mehrfach transformiert, der Tisch ist verschwunden, der öffentliche Raum in eine über ein tragendes Gestell gezogene Klimahülle integriert. Ein turmartiges Gebilde mit einem Boulevard, der nur sonntags zugänglich sein sollte, wurde als Ergänzung zum liegenden Baukörper entwickelt und verschwand wieder. Das Erschließungssystem verwandelte sich in eine komplizierte Doppelspirale, um schließlich wieder auf ein einfacheres System zurückgeführt zu werden. Am Ende steht ein kompakter Bau, durch dessen mit meterhohen Photos von Anwohnern bedruckte Hülle in der Nacht ein kompliziertes Innenleben durch schimmern wird.

Eine aberwitzige, ziellose Planung also, eine einzige Abfolge von Kompromissen? Keineswegs. Nur solche offenen, im formalen Ergebnis unvorhersehbaren Prozesse können helfen, sozialen Wandel zu bewältigen und neue institutionelle Bedingungen zu schaffen. Die Architektur der nächsten Jahrzehnte wird an ihrem Beitrag dazu gemessen werden.

Spectrum, Fr., 1999.12.24

23. Oktober 1999Christian Kühn
Spectrum

Gleichauf mit dem Flakturm

Generalisierende Antworten auf die Frage, was Schulbau leisten soll, hat Adolf Krischanitz schon bei seinen bisherigen Projekten verweigert. Auch sein jüngstes, der Lauder-Chabad-Campus im Wiener Augarten, gehorcht eigenen Spielregeln.

Generalisierende Antworten auf die Frage, was Schulbau leisten soll, hat Adolf Krischanitz schon bei seinen bisherigen Projekten verweigert. Auch sein jüngstes, der Lauder-Chabad-Campus im Wiener Augarten, gehorcht eigenen Spielregeln.

Nehmen wir einmal an, Architektur sei mehr als reine Zweckerfüllung. Wir werden mit dieser Meinung nicht alleine stehen: Für die meisten Menschen soll Architektur die Welt zu einem schöneren Platz machen, erfreulicher fürs Auge’, wärmer fürs Gemüt. Jenseits der Gemütlichkeit werden sich andere Mehrwerte finden: der Ausdruck einer klaren Ordnung der Welt beispielsweise oder auch sein Gegenteil, die Kritik am herrschenden System.

Gerade der Schulbau ist prädestiniert für weitschweifige und ideologisch belastete Diskussionen dieser Art. Muß er kindgerecht sein in dem Sinn, daß er die Schule bunt und fröhlich als einnehmenden Baukörper gestaltet? Oder soll er eine klare und vielleicht sogar strenge Ordnung zum Ausdruck bringen? Oder eine offene Struktur bilden, die den Körper auflöst in ein freies Spiel von Formen und Räumen, in dem sich Kinder ebenso frei entfalten können?

Derartiger Rhetorik hat sich Adolf Krischanitz in seinen Wiener Schulbauprojekten stets entzogen. Die „Neue Welt Schule “ im Prater aus dem Jahr 1994 ist ein schwarz verputzter Bau, dessen Innenräume mit ihren Sichtbetonwänden eher Werkstätten als Klassenzimmern gleichen. Mit dem Entwurf für die Volksschule in der Steinergasse hat Krischanitz 1996 einen Beitrag geliefert, dessen komplexe räumliche Organisation innerhalb einer hermetischen Figur ihn zu einem der spannendsten, leider nicht realisierten Projekte im Rahmen des Schulbauprogramms 2000 macht. Der vor zwei Wochen eröffnete Lauder-Chabad-Campus am Rande des Augartens – Kindergarten, Volksschule und Mittelschule in einem kompakten Baukörper – ist das jüngste Werk in dieser Reihe: ein langgestreckter, hell verputzter Bau mit regelmäßigen Fensteröffnungen in einem einheitlichen Format, die teilweise bündig, teilweise in tiefen, mit Untersberger Marmor ausgekleideten Laibungen sitzen.

Keines dieser Projekte ist auf den ersten Blick einnehmend oder gar in einem vordergründigen Sinn kindgerecht. Krischanitz arbeitet mit klaren Ordnungssystemen, die jedoch weder aus konstruktiven noch aus funktionalen Prämissen abgeleitet sind. Er stellt damit den Anspruch auf eine Autonomie der Architektur, der – und das ist das Entscheidende –subversiver und kritischer gegenüber der herrschenden Ordnung ist als jede noch so wild sich gebärdende Dekonstruktion.

Was bedeutet das konkret? Erstens Autonomie gegenüber allen unreflektierten Forderungen nach Schönheit und Stil, die in Wahrheit nichts anderes meinen als das leicht konsumierbare Bild; zweitens eine Absage an jede Form der vielleicht spektakulären, aber kurzlebigen Virtuosenarchitektur; und drittens – als methodische Voraussetzung – eine Lockerung der Beziehung zwischen Form und Funktion, die bis zur bewußten Irritation gehen kann. Wer das Gelände des Lauder-Chabad-Campus durch einen breiten Durchbruch in der Ziegelmauer des Augartens betritt, wird Schwierigkeiten haben, den Eingang in das Gebäude zu finden. Vor ihm liegt eine dreieckige Grünfläche mit einer hohen alten Platane,die sich in der langgestreckten Glaswand des Klassentrakts spiegelt. Die Eingänge in die Klassenzimmer sind hinter der Glaswand zu sehen. Der Haupteingang findet sich aber nicht in der Achse und auch nicht dort, wo das Gebäude am transparentesten ist, sondern seitlich in einem Kopfbau, zu dem eine leicht geneigte Rampe hinunterführt. Die Eingangstüren selbst sitzen ohne besondere Betonung in Öffnungen, deren Dimension sich von jener der Fenster nicht unterscheidet: Man spürt, daß dieses Haus nicht primär um Funktionen herum gebaut ist, sondern eigenen Spielregeln gehorcht.

Solche Strategien der Reduktion sind nichts Neues: Von Louis Kahn bis zu den sogenannten Schweizer Minimalisten finden sich Beispiele dafür. Krischanitz weiß freilich, daß Autonomie in der Architektur etwas anderes bedeutet als in der Kunst. Der Lauder-ChabadCampus hat äußerst komplexe Anforderungen zu erfüllen: Ziel der Institution ist es, ein hohes Unterrichtsniveau in Harmonie mit jüdischer Lehre und Kultur zu vermitteln. Das Raumprogramm umfaßt neben den Räumen für den Kindergarten und die verschiedenen Schultypen eine Synagoge und ein rituelles Bad, zwei Speisesäle, Bibliothek, Werkstatt und einen Turnsaal. Als Begegnungsstätte zwischen jüdischen und nichtjüdischen Kindern stehen die zuletzt genannten Räume auch Interessenten aus dem Bezirk offen.

In einem ersten Entwurf für ein kleineres Raumprogramm plante Krischanitz ein Pavillonkonzept. Im ausgeführten Projekt liegen alle Haupträume für die Kinder im 90 Meter langen Klassentrakt: der Kindergarten im Erdgeschoß, die Volksschule im ersten und die Mittelschule im zweiten Stock. Die Klassen werden von einer Zone mit Erschließungs- und Nebenräumen wie Garderoben und WCs begleitet, die jeweils direkt den einzelnen Klassen zugeordnet sind. Nach Osten endet der Klassentrakt inder über die gesamte Höhe des Baukörpers reichenden Eingangshalle mit offenem Stiegenhaus, im Westen schließt sich ein durch einen schmalen Lichthof geteilter Quertrakt mit allen Zusatzfunktionen an.

So schlicht und diszipliniert dieser Quertrakt von außen aussieht, so komplex ist sein Inneres organisiert. Auf der einen Seite des Lichthofs liegen Turnsaal und Synagoge übereinander, auf der anderen Seite die Speisesäle und die Verwaltung. Zwei aufgesetzte Lichtgaden, die den Speisesaalbereich und die Synagoge zusätzlich belichten, geben diesem Bauteil seine charakteristische Silhouette.

Anders als mit seiner „Neuen Welt Schule “wird Krischanitz mit diesem Bau kaum jemand vor den Kopf stoßen. Trotzdem: Hinter der freundlich hellen Putzhaut und der beinahe klassischen Erscheinung verbirgt sich ein autonomes Objekt, das es mit seinem unmittelbaren Nachbarn, der mächtigen Betonskulptur des Flakturms, aufnehmen kann. Damit hat Krischanitz einen bei dieser Bauaufgabe an diesem Ort zentralen Auftrag erfüllt: ein Haus für eine andere, bessere Ewigkeit zu bauen.

Spectrum, Sa., 1999.10.23



verknüpfte Bauwerke
Lauder Chabad Campus

25. September 1999Christian Kühn
Spectrum

Baukunst in der Kostenschere

Mit verschiedenen Wettbewerbsvarianten versucht der Wiener Krankenanstaltenverbund im Spitalbau auch Maßstäbe zu setzen. Wie die eben fertiggestellte Erweiterung des Sophienspitals zeigt, mit Erfolg. Aber mit ungewisser Zukunft.

Mit verschiedenen Wettbewerbsvarianten versucht der Wiener Krankenanstaltenverbund im Spitalbau auch Maßstäbe zu setzen. Wie die eben fertiggestellte Erweiterung des Sophienspitals zeigt, mit Erfolg. Aber mit ungewisser Zukunft.

Im Jahr 1995 publizierte die britische „Royal Fine Art Commission “ein Buch mit dem Titel „What Makes a Good Building?“. Die Antwort, die darin gegeben wir ,ist einfach. Ein gutes Gebäude entsteht, wenn es eine gute Spezifikation der Aufgabe, einen guten Bauherrn und einen guten Architekten gibt. Die ersten beiden Voraussetzungen gehören eng zusammen: Ein guter Bauherr weiß, was er will und was er sich leisten kann. Ein guter Architekt respektiert diese Rahmenbedingungen und entwickelt mit dem Bauherrn die bestmögliche architektonische Lösung.

Das ist sicher eine Idealvorstellung. Wünsche und Budgets verändern sich, architektonische Konzepte bekommen eine Eigendynamik. Spannungen sind daher oft unvermeidlich. Trotzdem: Ohne ein Grundvertrauen zwischen dem Bauherrn und den Planern kann kein gutes Gebäude entstehen. Umso wichtiger ist daher die Frage, wie der gute Bauherr den passenden guten Architekten finden kann.

Was den öffentlichen Sektor betrifft, hat sich aber in den letzten Jahren vor allem mit dem EU-Beitritt vieles verändert. Seit geistig-schöpferische Leistungen, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, ab einem Schwellenwert von 200.000 Euro ausgeschrieben werden müssen, gibt es selbst für kleine Planungsaufträge keine Direktvergabe mehr. Öffentliche Bereiche, die sich über Jahrzehnte jedem Wettbewerb hatten entziehen können, gerieten durch diese neuen Rahmenbedingungen unter einen spürbaren Anpassungsdruck.

Zu diesen Bereichen gehört der Spitalbau der Gemeinde Wien, seit 1993 dem Wiener Krankenanstaltenverbund zugeordnet – mit einem Jahresbudget von rund 30 Milliarden Schilling (2,18 Milliarden Euro), wobei 2,5 Milliarden auf den Bereich Bauten und Einrichtung entfallen, nicht gerade ein kleiner Bauherr. Dennoch blieb der Wiener Spitalbau bisher tief unterhalb der architektonischen Wahrnehmungsschwelle, Resultat einer gut eingespielten hermetischen Vergabepraxis auf niedrigem gestalterischem Niveau.

1994 wurde im KAV ein eigener Bereich Architektur geschaffen mit dem Ziel, die Qualität zu verbessern und zugleich den EU-Vorschriften für die Auftragsvergabe zu genügen. Bei einer Reihe von Projekten wurden verschiedene Varianten erprobt, vom offenen zweistufigen Wettbewerb bis zum Gutachterverfahren. Fertiggestellt wurde vor kurzem die Erweiterung des Sophienspitals, Ergebnis eines Wettbewerbs, den Martin Kohlbauer 1996 für sich entscheiden konnte.

Eine Besonderheit des Sophienspitals ist seine Lage genau gegenüber dem Westbahnhof. Zur Zeit seiner Entstehung grenzte das Spital an den Linienwall, wo heute der Gürtel, also eine der verkehrsreichsten Wiener Straßen, vorbeiführt. Als Ergänzung zu den bei den bestehenden Pavillons, zwischen denen ein kleiner Park mit altem Baumbestand liegt, war ein verbindender Trakt direkt am Gürtel zu planen.

Kohlbauers Entwurf arbeitet mit dem Motiv einer mehrfach abgestuften, den Park zum Gürtel hin begrenzenden Wand aus dunklem Klinker. Patientenzimmer liegen gartenseitig, Nebenräume sind zur Straße hin orientiert. Kohlbauer nutzt die Mauer nicht zur Abriegelung, sondern zur Schaffung von präzisen Zwischenbereichen, an denen der halböffentliche Raum des Spitals mit dem Stadtraum zusammenfließt. An einem Ende löst sich der Baukörper in eine Glaskonstruktion auf, die in mehreren Stufen hinter die Baulinie zurückspringt, während die Mauer als niedriger Paravent am Gürtel weitergezogen ist. Dazwischen entsteht ein schmaler baumbestandener Hof, der den Park auch vom Gürtel her spürbar werden läßt. Am anderen Ende läuft der Baukörper spitz zu und erlaubt einen diagonalen Einblick in den Park und umgekehrt von den Tagräumen aus den Blick zum Gürtel. Kohlbauer wollte hier, ebenso wie mit dem großen, über zwei Geschoße reichenden Fenster am Gürtel, hinter dem die Haupttreppe liegt, die belebte Straße als aktivierenden Kontrast zum Parkblick einbeziehen.

Der Bau bietet genau jenen Mehrwert, der aus dem Zusammentreffen eines guten Bauherrn mit einem guten Architekten entstehen kann: Optimale Arbeitsbedingungen für Ärzte und Pfleger, keine Aneinanderreihung von Funktionen, sondern ein wohlorganisiertes räumliches Kontinuum und schließlich eine vorbildliche Bereicherung des öffentlichen Raums. Lauter Qualitäten also, die sich nur schwer direkt in Zahlen ausdrücken lassen. Darauf hinzuweisen ist wichtig. Denn er Bau hat mehr gekostet, als im Budget veranschlagt war. Anfangs war von 100 Millionen Schilling die Rede, abgerechnet wurde jenseits von 125 Millionen.

Der Sprung von der architektonischen Niveaulosigkeit in das, was man heute von einem öffentlichen Bauherrn erwarten darf, hat den KAV bei einem anderen Projekt in arge Probleme gebracht. Auch beim Zubau eines OP-Traktes im Kaiserin-Elisabeth Spital ging man von einem unrealistisch niedrigen Budget aus. Die jungen Architekten Hemma Fasch und Jakob Fuchs haben den Wettbewerb gewonnen. Als sich im Vorentwurf eine Kostensteigerung von 210 auf 290 Millionen Schilling abschätzen ließ, wurden die Architekten unter äußerst unschönen Begleitumständen gekündigt. Letztlich dürften sie nicht an den angeblichen Fundierungsproblemen, sondern an einem Strukturproblem des KAV gescheitert sein: Die an sich vernünftige Dezentralisierung kann bei komplexeren Projekten dazu führen, daß zwar alle mitreden wollen, aber niemand mehr weiß, wer etwas zu entscheiden hat.

Es bleibt abzuwarten, welche Konsequenzen die Stadt Wien aus diesen Erfahrungen zieht. Jüngste Aussagen über eine „gestückelte Vorgangsweise“ zur Unterschreitung von EU-Schwellenwerten und das „Outsourcing“ von Bauherrnfunktionen an externe Berater lassen wenig Gutes erwarten.

Spectrum, Sa., 1999.09.25



verknüpfte Bauwerke
Sozialmedizinisches Zentrum Sophienspital

31. Juli 1999Christian Kühn
Spectrum

Bis zur allerletzten Schraube!

Murau könnte sich glücklich schätzen: über zwei Bauten außerordentlicher Qualität –wenn die beiden einander nicht in die Quere kämen. Über einen nicht alltäglichen Konflikt oder: Wie untergräbt man eine Brücke?

Murau könnte sich glücklich schätzen: über zwei Bauten außerordentlicher Qualität –wenn die beiden einander nicht in die Quere kämen. Über einen nicht alltäglichen Konflikt oder: Wie untergräbt man eine Brücke?

Die Aufregung ist groß: Ein Bauwerk, bis zur letzten Schraube aus seiner Situation und seinen Verkehrsbeziehungen heraus entwickelt, in Architekturzeitschriften gelobt als ebenso poetischer wie konstruktiv innovativer Beitrag zum Brückenbau, ist in seiner Substanz bedroht durch einen rücksichtslosen Eingriff, der drei Jahre lang im geheimen vorbereitet wurde. Abhilfe schaffen kann nur eine breit abgestützte Protestaktion, ein Appell an das Kulturbewußtsein der Verantwortlichen und er Bürger, die ihre Gemeinde doch als Touristenort profiliert sehen wollen. Gefordert wir ein sofortiger Baustopp und die Suche nach einer besseren Lösung.

Es geht um den Mursteg im steiermärkischen Murau, eine Fußgänger- und Radfahrerbrücke, die vom Murauer Bahnhof über den Fluß zur Stadt hinüberführt. Die Schweizer Architekten Marcel Meili und Markus Peter haben die Brücke zusammen mit dem Tragwerksplaner Jürg Conzett geplant. Nach einem Wettbewerb im Jahr 1993 konnte sie 1995 ihrer Bestimmung übergeben werden.

Die Geburtswehen für das Projekt waren beachtlich: Murau veranstaltete damals die Ausstellung „Holzzeit “,und die Brücke, die unter anderem als eine Art Demonstrationsobjekt für konstruktiven Ingenieurbau in Holz gedacht war, entsprach nicht so ganz dem, was man sich gemeinhin darunter vorstellte. Sie ist keine Skelettkonstruktion, sondern ein massives Objekt, zusammengesetzt aus zwei vertikalen scheibenartigen Hohlkästen, die aus Dreischichtplatten aufgebaut sind, und einem massiven Ober- und Untergurt aus Brettschichtholz.

„Die weitgehende Unterdrückung er holztypischen tektonischen Gliederung “, schreiben die Planer,„schafft die Voraussetzung für eine gelassene und elementare Beziehung zwischen dem Material, der Brückenform und der Umgebung. “Es bedurfte einiger Überredungskunst, auch von seiten des Landes, um die Veranstalter der „Holzzeit“ Ausstellung, die eher an eine Fachwerkskonstruktion mit flotten High-Tech-Details gedacht hatten, vom Projekt zu überzeugen.

Weil ihre Lösung das Budget bei weitem sprengte, verzichteten die Planer auf ihr Honorar und trieben noch eine Reihe von Sponsoren auf, unter anderem Hermann Kaufmann, dessen Holzbaufirma in Reuthe in Vorarlberg die Brücke errichtete. Die industriell gefertigten Träger wurden als Fertigteile aus Vorarlberg an die Mur gebracht – auch das nicht ganz im Sinne der Organisatoren, die grüne Steiermark als Ort er Holzverarbeitung zu bewerben.

Das Ergebnis ist jedenfalls außerordentlich.„Die Brücke versammelt die Erde als Landschaft um den Strom “:Dieser Satz aus Martin Heideggers „Bauen, Wohnen, Denken “ließe sich mit dem Mursteg ebenso trefflich illustrieren wie jener, daß die Brücke in ihrem Geviert Himmel und Erde versammelt und das Strömen unter sich für einen Moment anhält. Das hölzerne Zimmer mit den großen, liegenen Öffnungen, das Meili und Conzett über dem Fluß entstehen ließen, erzeugt genau einen solchen Punkt der Ruhe. Für Heidegger ist die Brücke eine Metapher für die Kraft des Menschen, einen Ort zu schaffen, der zuvor noch gar nicht existiert hat: „Von der Brücke selbst her entsteht erst der Ort.“

Die ursprüngliche Welt, die hier vorausgesetzt wir ,gibt es natürlich so gut wie nirgends mehr. Auch in Murau besetzt der Steg eine Kulturlandschaft, in der viele frühere Maßnahmen in Schichten und Brüchen an- und übereinander liegen und zu einer Neuinterpretation einladen. Der Mursteg verbindet nicht nur zwei Ufer, sondern zwei Stadtteile: den Bahnhof auf er einen Seite und die zuerst locker bebaute und rasch sich verdichtende Altstadt auf er anderen Seite. Da der Bahnhof ein gutes Stück über der Stadt liegt und die Böschungen mehrere Stufen aufweisen, verbindet die Brücke unterschiedliche Niveaus. Auf der Stadtseite spannt sich vom Brückenkopf weg eine Verlängerung des Stegs zur Hauptstraße, während eine quer zur Brücke gesetzte Treppe hinunter zum Ufer der Mur führt.

Auf der Bahnhofsseite endet das Haupttragwerk der Brücke im Hang: Radfahrer können den Höhensprung zum Bahnhof auf einer seitlich wegführenden Straße überwinden, während Fußgänger über eine an der anderen Seite in einem geschlossenen Kasten angesetzte Treppe nach oben kommen und von dort auf direktem Weg zum Bahnhof gelangen.

Dieser Punkt, an dem die seitliche Treppe wie ein leichtes Tentakel auf dem Bahnhofsvorplatz auflagert, ist der Gegenstand der derzeitigen Aufregung. Im Mai 1996 wurde ein Wettbewerb für eine Bezirkshauptmannschaft vor dem Bahnhof ausgeschrieben, den das Wiener Team Wolfgang Tschapeller und Friedrich Schöffauer für sich entscheiden konnte. Der Standort wurde in einer Vorstudie gerade wegen des Murstegs und der damit gegebenen direkten Verbindung zum Stadtkern als ideal erkannt. Das Einsatzmodell, das für den Wettbewerb gebaut wurde, zeigt deutlich die Gesamtsituation mit Flußraum, Steg und Bahnhof. Im Juryprotokoll ist nachzulesen, daß für die Juroren unter dem Vorsitz von Irmfried Windbichler der gelungene „Anschluß an den bestehenden Fußgängerübergang “eines der fünf maßgeblichen Kriterien war, dessen Nichterfüllung bei einigen Projekten auch explizit kritisiert wird.

Das Projekt von Tschapeller und Schöffauer wir von der Jury als „außerordentliche Lösung “gelobt, die von „einer intensiven Analyse der Potentiale des Bauens in dieser Landschaft ausgeht “.Durch eine schräg in die Böschung geschnittene Abgrabung gelingt es, den Verwaltungsbau teilweise ins Erdreich zu legen und die Baumassen vor dem Bahnhof klein zu halten. Die Treppe des Murstegs wir in ihrem oberen, flachen Teil von zwei niedrigen Baukörpern flankiert, während ein dritter, höherer Baukörper so gesetzt ist, daß der Weg vom Mursteg Richtung Bahnhof frei bleibt, vom vorkragenden Dach dieses Baukörpers dort geschützt, wo der Eingang in die Bezirkshauptmannschaft liegt.

Tschapeller und Schöffauer, die schon einmal mit dem Trigon-Museum ein Projekt bis zur Detailplanung gebracht haben, um es dann durch politische Ränkespiele verhindert zu sehen, haben um den Bau in Murau drei Jahre gekämpft. Zuerst mußte nachgewiesen werden, daß die Kosten nicht über dem Üblichen liegen würden, dann sollte das Projekt – um besser zum Murauer Image zu passen – aus Holz errichtet werden. Die Architekten konnten nachweisen, daß die Herstellungskosten im Rahmen bleiben würden, und legten zusätzlich ein Energiekonzept vor, das die besondere Bauweise nutzt, um die Betriebskosten niedrig zu halten. Als alle Hürden nach langwieriger Überzeugungsarbeit überwunden waren, konnten schließlich vor sechs Wochen in der Landesregierung die endgültigen Beschlüsse für den Bau gefaßt und die Aufträge an die Firmen vergeben werden.

Nun setzt sich Wolfgang Tschapeller mit Jürg Conzett in Verbindung, um ihn bezüglich der notwendigen Unterbauung des letzten Brückenausläufers und eventueller seitlicher Durchgangsöffnungen zu befragen. Conzett, der zum ersten Mal vom Bau der Bezirkshauptmannschaft hört, bittet um Unterlagen. Ein weiteres, bereits gespanntes Gespräch zwischen Meili und Tschapeller folgt. Tschapeller bietet an, nach Zürich zu kommen.

Meili und Conzett sind an einem persönlichen Gespräch nicht interessiert und beginnen ihre Kampagne gegen das Projekt. Kollegen in ganz Europa erhalten Faxe mit dem eingangs erwähnten Anliegen: Baustopp und Verhinderung des Projekts von Tschapeller und Schöffauer. Das Fax enthält drei Pläne im Format A4,auf deren Grundlage immerhin 60 Kollegen glauben, das Projekt negativ beurteilen zu können. Ein Fax nach dem anderen langt bei Tschapeller und beim Murauer Bürgermeister ein.

Daß Meili und Conzett in die Bearbeitung des neuen Auflagers ihrer Brücke eingebunden werden sollten, steht außer Zweifel. Es ist wahrscheinlich, daß sie dabei in Kooperation mit Tschapeller und Schöffauer zu einer Lösung kommen werden, die auf die neue Situation mit Gewinn reagiert. Ihr Anspruch, das ganze Umfeld der Brücke bestimmen zu dürfen und ein korrekt abgelaufenes Verfahren außer Kraft zu setzen, ist dagegen vermessen und unverständlich. Tschapellers Projekt verändert den Ort, indem es ihn auf seine Art interpretiert, so wie jede qualitätvolle, nicht angepaßte Architektur.

Am Ende wird der alltägliche Benutzer in Murau mit zwei Lesarten eines Orts konfrontiert sein. Im Zeitalter der durchgängigen Simulation sollte das niemanden wirklich irritieren. Außer vielleicht jene Architekten, die noch an das Absolute glauben.

Spectrum, Sa., 1999.07.31

04. Juni 1999Christian Kühn
Spectrum

Noch was zu bestellen?

Zwei Symposien, eines zum Thema „Cyberspace“, eines zum Thema „Peripherie“ – ein Befund: Als Großmeister der Fell-Ordnung haben Architekten ausgespielt. Stadt Ihre Zukunft liegt in einem kritischen Eingehen auf konkrete Lebenswirklichkeiten.

Zwei Symposien, eines zum Thema „Cyberspace“, eines zum Thema „Peripherie“ – ein Befund: Als Großmeister der Fell-Ordnung haben Architekten ausgespielt. Stadt Ihre Zukunft liegt in einem kritischen Eingehen auf konkrete Lebenswirklichkeiten.

Von zwei Veranstaltungen ist zu berichten, die Ende vergangener Woche in Wien stattfanden: Im Museumsquartier wurde im Rahmen der Ausstellung „Synworld“ ein Symposium abgehalten, bei dem auch Architekten zum Thema „Cyberspace“ zu Wort kamen. Parallel dazu veranstaltete die „Sargfabrik“, eines der innovativsten Wiener Wohn- und Kulturprojekte der letzten Jahre, ein Symposium unter dem Titel „Peripherie im Fokus“, bei dem es um die Bedeutung von Randzonen und Randgruppen für die Entwicklung der Städte ging.

Daß die Ausstellung im Museumsquartier mehr Zulauf hatte, ist klar. Neue Medien sind zu Recht ein „Mainstream“-Thema: Sie sind Voraussetzung für die fortschreitende Globalisierung der Wirtschaft und für die rasche Transformation unserer Berufs- und Freizeitwelt. „Playwork:Hyperspace“ hieß der Untertitel der Ausstellung, die der Medienindustrie die Möglichkeit bot, sich im Kontext von Kunst und Wissenschaft zu präsentieren. Die Illusion, daß durch die neuen Medien Spielen zum Lernen wird und produktive Arbeit zum Spiel, wurde einmal kräftig genährt.

Es verwundert nicht, daß der Hauptsponsor der Veranstaltung Libro Online hieß. Die Förderung der Medienkompetenz, die der Sponsor laut Presseaussendung als Grund seines Engagements angibt, wird es ohne Kritik aber nicht geben können. Nur in den tieferen Ästen der CD-Rom zur Ausstellung finden sich Ansätze in diese Richtung. Interessant sind vor allem die Beiträge über Japan, wo sich aus einer anderen visuellen Kultur auch ein anderer Zugang zum Cyberspace und zur virtuellen Realität entwickelt. Die Beiträge der Architekten zum Symposium waren beispielhaft für die Tendenz, in einer unsicheren Welt zu einer neuen Handlungsbasis für die Architektur zu kommen. Mit dem Funktionalismus, der eine klare Beziehung zwischen Form und Funktion definieren wollte, hätte sich auch die Idee der stabilen Form aufgelöst. An ihre Stelle tritt das parameterabhängige Feld, das seine Gestalt dauernd ändert.

Für Lars Spuybroek von der niederländischen Architektengruppe NOX – der in dieser Hinsicht stellvertretend ist für eine Generation von Architekten wie Winy Maas oder Greg Lynn – können sich die Parameter architektonischer Formen aus allen möglichen, am besten zufälligen Einflußfeldern herleiten: Fußgängerströmen, dem Sonnenstand, den Geräuschen von Fahrzeugen auf einer Autobahn. Dem Dilemma, daß die gebaute Realität dann doch wieder statisch ist, entzieht er sich elegant: Architektur im engeren Sinn ist die Formel, das Bauwerk nur eine zufällige Momentaufnahme.

Das dürfte den Bewohner eines solchen Objekts freilich wenig interessieren. Man gewinnt den Eindruck, daß die Architekten dieser Richtung ihre zentrale Position als Großmeister der Ordnung nicht aufgeben wollen, sondern versuchen, sie in geänderter Form – abgesichert durch Chaostheorie und Fraktale –zu erhalten.

Deutlich wurde das beim Vortrag von Karl S. Chu, einem amerikanischen Theoretiker und Architekten, der diesen kosmologischen Anspruch der Architektur direkt ansprach und die Verwendung des Computers als neue Chance für das alte „gnostische Streben nach Erfüllung“ bezeichnete, ein Gedanke, den auch Charles Jencks, früher erster Kammerdiener der Postmoderne, in seinem jüngsten Buch, „The Architecture of the Jumping Universe“, ausführt. Was Chu dann präsentierte, sind zweifellos schön anzusehende Verräumlichungen mathematischer Formeln, die aber völlig irrelevant werden, wenn man die beigepackte esoterische Theorie nicht zu akzeptieren bereit ist.

Wer über Architektur und Stadtleben etwas Konkretes erfahren wollte, war mit einem Besuch in der Sargfabrik besser bedient. In einem ersten, ebenfalls von Roland Schöny konzipierten Symposium im Mai hatte sich „Peripherie im Fokus“ mit der Wiener Peripherie und mit dem eigenen Wohnumfeld auseinandergesetzt. Spannend waren dabei vor allem Diskussionen über die Hausbesetzerszene und ein Vortrag des deutschen Soziologen Wolfgang Pohrt, der das soziale Konzept der Sargfabrik mit einer heftigen Polemik bedachte: Zu sehr geschützt, zu sehr Altersheim, zuwenig Blick auf das weitere soziale Umfeld. Gerade den letzten Vorwurf widerlegte der zweite Teil des Symposiums, der sich mit Peripherien in London, São Paulo und auf dem Balkan auseinandersetzte.

Es ging dabei einerseits um die soziale Peripherie, um den Umgang mit Randgruppen in England und Deutschland beziehungsweise auch um die unterschiedlichen Formen der Selbstdefinition dieser Randgruppen. Da war zu hören, wie wenig Positives der Begriff der Integration für eine britische Kulturtheoretikerin mit pakistanischem Hintergrund beinhaltet: Integration hätte in England stets den Beigeschmack des sozialen Drucks; für englische Asiaten und Schwarze sei kulturelle Konkurrenz auch im Rahmen einer gemeinsamen Sprache ein wesentlich verständlicherer Ansatz.

Im Falle São Paulos ging es auf der anderen Seite um globale Peripherie. Wie gewinnt eine Stadt mit 16 Millionen Einwohnern Identität angesichts des langsamen Verfalls des Mittelstands und immer stärker werdender sozialer Gegensätze? Daß die klassischen Mittel der Architektur dazu nicht mehr taugen, zeigte ein Beitrag über das America Latina Memorial, ein Spätwerk von Oscar Niemeyer, das mit Bibliothek, Theatersaal und Ausstellungsräumen ein identitätsstiftendes Monument sein wollte und dabei völlig an der Realität gescheitert ist. Viel überzeugender waren Beiträge von Künstlern, etwa von Giselle Beiguelmann, die mit ihrer Gruppe eine Ausstellung in einer von ihr umgestalteten Fabrik durchführte und das Publikum ausschließlich mit angemieteten Eisenbahnwaggons dorthin brachte – eine subversive Aktion in einer Stadt, deren Autoindustrie gezielt den Verfall des öffentlichen Verkehrswesens bewirkt hat.

Architekten hatten auch auf diesem Symposium nur wenig Spannendes beizutragen. Aber vielleicht müssen sie akzeptieren, daß sie zu einer kulturellen Randerscheinung werden. Das ist weniger tragisch, als es vielleicht klingt: Von den Rändern her –das konnte man beim Symposium in der Sargfabrik lernen – kommen die wesentlichen Entwicklungen.

Spectrum, Fr., 1999.06.04

08. Mai 1999Christian Kühn
Spectrum

Wo Orte zur Sprache kommen

Architektur ist Teil der Alltagskultur: dies einer breiteren Öffentlichkeit nahezubringen, ist Roland Gnaiger seit Jahren bemüht. Das aktuellste Architekturvermittlungsprojekt, an dem er beteiligt ist, "LandLuft"peilt mit Video und CD-Rom auch ein jüngere

Architektur ist Teil der Alltagskultur: dies einer breiteren Öffentlichkeit nahezubringen, ist Roland Gnaiger seit Jahren bemüht. Das aktuellste Architekturvermittlungsprojekt, an dem er beteiligt ist, "LandLuft"peilt mit Video und CD-Rom auch ein jüngere

Der Gegensatz von Stadt und Land, einst prägendes Moment der europäischen Kulturgeschichte, ist heute so gut wie bedeutungslos. Angesichts der immer ähnlicher werdenden kulturellen Leitbilder hat das „authentische Landleben“ auch noch den letzten Rest an Substanz eingebüßt, der ihm nach der Ausschlachtung durch Heimatfilm und Tourismus geblieben war: Kitsch ist – wie Milan Kundera einmal schrieb –die Umsteigestation zwischen dem Sein und dem Vergessen. Was die ländliche Kultur anlangt, sind wir in der Phase des Vergessens angekommen. An ihre angestammten Qualitäten zu erinnern bleibt den Volkskundlern überlassen.

Das heißt freilich noch lange nicht, daß wir in einer flächendeckend urbanen Kultur leben. Von ein paar Weltstädten abgesehen, ist heute überall Provinz oder –um einen freundlicheren Begriff zu gebrauchen – Region. Natürlich gibt es nach wie vor Unterschiede zwischen Wien, St. Pölten und Ischgl, aber die bewegen sich eben längst im gemeinsamen Rahmen des Provinziellen, wenn auch mit jeweils ganz spezifischen Färbungen.

Zu den ländlichen Gebieten in Österreich, denen es offensichtlich gelungen ist, auf die veränderte Wirklichkeit zu reagieren, gehört Vorarlberg. Es gibt hier ein grundsätzliches Einvernehmen, daß Architektur Antworten auf aktuelle Probleme finden soll, ohne auf Klischees Rücksicht zu nehmen.

Die Architekten des Landes haben sich in den letzten zwanzig Jahren schrittweise das Vertrauen der Bevölkerung erworben, nicht zuletzt durch intensive Medienarbeit. Auch wenn sich gerade hier –sehr zum Mißfallen der Architektenkammer – die freie und damit an keine Standesvertretung gebundene Berufsbezeichnung „Baukünstler“ etabliert hat, so haben diese „Baukünstler“ stets das Gefühl vermittelt, sich mit den tatsächlichen Lebensbedingungen und Bedürfnissen der Menschen auseinanderzusetzen und nicht mit ihrer eigenen Positionierung im Kulturbetrieb.

Roland Gnaiger, Architekt in Bregenz und heute Professor an der Universität für Gestaltung in Linz, hat sich schon in den frühen achtziger Jahren neben seiner Planungstätigkeit bemüht, einer breiteren Öffentlichkeit Architektur nicht als etwas Außergewöhnliches für teure Sonderfälle, sondern als Teil der Alltagskultur nahezubringen. Er hat Vorträge gehalten, Beratungen durchgeführt und regelmäßige Berichte im Regionalfernsehen gestaltet. Mit einer Mischung aus Sendungsbewußtsein und Pragmatismus hat er eine praxisorientierte Theorie des Bauens außerhalb der Ballungszentren entwickelt, die weit über die leidige Polarität zwischen Ortsbildschutz und „zeitgemäßer Architektur“ hinausgeht.

In ihrer knappsten Formulierung lautet sie: „Die Produktion von Architektur, ob in Stadt oder Land, unterscheidet sich nicht wesensmäßig. Wer jedoch den speziellen Orten Raum gibt, sich auszusprechen, bekommt vieles zu hören, was bis dahin von unseren Monologen übertönt wurde.“ Aus der Summe der genau beobachteten lokalen Voraussetzungen wird jeder Bauplatz für den Architekten zum Mittelpunkt der Welt. „Und es wäre Ignoranz oder Dummheit, auch nur eine einzige der Ressourcen, aber auch Hemmnisse eines Ortes nicht zu nutzen.“

Klarerweise entsteht aus der Beachtung des Kontexts allein noch keine Architektur. Aber für Gnaiger empfiehlt es sich gerade auf dem Land, den Begriff der Kunst nicht zur Durchsetzung eines architektonischen Anspruchs zu verwenden. „Kunst ist besser das Ergebnis der Arbeit als der Anfang der Diskussion.“

Aber wo liegt der Anfang der Diskussion? Auch außerhalb Vorarlbergs ist ja viel über das Bauen auf dem Land geredet worden, es gibt Architekturzentren in allen Bundesländern, mehr als genug Publikationen über regionales Bauen, und trotzdem hat es eher den Anschein, daß nach dem Verschwinden der Tradition im Kitsch kaum eine tragfähige neue Baukultur entsteht. Nach Gnaigers Theorie ist das wenig verwunderlich: Solange sich die Diskussion in der Stadt-Land-Problematik verfängt und nicht das Faktum der universalen Provinz mit jeweils spezifischen Chancen akzeptiert, wird sie sich darauf beschränken, traditionelle Leitbilder in immer blasserer Form abzuwandeln.

Das jüngste Projekt der Architekturvermittlung, an dem Gnaiger beteiligt ist, hat seinen Ausgang konsequenterweise nicht auf dem Land, sondern in der Stadt genommen, mit einer Ausstellung an der Technischen Universität in Wien. Aus einer ursprünglich geplanten Ausstellung über die Arbeiten Gnaigers entwickelte sich ein Konzept, in dessen Mittelpunkt die Vernetzung steht: Im Vordergrund stand ein Symposium, bei dem nicht nur Architekten und Raumplaner, sondern auch Kabarettisten und Musiker, Lehrer, Bürgermeister und Landwirte zu Wort kamen. Ergänzend gab es einen „Burgenländer“- und einen „Niederösterreicher-Tag“, die in Zusammenarbeit mit den Architekturzentren dieser Bundesländer veranstaltet wurden.

Eine Ausstellung gab es zwar, aber sie zeigte keine Bildtafeln und Modelle, sondern ein Video, in dem Gnaiger Bauten aus ganz Österreich kommentiert, sowie eine interaktive CD-Rom, auf der vier seiner eigenen Bauten dokumentiert sind. Dabei kommen in kleinen Videoclips auch Bürgermeister und Bauherren zu Wort, etwa Hubert Vetter, dessen Bauernhof in Lustenau zu den wenigen herausragenden jüngeren Beispielen auf diesem Gebiet gehört.

Ein Interesse an der Gestaltung im weitesten Sinn, das optimistisch stimmen könnte, ist hier dokumentiert. Die Schule in Warth ist beispielsweise weit mehr als ein schönes Gebäude – eben auch ein Ort der Identifikation für eine Gemeinde, deren 200 Einwohner sich im Winter unter 2000 Gästen beinahe selbst wie Fremde fühlen müssen, so sehr sie auch den Tourismus als Lebensgrundlage akzeptieren. Als einklassige Hauptschule für die 10- bis 14jährigen des abgelegenen Ortes ist sie auch eine pädagogische Innovation.

Und auf der CD-Rom kann man sich von einem der Lehrer erzählen lassen, wie wichtig es war, mit dem Architekten über die Prinzipien eines solchen Typus zu reden, lange bevor es noch ums eigentliche Bauen ging. Ähnlich interessante Begegnungen erlaubt die CD-Rom auch mit Bauherren der anderen drei Projekte.

„LandLuft“ soll als Projekt im Büro Gnaigers in Linz weitergeführt werden und sich zu einer permanenten Kooperation von Kulturmanagern, Landschaftsplanern, Architekten und Medienleuten entwickeln. Die Liste der an der Wiener Veranstaltung Beteiligten bietet ein Bild möglicher Vernetzung: Die Konzeption stammt von Erich Raith vom Institut für Städtebau der TU Wien; die Projektleitung lag bei Thomas Moser und Roland Gruber von der Universität für Gestaltung in Linz; die Ausstellungsgestaltung besorgten dunkl/ erhartt/sapp/zinner; das Video wurde von ZONE produziert; Musik kam von Attwenger, die Graphik von Büro X, die Gestaltung der CD-Rom von althaler + oblasser. Es ist zu hoffen, daß die Veranstalter mit diesen Medien das angepeilte jüngere Publikum tatsächlich erreichen.

Video und CD-Rom sind unter http://www.x-office.com/landluft sowie unter thmoser@netway.at zu bestellen.

Spectrum, Sa., 1999.05.08

30. April 1999Christian Kühn
Spectrum

Von Bunkern und Hühnerställen

Was steckt hinter den Aggressionen, die moderner Architektur hierzulande immer noch entgegenschlägt? Die tief verwurzelte Angst vor dem Offenen, Unfertigen, die Ablehnung gestalterischer Eigenverantwortung. Eine Anamnese aus aktuellem Anlaß.

Was steckt hinter den Aggressionen, die moderner Architektur hierzulande immer noch entgegenschlägt? Die tief verwurzelte Angst vor dem Offenen, Unfertigen, die Ablehnung gestalterischer Eigenverantwortung. Eine Anamnese aus aktuellem Anlaß.

Salzburg, 28. Februar 1999, Vorwahlzeit: In der Salzburger „Kronen Zeitung“ erscheint unter dem Titel „Anrainer gegen neue ,Bunker‘“ ein Artikel, der sich im speziellen gegen ein Wohnbauprojekt in Sam am Söllheimer Weg, allgemein gegen die „arrogante Architektur- & Planungs- & Bauschickeria“ und die von ihr zu verantwortenden „Ausgeburten des Planungsirrsinns“ wendet.

Illustriert wird der Artikel mit einem anderen Projekt der in Sam tätigen Architekten Gerhard Sailer und Heinz Lang, die zusammen als „Architekturbüro Halle 1“ firmieren: ein dreigeschoßiger Wohnbau, durchgehende tiefe Balkone an der Südseite, Glasfassade. Abgesehen von den betonierten Treppenhäusern handelt es sich um eine reine Holzkonstruktion. Davor posiert eine junge Dame („unsere Simone“), in der Hand sinnigerweise eine ausführliche Broschüre über das in der Fachwelt einhellig positiv bewertete architektonische und ökologische Konzept des Bauwerks, und wird mit dem Satz zitiert: „In einem Hühnerstall möchte ich nicht wohnen ...“

Die politisch-provinziellen Aspekte dieser Geschichte – Gerhard Sailer ist der Ehemann einer Salzburger Bürgerlisten Kandidatin und wird im Rest des Artikels in einer Art und Weise diffamiert, die inzwischen den Presserat beschäftigt –brauchen uns hier nicht weiter zu interessieren. Spannender ist die Frage nach dem Ursprung der tiefen Aggression gegen eine Architektur, deren Formensprache inzwischen auch bald 100 Jahre alt ist. Um ein rein ästhetisches Problem geht es sicher nicht: Wer ein Holzhaus als Bunker tituliert, der hat sich kaum die Mühe gemacht hinzusehen. Diese Polemik hat tiefere Wurzeln: Hier wird etwas als Bedrohung empfunden oder zumindest als solche inszeniert. Aber was ist an dieser Architektur so bedrohlich?

Vordergründig ist die Antwort klar: Es geht um „unsere Heimat“, deren vertraute Bilder durch „nihilistische“ Strukturen ersetzt werden. Dieser Vorwurf ist nicht neu. Am klügsten hat ihn Ernst Bloch –nun auch schon vor über 50 Jahren – formuliert: Architektur sei ein „Produktionsversuch menschlicher Heimat“. Die Moderne hätte statt dessen Maschine und Haus gleichgesetzt und sich auf Abstrakta wie Licht, Luft und Sonne berufen. Herausgekommen sei dabei nicht mehr als blendender „Lichtkitsch“.

Aber Achtung: Hier herrscht extreme Verwechslungsgefahr. Mit den Klischees von Heimatstil und Lederhosenarchitektur hat Blochs Heimatbegriff nichts zu tun. Es geht ihm nicht um ein fertiges Bild, das man nur festzuhalten bräuchte. Im Gegenteil: Heimat sei etwas, worin noch nie jemand gewesen sei, obwohl sie „jedem in die Kindheit scheint“. Was Bloch an der modernen Architektur kritisierte, war nicht ihre Form, sondern ihr Wahn, im perfekten Objekt ein für alle Mal herstellen zu können, was nur als dauernder Prozeß gelingen kann. Echte Heimat muß man sich kritisch erarbeiten: Das setzt offene Strukturen und Bewohner voraus, die sich in diesen Strukturen zu artikulieren verstehen.

Genau in diesem Punkt liegt die eigentliche Wurzel für die Aggression, von der oben die Rede war. Das Offene, Unfertige, auf die Eigenverantwortlichkeit des Menschen Vertrauende fordert hierzulande eine tiefverwurzelte Ablehnung heraus. Dann lieber „Tirolerhaus“, Hundertwasser oder die gerade aktuelle Virtuosenarchitektur – jedes Klischee ist besser als ein Prozeß mit offenem Ausgang.

Ob diese Ablehnung wirklich noch die Position der Mehrheit ist, darf freilich bezweifelt werden. Ein im Vergleich zum Salzburger Beispiel ungleich „härterer“ Wohnbau des Architekten Helmut Wimmer befindet sich in Wien Ottakring gerade in Fertigstellung. Das Konzept, architektonisch nur eine Grundstruktur anzubieten, die innen wie außen verändert werden kann, kommt auf dem Wohnungsmarkt offenbar an. Von den rund 250 Wohnungen sind fast alle verkauft, obwohl das derzeitige Äußere noch wenig einladend aussieht.

Wimmer hat ähnliche Konzepte aber schon mehrmals realisiert: äußerst erfolgreich in der Brünner Straße, wo hinter einer über 100 Meter langen Glasfassade mit Loggien und Wintergärten unterschiedliche Wohnungstypen kombiniert sind; mit zweifelhaftem Ergebnis in der Donaufelder Straße, wo ein sehr dichter räumlicher Raster von Stegen und Terrassen eine mediterrane Stimmung evozieren soll, die von den in ihrer Privatheit beeinträchtigten Bewohnern nicht angenommen wird.

Die Wohnungen in der Koppstraße liegen in drei achtgeschoßigen Wohnregalen aus Betonfertigteilen, die zu einer U-förmigen Figur kombiniert sind. Zwei Meter breite Balkone ziehen sich über die volle Länge der Südwestseite, ebenso breite Laubengänge führen zu den Wohnungen, denen zusätzlich jeweils eine zweigeschoßige Loggia vorgelagert ist. Das „Zuwachsen“ der Balkone und Loggien mit Markisen, zusätzlichen Verglasungen und Pflanzen ist ausdrücklich erwünscht und soll in einigen Jahren ein lebendiges Bild der Fassade ergeben, das sich dann nur noch langsam, aber kontinuierlich ändert. Auf eine eigene Haut verzichtet diese Architektur bewußt. Ob bei der beträchtlichen Größe des Projekts auch der Verzicht auf eine Differenzierung des Baukörpers klug war, ist eine andere Frage. Eine offene Grundstruktur muß keineswegs so gleichförmig sein wie hier. Helmut Wimmer verweist gerne auf Le Corbusiers berühmtes Projekt für Algier. Das aber lebt wesentlich vom feinen Schwung seiner Fassade: Auch die große, zurückhaltende Ordnung kann als baukünstlerisches Thema behandelt werden.

Wimmer versteht seinen Bau als radikales Statement für die Befreiung des Bewohners von der Bevormundung durch den Architekten. Sein Vertrauen in die Bildung seiner Bewohner und ihre Fähigkeit, ihre Umwelt unvoreingenommen zu gestalten, ist beinahe naiv: Wer lernt heute noch Wohnen jenseits von Klischees, wie sie in den Massenmedien zwischen Hundertwasser und Hühnerstall abgehandelt werden? Eine große Ordnung, die nicht nur Freiheit gibt, sondern auch dabei hilft, sich in ihr zu artikulieren, das wäre der nächste Schritt.

Spectrum, Fr., 1999.04.30

13. März 1999Christian Kühn
Spectrum

Shopping Mall, Parlament?

Eine äußerst heikle, weil symbolträchtige Bauaufgabe: Der Berliner Reichstag war für das Parlament des wiedervereinigten Deutschland zu adaptieren. Norman Fosters transparente Lösung ist eine Aussage zur Idee der Demokratie.

Eine äußerst heikle, weil symbolträchtige Bauaufgabe: Der Berliner Reichstag war für das Parlament des wiedervereinigten Deutschland zu adaptieren. Norman Fosters transparente Lösung ist eine Aussage zur Idee der Demokratie.

Unter all den Bauaufgaben im wiedervereinigten Deutschland ist der Umbau des Berliner Reichstags wohl die symbolträchtigste. Die Entscheidung, keinen Neubau zu errichten, sondern aus dem leichten Glashaus in Bonn in das wilhelminische Gemäuer im Zentrum Berlins, einen Bau von Paul Wallot aus dem Jahr 1894, zu übersiedeln, ist dem deutschen Bundestag nicht leicht gefallen. Bis 1932 hatte hier das demokratisch legitimierte Parlament getagt. Der Brand des Reichstags im Jahr darauf war für Hitler Anlaß, die Weimarer Republik endgültig auszulöschen und durch Notverordnungen die Grund- und Freiheitsrechte in Deutschland außer Kraft zu setzen. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude beschädigt und von der Roten Armee gestürmt. Eine Sanierung in den sechziger Jahren beschränkte sich es wieder nutzbar zu machen.

Diesen historischen Ort für das Parlament der jungen „Berliner Republik“ zu adaptieren führte zwangsläufig zur Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte unter den Gesichtspunkten von Kontinuität und Differenz. Sir Norman Foster, von dem die Planung für den Umbau stammt, hat sich vordergründig an eine Metaphorik gehalten, die jeder Politiker versteht: Weil Transparenz einer Demokratie gut ansteht, sollen auch ihre Gebäude transparent und vom Licht der Aufklärung durchflutet sein. So hingeschrieben, ist das natürlich reinster Kitsch. Als gebaute Hoffnung hat es vielleicht eine gewisse Berechtigung. Aber schon Günther Behnischs gläserne Kiste in Bonn hatte mehr zu bieten. Ihre Qualität lag vor allem in der Zerbrechlichkeit, die sie ausstrahlte und die der Vorläufigkeit des geteilten Deutschland entsprach. Daß die Gläser in Wahrheit granatensicher waren, änderte nichts an der Botschaft.

Hätte sich Foster in Berlin darauf beschränkt, die schweren Massen des Altbaus einfach durchsichtiger und lichter zu machen, wäre kaum mehr herausgekommen als eine Konzernzentrale für die wiedervereinigte Deutschland AG. Seine große Leistung besteht darin, mit der vertikalen Sequenz von Plenarsaal und Kuppel einen der ungewöhnlichsten und irritierendsten Räume geschaffen zu haben, die je gebaut wurden. Wer hier nach der Einweihung am 19. April eine Politik des reinen Pragmatismus betreibt, muß es zumindest mit schlechtem Gewissen tun.

Foster gelang es, seinen Bauherrn von der anfangs gewünschten Rekonstruktion der alten Kuppel abzubringen und von einer Lösung zu überzeugen, bei der Plenarsaal und Kuppel zu einer über 40 Meter hohen vertikalen Sequenz zusammenfaßt sind. Diese Lösung ist auf den ersten Blick simpel: Der Plenarsaal wird mit einem Glasdach gedeckt, darüber sitzt die Kuppel als leichter, verglaster Stahlkorb. An dessen Innenseite entlang führen zwei öffentlich zugängliche Rampen zu einer Aussichtsplattform, die frei in den Kuppelraum gehängt ist – eine Anordnung von einigem symbolischen Witz: Wenn das Volk über die Rampe zur Aussichtsplattform aufsteigt, ist es für die Parlamentarier stets präsent und kann ihnen umgekehrt durch die Glasdecke bei der Arbeit zusehen.

Seine besondere Qualität bekommt der Kuppelraum erst durch zwei Einbauten, die ihre ästhetische Bestimmung hinter äußerst vernünftig-funktionellen Bezeichnungen verbergen: einen Lichtkonus und einen Sonnenschutz. Der Lichtkonus, ein spitz zulaufender Rotationskörper, bildet das räumliche Gegengewicht zur Schalenform der Kuppel. Seine Außenseite ist mit Hunderten von Spiegeln verkleidet, die einerseits die Besucher auf den Rampen in ebenso vielen Facetten reflektieren und andererseits Licht in den Plenarsaal leiten. Der Lichtkonus durchdringt die Glasdecke über dem Plenarsaal und schwebt so wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Parlamentarier. In seinem Inneren befindet sich eine Lüftungsanlage für den Plenarsaal, die über Öffnungen in der Kegelspitze die warme Luft von dort absaugt. Der Sonnenschutz, ein blattförmiges, organisch anmutendes Gebilde, ist ebenfalls frei von der Plattform abgehängt. Angetrieben von kleinen Elektromotoren, bewegt er sich in einer langsamen, dem Sonnenstand folgenden Bewegung die Innenseite der Kuppel entlang.

Diese Einbauten machen die Kuppel zu einer beinahe surrealistischen Inszenierung: ein dichtes Geflecht aus konkaven und konvexen Kurven, ein Spiegelraum mit eingebautem Chronometer, zugleich ein Augapfel, in den der Keil des Lichtkonus bedrohlich hineinragt.

Hanno Rauterberg hat in der „Zeit“ kritisiert, daß dieser Raum zu sehr den spektakulären Innenräumen der Shopping Malls gleiche, daß er wie sie um die Aufmerksamkeit der Schaulustigen buhle und damit die Demokratie zu einem Dienstleistungsbetrieb degradiere. Nicht Bedeutung, sondern Erlebnis präge die neue Kuppel. Vom geheimnisvollen Zukunftsversprechen, das sich hinter Christos und Jeanne-Claudes Verhüllung des Reichstags verborgen habe, seien nur Show und Spektakel übriggeblieben. Aber diese Kritik wird dem Kuppelraum nicht gerecht: Während die Inszenierung der Shopping Mall nichts anderes leisten soll, als den Besucher zu blenden, ist er hier ein Beobachter, der in ein gigantisches Meßinstrument einsteigt – und sich dann plötzlich selbst in einer der spiegelnden Facetten wahrnimmt. Mit den beschränkten Mitteln, die der Architektur zur Verfügung stehen, um eine abstrakte Idee auszudrücken, macht Foster hier eine überzeugende Aussage zur Idee der Demokratie.

Die Implantation einer neuen Aussage in einen historisch brisanten Altbestand: damit ist in Berlin ein Schritt zur kulturellen Identitätsfindung mit den Mitteln der Architektur gelungen, der in Wien sowohl beim Ronacher als auch bei den Redoutensälen (um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen) verweigert wurde. Immerhin gibt es in Berlin einen österreichischen Beitrag: Die Ausführung der Kuppel stammt vom Wiener Stahlbauunternehmen Waagner-Biró, das in Berlin auch die technisch noch weit komplexere Überdachung des Sony-Centers baut. Daß Waagner-Biró beim Reichstag zum Zug gekommen ist, liegt vor allem an der Fähigkeit, dem bedingungslosen Qualitätsanspruch des Büros Foster folgen zu können. Die surrealistische Wirkung des Kuppelraums lebt von der Qualität im Detail, von der Art, wie alle Elemente voneinander abgesetzt sind und zu schweben scheinen. Rampen, Lichtkonus und Plattform sind mit dünnen Verbindungselementen von den Stahlrippen der Kuppel abgehängt, und auch das große Blatt des Sonnenschutzes ist nur mit seinem oberen Ende an der Plattform befestigt und dreht sich ansonsten frei im Raum.

Dieses Freispielen der Elemente stellte höchste Anforderungen an Konstruktion und Ausführung. Komplizierte, für jede horizontale Position eines Kuppelsegments unterschiedliche Guß- und Strangpreßteile stellen die Verbindungen her. Als höchst komplex erwies sich auch die Ausführung der beiden Spiralrampen, in deren schlan-ken Querschnitten sowohl die Entwässerung als auch die Leitungen für die Klimatechnik geführt werden mußten.

Wer sich die Photos vom Bauablauf ansieht, ist fasziniert davon, wie zwischen Computern, Schweißrobotern und hydraulischen Bühnen immer noch die Archaik des Bauens spürbar wird. Die Kuppel, die Brunelleschi im Florenz des frühen 15. Jahrhunderts für den Dom errichtete, hat konstruktiv mit jener des Reichstags nur wenig gemein (obwohl sie ihr ziemlich exakt in den Dimensionen entspricht); als zugleich künstlerische wie konstruktive und organisatorische Leistung aber sehr viel. Daß auch das Werk eines „Stararchitekten“ zu einem großen Teil darin besteht, einen Qualitätsanspruch an eine große Zahl von möglichst kongenialen Partnern zu vermitteln, hat schon Brunelleschi erkannt. Seine legendäre Auseinandersetzung mit den zünftig organisierten Baumeistern und Steinmetzen hatte das Ziel, diese auf „Innovationskurs“ zu bringen.

Im heutigen globalisierten Wettbewerb wird diese Qualität immer entscheidender. Der gute Ruf, den Waagner-Biró sich mit den Berliner Projekten erworben hat, lohnt sich: Derzeit arbeitet dieselbe Projektgruppe unter der Leitung von Johann Sischka, die schon den Reichstag betreut hat, an einem neuen Projekt nach dem Entwurf von Foster Associates, der Überdachung des Innenhofs im British Museum in London. Der Entwurf sieht ein gekrümmtes Stahltragwerk vor, das eine Fläche von 6000 Quadratmetern bedeckt. Unter den rund 5000 Knoten gibt es über 1800 unterschiedliche Typen, die nur mit computerunterstützten Produktionsverfahren erzeugt werden können. An Innovation wird es auch dort nicht fehlen.

Spectrum, Sa., 1999.03.13



verknüpfte Bauwerke
Reichstag

24. Dezember 1998Christian Kühn
Spectrum

„Mach doch die Bude groß“

Als „das Kompromißloseste, was es derzeit gibt“, bezeichnete er seine Aachener St.-Fronleichnam-Kirche aus dem Jahr 1929. Mit St. Theresia in Linz-Keferfeld schuf er den schönsten modernen Kirchenraum Österreichs.

Als „das Kompromißloseste, was es derzeit gibt“, bezeichnete er seine Aachener St.-Fronleichnam-Kirche aus dem Jahr 1929. Mit St. Theresia in Linz-Keferfeld schuf er den schönsten modernen Kirchenraum Österreichs.

„Vom Bau der Kirche“: Unter diesem Titel erschien im Jahr 1938 ein Buch, in dem Rudolf Schwarz, Jahrgang 1897, seine Theorie des Kirchenbaus formulierte. Es ging ihm dabei weder um eine Geschichte noch um ein praktisches Handbuch, sondern um eine grundsätzliche Betrachtung sakralen Bauens. Seine Konzepte für Sakralräume lesen sich wie Versuche, das Unsagbare doch in Worte zu fassen: vom „Heiligen Ring“ ist da die Rede, vom „Lichten Kelch“ und von der „Heiligen Fahrt“, vom „Lichten Gewölbe“ und vom „Dom aller Zeiten“, der „den ganzen Ablauf der Zeit in sich vereint“.

Bei dem Symposium, das im Architektur Zentrum Wien anläßlich der Eröffnung der Ausstellung über Rudolf Schwarz abgehalten wurde, kam die Rede sehr bald auf diese Metaphern und auf die „dunkle“ Sprache des Architekten. Als Raumschöpfer sei Schwarz über jeden Zweifel erhaben, aber wozu braucht ein Architekt derartige Sprachbilder? Ist Schwarz mit seiner Suche nach dem Eigentlichen, nach dem Wesen der Dinge nicht eine hoffnungslos konservative Figur?

Wolfgang Pehnt, der zusammen mit Hilde Strohl die hervorragende Monographie über Schwarz geschrieben hat, die als Katalog zur Ausstellung dient, sieht Schwarz als Vertreter einer „anderen“, jedoch keineswegs „gemäßigten“ Moderne. Das „andere“ vermutet Pehnt gerade in jenem „bildhaften“ Umgang mit den Aufgaben, der beider Diskussion in Wien so viel Befremden ausgelöst hat. „Bewohnte Bilder“ heißt auch der Untertitel des Katalogs: Nicht um die leicht konsumierbaren Bilder der Postmoderne gehe es dabei, sondern um Bilder als „Baufiguren, die ihren Sinn in sich tragen“. Die Sprache spielt für diese Bilder eine wichtige Rolle. Sie sei, sagt Schwarz im „Bau der Kirche“,„voll von ermunternden und anweisenden Ausdrücken, die sich wie helfende Hände unter die Dinge legen“.

Der idealistische Versuch, dem Bauen einen neuen Sinn zu geben, ist ein gemeinsamer Zug der deutschen Avantgarde nach dem Ersten Weltkrieg. Der Expressionist Hans Poelzig, in dessen Meisterklasse Schwarz nach seinem Doktorat an der Technischen Hochschule Berlin studiert hat, wäre hier zu nennen, aber auch das frühe Bauhaus, das ja durchaus seine„dunkle“, theosophische Seite besaß. Erst um 1930 hatte sich die „Neue Sachlichkeit“ mit dem Ideal einer funktionalistischen Architektur auf wissenschaftlicher Basis als bestimmende Richtung der Avantgarde durchgesetzt. Die Nationalsozialisten haben die Neue Sachlichkeit zwar als Stil geächtet, die Methoden des Systembaus und der rationalen Ordnung im Städtebau aber durchaus übernommen.

Der bedeutendste frühe Bau von Schwarz, St. Fronleichnam in Aachen aus dem Jahr 1929, läßt sich formal dieser Richtung zuordnen: eine innen und außen weiß verputzte Schachtel mit einem sehr niedrigen Seitenschiff und einem schmucklosen Turm, der über eine Stahlbrücke mit dem Hauptschiff verbunden ist – „das Kompromißloseste, was es derzeit gibt“, wie der junge Schwarz nicht ohne Stolz schrieb, eine „Wiedergeburt der Baukunst aus der Armut“. Der Theologe Romano Guardini, ein enger Freund des Architekten, sah in der asketischen Beschränkung einen Gewinn an Intensität: „Das ist keine Leere; das ist Stille! Und in der Stille ist Gott. Aus der Stille dieser weiten Wände kann eine Ahnung der Gegenwart Gottes hervorblühen.“ In diesem Umfeld entfalten die einfachsten Gesten eine starke Wirkung, etwa das „Herabsteigen“ der Fenster im Altarbereich, ein Motiv, das Schwarz auch in seinen späten Kirchen verwendet.

Für St. Fronleichnam hat Schwarz eine Vielzahl von Varianten entwickelt. Auf einem Skizzenblatt zeigen die tanzenden Grundrißfiguren immer neue Kombinationen von massiven und transparenten Wandzonen, die dem Raum jene Dynamik geben, die ihn von der banalen Schachtel unterscheidet. In den Skizzen zu St. Fronleichnam wird auch die geistige Verwandtschaft zwischen Schwarz und Mies van derRohe deutlich, die Suche nach einer absoluten Form des Bauens. Das neutrale, vom Alltäglichen abgerückte Bauwerk ist beiden Architekten ein Anliegen. Mies hat seinem Freund Hugo Häring gegenüber eine eher saloppe Begründung geliefert: „Mensch, mach doch die Bude groß, da kannst du hin- und herlaufen und nicht nur in einer vorgezeichneten Bewegung.“

Bei Schwarz heißt es gesetzter: „Nicht dort, wo dem Leben vorgesagt wird, wie es sich zu verhalten habe und schon die weichen Gehäuse einer Spontaneität vorgeplant werden, sondern dort, wo es unter das Firmament eines großen Gesetzes gestellt wird, erwacht es zu seinen höchsten Einsichten und zu seiner wirklichen Freiheit.“

Mies war der einzige unter den Bauhaus-Architekten, den Schwarz immer geschätzt hat, ein Urteil, das im übrigen auf Gegenseitigkeit beruhte: „Denken und Bauen zeugen von der einzigartigen Größe unseres verstorbenen Freundes“, heißt es im Nachruf, den Mies für seinen 1961 verstorbenen Kollegen verfaßt hat. Gegen Gropius entfachte Schwarz Anfang der fünfziger Jahre eine heftige Polemik, als er von „vorlauten und aufgeregten Terroristen“ sprach, die er für einen Bruch in der abendländischen Überlieferung verantwortlich machte. Ebenso verabscheute er Le Corbusiers Wallfahrts-Kapelle in Ronchamp: Er sei „zu lang ein Westwallbunkern gesessen“, um zu verstehen, wie Corbusier „aus einem Bunker samt Kanonenrohren eine Kirche“ bauen könne. Die Tendenz der fünfziger Jahre, die jeweils interessantesten Bauformen für den Kirchenbau zu nutzen, widersprach seinem Anliegen, „die kristallklare Ordnung der christlichen Welt groß und sichtbar Bau“ werden zu lassen. – Die Suche nach einer „kristallklaren Ordnung“ beschränkte sich bei Schwarz nicht auf den Kirchenbau, sondern umfaßte auch die Stadtplanung. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er an Planungen in besetzten Teilen Frankreichs teilgenommen und dort an differenzierten Bandstadtmodellen gearbeitet, die er mit großer Einfühlsamkeit in die Landschaft setzte.

Daß die kristallklare Ordnung im Kontext des Nationalsozialismus von einer totalitären Ordnung kaum mehr zu unterscheiden ist, scheint für Schwarz kein Thema gewesen zu sein. 1947 publizierte er sein Buch„Von der Bebauung der Erde“, das ursprünglich „Vom Bau der Welt“ hätte heißen sollen – in Analogie zum „Bau der Kirche“. Sein Bandstadtkonzept – eine innere Industriezone mit satellitenartig mit ihr verbundenen Siedlungen – setzt er darin in Beziehung zum Grundrißschema einer Kathedrale mit Seitenkapellen.

Schwarz hat nach dem Krieg als Generalplaner von Köln Gelegenheit gehabt, seine Ideen in der Praxis zu erproben. An eine reale Durchdringung des Profanen durch das Sakrale scheint er, zumindest auf der urbanen Ebene, kaum mehr geglaubt haben. In einem Brief an Mies van der Rohe spricht er vom Wunsch, „noch einmal einen letzten Schimmer des alten untergehenden Lichtes über die Welt (unsere Welt, die so klein wurde) leuchten zu lassen“.

Mit seinen Kirchenbauten ist ihm das jedenfalls gelungen. Im Werkverzeichnis finden sich über 60 Kirchenentwürfe aus der Nachkriegszeit, in denen Schwarz die Prinzipien, die er im„Bau der Kirche“ aufgestellt hat, variiert. Diese Kirchen sind „reicher“ als seine aus dem „Geist der Armut“ entstandenen Projekte der zwanziger Jahre, vielfältiger in den Materialien und teilweise organisch geformt.

Ein herausragendes Beispiel ist St. Theresia in Linz-Keferfeld, ein langgestrecktes Oval, in dessen beiden Brennpunkten sich jeweils Altar und Taufstein befinden. Der Eingang liegt beinahe beiläufig an der Seite.

Auch für Wien hat Schwarz eine Kirche entworfen, St. Florian in der Wiedner Hauptstraße, die leider nicht nach seinen ursprünglichen Plänen, sondern in einer stark vergröberten Variante gebaut wurde. Das kleine Modell des Entwurfs mit seinen vier das Kirchenschiff gliedernden Lichthöfen ist allein einen Besuch der Ausstellung wert.

Daß die Welt für seine Entwürfe zu klein geworden ist, hat Schwarz geahnt. Im heutigen gespaltenen Katholizismus würden sie überall anecken: zuwenig bodenständig für die einen, zu sehr Gottes- und zuwenig Gemeindehaus für die anderen. Als Raumkunst werden sie ihre Aktualität aber nie verlieren.

Spectrum, Do., 1998.12.24



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Pfarrkirche Zur Hl. Theresia

14. November 1998Christian Kühn
Spectrum

Die hohe Kunst der Schräge

Obschon im Vergleich früheren Projekten beinahe zurückhaltend, wirkt er allemal wie eine durchkomponierte Skulptur: der Wohnturm von Coop Himmelb(l)au an der Wagramer Straße. Mit ihm sprengt das Architektenduo die Vorstellungen vom Wohnen im Wolkenkratzer

Obschon im Vergleich früheren Projekten beinahe zurückhaltend, wirkt er allemal wie eine durchkomponierte Skulptur: der Wohnturm von Coop Himmelb(l)au an der Wagramer Straße. Mit ihm sprengt das Architektenduo die Vorstellungen vom Wohnen im Wolkenkratzer

Der Flammenflügel aus dem Jahr 1980: Das war für mich stets der Inbegriff der Architektur von Coop Himmelb(l)au. Eine 15 Meter hohe Skulptur aus Stahlrohren, an Drahtseilen abgehängt und mit Flüssiggas befüllt, wurde damals unter dem Motto „Architektur muß brennen“ im Hof der TU Graz entzündet. Das war eine Kampfansage an die vermeintlichen Grundlagen der Architektur: an Schwerkraft, an Dauerhaftigkeit, an eindeutige Form.

So sehr mich der brennende Flügel fasziniert hatte, so wenig konnte ich seinen ruhiggestellten Nachfolgern abgewinnen, die in den achtziger Jahren in vielen Projekten von Coop Himmelb(l)au als Motiv auftauchten. Die skulpturale Qualität dieser Entwürfe war zwar offensichtlich, aber warum sollte man derartiges jemals als Architektur realisieren?

Die Frage stellt sich heute nichtmehr: Mit dem UFA-Kinozentrum in Dresden und dem Wohnturm an der Wiener Wagramer Straße haben Wolf D.Prix und Helmut Swiczinsky sich vom avantgardistischen Rand ins Zentrum des Baugeschehens bewegt.

Im Vergleich zu den Projekten der achtziger Jahre wirkt der Turm an der Wagramer Straße beinahe
zurückhaltend. Dennoch ist auch dieser Bau eine durchkomponierte Skulptur. Man kann den Turm wie frühere Coop-Projekte als ein Ensemble von schrägen, raumbildenden Elementen interpretieren: An den Baukörperkanten sind die Glashüllen deutlich als selbständige Ebenen abzulesen. Zugleich ist aber das Körperhafte herausgearbeitet: Der Lüftungsturm ist der Kopf einer riesigen,archaisch anmutenden Figur. Die Unbestimmtheit zwischen diesen Lesarten trägt wesentlich zur besonderen Ausstrahlung des Gebäudes bei.

Man betritt den Turm unter einem zwanzig Meter weit auskragenden Vordach, das von
zwei aus dem neunten Stock abgespannten Stahlkabeln gehalten wird. Der Eingang liegt achsial und führt in ein zweigeschoßiges Foyer, vorbei an einer Portierloge, zu den Aufzügen. Der Grundriß überzeugt auf den ersten Blick – eine rationale Dreiteilung: ein Erschließungskern an der Nordseite und ein daran anschließender dreieckförmiger Zwickel, der sich entsprechend der Abschrägung des Baukörpers immer mehr verkleinert.

Diese Teilung hat den Vorteil geringer Deckenspannweiten – und damit Konstruktionshöhen zwischen den tragenden Betonscheiben: So ließen sich imselben Volumen um 20 Prozent mehr Nutzfläche realisieren.

Abgesehen von der kleinsten Einheit haben alle Wohnungen Ausblick auf zumindest zwei Seiten und eine gute Querlüftung. Allen Geschoßwohnungen ist eine Loggia vorgelagert, die mit verstellbaren Glaslamellen vor dem Wind geschützt ist. Das gesamte neunte Geschoß kann als „Skylobby“ von den Bewohnern für Feste und als Kinderspielraum genutzt werden. – All das wäre schon eine respektable Leistung: Die erhöhte Nutzfläche erfreut den Bauherrn, die Wohnungsgrundrisse sind klar und leicht an individuelle Wünsche anzupassen, und die große Skulptur mit ihren leichten Schrägen könnte einenStadtraum von hoher Qualität erzeugen, wäre sie nicht von bestenfalls bemühten bis halblustigen oder, wie im Fall der drei Mischek-Türme, geradezu infamen Nachbarn umgeben. An den Kostenistder Qualitätsunterschied nicht festzumachen: AuchCoop Himmelb(l)au errichteten ihren Turm im Rahmen der Wohnbauförderung.

Aber was ist aus dem brennenden Flügel geworden? Aus der Suche nach der „vertikalen Stadt“ und dem „Wohnorganismus“, von der Coop Himmelb(l)au in ihren frühen Texten gesprochen haben? Wer den Turm an der Ostseite genau betrachtet, wird ab dem neunten Geschoß eine etwas veränderte Fassadenkonstruktion erkennen, hinter der sich ein durchgehender Luftraum befindet. Dieser Luftraum hat einerseits bauklimatische Funktion: Im Winter wird die hinter der Glaswand aufgeheizte Luft zu einem Wärmetauscher aufs Dach geführt und trägt zur Heizung bei. Der Überhitzung im Sommer wird durch Zuführung kalter Luft vorgebeugt, die von einem Trichter im Gebäudekopf eingefangen und nach unten geleitet wird. Andererseits entsteht hinter dieser Klimafassade, die mit einigem Abstand wie ein leichter Glasflügel über den Stahlbetonkern gefaltet ist, tatsächlich so etwas wie eine vertikale Stadt.

Wer von seinem Wohnzimmer auf die große, zweigeschoßige Loggia hinaustritt, steht in einem über 14 Geschoße reichenden Wintergarten, auf dessen unterstem Niveau sich der HauptraumderSkylobby befindet. Kommunikativ im sozialromantischen Sinn ist diese vertikale Stadt nicht: Man kann seinem Nachbarn weder zuwinke noch ihm schnell über einen künstlichen Dorfplatz einen Besuch abstatten.

Und trotzdem könnte der Unterschied zum Leben in der isolierten Schachtel nicht größer sein. Man merkt, daß sich Bauherr und Architekten mit der Grundsatzfrage des Wohnhochhauses auseinandergesetzt haben und zu einer Antwort gelangt sind, die die konventionelle Typologie dieser Bauaufgabe sprengt. Eine Fortsetzung ist übrigens geplant: In der Vorgartenstraße errichten Coop Himmelb(l)au – ebenfalls für die SEG – eine Blockrandbebauung, mit der sie diesen Typ neu definieren wollen. Man hat den Eindruck, daß Coop Himmelb(l)au konzeptionell zu ihren Projekten aus den sechziger Jahren zurückgefunden haben. „Architektur ist Inhalt, nicht Hülle“, haben sie damals geschrieben. Die architektonischen Apparate, die sie in den sechziger Jahren vermittelnd um den Menschen herum gebaut haben, sind für sie immer noch gültige Leitbilder.

Mit einem Dekonstruktivismus, der die „Anthropozentrik“ der Architektur überwinden möchte, hat das nichts zu tun. Was Coop Himmelb(l)au in den achtziger Jahren in diesem Umfeld als formale Sprache entwickelt haben, ist nicht Inhalt, sondern Mittel zum Zweck: So virtuos, wie sie diese Sprache inzwischen beherrschen, ermöglicht sie ihnen Freiheiten, die dem heutigen Stand der Technologie und Produktion entsprechen und von den klassischen Ausdrucksmitteln kaum mehr geboten werden.

Spectrum, Sa., 1998.11.14



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Wohnturm

26. September 1998Christian Kühn
Spectrum

Wenn die Welt ins Haus bricht

Um Lebensformen, erst in zweiter Linie um Bauformen geht es Rem Koolhaas bei seinen Wohnbauten. An den Villen, die derzeit im Architektur Zentrum präsentiert werden, läßt sich eine Tendenz ablesen: ein immer radikalerer Umgang mit den Themen der Moderne.

Um Lebensformen, erst in zweiter Linie um Bauformen geht es Rem Koolhaas bei seinen Wohnbauten. An den Villen, die derzeit im Architektur Zentrum präsentiert werden, läßt sich eine Tendenz ablesen: ein immer radikalerer Umgang mit den Themen der Moderne.

In einer Welt flüchtiger Bilder wird Architektur gerne als Bastion des Dauerhaften verstanden: Festgefügt und jedem Sturm trotzend, teilt sie die Welt ein in Öffentliches und Privates, in Außenwelt und geschütztes Innen. Von der Villa Rotonda bis zur Villa Kunterbunt dasselbe Schema - das Haus als schützendes, klar abgegrenztes und faßbares Objekt in der Landschaft.

Was soll aber dieses Photo? Abgebildet ist offensichtlich ein Innenraum. Auf einem Parkettboden steht ein kubisches Volumen, auf einer Seite mit Wellblech abgeschlossen, auf den anderen Seiten verglast. Die Verglasungen sind unterschiedlich geteilt: Die dem Betrachter nächste Ebene ist in vier Felder geteilt, die hintere in acht. Die rechte Seite ist ohne Unterteilung mit opakem Glas geschlossen. Der Boden des Kubus ist ebenfalls aus Glas und wird gerade von unten erleuchtet. Nach oben ist der Kubus offen und erlaubt den Blick auf ein Stück Himmel: Offensichtlich handelt es sich um einen kleinen Hof. Eine Treppe, rechts angedeutet durch die zwei schwarzen Linien des Geländers, führt ins untere Stockwerk.

Verwirrung stiften die Bäume und die Horizontlinie, die in den Raum eingeblendet erscheinen und das Bild wie eine Szene aus einem Film von Andrej Tarkowski wirken lassen. - Eine Photomontage, eine Doppelbelichtung? Oder ist das Photo von außen durch eine weitere Glasscheibe aufgenommen, in der sich die Außenwelt spiegelt?

Das Objekthafte tritt in diesem Bild völlig hinter dem Atmosphärischen zurück. Die kleine Villa, die es eben nicht abbildet, sondern darstellt, scheint den Spielregeln der klassischen Moderne zu gehorchen, wie sie Mies van der Rohe in seinem „Tugendhat Haus“ in Brünn und dem „Barcelona Pavillon“ formuliert hat: klare Linien und Proportionen, edle Materialien unterschiedlicher Dichte und Transparenz. Erst in der Verfremdung wird der konzeptionelle Bruch klar. Wo sich die Architektur der Moderne noch der Welt öffnet, um sie mit ihren Mitteln in Ordnung zu bringen, da bricht hier die Welt ins Haus ein, kehrt das Innere nach außen und das Untere nach oben.

Die kleine Villa mit dem Innenhof - 1988 fertiggestellt - ist das älteste unter den fünf Wohnhaus-Projekten des holländischen Architekten Rem Koolhaas, die derzeit im Architektur Zentrum Wien unter dem Titel „Living - Reading“ (bis 16. November) präsentiert werden. Wer sie chronologisch bis zum jüngsten Projekt, einer gerade fertiggestellten Villa in Bordeaux, betrachtet, wird einen immer radikaleren Umgang mit den Themen der Moderne feststellen. Die „verkrustete Definition von Architektur als etwas, das ein für allemal festschreibt“, wird für Koolhaas immer fragwürdiger. Aber wie läßt sich zwischen Ordnung und Freiheit die richtige Balance finden?

Als Theoretiker hatte Koolhaas in seinem Buch „Delirious New York“ noch die Vorzüge des amerikanischen Hochhauses preisen können, die neutrale, offene Struktur, deren Hülle sich vom Inhalt längst abgelöst hat. In seinen Bauten macht er sich - scheinbar im Widerspruch zu seinem Loblied auf die neutrale Stadt ohne Eigenschaften - immer auf die Suche nach der spezifischen, einzigartigen Lösung.

Das ist weniger inkonsequent, als es vorerst klingt. Koolhaas trennt Architektur und Städtebau in zwei unabhängige Disziplinen: Der Städtebau hätte Potentiale zu schaffen, die dann von der Architektur ausgelotet und genutzt werden müßten. Koolhaas hat bewiesen, daß er imstande ist, dieses Konzept auch in der Praxis durchzuhalten - wenn die politischen Voraussetzungen stimmen. Zum Milliardenprojekt Eurolille, dem vergangenes Jahr eine eigene Ausstellung im Architektur Zentrum Wien gewidmet war, wurde er von den Verantwortlichen nicht geholt, um die Dinge zu vereinfachen, sondern um jene „höllische Dynamik“ zu entfesseln, die große Projekte zu ihrer Verwirklichung brauchen.

So war es in Lille möglich, Bauträger mit unterschiedlichen Nutzungsinteressen auf mehreren Ebenen übereinander vorzusehen - eine Idee, die Koolhaas selbst als so riskant einschätzte, daß er sich über die Zustimmung wunderte. Aber die Verquickung aller Interessen bis zu einem Punkt, der nur gemeinsames Scheitern oder gemeinsamen Erfolg möglich machte, war ganz im Sinne der Auftraggeber.

Der Erfolg von Eurolille hat Koolhaas und sein OMA (Office for Metropolitan Architecture) zu einem gefragten Stadtplaner im asiatischen Raum gemacht, wo sich derzeit die größten Herausforderungen an die Urbanistik stellen. Für Koolhaas ist der Begriff Stadt freilich mit soviel historischen Schlacken belastet, daß er sich kaum mehr als Bezeichnung für diese Agglomerationen eignet. Das Institut, an dem er in Harvard forscht und unterrichtet, heißt bezeichnenderweise „Institute for the study of what used to be the city“.

Um das Auftragsvolumen bewältigen zu können, hat Koolhaas OMA inzwischen zu 50 Prozent an ein großes holländisches Ingenieurbüro verkauft. In Hongkong arbeitet eine OMA-Filiale als Franchise-Unternehmen, das sich, den örtlichen Bedingungen der Architekturproduktion entsprechend, in erster Linie auf das Problem der Gebäudehülle konzentriert. - Aber zurück zum kleinen Maßstab: In der Ausstellung präsentiert Koolhaas seine Wohnhäuser unter dem Titel „Living“. Es geht um Lebensformen, erst in zweiter Linie um Bauformen. Und es geht um das Planen und Bauen als Prozeß: Koolhaas nennt Architektur eine auszehrende und süchtigmachende Tätigkeit, und ausnahmslos alle Bauherrn der gezeigten Häuser waren genauso süchtig nach Architektur wie ihr Architekt.

Der Bauherr der Villa Dall'Ava bei Paris führte den Prozeß um seine Baubewilligung bis zum obersten Gerichtshof - und gewann. Der Bauherr des „Dutch House“ hat sich ein Haus bauen lassen, das an vielen Stellen Geschichten erzählt, statt einfach problemlos zu funktionieren: Das Schlafzimmer, auch hier an einem kleinen Innenhof gelegen, läßt sich nur über eine Zugbrücke erreichen; die Zimmer der Töchter, die nur ab und zu auf Besuch kommen, liegen im Tiefgeschoß mit Blick auf eine Betonwand. Eine Rampe hebt ein dreieckiges Stück aus dem Boden des Hauptgeschoßes so in die Höhe, daß der vorprogrammierte Blick über die Terrasse empfindlich gestört wird. Die Störung gehört freilich zum Konzept: Erst was nicht funktioniert, wird lebendig.

Das Haus in Bordeaux - das jüngste in der gezeigten Serie - hat eine besondere Geschichte. Nachdem Koolhaas den Auftrag bereits erhalten hatte, erlitt der Auftraggeber einen schweren Unfall und ist seither auf den Rollstuhl angewiesen. Er wollte nun nicht mehr - wie zuvor - ein sehr einfaches Haus, sondern im Gegenteil ein sehr komplexes: Es werde schließlich seine Welt sein. Koolhaas hat ein Haus auf drei Ebenen entworfen: eine Zufahrtsebene mit höhlenartigen Räumen, darüber eine verglaste Plattform, über der ein schwerer Block aus Beton mit kreisrunden Fensterlöchern schwebt. Verbunden sind diese Ebenen durch eine Wendeltreppe und einen Lift mit einer Gundfläche von 3 mal 3,5 Metern - das Arbeitszimmer des Bauherrn, das an einer Bücherwand entlangfährt und an alle anderen Ebenen des Hauses niveaugleich andocken kann.

Mit diesem Haus hat sich Koolhaas am weitesten von den ruhigen Kuben Mies van der Rohes und dessen Definition, Baukunst beginne mit dem sorgfältigen Zusammenfügen zweier Ziegelsteine, entfernt. Das Haus ist ein unglaublicher konstruktiver Gewaltakt, die pure Lust am Überspielen aller statischen Regeln. Der Betonblock liegt auf drei Punkten auf und ist zusätzlich von einem Stahlträger abgehängt, der aber seinerseits über dem Gebäude zu schweben scheint.

Das Material zu diesen Einfamilienhäusern und zu der verdichteten Gruppe von 24 Wohneinheiten im japanischen Fukuoka ist in der Ausstellung, die vom Architekturzentrum Arc en Rˆve in Bordeaux übernommen wurde, nach den unterschiedlichen Präsentationsformen geordnet. In einem Raum finden sich alle Modelle, im nächsten Raum alle Pläne, im dritten großformatige Photos und Videos zu einigen der Bauten. Im letzten Raum schließlich gibt es den Übergang zum zweiten Thema der Ausstellung, dem Lesen. Hier sind die Wände tapeziert mit Seiten des 1995 erschienenen Buchs „S,M,L,XL“ von Rem Koolhaas und Bruce Mau, dessen graphische Gestaltung wesentlich zum Erfolg des Buches beigetragen hat. Mau ist anschließend ein eigener Raum mit seinen Arbeiten für ZONE Books gewidmet.

Die großen und ganz großen Projekte hätten, so schreibt Koolhaas in „S,M,L,XL“, seine Architekturauffassung radikal verändert. Trotzdem erweisen sich die kleinen Wohnbauten als unabdingbare Experimentierfelder einer Architektur, die sich unter härtesten Bedingungen immer noch als Baukunst begreifen will. Wer an dieser exotischen und vom Aussterben bedrohten Disziplin Interesse hat, dem sei die Ausstellung wärmstens empfohlen.

Spectrum, Sa., 1998.09.26

25. Juli 1998Christian Kühn
Spectrum

Kunst oder Hülle?

An welchen Kriterien ist „Fortschritt“ in der Architektur zu messen? An neuen Bautechniken? Am Wohlbefinden der Nutzer? An Form oder Funktion? Mit seinen Wohnbauten in Judenburg versucht Hubert Rieß eine ganzheitliche Antwort

An welchen Kriterien ist „Fortschritt“ in der Architektur zu messen? An neuen Bautechniken? Am Wohlbefinden der Nutzer? An Form oder Funktion? Mit seinen Wohnbauten in Judenburg versucht Hubert Rieß eine ganzheitliche Antwort

Einheitlicher Wohnungstyp: drei Zimmer und eine große Wohnküche auf 65 Quadratmetern. Hubert Rieß' Wohnbauten in Judenburg, Steiermark. Photos: Fabijanic Wenn wir in der Architektur von Fortschritt reden, dann unterscheidet sich dieser Begriff deutlich von dem, was man in den Natur- oder Ingenieurwissenschaften unter Fortschritt versteht. Eine Maschine übertrifft ihre Vorgänger, eine Erkenntnis setzt eine andere außer Kraft - aber ist ein Haus von heute einem Haus des Jahres 1850 überlegen? Natürlich haben wir heute bessere Heizungen und dichtere Fenster, aber das sind technische Errungenschaften, die sich ohne größere Probleme ins Haus des Jahres 1850 einbauen lassen. Auch die Übereinstimmung von Form und Funktion kann kein Argument sein: Oft genug finden sich neue Funktionen gut in alten Gebäuden zurecht.

Vieles spricht dafür, den Fortschritt in der Architektur an anderen Kriterien zu messen als jenen von Maschinen oder Werkzeugen. Man kann argumentieren, daß Häuser auch Kunstwerke sein können und sich ihren Rang ganz anders erkämpfen müssen. Aber unabhängig davon sind Häuser jedenfalls mehr Schutzzeug als Werkzeug, eine besondere Art der Hülle, die dem Bedürfnis nach Geborgenheit eine materielle Form gibt und daher eher zum Konservativen tendiert. Der Anteil der Menschen, die ihr Haus genauso fortschrittlich gestaltet haben wollen wie ihr Auto, hat in den letzten 50 Jahren sicher geschwankt - die überwiegende Mehrheit parkt in ihren Träumen aber allemal den Porsche vor dem französischen Landhaus.

Kann in der Architektur also Fortschritt nur gegen den Willen der Mehrheit passieren? Das wäre denn doch eine zu einfache Einteilung der Welt in böse Verhinderer und avantgardistische Gestalter, die sich heroische Gefechte um die gute Form liefern. Dieses Spiel haben die Architekten lange genug gespielt und ihr Selbstverständnis daraus gewonnen, aber es ist heute hoffnungslos überholt. Das Bemühen um architektonische Qualität darf nicht auf der Ebene der guten Form ansetzen, sondern muß den Gesamtprozeß der Bauproduktion umfassen. Wenn Auftraggeber und Benutzer spüren, daß sie es nicht mit einem Hüllen-Designer, sondern wirklich mit einem Architekten zu tun haben, dann werden sie ihm auch auf riskanteres Gelände folgen. Avantgarde im klassischen Sinn wird dann zwar nicht entstehen, aber vielleicht doch so etwas wie Fortschritt.

Wozu diese lange Vorbemerkung? Der Wohnbau, den Hubert Rieß für die WAG in Judenburg errichtet hat, ist ein Beispiel für diese unspektakuläre Art von Fortschritt. Zwei schmale Zeilen, nord-süd-orientiert, mit konventionellen Treppenhäusern, die pro Geschoß zwei Wohnungen erschließen. Was auffällt, ist die offene Erdgeschoßzone aus Stahlbeton, in der sich keine Wohnungen, sondern nur verglaste Gemeinschaftsräume und Abstellräume befinden. Die drei Stockwerke darüber sind holzverkleidet. Vor der Fassade hängen an einer Stahlkonstruktion Balkone mit gläsernen Brüstungen; mit einer ähnlichen Konstruktion sind auch die Treppen vor Wind und Regen geschützt.

Bemerkenswert ist an diesem Gebäude vieles, was nicht sichtbar ist: Die drei oberen Stockwerke sind nicht nur mit Holz verkleidet, sondern aus Großtafeln in Holzkonstruktion zusammengesetzt, die in der Fabrik vorgefertigt wurden. Die Decken sind Brettstapeldecken, also massive Decken aus dicht aneinandergesetzten Brettern, die hier in Kombination mit einem Estrich Schalldämmwerte ergeben, die die vorgeschriebenen Normen weit übertreffen. Die Treppen sind massive Eichentreppen, die ebenfalls in der Fabrik gefertigt und dann in wenigen Stunden per Kran versetzt wurden.

Der Bau von mehrgeschoßigen Holzwohnhäusern hat sich in den letzten Jahren so weit entwickelt, daß jede Assoziation zur zugigen und unwohnlichen Baracke verschwunden ist. Hubert Rieß hatte mit diesem Thema erstmals in Bayern zu tun, wo er 1992 zu einem Wettbewerb für „Mietwohnungen in Holzsystembauweise“ geladen war. Die bayrische oberste Baubehörde verfolgte mit diesem Projekt zwei Ziele: erstens die Holzindustrie zu fördern und zweitens kostengünstigen Wohnraum für Aussiedler zu schaffen. In einem von der Baubehörde selbst geplanten Prototypen war es gelungen, die Baukosten um ein Drittel zu senken, freilich unter Qualitätseinbußen, etwa beim Schallschutz. Für den Wettbewerb wurde daher ein Ziel von 1700 Mark (12.000 Schilling, 863 Euro) vorgegeben.

In Schwabach bei Nürnberg konnte Hubert Rieß seinen ersten reinen Holzbau unter diesen Bedingungen realisieren. Als Experiment war der Bau ein Erfolg, aber es war klar, daß ein Qualitätssprung notwendig sein würde, um neben den konventionellen Baumethoden bestehen zu können. Auf der technischen Ebene stellte die Vorfertigung eine Reihe von Koordinationsproblemen, und viele Einsparungen waren durch logistische Probleme im Ausbau wieder verschenkt worden. Ästhetisch galt es, das Billig-Image, das dem Prototypen noch anhaftete, loszuwerden. Das hieß nicht zuletzt, die Möglichkeiten, die sich aus der Fertigung in der Fabrik ergaben, auch auszunutzen.

Am Wohnbau in Judenburg, der das jüngste in der Reihe von ähnlichen Projekten ist, die Rieß seit Schwabach realisiert hat, erkennt man, was das bedeutet. Eine über vier Geschoße führende, massive Eichentreppe ist für den sozialen Wohnbau eine außergewöhnliche Bereicherung: Die weichen Oberflächen und der Geruch des Holzes erzeugen eine Stimmung, in der man seine Nachbarn einfach eine Spur freundlicher grüßen muß. Die zarte Stahlkonstruktion, von der die Balkone und die Glaswände vor den Treppenhäusern getragen werden, steht im spannungsvollen Kontrast zu den Holzoberflächen und trägt zusätzlich zum eleganten Charakter bei.

Die Wohnungen selbst sind bis auf wenige Ausnahmen 65 Quadratmeter groß und bieten auf dieser Fläche drei Zimmer und eine große Wohnküche an. Das klingt eher spartanisch, aber durch den großen Balkon und die Möglichkeit des Durchblicks über die Tiefe der Wohnung kommt kein Gefühl der Enge auf. Auch der Verzicht auf das im sozialen Wohnbau übliche Angebot mehrerer Typen hat sich bewährt. Für die meisten Singles sind 65 Quadratmeter durchaus finanzierbar, während viele Familien froh sind, auf etwas engerem Raum mit weniger finanzieller Belastung zu leben. Die Sozial- und Altersstruktur in den Häusern ist daher eher besser als in Beispielen mit scheinbar „maßgeschneidertem“ Typenangebot.

Wo steckt in diesem Bau nun der versprochene Fortschritt? Ein wesentlicher Punkt ist die Art, wie Hubert Rieß sich den geänderten ökonomischen Rahmenbedingungen des Bauens gestellt hat. Nach seinen Arbeiten in Bayern, die noch alle unter eher experimentellen Vorzeichen standen, wollte er hier den Holzsystembau in die Normalität des Bauens hineinholen. Das Motiv, unbedingt billiger sein zu müssen als der Massivbau, hat ihn dabei nicht mehr interessiert. Der Bau ist nicht teurer, aber auch nicht billiger als das, was im sozialen Wohnbau heute als vertretbar gilt: Die Kosten lagen (ohne Baugrundanteil) bei 16.500 Schilling (1187 Euro) pro Quadratmeter inklusive Honorare und Mehrwertsteuer.

Der Unterschied liegt in der Qualität. Man braucht sich nur im geförderten Wohnbau der letzten Jahre umzusehen: Der Versuch, die Kosten zu senken, hat nicht zu Innovationen, sondern zu immer primitiveren Lösungen und höheren Dichten geführt. Was hier in Judenburg zu denselben Kosten an Wohnqualität geboten wird, ist jedenfalls außerordentlich.

Voraussetzung dafür ist die Kooperation zwischen Planern und Ausführenden im Rahmen einer industriellen Bauproduktion, die sich nicht auf Bauteile beschränkt, sondern den Gesamtprozeß des Bauens mit einbezieht. Die Bauteilindustrie hat ja mit der sonstigen industriellen Entwicklung zumindest annähernd Schritt gehalten: Es gibt immer bessere Gläser, leistungsfähigere Verbindungen und Dämmstoffe. Zusammengebaut wird all das aber überwiegend mit rückständigen Methoden, die in erster Linie auf billiger Arbeitskraft basieren.

Es scheint den Baustoff Holz gebraucht zu haben, um die Systembauweise von ihrem schlechten Ruf zu befreien. Daß die Zukunft des Bauens in der Verlagerung von immer mehr Arbeiten von der Baustelle in die Fabrikshalle liegt, scheint offensichtlich. Profitieren kann davon nicht nur die Industrie: Vorfertigung bedeutet höherwertige Arbeitsplätze unter besseren Bedingungen, mehr Forschung und Entwicklung und für die Architekten - wenn sie bereit sind, sich in die Produktionsverfahren offensiv einzumischen - einen größeren Spielraum unter knappen Budgets. Die nächste Avantgarde wird sich in diesem Kontext bewähren müssen.

Spectrum, Sa., 1998.07.25



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Holzwohnbau

13. Juni 1998Christian Kühn
Spectrum

Die unheilbare Hauskrankheit

Von den Lebensentwürfen der Nachkriegsfamilie bis hin zum regionalistischen Barock der Gegenwart: Österreichs „Häuslbauer“ stehen im Mittelpunkt einer Ausstellung im Architekturzentrum Wien. Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen und seiner Präsentation.

Von den Lebensentwürfen der Nachkriegsfamilie bis hin zum regionalistischen Barock der Gegenwart: Österreichs „Häuslbauer“ stehen im Mittelpunkt einer Ausstellung im Architekturzentrum Wien. Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen und seiner Präsentation.

Architektur ohne Architekten: dieses Thema hat die Moderne immer schon fasziniert. In ihren Anfängen, als sich die moderne Architektur vom akademischen Geist und seinen Stilen lösen wollte, galten die Ingenieure und ihr formal unbelasteter Funktionalismus als vorbildlich. Später, nachdem der Funktionalismus in den sechziger Jahren definitiv in die Krise gekommen war, war es die anonyme Architektur, an deren Produkten man den verlorenen Zusammenhang von geistiger und materieller Welt neu zu erlernen hoffte. Die Häuser der Primitiven oder das bäuerliche Wohn- und Wirtschaftsensemble der alpinen Tradition wurden zu Leitbildern eines besseren Lebens.

Das Häuslbauerhaus, obwohl ebenfalls ohne Architekt erbaut, erschien vor diesem Hintergrund nur als Symptom einer kranken Gesellschaft, als Ausdruck der freiwilligen Unterwerfung von Lebensentwürfen unter die Regie der Leistungsgesellschaft. In diesen stereotypen Gebäuden konnte sich das beschädigte Leben ungebremst in Szene setzen. Wenn die Häuslbauer ins Blickfeld der Architekten und Raumplaner gerieten, dann folgerichtig als Objekte reformatorischer Belehrung zum Besseren: Verschont die Landschaftsräume von ausufernder Bebauung, baut dichtere Siedlungen, verzichtet auf die Gartenzwerge und baut regionalistisch (aber bitte im Sinn eines kritischen Regionalismus)!

An der Liebe der Österreicher zum Einfamilienhaus hat all das nichts geändert. Nach einer Studie der Bausparkassen aus dem Jahr 1997 ist das Einfamilienhaus für 73 Prozent der Wohnraumsuchenden „die grundsätzlich beste Art des Wohnens“. Und der Traum geht offenbar in Erfüllung: Gab es 1971 nur 578.000 Einfamilienhäuser in Österreich, waren es 1991 bereits 967.000. Der Häuslbauer bedient sich dabei immer öfter des industriell vorgefertigten Hauses: Der Marktanteil der Fertighäuser steigt stetig und liegt derzeit bei 28 Prozent.

Das Architekturzentrum Wien hat sich dieses Themas bereits im vergangenen Jahr angenommen, mit einer Ausstellung über Standardhäuser, in der die Standardisierungsideen der Moderne dem realen Fertighaus der neunziger Jahre gegenübergestellt wurden - eine ernüchternde Bilanz. Nun ist im AZW der zweite Teil der Ausstellung zu besuchen, der sich allgemein mit den Häuslbauern befaßt. Grundlage der Ausstellung ist ein noch in den achtziger Jahren unter der Federführung von Dietmar Steiner, dem Leiter des AZW, begonnenes Forschungsprojekt über „Architektonische und soziokulturelle Leitbilder von Eigenheimen der Nachkriegszeit“.

Dietmar Steiner ist bekanntlich ein ungebremster Postmoderner. Für den missionarischen Eifer der Raumplaner und Architekten gegen die Zersiedlung hat er nur milden Spott übrig. „Seit den sechziger Jahren“, so heißt es im Katalog, „mahlen die Gebetsmühlen der Architekten und Raumplaner die Apokalypse der Zersiedelung und Landschaftszerstörung, des Flächenfraßes, der Bodenversiegelung, des Mobilitätskollaps.“

Die Wirklichkeit sieht nach Steiner anders aus: noch immer gebe es genug Landschaft, genug Flächen, Mobilität sei genug vorhanden. Der Wunsch nach einem Einfamilienhaus sollte daher endlich als „eine nicht veränderbare mehrheitsfähige Konstante“ akzeptiert werden. Schließlich habe sich verdichtetes Siedeln längst als Ersatzhandlung für eine kleine Zielgruppe erwiesen. Vielleicht sei das Einfamilienhaus doch das richtige Modell für ein Leben im dispersen „urban sprawl“, der über kurz oder lang auch Europa überziehen werde.

Ein großräumiger Landschaftspark mit Einfamilienhäusern auf minimalen Grundstücken im Umkreis von 100 Kilometern um jedes Nebenzentrum, angereichert mit Themensiedlungen und touristisch optimierten Nutzflächen im weiteren Umkreis - das sei die Vision für die Jahrtausendwende. Disneyfizierung und Landschaftspflege würden schließlich zur totalen Urbanisierung führen.

Die Ausstellung will das Phänomen des Häuslbauens als Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte darstellen, unter bewußter Ausklammerung architekturtheoretischer Positionen, deren Instrumente für ein Verständnis völlig untauglich seien.

Das Bauen als Festigung von Identität, als oftmals skurriler, aber letztlich liebenswerter Lebenssinn - das soll der Besucher vornehmlich vermittelt bekommen. Da gibt es eine Pyramide aus Einfamilienhausmodellen, von einem Beamten in jahrelanger Arbeit gebastelt: Träume einer besseren, vor allem übersichtlicheren Welt.

In einer Vitrine liegen Ausgaben von Wüstenrot-Zeitschriften, nach Jahrgängen von den fünfziger Jahren bis heute geordnet: komplette Lebensentwürfe für die Nachkriegsfamilie („Das Haus eines tapferen Herzens“ für den Heimkehrer) bis hin zum regionalistischen Barock. Der einfache, von den Siedlungshäusern der Zwischenkriegszeit beeinflußte Grundriß mit nutzungsneutralen Räumen wird immer funktionalistischer und hängt sich schließlich ein alpinens Mäntelchen um.

Mit steigendem Einkommen finden sich im Lauf der Zeit in der Zeitschrift auch „Architektenhäuser“ und zuletzt immer mehr Fertighäuser, schließlich ist die Industrie ein wichtiger Inserent. Die immer wieder in Umfragen ermittelten Geschmacksvorlieben der Häuslbauer dürften zu einem guten Teil selbst erzeugt sein: Die Auflage des „Wüstenrot Heims“ geht in die Hunderttausende, und wer als Sparer jahrelang mit den entsprechenden Bildern versorgt wurde, weiß schließlich, was er zu wollen hat. Nur sein zweites materielles Lebensziel, das Auto, mag er dann doch wieder modern.

Gezeigt wird auch ein Computerprogramm zur Planung des individuellen Hausgrundrisses, wie es heute beispielsweise Lagerhäuser anbieten. 1,2 Millionen Variationen, Planung gratis, wenn das Material beim Anbieter gekauft wird. Schon immer hat der Häuslbauer den Plan lieber um ein paar hundert Schilling im Pfusch beim Ingenieur gekauft als beim Architekten - es sollte ja sein Haus werden. Der entpersonalisierte Plan aus der Maschine mit abgeglichener Materialliste ist der endgültige Sieg der Bau- und Bauteilindustrie über die Spezies der Planer.

Die Epochen, in die laut Steiner die Häuslbauer-Geschichte seit 1945 zerfällt, werden in der Ausstellung in fünf Kojen vorgestellt. Nach den spartanischen Fünzigern die Phase der „Mobilität von Caorle nach Amerika“; der Ölschock und der „Eternit-Hut“ der siebziger Jahre; zeitgleich das Erwachen eines Traditionsbewußtseins, das sich in der darauffolgenden Phase der achtziger Jahre im Touristischen erschöpft; schließlich in den neunziger Jahren das Haus als „Ware in einer künstlichen Landschaft“. In der letzten Koje werden wir mit der oben skizzierten Entwicklung bekanntgemacht: Themensiedlungen, Disney und Landschaftspflege.

In dieser Zeitreihe finden sich auch Interviews mit Häuslbauern, die großteils während einer „Heimreise“ aufgenommen wurden, einer Aktion, die von Steiner quasi als Ausweg aus einer Sackgasse des Forschungsprojekts erklärt wird. Wie kommt man direkt an ein Untersuchungsphänomen heran, das sich aus der Distanz nie so recht fassen lassen will?

Eine fünftägige Busreise, an der Architekten, Journalisten und Kritiker teilnahmen, führte durch Häuslbauer-Landschaften von Niederösterreich bis Vorarlberg. Im Katalog sind Ausschnitte aus den Gesprächen mit Bauherren abgedruckt, aus denen deutlich wird, daß die Selbstbestätigung durch eigene Leistung dem Häuslbauer wichtiger ist als die Qualität des Produkts.

Hier werden auch die pathologischen Seiten des Häuslbauens deutlich: die Belastung der Familien durch die „Hauskrankheit“; die wahren Kosten des Häuslbauens, das eine teure Wohnform ist und de facto einen Doppelverdienerhaushalt voraussetzt, wenn nicht ein Großteil der Einkünfte ins Bauen fließen soll; die Folgen der Zersiedelung, die kein primär ästhetisches Problem ist, sondern ein ökologisches und kulturelles.

In der Ausstellung verschwinden diese Aspekte hinter einer scheinbar neutralen, an den Oberflächen der Gebäude und Personen verbleibenden Zugangsweise. Der Gag, eine zwangsläufige Entwicklung einer Baukultur in Richtung Disneyland zu illustrieren, trägt das Unternehmen jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Genau aus dieser Intention bleiben Aspekte ausgeblendet, die zum Verständnis der Entwicklungsoptionen wichtig wären. Warum fehlt in der Ausstellung die Vorarlberger Architekturlandschaft, wo tatsächlich Strategien gefunden wurden, um das Auseinanderfallen von Architekturkultur und Häuslbauerkultur aufzuhalten?

Gerade am Beispiel Vorarlbergs hätte sich zeigen lassen, daß architektonische Beiträge zu einer höchst ökonomischen Bauweise existieren und auch angenommen werden. Am Beispiel Vorarlbergs hätte sich auch einiges über Energiepolitik im Bauwesen sagen lassen - aber das hätte wohl nicht in die postmoderne Doktrin gepaßt, daß sich große Systeme längst nicht mehr gestalten ließen. Ausgeblendet bleibt auch der Einfluß zwischen Architektur und Häuslbauen, der ja in beide Richtungen zu finden wäre.

So bleibt unklar, was das eigentliche Ziel der Ausstellung ist. Die Vision einer Marginalisierung der Architektur im zukünftigen Disneyland Österreich ist ein Szenario, an dem zynische Gemüter Gefallen finden werden. Es ist aber sicher keines, zu dem es nicht eine Alternative gäbe.

Spectrum, Sa., 1998.06.13

02. Mai 1998Christian Kühn
Spectrum

Der schöne Name „Arche“

Die räumliche Umsetztung eines zeitgemäßen Verständnisses von Gemeinde: Nichts weniger ist Christoph Thetter mit dem evangelischen Pfarrzentrum am Leberberg in Wien Simmering gelungen.

Die räumliche Umsetztung eines zeitgemäßen Verständnisses von Gemeinde: Nichts weniger ist Christoph Thetter mit dem evangelischen Pfarrzentrum am Leberberg in Wien Simmering gelungen.

Auf der grünen Wiese Stadtplanung betreiben zu dürfen hat nichts von seiner Faszination verloren. Am Anfang stehen alle Möglichkeiten offen: Gemüsefelder, ein paar Straßen, Gstetten und Glashäuser. Dann kommen die Zahlen: Bodenpreise, Bebauungsdichte, Verkehrsströme. Je größer das Areal, desto größer die Chance, mit diesen Parametern zu spielen, Kontraste zu schaffen, Ruhe und Bewegung gegeneinander zu setzen, weite Grünräume und dicht bebaute Zonen. Die Zahlen verwandeln sich in städtischen Raum, der im glücklichsten Fall, wie es Le Corbusier einmal ausgedrückt hat, „als Quelle der Poesie unseren Geist aktiviert“.

Auch die Wiener Stadterweiterungsgebiete der letzten zehn Jahre aktivieren den Geist, allerdings nicht als Quelle der Poesie, sondern als Quelle der Enttäuschung über vergebene Chancen. An der nötigen Dimension hätte es nicht gefehlt, auch nicht an diskussionsfreudigen Beiräten und wohlmeinenden Konzepten. Aber letztlich hat sich die Mentalität der Liegenschaftsverwerter durchgesetzt und die Stadtplanung marginalisiert. Wo Zusammenhänge zu schaffen gewesen wären, steht Stückwerk in der Landschaft herum; wo es um die Konzentration auf die Übergangs- und Zwischenbereiche gegangen wäre, dominieren banale urbane Figuren, zwischen denen sich ungelöste Restflächen auftun.

Ein Musterbeispiel für diesen Verlust städtebaulicher Kultur ist der Leberberg in Wien-Simmering. Hier hat man auf ein konservatives, den klassischen Stadtraum scheinbar wiederbelebendes Konzept gesetzt: ein annähernd halbkreisförmiger Park in der Mitte, darum herum eine Art Ringstraße mit bis zu siebengeschoßiger Bebauung. In natura bleibt die klassische Figur eine oberflächliche Geste: trotz großer Dichte entsteht kein klar konturierter Stadtraum, vor allem deshalb, weil die Beziehung zwischen Stadtgrundriß und Bautypologie nicht stimmt. Die Wohnhäuser selbst sind - mit wenigen ambitionierten Ausnahmen - modifizierte Zeilenbauten, die von der Banalität ihrer Grundrisse durch grelle Farben und ornamentale Details ablenken wollen.

In einem solchen Kontext einen Sakralbau zu errichten ist eine besonders heikle Aufgabe. Weder in der Baumasse noch in der Höhe kann eine Pfarrkirche hier mit der Umgebung konkurrieren: Entscheidend ist die richtige Situierung. Ursprünglich wäre am Leberberg die zentrale Lage am Park dafür vorgesehen gewesen. Dort steht jetzt die Volks- und Hauptschule: ein kühler, sehr eleganter Bau der Architekten Henke und Schreieck. Der Standort für die evangelische und die katholische Kirche wurde aus der Achse versetzt und nimmt nun annähernd die Fläche eines jener Baublocks ein, von denen die Ringstraße gesäumt ist. Vom Park getrennt ist das Areal durch eine Erschließungsstraße und die Trasse der Straßenbahn. Im Osten anschließend entsteht gerade ein großes Einkaufszentrum.

Funktionell ist dieses Ensemble durchaus legitim: Es liegt in der Mitte der Siedlung, die öffentlichen Bauten reihen sich entlang der inneren Erschließungsstraße auf. Räumlich ist die Lösung allerdings vollständig entgleist, ein ungeordnetes Nebeneinander von Formen, die aufeinander keinerlei Rücksicht nehmen. - Natürlich kann man das städtebauliche Konzept dafür nicht allein verantwortlich machen. Das Denken in größeren räumlichen Zusammenhängen wird von den Bauträgern kaum je als ein Wert erkannt.

Auch beim Wettbewerb für die katholische Kirche hatte das in dieser Hinsicht überzeugendere Projekt keine Chance. Der Entwurf des Ateliers in der Schönbrunner Straße sah vor, zwischen katholischer und evangelischer Kirche einen öffentlichen Platz aufzuspannen und den zusätzlichen Nutzungen für Kindergärten und Pfarrerwohnungen eigene, intimere Freibereiche zuzuordnen. Das bauliche Konzept für die Kirche nahm das Papst-Wort von der Kirche als „gläsernem Haus“ zum Anlaß, den Kirchenraum in eine Glashaut einzukleiden, hinter der es aber durchaus eine Folge von Abschirmungen gegeben hätte, ohne die ein Sakralraum nicht funktionieren kann.

Ob es nun an der Idee der Transparenz an sich lag oder an der schlichten kubischen Form der Kirche: Das Projekt wurde von Kardinal Groer entgegen dem Vorschlag der Jury abgelehnt. Zur Ausführung kam der Entwurf des Dombaumeisters von St. Stephan, Wolfgang Zehetners, bei dem sich drei Baugruppen ängstlich um einen ovalen Platz zusammendrängen und der Außenwelt den Rücken kehren. Walter Michl und Walter Zschokke, die das Projekt für die Ausführung zu überarbeiten hatten, haben viele Details verbessert, an dem in jeder Hinsicht kleinlichen, angesichts des Kontexts geradezu absurden Grundkonzept konnten sie aber nicht rütteln.

Das evangelische Gemeindezentrum mit dem schönen Namen „Arche“ zeigt nebenan jedenfalls einen weit schlüssigeren Ansatz, mit den widrigen städtebaulichen Umständen fertig zu werden. Geplant wurde es von Christoph Thetter, der als Mitglied des Ateliers in der Schönbrunner Straße schon am Projekt für die katholische Kirche beteiligt war. Er hat alle Teile des Pfarrzentrums - die Kirche, den Kindergarten und die Pfarrerwohnung - in eine langgestreckte Großform mit Innenhöfen und überdeckten Laubengängen zusammengefaßt. Das Kirchenschiff erhebt sich als lärchenholzverkleideter Kubus von zwölf mal zwölf mal zwölf Metern aus einem hell verputzten Sockel von Nebengebäuden. Bis zur Höhe von 2,5 Metern ist der Kirchenraum rundum verglast, der Luftraum darüber wird von einem umlaufenden Oberlicht erhellt.

Proportionen und Details sind stimmig, die Atmosphäre ist leicht und freundlich - im Umfeld der plumpen Wohnbebauung rundum tatsächlich eine Oase. Man kann sich gut vorstellen, daß ein solches Hofkonzept in einem größeren Maßstab imstande gewesen wäre, auch in der Simmeringer Heide einen sakralen, ganz besonderen Ort entstehen zu lassen.

Zur Definition eines solchen Orts ist das Gemeindezentrum, wie es jetzt in seinem Umfeld steht, aber doch um eine Nummer zu klein. Auf den Photos, die geschickt die Umgebung ausblenden, wird das nicht so deutlich spürbar. Im Überblick wirken aber selbst die gut proportionierten Baumassen der evangelischen Kirche kaum weniger verloren als jene der katholischen. Die geringe Dimension wirkt sich auch auf die Qualität der Höfe aus, die hier in ihrer achsialen Anordnung mit Wasserbecken und im Raster gesetzten Bäumen schematisch und nicht wirklich brauchbar wirken.

Daß ein Hofkonzept auf so engem Raum anderen Spielregeln gehorchen muß, hat Roland Rainer in einer Kirche vorgeführt, die zu den besten Beispielen eines zeitgenössischen Sakralbaus in Wien gehört, der evangelischen Kirche in der Braunhubergasse aus dem Jahr 1962. Es ist kein Zufall, daß sich Themen dieser Kirche am Leberberg wiederfinden: Es handelt sich um dieselbe Gemeinde, und einige Mitglieder des Baukomitees für den Leberberg waren schon damals beteiligt.

Vergleicht man die beiden Kirchen, fällt vor allem auf, daß Rainer die Wege in der Anlage wesentlich präziser gefaßt hat. Während es am Leberberg mehrere gleichwertige Eingänge gibt, hat Rainer den Haupteingang deutlich markiert und inszeniert von dort aus in einer spiralförmigen Bewegung die Annäherung in den Kirchenraum. Statt die Räume an einer Hauptachse aufzureihen, ordnet er sie rund um den Innenhof an und gibt der Anlage damit eine Dynamik, die den kleinen Maßstab vergessen macht.

Daß die spezifische Spielart der Moderne, wie sie Rainer repräsentiert, eine elementare Kraft hat, die heute noch beeindruckt, hat viele Gründe. Sie war sicher weniger schematisch und weniger ins elegante technische Detail verliebt, und sie hat ganz allgemein mehr riskiert. Die neue Kirche am Leberberg ist technisch perfekter, ihre Formensprache ist durch viele Destillationsvorgänge seit den sechziger Jahren gereinigt, aber sie hat damit auch an Atmosphäre verloren. Bei Rainer merkt man dagegen, daß er sich einer Tradition verbunden fühlt, die er in vielen Studien zum Thema Hofhaus und Garten in verschiedensten Kulturkreisen untersucht hat.

Dieser Vergleich soll die Qualität der Kirche am Leberberg nicht schmälern. Sie gehört zum wenigen, das dort architektonisch eine Rolle spielt. Als räumliche Übersetzung einer zeitgemäßen Vorstellung von Gemeinde ist sie in ihrer Transparenz und der konsequenten Ausbildung des Kirchenschiffs als Zentralraum durchaus innovativ. Gegen ihr Umfeld und gegen das Unvermögen der Stadtplanung, sie an den richtigen Ort zu stellen, kann sie freilich nichts ausrichten.

Spectrum, Sa., 1998.05.02



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Evangelisches Gemeindezentrum „Arche“

11. April 1998Christian Kühn
Spectrum

Die Skulptur im Zaubergarten

Ein mit Aluminium verkleideter Dachausbau auf dem Stall eines alten Marchfelder Bauernhauses: zwanghafte Neigung zum Besonderen? Für die Architekten Bettina Götz und Richard Mahnal ist es schlicht und einfach eine zeitgemäße Lösung.

Ein mit Aluminium verkleideter Dachausbau auf dem Stall eines alten Marchfelder Bauernhauses: zwanghafte Neigung zum Besonderen? Für die Architekten Bettina Götz und Richard Mahnal ist es schlicht und einfach eine zeitgemäße Lösung.

Nichts ist für Architekten schwieriger, als ein einfaches Haus zu bauen. Die zwanghafte Neigung zum Besonderen ist einer der Vorwürfe, mit denen sich die Profession schon immer konfrontiert sah. Daß die meisten Architekten von sich behaupten, von diesem Zwang frei zu sein, löst das Problem nicht: Was für den einen die selbstverständlichste Sache der Welt ist, kann dem anderen als außergewöhnlich oder gar bizarr erscheinen. Ist die Frage der richtigen Form also doch nicht mehr als eine Geschmacksfrage?

Das jüngste Projekt von Bettina Götz und Richard Manahl, die zusammen unter dem Namen ARTEC firmieren, könnte Anlaß zu einer Diskussion dieses Problems geben. Auf das Wirtschaftsgebäude eines alten Bauernhofes im Marchfeld, bei Raasdorf gelegen, haben sie ein neues Dach gesetzt, eine leichte, in Aluminium verkleidete Holzkonstruktion, die sich in Form und Material deutlich vom Bestand abhebt. Für ihr Projekt haben ARTEC letzten Monat den „Aluminium Architekturpreis“ zugesprochen bekommen, der von der Architektenkammer, der Architekturstiftung Österreich und dem Aluminiumfenster-Institut ausgelobt wird.

Was hat ein solches Objekt, wird sich mancher Betrachter fragen, in einem doch noch ländlichen Umfeld verloren? Wie paßt es zu einem traditionellen, über Generationen gewachsenen Bauernhof? Für die Architekten sind diese Fragen allesamt irrelevant: Sie sehen in ihrem Entwurf nicht den spektakulären Kontrast, sondern einfach eine zeitgemäße Lösung, die um nichts weniger selbstverständlich ist als der Bestand.

Dieser Behauptung nachzugehen ist umso interessanter, als der Bauernhof, den es hier umzubauen galt, zu jener Tradition des anonymen Bauens gehört, die in der modernen Architektur stets als vorbildlich hingestellt wurde. Zwar handelt es sich hier um kein herausragendes Beispiel, sondern um einen schlichten Hof, der bis in die fünfziger Jahre immer wieder ergänzt und erweitert wurde. Aber er besitzt doch großteils jene Qualitäten, die der anonymen Architektur immer zugeschrieben werden: unverkrampfte, beinahe natürliche Beziehung zwischen Funktion und Form, Angemessenheit der Mittel, Stimmigkeit im Ganzen und im Detail.

Daß es zu diesen Qualitäten keinen einfachen Weg zurück gibt, ist längst erwiesen: Alle Versuche, an die anonyme Tradition direkt anzuknüpfen, sind an den veränderten technologischen und gesellschaftlichen Bedingungen gescheitert und haben nur dazu geführt, daß diese Tradition heute fast vollständig im Kitsch ertränkt ist. Gerade Niederösterreich hat sich in dieser Hinsicht - unter dem Motto „Schön erhalten, schöner gestalten“ - einen traurigen Ruf erworben: Am liebsten hat man das Neue hierzulande immer noch als Steigerungsform des Alten.

Derartige Sentimentalitäten waren der Auftraggeberin, Zita Kern, im konkreten Fall fremd. Sie hatte beschlossen, ihr knappes Budget nicht in eine Generalsanierung zu investieren, sondern am Bestand nur die notwendigsten Erneuerungen durchzuführen und eine neue Heizung einzubauen, sich zugleich aber zwei langgehegte Wünsche zu erfüllen: ein großzügiges Bad und ein noch großzügigeres Studierzimmer. Weil für sie beide Dinge nicht als Steigerungsformen des Bestands, sondern nur als etwas ganz Neues denkbar waren, beschloß sie, sich nach namhaften Architekten für diese Aufgabe umzuhören - das sei für sie im übrigen eine Selbstverständlichkeit gewesen. Und so schwer sei ihr die Wahl unter den Architekten ihrer Generation schließlich auch nicht gefallen.

Die Randbedingungen für den Entwurf waren jedenfalls klar. Die Auftraggeberin versteht sich einerseits als Bäuerin und betreibt bis heute eine kleine Landwirtschaft. Sie züchtet Kräuter und hat in ihren besten Zeiten Wiener Restaurants mit 16 verschiedenen Sorten Basilikum beliefert. Zugleich befaßt sie sich mit Literaturwissenschaft und braucht einen eigenen Platz zum Lesen und Schreiben. Wer von ihr durch den alten Hof geführt wird, merkt bald, daß ihre Beziehung zu den Dingen alles andere als pragmatisch ist, daß sie alltägliche Gegenstände mit einer Zärtlichkeit berührt, als wären sie alte Freunde. Der vorsichtige und entspannte Umgang mit dem Alten macht aber offensichtlich Mut, notwendige Erneuerungen radikal anzugehen.

Es war klar, daß der Studierraum am besten auf dem Niveau des Dachgeschoßes untergebracht werden sollte: In der Ebene des Marchfelds sind drei Meter über Niveau schon ein Ausguck. Weil das Dach über dem ehemaligen Stall sowieso baufällig war, stellte sich die Frage nach einer neuen Konstruktion. ARTEC konzipierten - zusammen mit dem Statiker Oskar Graf - eine hölzerne Schale ohne aussteifende Diagonalen, die den Raum beeinträchtigt hätten. Die Form dieser mit Aluminiumblech verkleideten Hülle ergab sich aus geometrischen Operationen, die ARTEC schon bei früheren Projekten erprobt haben: versteckte Symmetrien und Verschiebungen, leichte Schrägen, an der Hofseite ein deutlicherer Knick, der dem Volumen hier etwas von seiner Masse nehmen soll und die Morgensonne vorbeiläßt. Die Metallhaut ist über die Treppe gezogen, die unter einer Schrägverglasung seitlich am Baukörper entlang führt. Hier zeigt der Knick in der Hülle seine zweite Funktion: Er lenkt die Bewegung um 180 Grad zurück zur vollständig verglasten Stirnwand des Studierzimmers. Nach Osten zu gibt es nur ein schmales liegendes Fenster, das die Morgensonne tief in den Raum läßt.

Von der verfügbaren Fläche über dem Altbau ist nur eine Hälfte ausgebaut, die andere bleibt frei als Terrasse zwischen dem Studierraum und der Giebelwand des benachbarten Dachs. Ein Oberlicht an der Nordseite der Terrasse bringt Licht hinunter in den zweiten geforderten Funktionsraum, das Badezimmer. Hier finden sich dieselben Materialien wie im ersten Stock: ein grüner Gummiboden und Pappelsperrholz, zusätzlich Aluminiumplatten an den Wänden. Die Beschränkung bei der Farb- und Materialwahl wirkt aber keineswegs spartanisch: Weil durch die leicht getönten Gläser Licht aus verschiedenen Richtungen auf die Oberflächen fällt, entstehen feine Farbnuancen und -überlagerungen. Auch die Außenflächen werden sich im Lauf der Jahre verändern: Die Aluminiumplatten sind nicht eloxiert und werden je nach Bewitterung eine dunklere Tönung bekommen.

Im kleinen Metallmodell, das ARTEC von ihrem Projekt gemacht haben, ist die skulpturale Qualität ihrer Lösung deutlich zu erkennen. Diese Qualität spielt sich aber nicht in den Vordergrund, sie verhilft nur einem Bauwerk zu guter Proportion und Massenwirkung. Am Sprung vom Modell zur Ausführung wird deutlich, wieviel Gedankenarbeit in kluge Detaillösungen investiert werden mußte, um dem Bau die präzisen Konturen zu erhalten, denen er seine skulpturale Wirkung verdankt.

Irgendwann wird das neue Dach genauso leicht bemoost und vertraut dastehen wie die alten Teile. Wird es dann auch die gleiche Qualität des Selbstverständlichen besitzen oder doch immer ein Kunstprodukt bleiben? In vielen Punkten ist der Unterschied zur anonymen Tradition gar nicht groß: Form und Funktion fügen sich unspektakulär zueinander, der Aufwand steht im richtigen Verhältnis zur Aufgabe, und es gibt sicher eine Stimmigkeit im Ganzen und im Detail.

In einem Punkt muß sich jede wirklich heutige Lösung aber von der anonymen Tradition unterscheiden: Jene Sicherheit, die im romantischen Bild einer besseren „Architektur ohne Architekten“ beschworen wird, kann sie nicht bieten. Sie bleibt riskant, weil es keine homogene Kultur mehr gibt, in der sie Stabilität gewinnen könnte. Das Bewußtsein dieses Risikos haben ARTEC einmal als eines ihrer Prinzipien benannt: Sie würden „das kraftvolle Scheitern der sicheren Bank vorziehen“.

Man sollte der verlorenen Sicherheit der anonymen Tradition trotzdem nicht allzusehr nachtrauern. Der größeren Gefahr des Scheiterns steht eine ungleich größere Bandbreite an Lösungsmöglichkeiten gegenüber: Die konzeptionellen Ansätze für gute Architektur sind heute so vielfältig, wie sie es wahrscheinlich nie zuvor waren. Daß gute Architektur so selten realisiert wird, ist ein kulturelles Problem: Wenn Architekturfragen einmal auf Geschmacksfragen reduziert sind, erübrigt sich die mühsame, kontinuierliche Diskussion um Qualität.

Bei ihrem Haus in Raasdorf hatten ARTEC das Glück, in ihrer Auftraggeberin einen Partner zu finden, der bereit war, sich ohne Vorurteile auf diese Diskussion einzulassen. Solche Bauherren findet man selten - vielleicht genauso selten wie Leute, die 16 Sorten Basilikum voneinander unterscheiden können.

Spectrum, Sa., 1998.04.11



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Raum Zita Kern - Zubau

07. Februar 1998Christian Kühn
Spectrum

Oasen in der Zwischenstadt

Stadtränder: dichte kommerzielle Zonen, deren dynamische Entwicklung sich scheinbar jeder Planung entzieht. Daß dabei nicht zwangsläufig ein urbaner Brei aus Industrie und Handelszentren entstehen muß, zeigen Bauten imSüden Wiens.

Stadtränder: dichte kommerzielle Zonen, deren dynamische Entwicklung sich scheinbar jeder Planung entzieht. Daß dabei nicht zwangsläufig ein urbaner Brei aus Industrie und Handelszentren entstehen muß, zeigen Bauten imSüden Wiens.

Den Stadtrand gibt es nicht mehr. Eine leidlich scharfe Grenze zwischen dicht bebauter Stadt und ländlichem Grün ist ja schon seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert kaum mehr zu finden, immer weniger kann man aber auch von einem fließenden Übergang sprechen. Die Dichte nimmt am Rand wieder zu: Außerhalb der Stadtgrenzen –längst ein rein juristischer und kein räumlicher Begriff – entstehen dichte kommerzielle Zonen.

Der deutsche Städteplaner Thomas Sieverts hat dieses Gebiet als Zwischenstadt bezeichnet: weder Stadt noch Land, ein Gemenge aus Industrie, Handel und Verkehrsflächen, dazwischen ein paar Wohngebiete und die Reste längst abgestorbener Ortschaften. Städtebau läßt sich hier mit den konventionellen Mitteln des Flächenwidmungs- und Bebauungsplans kaum mehr betreiben. Wer gewaltige Investitionsströme so kanalisieren möchte, daß nicht nur die Investoren profitieren, darf sich
nicht darauf beschränken, Linien aufs Papier zu ziehen.

Vösendorf und Wiener Neudorf etwa haben sich längst in einem urbanen Brei aus Industrie und großen Handelszentren aufgelöst, der ungebremst immer weitere Verkehrsströme an sich zieht. Daß es zu dieser Frage nach wie vor keine Regionalpolitik, sondern nur eine Wiener Stadt- und eine niederösterreichische Landespolitik gibt, ist nur eine Facette des Problems. Daß keine planerischen Strategien gefunden wurden, um aus einer dynamischen kommerziellen Entwicklung
mehr zu machen als ein amorphes Gemenge, ist eine andere.

Dabei könnte die Zwischenstadt ein Labor zur Erprobung unkonventioneller Strukturen sein. Beispiele dafür finden sich sogar im urbanen Brei im Süden Wiens: Etwas südlich dessen, was früher einmal der Ortskern von Wiener Neudorf war, hat die Grazer Metallbau-Firma Heidenbauer ihr Wiener Werk errichtet, einen klassischen Typus aus einer Produktionshalle und einem vorgelagerten Bauteil mit Büros, Garderoben und Wohnräumen für Wochenpendler, die aus Graz kommen und zur Montage auf Wiener Baustellen eingesetzt sind.

Das Atelier Domenig-Eisenköck hat den Auftrag, ein signifikantes, imagesteigerndes Objekt zu entwerfen, mit wenigen, aber starken Gesten umgesetzt: eine symmetrische Front mit zwei scheinbar schwebenden Metallkuben, der Spalt dazwischen überdeckt von einem weit auskragenden Glasdach. Eine asymmetrisch angesetzte Rampe bricht die Symmetrie und vermittelt Dynamik.

Diese Front hat die Qualität eines Logos, ganz ähnlich wie Karl Schwanzers Philips-Haus, das noch immer die Wiener Südeinfahrt beherrscht, auch wenn sich heute hinter ihm die peinlichen Hochhauskarikaturen des „Business Park Vienna“ erheben. Aber natürlich ist ein Logo noch keine Architektur, und so wie Schwanzers Bau erst durch seine konstruktiven und räumlichen Eigenheiten als Ganzes überzeugen kann, sind auch die Qualitäten des kleinen Industriebaus von Domenig-Eisenköck erst bei genauerer Untersuchung zu entdecken.

Ungewöhnlich ist die Durchdringung der einzelnen Stockwerke, dieausschließlich räumlich durchgespielt wurde, weil es funktionell keine Beziehung zwischen ihnen gibt. Das obere Stockwerk, in dem sich hinter der perforierten Metallfassade die Schlafräume für die Mitarbeiter befinden, wird von einem kleinen, mit matten Scheiben verglasten Lichtschacht durchdrungen, der im Erdgeschoß einen doppelt hohen, von weichem Licht durchfluteten Bereich entstehen läßt. Ein Glasboden leitet das Licht von hier weiter ins Untergeschoß, wo ein heller Vorbereich zu den Umkleideräumen und zur Sauna für
die Mitarbeiter entsteht.

Das gesamte Erdgeschoß des vorderen Traktes ist im wesentlichen eine große, verglaste Halle, in der es bis auf das Büro der Betriebsleitung keine abgeschlossenen Büroräume gibt. Der Besucher sieht rechter Hand den Sekretariatsbereich, links das Planungsbüro mit mehreren offenen Arbeitsplätzen und vor sich einen zentralen Besprechungsraum. Ein kurzer Stichgang stellt die Verbindung zur Werkshalle her.

Die Treppen in den Keller und in den ersten Stock haben die Architekten besonders akzentuiert. Die Werkshalle und der Vordertrakt sind genau um eine Treppenbreite auseinandergerückt, und in diesem glasgedeckten Spalt führen die Treppen hinunter zu den Garderoben beziehungsweise, zusätzlich über einen eigenen Eingang erschlossen, in den ersten
Stock.

Dort ist den Wohnräumen eine kleine, introvertierte Terrasse vorgelagert, auf der man im Sommer sitzen kann, ohne den Blick auf die umgebenden Bauten ertragen zu müssen. Sicher ist dieses Erschließungssystem aufwendiger als sonst im Industriebau üblich, aber es schafft klare Zuordnungen von Wegen und hat überdies einen räumlichen Reiz, der den Zusatzaufwand vertretbar erscheinen läßt.

Konstruktion und Material des Gebäudes ergaben sich aus dem Wunsch des Auftraggebers, hochwertige Metallverarbeitung von der Primärkonstruktion bis zum Ausbau vorzuführen. Der Stahlskelettbau ist überall klar durchgearbeitet, der Brandschutz nicht durch Verkleidungen, sondern durch einen Anstrich gesichert.

Die Oberflächen sind, abgesehen von den Glasflächen, innen und außen weitgehend aus Metall, wobei die unterschiedlichen Typen zu einer faszinierenden Lichtmodulation führen, die die „Kälte“ des Materials vergessen machen. Die durchgängige Edelstahlhülle der Werkshalle wird sich freilich aus Kostengründen wohl kaum als Standard im industriellen Hallenbau etablieren können.

Ein paar Autominuten weiter nördlich ist unter ganz anderen ökonomischen Bedingungen eine Halle entstanden, die ebenfalls zu den wenigen unkonventionellen Strukturen in diesem Gebiet zählt. Hier handelt es sich um keinen Industriebau, sondern um eine große Verkaufshalle. Die Firma Kastner & Öhler hat die Innsbrucker Architekten Heinz, Mathoi, Strehli und Orgler beauftragt, das Konzept für die neuen GigaSport-Märkte architektonisch umzusetzen. Die Märkte sollen dem Besucher den Eindruck einer großen Messehalle vermitteln, in der Produkte verschiedener Hersteller angeboten werden. Gefordert war also eine möglichst flexible Halle mit großen Stützweiten und guter natürlicher Belichtung.

Zusammen mit dem Vorarlberger Holzbauunternehmen Kaufmann und dem Tragwerksplaner Konrad Merz haben die Architekten eine Lösung entwickelt, die diese Kriterien erfüllt. Attraktiv wirkt das Ge-bäude vor allem durch eine schräg geneigte, völlig verglaste Front zum vorgelagerten Parkplatz, die den Blick bis tief ins Innere erlaubt.

Innen fällt die gute Belichtung durch die Shed-Dächer auf, und ein kurzer Blick nach oben zeigt eine unspektakuläre, aber äußerst präzise und schlank ausgeführte Holzkonstruktion. Die 2,5 Meter hohen Fachwerkträger erreichen eine Spannweite von 23 Metern. Um Volumen zu sparen, ist die Hallendecke unter die Träger gehängt, während die Shed-Dächer als aussteifende Sekundärkonstruktion über die Träger gestülpt sind – ein im Prinzip aus dem Stahlbau bekannter, äußerst ökonomischer Querschnitt.

Innovativ ist hier das Material: Es handelt sich nicht um konventionelle Leimbinder, sondern um Paralam, einen aus den USA importierten Holzwerkstoff, der aus langen verleimten Pappelholzfasern hergestellt wird. Dieses Material ist besser berechenbar und unter bestimmten Bedingungen um 50 bis 60 Prozent höher belastbar. Außerdem erlaubt es komplexe Holz-Holz-Verbindungen, die computergesteuert aus demMaterial gefräst werden können.

Das Zusammenspiel derartiger neuer Technologien war auch die Voraussetzung, um Holz überhaupt unter den extrem knappen Zeitvorgaben einsetzen zu können: Von der Auftragserteilung bis zur Übergabe der fertigen Halle vergingen keine zehn Monate. Daß ein derart
veredelter Holzwerkstoff trotz der hohen Transportkosten im Vergleich zur lokalen Konkurrenz bestehen kann, sollte der österreichischen Bauindustrie zu denken geben.

Überhaupt kann man die beiden Bauten als eine kleine Attacke auf die viel zu sehr auf den Massivbau beschränkte Wiener Baukultur interpretieren. Einen so effizient und elegant durchkonstruierten Holzbau wird man in Wien kaum mehr finden, und als Stahlbau fällt mir im Grunde nur Helmut Richters Schule am Kinkplatz ein – und an deren Stahlkonstruktion hat schließlich auch die Firma Heidenbauer mitgewirkt.

In der gestalterischen Wüste, von der die beiden Bauten um-Investoren geben sind, erscheinen sie als Oasen. Dennoch hätten sie in einem konventionellen urbanen Umfeld nie entstehen können. Es kann also gar nicht darumgehen, die Dynamik der Zwischenstadt planerisch „in den Griff“ zu bekommen und endlich wieder Ordnung zu schaffen. Niemand wird sich nach der Langeweile zurücksehnen, wie sie die benachbarte „Südstadt“ als ideale Stadterweiterung der Nachkriegszeit vorexerziert hat.

Ob es aber nicht doch Wege gibt, die aggressive Zusammenballung von Investitionen in weniger chaotische Bahnen zu lenken? Würden Planer und Politiker aktiv Szenarien für die Entwicklung der Zwischenstadt vorgeben, dann hätten deren Betreiber endlich einen kompetenten

Spectrum, Sa., 1998.02.07

10. Januar 1998Christian Kühn
Spectrum

Das, was sich nicht fassen läßt

Bühnenbildner, Ausstellungsgestalter, Bildhauer, Architekt: Friedrich Kiesler entzieht sich jeder Zuordnung. Das Wiener Historische Museum stellt diesen „Gesamtkünstler“ mit einer umfassenden Ausstellung vor. Eine Empfehlung.

Bühnenbildner, Ausstellungsgestalter, Bildhauer, Architekt: Friedrich Kiesler entzieht sich jeder Zuordnung. Das Wiener Historische Museum stellt diesen „Gesamtkünstler“ mit einer umfassenden Ausstellung vor. Eine Empfehlung.

Um mit dem Ende anzufangen: Friedrich Kiesler starb im Alter von 75 Jahren am 27. Dezember 1965 in New York. Bei seinem Begräbnis rollte Robert Rauschenberg einen Autoreifen durch das Kirchenschiff, stellte ihn in der Nähe des Sargs auf und bemalte ihn blau, gelb, grün, weiß und rot. E. E. Cummings hielt eine Rede, und das Juilliard-Streichquartett spielte Kompositionen von Mozart und Schönberg.

Geboren wurde Kiesler 1890 in Czernowitz, aufgewachsen ist er in Wien. Er studierte ein Jahr Architektur an der TU Wien, danach Malerei an der Akademie. Über Professionsgrenzen hat er sich stets hinweggesetzt, vielleicht mehr als jeder andere Künstler dieses Jahrhunderts. Kiesler war Bühnenbildner und Ausstellungsgestalter. Er war Maler, Architekt und Bildhauer, und er verstand sich zumindest in den dreißiger und vierziger Jahren auch als Vertreter einer neuen Wissenschaft der Gestaltung, die er als „Correalismus“ zu etablieren suchte.

Aber keine dieser Zuordnungen wird Kiesler wirklich gerecht: Wer seine Skulpturen als das Werk eines Bildhauers betrachtet, seine von ihm „Galaxies“ genannten Bildensembles als Werk eines Malers und seine Theorien als wissenschaftliche Abhandlungen, wird seltsam unbefriedigt bleiben. Kiesler war „Gesamtkünstler“, aber er hat, wie Dieter Bogner schreibt, die traditionelle Ästhetik des Gesamtkunstwerks weit hinter sich gelassen zugunsten „einer Architecture Magique, die in der Totalität des menschlichen Wesens wurzelt“.

Hauptwerke sind zum größten Teil nur über Photographien und Werkskizzen erfahrbar: Die Bühnenbilder und Ausstellungsgestaltungen, für Kiesler ein wesentliches Experimentierfeld, waren temporär; das wenige, das er tatsächlich gebaut hat, ist, abgesehen vom Schrein des Buches in Jerusalem, zerstört; viele Architekturprojekte sind kurz vor der Umsetzung gescheitert. Auf Philip Johnsons spitze Bemerkung, er sei „der größte nichtbauende Architekt“ unserer Zeit, erwiderte Kiesler, daß er es vorziehe, nicht zu den vielbauenden Nicht-Architekten zu gehören.

Die Beziehung Kieslers zu seiner alten Heimat ist ein besonderer Fall: Er reiste1926 zusammen mit seine Frau Stefi nach New York, um dort eine von ihm zusammengestellte Ausstellung über neue Theaterkonzepte aufzubauen. Die Reise sollte einige Wochen dauern, aber Kiesler ist niemehr nach Wien zurückgekehrt. Er konnte sich in der New Yorker Kunstszene etablieren, erhielt Lehraufträge an Universitäten und erfuhr schließlich seit Beginn der fünfziger Jahre umso größere Beachtung, je deutlicher der Kontrast zwischen seiner Architekturauffassung und dem funktionalistischen Mainstream der amerikanischen Moderne erkennbar wurde, die sich an Gropius und Mies van der Rohe orientierte.

Die Bedeutung der Wiener Architekturszene für sein eigenes Werk hat Kiesler vor allem am Anfang seiner New Yorker Zeit betont. Gegen Ende seines Lebens hat er eine Einladung Clemens Holzmeisters zu einer Ausstellung nicht ohne Rührung beantwortet: „Kein Brief der letzten 30 Jahre hat mich so gefreut wie der Ihre. Und glauben Sie mir, ich bin nicht sentimental. Es war wie eine Heimkehr.“ Zu einer ersten Ausstellung in Wien ist es freilich erst lange nach Kieslers Tod gekommen.

Zu-Oswald Oberhuber hat sie 1975 für die Galerie nächst St. Stephan zusammengestellt. 1988 fand im 20er Haus eine von Dieter Bogner kuratierte umfassende Gedenk-Ausstellung statt, deren Katalog nach wie vor das Standardwerk zu Kiesler darstellt.

Daß nun auch der Nachlaß Kieslers nach Wien gebracht werden konnte, ist eine Folge dieser Bemühungen um die Kiesler-Forschung. Nach langen Verhandlungen mit Kieslers zweiter Frau Lillian, die Kiesler ein Jahr vor seinem Tod geheiratet hatte, konnte eine befriedigende Lösung gefunden werden: Der Nachlaß wird in eine Privatstiftung eingebracht, die vom Bund, der Stadt Wien, der Nationalbank und von privater Seite finanziert wird. Bei einem Kaufpreis von 3 Millionen Dollar haben es auch die Privaten verdient, vor den Vorhang zu treten:Zu den Stiftern gehören Bank Austria, die Postsparkasse, die BAWAG, die Wiener Städtische Versicherung, die Österreichischen Lotterien, die Firma Wittmann sowie der Rechtsanwalt Hannes Pflaum, der Galerist John Sailer und Dieter Bogner.

Lillian Kiesler selbst hat auf ein Drittel des Kaufpreises verzichtet, nachdem die Republik Österreich und die Stadt Wien die Ausrichtung eines alle zwei Jahre zu vergebenden und mit 750.000 Schilling dotierten „Kiesler-Preises für Kunst und Architektur“ vereinbart hatten.

Das Archivmaterial umfaßt 2500 Zeichnungen, dazu Notizen und Briefe sowie rund 1000 Photographien – angesichts des vergleichsweise kleinen noch erhaltenen Œuvre seine unabdingbare Grundlage für die weitere Kiesler-Forschung. Im Historischen Museum der Stadt Wien sind jetzt 400 Exponate zu sehen, präsentiert in großen, ruhigen Vitrinen in einer Ausstellungsgestaltung von BKK-2, die aus dem GewinkeldesMuse-
umszumindest einen homoge-
nen Raum machtund mit ihrer
einheitlichen fleischfarbenen
Oberfläche wohl auf die für
Kiesler zentralenThemen des
Raumkontinuums und des Or-
ganischen anspielt.

Zumindest ist der Besucher nicht von denExponaten abgelenkt, die ihm in weitgehend chronologischer Abfolge dargeboten werden, von den Materialien zur Ausstellung neuer Theatertechnik, die Kiesler 1924 in Wien im Rahmen des Musik- und Theaterfestes gestaltet hat, bis zu den letzten, beinahe ausführungsreifen Plänen für das „Endless House“, dazwischen Briefe und Entwurfszeichnungen sowie Skizzen.

Zwar sind die Einflüsse der zeitgenössischen Strömungen, von den russischen Konstruktivisten über die De-Stijl-Gruppe, deren Mitglied er als enger Freund Theo van Doesburgs war, bis zum Surrealismus deutlich abzulesen. Aber stets hat man das Gefühl, daß Kieslers Interesse nicht dem Objekt an sich gilt, sondern der Beziehung zwischen den Objekten, der Differenz und dem Intervall, also letztlich dem, was sich nicht fassen läßt.

Ein für die Entwicklung in diese Richtung wesentlicher Schritt war die Gestaltung der Surrealisten-Galerie für Peggy Guggenheim im Jahr 1942: Die Bilder sind aus den Rahmen genommen und mit Distanz vor die hölzernen Schalen gesetzt, die den Raum seitlich begrenzen.

Wer Kiesler vor allem als den Schöpfer des organisch geformten „Endless House“ in Erinnerung hat,wird in dieser Ausstellung einige Überraschungen erleben. Da ist beispielsweise ein
Vortragsmanuskript, in dem er Adolf Loos als einen der anonymen Meister bezeichnet, die stets die großen Stile aller Zeiten geschaffen hätten. Oder die Spuren seiner Arbeit an der Columbia University, wo er von 1937 bis 1941 ein Laboratory for Design Correlation leitet. Als Ergebnis des ersten Forschungsjahres entsteht aufgrund einer umfassenden Analyse von Nutzungsbedingungen eine mobile Bibliothekswand, die hier mit Arbeitsphotos und Detailzeichnungen dokumentiert ist.

Der Versuch, Gestaltung und Wissenschaft in einer Art von „Biotechnik“ wieder zuverbinden, ist im Amerika der dreißiger Jahre durchaus en vogue, und Kiesler Beitrag wird von
den führenden Proponenten gewürdigt. Als er 1931 den Wettbewerb für ein Theater in
Woodstock gewinnt, eine leichte, demontierbare Struktur, schreibt Buckminster Fuller
einen enthusiastischen Kommentar zumProjekt. Kiesler hat seinen wissenschaftsähnlichen Ansatz auch danach nicht aufgegeben. Im Manifest des Correalismus, 1949 in Paris veröffentlicht, finden sich die mobile Bibliothekswand und die zugehörige Analyse jedenfalls ebenso wie seine surrealistischen Arbeiten.

Kieslers Werk ist heute in jeder Hinsicht aktuell: Die Idee des kontinuierlichen Raumes ohne Trennung in Decke, Wand oder Stütze findet sich in den jüngsten Projekten der heutigen Avantgarde, beispielsweise im vielpublizierten Schiffsterminal von Yokohama von ForeignOffice Architects. Die Ähnlichkeit ist dabei weniger auf einen direkten formalen Einfluß zurückzuführen als auf eine verwandte biotechnische Methode.

Kiesler hat diesen aktuellen Tendenzen, die ihre Formen aus Kraftflüssen und Bewegungsströmen abzuleiten versuchen, aber doch etwas voraus. Auf dem Weg von derFunktion zur Form nimmt er noch den Umweg über die Vision, über das Magische und Mythische: „Form folgt nicht der Funktion. Form folgt der Vision. Vision folgt der Wirklichkeit.“

Die Ausstellung „Das Archiv des Visionärs“ ist noch bis 1.März im Historischen Museum der Stadt Wien zu sehen.

Spectrum, Sa., 1998.01.10

20. Dezember 1997Christian Kühn
Spectrum

Nur keine Handschrift, bitte!

Steht wieder einmal das Ende der Architektur bevor? Liegt die Rettung in der Spezialisierung? Angesichts einer Kultur, in der es keine fixen Bezugssysteme mehr gibt, plädiert Manfred Wolff-Plottegg für permanente Grenzüberschreitung.

Steht wieder einmal das Ende der Architektur bevor? Liegt die Rettung in der Spezialisierung? Angesichts einer Kultur, in der es keine fixen Bezugssysteme mehr gibt, plädiert Manfred Wolff-Plottegg für permanente Grenzüberschreitung.

Kaum beginnen Architekten über ihre Profession nachzudenken, geraten sie in eine Krise. Das ist kein neues Phänomen: Man könnte die Geschichte der Architektur als eine Geschichte von Krisen beschreiben, die seit dem 18. Jahrhundert etwas häufiger auftreten als zuvor. Bauingenieure sind gegen dieses Phänomen vergleichsweise immun. Schlimmstenfalls leiden ihre Geschäfte unter einer schlechten Konjunktur: Vom bevorstehenden Ende ihrer Profession zu sprechen - „Apocalypse Now“ lautet der Titel einer gerade erschienenen Aufsatzsammlung zur Situation des Architektenberufs - ist den Bauingenieuren aber noch nie eingefallen.

Das liegt sicher an der zweifelsfreien Nützlichkeit des Ingenieurs. Wozu Architekten wirklich gut sind, ist dagegen vergleichsweise unklar. Machen sie Häuser schöner? Oder praktischer? Von Friedrich Kiesler, jenem großen Visionär unter den Architekten des 20. Jahrhunderts, dessen Nachlaß gerade im Wiener Historischen Museum ausgestellt ist, stammt die Definition, daß der Architekt das „Überflüssige notwendig“ mache. Das wäre noch verzeihlich. Aber Kiesler setzt hinzu, daß er auch „das Notwendige überflüssig macht“. Braucht man sich da noch zu wundern, daß die Mehrheit des Publikums dem Architekten ein herzliches „Selber überflüssig!“ entgegenruft und sich an den nächstbesten Baumeister oder Generalplaner wendet?

Man kann die gegenwärtige Situation des Architekten - wie es Alfons Flatscher vor kurzem in der Zeitschrift „Report“ gemacht hat - aus dieser Perspektive analysieren: Mangel an ökonomischem Denken, geringe Kundenorientierung, zuwenig Spezialisierung. Am härtesten trifft die Kritik die Architekturschulen, die nach wie vor Generalisten ausbilden wollen, technisch versierte Künstler, womöglich noch mit sozialem und politischem Anspruch - eine zum Aussterben verurteilte Spezies. Natürlich werde kaum ein Architekt in der Praxis diesen hehren Zielen gerecht, und zum vorprogrammierten Mißerfolg komme dann noch ein schlechtes Gewissen, das unter den gegenwärtigen Marktbedingungen in blanken Zynismus umschlagen oder direkt in den Ruin führen müsse.

Bevor man die Zukunft des Architekten im spezialisierten „Dienstleister mit bauspezifischer Sachkompetenz“ sieht, empfiehlt sich ein nochmaliger Blick auf das Phänomen der Krise in der Architektur. Könnte sie nicht die notwendige Folge der Differenz zwischen Architektur und Technik sein? Nach einer Definition Kants ist die technische Einheit eine empirisch gewonnene, nach zufällig sich darbietenden Absichten, die architektonische dagegen eine apriorische, nach Ideen. Architektur löst nicht einfach Probleme, sondern versucht auch, ein umgreifendes Ganzes erfahrbar zu machen, innerhalb dessen Probleme erst einen Sinn und Lösungen einen Wert bekommen. Daß sie dabei seit über 200 Jahren von einer Krise in die nächste stürzt, ist die natürliche Folge einer kulturellen Situation, in der es keine fixen Bezugssysteme mehr gibt. Für eine Architektur der Moderne gibt es keinen Weg aus der Krise. Sie kann diesen Umstand aber als Chance begreifen, sich die eigenen Fundamente permanent neu zu schaffen, vorurteilsfrei und opportunistisch, also jede sich bietende Gelegenheit nutzend.

Spezialisierung ist dafür kein taugliches Mittel. Wenn der Architekt beginnt, sich als Spezialist - etwa für „Bauformgebung“ - zu begreifen, wird er bestenfalls neue Moden erfinden, in der Regel aber nur die jeweils aktuellen Schnittmuster variieren. Aber was wäre das Gegenteil des Spezialisten? Der „Homo universalis“ der Renaissance? Von dem wagen Architekten heute nicht einmal mehr zu träumen. Der geniale Dilettant? Schon eher, aber diese Figur kann immer nur eine Ausnahme sein und kein Modell für eine Profession. Ein anderes - freilich gefährlich heroisches - Bild bietet sich an: der Architekt als notorischer Grenzgänger.

Manfred Wolff-Plottegg, der kürzlich den Architekturpreis des Landes Steiermark zugesprochen bekam, hat sich seit 30 Jahren als ein solcher Grenzgänger betätigt. Er hat gebaut, die Sanierung des Schlosses Trautenfels etwa oder einen Wohnbau in Seiersberg; er hat allein und in Arbeitsgemeinschaft mit Künstlern Projekte realisiert, zuletzt mit Peter Kogler eine Installation in der Grazer Galerie & Edition Artelier beim „steirischen herbst“. Und er hat sich bemüht, sein Grenzgängertum theoretisch zu begründen, zuletzt in einem Buch mit dem Titel „Architektur Algorithmen“, das im Passagen Verlag erschienen ist. Den steirischen Architekturpreis hat er folgerichtig für seine Arbeiten zum „erweiterten Architekturbegriff“ erhalten.

„Architektur Algorithmen“ ist eine Aufsatzsammlung mit einem Vorwort, das Plottegg zusammen mit Peter Weibel verfaßt hat. Hier werden einige der Grenzen angesprochen, um deren Überschreitung es geht, in erster Linie zu den Systemtheorien und zur Kunsttheorie. Hinter den hier versammelten Reizworten von Chaostheorie über genetische Algorithmen bis zu autokatalytischen Prozessen steht ein einfacher Gedanke: „Zukunft und Freiheit fordern ein offenes System.“

Die Reizworte darf man getrost wieder vergessen, den Satz sollte man sich merken, weil er bei Plottegg keine Phrase ist, sondern Programm.

Wer sich durch das Vorwort durchgekämpft hat, wird mit einer Sammlung von Aufsätzen belohnt, die neben jenen von Hermann Czech zum Originellsten gehören, das in Österreich in den letzten 30 Jahren an Architekturtheorie geschrieben wurde. Die Forderung nach dem „offenen System“ findet sich gleich im ersten Aufsatz aus dem Jahr 1969, ebenso die Diagnose, daß wir uns „in einer umfassenden, nicht schwerkraftgebundenen Umwelt befinden, in der die Bautätigkeit nur mehr eine Nebenerscheinung ist“.

Beide Aussagen sind für die späten sechziger Jahre nichts Ungewöhnliches, aber Plottegg interessiert sich mehr für den Planungsprozeß als für die wohlmeinende Definition neuer Leitbilder. Projekte wie die „Metamorphose einer Stadtwohnung“ sind als Handlungsanweisungen formuliert, wobei einfache Regeln zu äußerst komplexen Raumbildungen führen: Zuerst werden alle Möbel mit einem Tuch verdeckt, dann wird Torfmull ausgestreut und bepflanzt, schließlich werden in die freigebliebenen Wandflächen Nägel eingeschlagen.

Plotteggs Programm ist eine Revolte gegen die bürgerlichen Codes der Architektur, in denen Konsumenten wie Produzenten gefangen sind. „Die völlige Geschmacklosigkeit ist mir ein Rezept gegen die permanenten Restaurierungs-, Verbesserungs-, Verschönerungstendenzen des Architektenvereins.“ Wenn das repressive Moment des guten Geschmacks überwunden ist, entstehen neue Freiräume der Gestaltung: „Ob etwas ein Entwurf ist, zeigt sich am Kriterium der Grenzüberschreitung.“

Mit dem Text „Hybridarchitektur“ erweitert Plottegg seine Theorie um den Aspekt der Digitalisierung. Die Handlungsanweisungen werden als Algorithmen erkannt und der Computers zum Durchbrechen oder Neuinterpretieren von Codes eingesetzt. Statt von Entwurf spricht Plottegg nun lieber von Interaktion. Der Computer wird zum Partner, der Handschrift und Stil zu vermeiden hilft.

Einen ähnlichen theoretischen Ansatz vertritt auch Peter Eisenman, dessen Texte ebenfalls in der Architektur-Reihe des Passagen Verlags unter dem Titel „Aura und Exzeß“ erschienen sind. Trotzdem verfolgt Eisenman ein Ziel: nämlich die „Instabilitäten und Dislozierungen zur Darstellung zu bringen, die heute Wahrheit ausmachen“. Letztlich bildet Eisenmans Architektur doch wieder etwas ab, wenn auch nur eine Idee. Sie läuft damit Gefahr, zum Vorbild eines neuen „guten Geschmacks“ und letztlich zu einem Stil zu werden, der eine Zeitlang die Titelblätter der Architekturjournale erobert. Als Dienstleistung für den Investor wäre diese Architektur nicht mehr als das Kunsthandwerk des Medienzeitalters.

Eine solche doch wieder abbildende Funktion der Architektur ist für Plottegg völlig absurd. Ihm geht es primär um die Öffnung des kreativen Prozesses, um die erhöhte Beweglichkeit einer „handschriftlosen, geschmacklosen, stillosen, ORTlosen Architektur“. In seinen Bauten und Projekten sind die „autorlosen“ Algorithmen freilich in einen nach wie vor persönlichen Entwurfsprozeß integriert.

Plottegg ist der zwangsläufige Widerspruch zur theoretisch geforderten „Autorlosigkeit“ bewußt, wenn er über sein ideales Gebäude resümiert: „Ein entscheidendes intellektuelles Problem belastet mich dennoch: Dieses Gebäude würde schließlich doch an einem ORT stehen, es würde vermutlich meine Handschrift tragen, es würde so geschmacklos sein, daß es sogar mir gefallen könnte.“ Als Antwort bleibt Plottegg nur noch das Paradoxon: „Daher arbeite ich immer am übernächsten Projekt.“

Die Gedanken Friedrich Kieslers über das Notwendige und das Überflüssige in der Architektur sind nun vielleicht besser verständlich. Wenn wir die Unterscheidung ein für alle Mal zu treffen wüßten, bräuchten wir tatsächlich keine Architektur mehr. In einem solchen geschlossenen System gäbe es weder Freiheit noch Zukunft. Architektur hat nicht zuletzt die Aufgabe, die eingefahrenen Codes, mit denen diese Trennung festgelegt wird, immer wieder zu hinterfragen. Kann es etwas Erfreulicheres geben, als das notwendig Geglaubte plötzlich als überflüssig zu erkennen?

Spectrum, Sa., 1997.12.20

22. November 1997Christian Kühn
Spectrum

Von Highways und Sackgassen

Sind Städte heute noch planbar? Kann sich die Architektur gegen den Motor der Stadtentwicklung, die Ökonomie, noch behaupten? Internationale Beispiele zeigen: Es ist möglich - politischen Willen und Lust am Gestalten vorausgesetzt.

Sind Städte heute noch planbar? Kann sich die Architektur gegen den Motor der Stadtentwicklung, die Ökonomie, noch behaupten? Internationale Beispiele zeigen: Es ist möglich - politischen Willen und Lust am Gestalten vorausgesetzt.

Wien ist ruhig, Wien ist musikalisch, Wien ist weit weg - das sind die Stichworte, die amerikanischen Managern zum Thema Wien einfallen. Bei einer Städtebewertung im „Fortune Magazine“ kam Wien zwar kürzlich bezüglich Kultur und Lebensqualität auf den dritten Platz, als Standort für Unternehmen hat die Stadt aber einen ebenso bescheidenen Ruf wie das ganze Land: Die direkten ausländischen Investitionen, ein wichtiger Indikator für wirtschaftliche Attraktivität, haben sich in den letzten Jahren kaum erhöht.

Als Hauptursache werden unflexible bürokratische Abläufe genannt. Die Bewilligung einer Produktionsanlage dauert in Österreich für die Hälfte aller Antragsteller länger als ein Jahr, in Deutschland nur sechs Monate. Solche Bremsmechanismen als Preis für hohe Lebensqualität hinzustellen ist gefährlich: Auf Dauer läßt sich Qualität nicht durch Verhindern sichern, sondern nur durch Gestalten.

Das erfordert keineswegs die Abschaffung der Bürokratie, sondern flexiblere Verfahren und eine Mentalität, die Innovationen gegenüber aufgeschlossen ist. Wenn ein Konzern wie IBM seine Osteuropa-Aktivitäten aus Wien abzieht und in Zukunft von Paris und Stuttgart aus betreiben möchte, ist das ein deutliches Zeichen, daß man diese Innovationskraft hierzulande nicht mehr vermutet.

Was haben solche ökonomischen Entwicklungen mit Städtebau zu tun? Die radikalste Antwort ist, daß sie den Städtebau im klassischen Sinn längst ersetzt haben: die Ökonomie als dominanter Faktor einer Stadt- und Regionalentwicklung, in der Politiker und Architekten bestenfalls an der Oberfläche ein paar Akzente setzen können.

Wer Milliarden zu investieren verspricht, wie Frank Stronach in den Ebreichsdorfer Magna-Globe, trifft auf eine Öffentlichkeit, die keine eigene Vision von innovativem Unternehmertum entwickelt hat und sich deshalb dankbar deren monströse Karikatur verkaufen läßt. Kaum hat die Ebreichsdorfer Kugel konkrete Formen angenommen, finden sich auch in Wien Investoren für ein nicht weniger wahnwitziges Konkurrenzprojekt.

Angesichts solch sprunghafter Entwicklungen stellt sich die Frage, ob Städte überhaupt noch planbar sind. Unterstellt man, daß Politiker sich in ihren Nebensätzen offenbaren, ist die grundsätzliche Skepsis jeder Planbarkeit gegenüber evident: Wo der letzte Bundeskanzler im Falle von Visionen den Arztbesuch empfahl, ließ sein Nachfolger sich gerne mit dem Satz von der Müßigkeit jedes Lebensplans zitieren. Aber natürlich geht es Politikern hier ähnlich wie Architekten: Voraussetzung für ihre Tätigkeit ist die Lust am Gestalten, und die setzt einen Plan voraus. Heute verschieben sich freilich die Gewichte: War es früher üblich, ein Ziel genau zu benennen und dann direkt darauf zuzusteuern, gilt das Interesse von Politikern wie Architekten immer mehr der richtigen „Strategie“ - ein nach außen hin möglichst generell formuliertes Ziel, dafür schnelle Positionswechsel, Ausnutzen gegnerischer Schwächen. Seine architektonische Strategie hat Adolf Krischanitz einmal in einem Interview so beschrieben: Es gehe ihm nicht länger darum, „die Widerstände der Realität zu brechen, sondern ihre Kraft vielmehr - wie in der Judo-Technik - mit einem Minimum an Aufwand umzulenken“.

In diesem Trend lag auch der Wiener Stadtplanungsdirektor Arnold Klotz, als er bei der Schlußdiskussion des fünften Wiener Architekturkongresses erklärte, in Zukunft würde in Wien die „klassische Stadtplanung in die Offensive gehen“, um sich „strategisches Denken und Managementdenken“ anzueignen. Dabei stellt sich vorerst die Frage, welches Denken bisher zur Anwendung kam.

Nachgedacht wurde ja seit Mitte der achtziger Jahre ausgiebig, vorerst über die Expo 95, dann in einem eigenen Fachbeirat über die Stadterweiterung - all das zusätzlich zum Stadtentwicklungsplan. Aber das operative Grundmuster hinter allen Entwicklungsplänen und den Leitzielen des Fachbeirats blieb nach der mißglückten Expo-Volksbefragung die Patchwork-City, die Stadt der kleinteiligen, autonomen Lösungen. Sie zeichnet sich durch Unverbindlichkeit aus: Grundsätzlich ist alles überall irgendwie möglich oder auch nicht.

Als Königsweg der Wiener Stadtplanung gepriesen, war die Patchwork-City - so Erich Raith - doch nie mehr „als die zum Highway erklärte Sackgasse konzeptioneller und formaler Beliebigkeit“. Die Strategie der Patchwork-City ist bestenfalls, daß man keine hat. Arnold Klotz hat konsequenterweise seine Ankündigung einer stärkeren strategischen Ausrichtung der Wiener Stadtplanung mit einer Absage an die Patchwork-City abgeschlossen: Statt dessen werde man sich stärker mit dem „Gesamtbild und mit dem öffentlichen Raum“ befassen.

Sofort stellt sich die Frage: Was ist heute ein Gesamtbild? Beim Kongreß im Architekturzentrum Wien präsentierten Soziologen, Politiker und Architekten Städteporträts, Stadtbilder also, aber wie schon der Titel des Kongresses vermuten ließ, ging es weniger ums Bild als um Prozesse und Operationen: „Hearts of Europe - Bypasses, Implants and Magnets for the Cities“.

Damit ist angedeutet, daß es sich bei radikalen Operationen oft um Notfälle handelt. Wenn Barcelona heute zu Recht als Paradebeispiel einer offensiven Stadtgestaltung gilt, muß man sich die Situation der Stadt nach der Franco-Diktatur in Erinnerung rufen: Die Risiken einer radikalen Erneuerung waren weit geringer als jene einer Stagnation auf dem niedrigen, durch den Madrider Zentralismus der Franco-Ära verstärkten Niveau. Oriol Bohigas, Architekt der urbanen Erneuerung Barcelonas, formulierte eine plakative, reichlich generelle Zielvorgabe: „Das Zentrum hygienisch, die Peripherie monumental.“

Die Umsetzung begann Anfang der achtziger Jahre mit einem „Putsch“, bei dem die bisherige Hierarchie der beamteten Stadtplanung entmachtet und durch ein Team von jungen Architekten ersetzt wurde. Man beauftragte sie mit konkreten, rasch umsetzbaren Projekten für Platzgestaltungen, die bald international Aufsehen erregten. 1986 erhielt Barcelona den Zuschlag für die Olympischen Spiele 1992. Die massiven Investitionen in Infrastruktur, Sportstätten und Wohnbau wurden unter anderem dazu genutzt, benachteiligten Stadtteilen, wie dem desolaten Hafenviertel, eine neue Identität zu geben. Auch wenn nicht alle Realisierungen gleichermaßen überzeugen, ist die Stadterneuerung und Erweiterung Barcelonas ein Beweis dafür, daß Stadtplanung nach wie vor möglich ist.

Die enormen Herausforderungen, denen sich die Planer in diesem Prozeß stellen mußten, hatten einen wichtigen Nebeneffekt: die höhere Qualifizierung der Planer selbst. Das jüngste Stadterweiterungsprojekt, der Delta-Plan für ein Gebiet südlich des Montjuic, in dessen Rahmen bis zum Jahr 2025 unter anderem ein neuer Flughafen und ein Logistikzentrum errichtet werden, wurde in allen seinen Prozessen nach der Qualitätssicherungsnorm ISO 9000 zertifiziert. Im Bestreben, eine „kollektive Kultur der Antizipation“ zu erreichen, schließt dieser Plan Maßnahmen zur postgradualen Fortbildung von Architekten und Planern mit ein.

Das Konzept von Barcelona ist nicht ohne weiteres auf andere Städte übertragbar: Zu unterschiedlich sind die Probleme, die finanziellen Mittel, die Mentalität und die lokale architektonische Kultur, von deren hohem Niveau Barcelona besonders profitierte.

Eine Stadt wie Bilbao mit 25 Prozent Arbeitslosigkeit und einer desolaten Industrie, deren Ruinen das Zentrum prägen, braucht andere Strategien. In einer Art Schocktherapie hat man sich hier entschlossen, mitten ins verwahrloste Zentrum neue kulturelle Einrichtungen zu setzen: Frank Gehrys Museum ist eröffnet, eine neue Oper soll 1998 fertiggestellt werden. Die Präsenz der Architektur, die Rolle des Architekten als Identitätsstifter und Werkzeug des Stadtmarketing hat in Bilbao ein beinahe unheimliches Ausmaß erreicht. Ob diese neuen Bauten nicht doch zu isoliert sind, um eine neue Identität zu schaffen, wird sich erst zeigen. Innenräume wie jene von Gehrys Museum haben aber in jedem Fall das Format, das kollektive Gedächtnis einer Stadt zum Träumen zu bringen.

Ob Barcelona, Bilbao oder Neapel, wo die Substanz der Stadt durch temporäre Installationen von Künstlern wie Mimmo Paladino oder Yannis Kounelis neu ins allgemeine Bewußtsein gehoben werden soll: Am überzeugendsten sind jene urbanen Projekte, die sich als künstlerische Herausforderung deklarieren. Erfolg ist damit keineswegs gesichert: Aber zumindest bleibt ein Freiraum für ein ehrenvolles Scheitern jenseits von Technokratie und bleierner Stadtbild-Etikette.

Spectrum, Sa., 1997.11.22



verknüpfte Bauwerke
Guggenheim-Museum

26. Oktober 1997Christian Kühn
Spectrum

Im Land der vergoldeten Asche

Kaum waren im November 1992 die letzten Glutnester in den Redoutensälen gelöscht, brach auch schon der Glaubenskrieg los: rekonstruieren oder neu gestalten? Herausgekommen ist ein Kompromiß. Fünf Jahre nach dem Hofburg-Brand: ein Lokalaugenschein.

Kaum waren im November 1992 die letzten Glutnester in den Redoutensälen gelöscht, brach auch schon der Glaubenskrieg los: rekonstruieren oder neu gestalten? Herausgekommen ist ein Kompromiß. Fünf Jahre nach dem Hofburg-Brand: ein Lokalaugenschein.

Bis zum Brand im November 1992 waren die Redoutensäle aus dem öffentlichen Bewußtsein so gut wie verschwunden. Von den Aufführungen der Staatsoper, die bis Anfang der siebziger Jahre im großen Saal stattfanden, schwärmen Opernfreunde zwar noch heute. 1974 zog hier jedoch die KSZE ein und verwandelte die Räume in ein von der Öffentlichkeit hermetisch abgeschirmtes Konferenzzentrum. So war das lustvolle Entsetzen angesichts des Brandes nicht größer als bei anderen Großbränden auch, und als staatsgefährdend wurde vorerst nur der Wasserschaden in der Winterreitschule angesehen, deren durchfeuchtete Decke die Lipizzaner zu erschlagen drohte.

Als schließlich die letzten Glutnester gelöscht waren, stellte sich die Frage: Was ist da eigentlich aus- respektive abgebrannt? Die erste Erweiterung der alten Hofburg an dieser Stelle, der „Komödiensaal“, datiert aus der Zeit um 1630 und brannte schon 1699 wieder aus. Im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts wurden zuerst die unmittelbar angrenzenden Bauten der Nationalbibliothek und der Winterreitschule errichtet, bevor der Redoutentrakt von Jean-Nicolas Jadot renoviert wurde: Auf Jadot gehen die Gliederung in großen und kleinen Redoutensaal und die ursprüngliche Ausstattung der Säle zurück.

Der kleine Redoutensaal blieb seither im wesentlichen unverändert, während der große Saal immer wieder umgestaltet wurde: Balkone und Treppen wurden ein- und später wieder ausgebaut, die Pilastergliederung Jadots wurde verändert, verschwand im klassizistischen Plan Höhenrieders von 1838 ganz, um schließlich 1892 in Ferdinand Kirschners Umgestaltung wieder aufzutauchen. Die gemalte barocke Decke aus dem 18. Jahrhundert wurde durch eine Stuckdecke in wechselnden Dekors ersetzt.

Die Diskussion um die Redoutensäle hatte einerseits diese historischen Fakten und damit den kunst- und kulturhistorischen Wert der einzelnen Bauteile und andererseits deren Zustand nach dem Brand in Erwägung zu ziehen. Man hätte diese Diskussion rational führen können. Aber schon bald war in den Medien von einer bösen Ahnung zu lesen: Zuerst kommt das Feuer, dann das Löschwasser - und schließlich kommen die Architekten und geben dem schönen alten Saal den Rest. Wollte tatsächlich jemand den Versuch wagen, in die Mauern der Hofburg einen Repräsentations- und Veranstaltungsraum des späten 20. Jahrhunderts zu implantieren?

Solche Themen lassen sich prächtig emotionalisieren. Schon bald nach dem Brand hatte der damalige Wirtschaftsminister Schüssel die Hofburg zu einem „nationalen Symbol“ erklärt. Gustav Peichl stellte klar, daß „moderne Architektur dort stattfinden sollte, wo sie hingehört“, und Erhard Busek ließ als Wissenschaftsminister „definitiv“ bekanntgeben, „daß es sich um eine Rekonstruierung und nicht um moderne Architektur“ handeln werde, „aus dem einfachen Grund, weil nicht so viel zerstört wurde, wie man zunächst angenommen hatte“.

Im Frühjahr 1993 beginnt der Streit zu eskalieren. Gottfried von Einem warnt vor der „Verschandelung“ durch eine vielleicht doch drohende „moderne“ Neugestaltung. Die Gegenseite kontert mit der Furcht vor „historischem Firlefanz“ und einem „Trugbild im Geiste des Sentimentalen“ und lobt die Vorgehensweise der britischen Denkmalpflege nach dem Brand von Schloß Windsor: Dort sei bereits ein Wettbewerb unter „modernen“ Architekten für den Wiederaufbau im Gange. Was sich übrigens später als Märchen herausstellt: Heute kann man in Windsor eine historisierende Rekonstruktion der übelsten Sorte besichtigen.

Bei einer denkwürdigen Podiumsdiskussion Ende März 1993 werden alle Argumente noch einmal vorgebracht. Zu diesem Zeitpunkt ist die Entscheidung aber schon gefallen: Manfred Wehdorn hatte kurz zuvor den Auftrag als Generalplaner für die Sanierung der Redoutensäle erhalten. Die notwendige Diskussion, warum in Österreich ein „nationales Symbol“ nicht entwicklungsfähig ist, sondern nur konserviert werden darf, bleibt aus. Von der Politik wird die Chance, Identität einmal nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart zu suchen, nicht einmal ignoriert.

Nur auf einer kleinen Nebenfront läuft die Diskussion weiter: Sind tatsächlich „80 Prozent der alten Konstruktion trotz des Feuers erhalten“, wie die „Kronen Zeitung“ zu berichten weiß? Für den kleinen Redoutensaal traf das sicher zu. Dort waren nur Teile der Decke eingestürzt, ansonsten aber kaum grobe Schäden zu verzeichnen. Der große Saal war dagegen offensichtlich schwer beschädigt: Decke und Dachstuhl waren völlig eingestürzt, die Sockelzone bis auf viereinhalb Meter Höhe zerstört. Scheinbar gut erhalten war nur die mittlere Zone der Wand mit ihren Stuckarbeiten. Aber schon bald stellt sich heraus, daß dieser oberflächliche Eindruck trügerisch ist. Der Stuck entzieht sich jedem konventionellen Restaurierungsversuch, indem er sich bei Berührung in Staub auflöst. Hitze und Löschwasser haben ihn in der Substanz zerstört.

Kunsthistorisch wäre das kein Unglück gewesen. Stuck dieser Qualität aus dem Jahr 1892 ist in Wien noch öfter anzutreffen. Aber politisch war die Wiederherstellung eine absolute Notwendigkeit, wäre doch sonst die ganze Diskussion von neuem losgebrochen. Im Mai 1993 wird daher ein Probefeld wiederhergestellt, nach dessen Vorbild die Gesamtsanierung erfolgt. Die Reste des Stucks werden an der Wand chemisch gefestigt und teilweise in situ ergänzt. Kompliziertere Teile wie Säulenkapitelle, die schon 1892 als Versatzstuck zuerst gegossen und dann an der Wand befestigt worden waren, müssen anders behandelt werden. Ihre Reste werden von der Wand abgenommen und in Formen gelegt, die dann neu ausgegossen werden. Sensationell daran ist weniger das Verfahren an sich, sondern die Bereitschaft, so viel Aufwand in die Erneuerung und Ergänzung eines kunsthistorisch so unbedeutenden Bestandes zu investieren.

Dort, wo im großen Saal nichts mehr erhalten war, sollte, ganz im Sinne einer wissenschaftlich orientierten Denkmalpflege, im „Stile unserer Zeit“ gearbeitet werden. In diesem Punkt hat sich Wehdorn gegen das Bundesdenkmalamt durchgesetzt, das eine Rekonstruktion der Decke des großen Saals für durchaus machbar gehalten hätte. Vor Jahren entschied das Denkmalamt bei einem anderen Bau Jean-Nicolas Jadots, der heutigen Akademie der Wissenschaften, in einer ähnlichen Frage noch für die Rekonstruktion: 1962, nach dem Brand des Festsaals, hätte Oskar Kokoschka dort die Decke neu malen sollen. Statt dessen kam eine Kopie des Barockfreskos nach alten Photos zur Ausführung.

Josef Mikls Deckenbild im Redoutensaal ist freilich ein anderer Fall. Es ist keine architekturbezogene Monumentalmalerei, die Kokoschka noch zuzutrauen gewesen wäre, sondern einfach ein sehr großes, an der Decke befestigtes und durchaus schön anzusehendes Bild. Da ist es nur konsequent, daß Mikl sich weigerte, die Kabel der Beleuchtungskörper durch sein schönes Bild zu führen (obwohl das in der Ausschreibung für den Wettbewerb so gefordert war); jetzt hängen die Lampen am Rand und müssen sich dort einigermaßen schlank machen.

Das alles geht freilich auf Kosten des räumlichen Gesamteindrucks. Zwar sind überall die historischen Schichten klar herausgearbeitet, das Ergebnis ist jedoch mehr ein Präparat als ein Raum, in dem sich die Teile - wie im kleinen Redoutensaal - zu einem Ganzen verbinden.

Ähnlich verhält es sich auch mit vielen Ergänzungen, die um die eigentlichen Säle herum eingefügt wurden. Überall, so sagt der Architekt, wo Neues eingefügt wurde, sei „in der Sprache des Jahres 1997“ gearbeitet worden. Aber beschränkt sich die wirklich auf Edelstahl, Glas und polierten Marmor? Ist nicht diese Zuordnung von Materialien zu einer Epoche überhaupt unmöglich und bedient letztlich nur die gängigen Klischees, die sonst gegen die Moderne vorgetragen werden?

Im Dachgeschoß führt Wehdorn vor, was er selbst unter moderner Ästhetik versteht. Hier ist das Pressefoyer entstanden, ein Raum, der über die ganze Länge der beiden darunterliegenden Säle geht. Eine Leimbinderkonstruktion, aufgeladen mit High-Tech-Accessoires, trägt das Dach. An der Nordseite belichtet ein riesiges Fenster den Raum. Dann, etwas im Hintergrund und ein Halbgeschoß abgesenkt: die Kugel mit der Verkleidung aus blauem Glas.

Hier, in einem hermetisch abgeschlossenen Konferenzraum, soll während der EU-Präsidentschaft Österreichs der EU-Ministerrat tagen. Zwei Brücken verbinden das Kugelinnere mit der Außenwelt der wartenden Journalisten. Der ikonologische Gehalt dieser Anlage ist schwer zu bestimmen: Sie hat jedenfalls gute Chancen, zum Symbol eines postmodernen Kakanien zu werden, zum Liebling aller Fernsehmoderatoren.

Wenn die Redoutensäle am Nationalfeiertag ausgerechnet mit Ausschnitten aus Opern Leopolds I. eröffnet werden, sollte man sich an einen Satz von Karl Kraus erinnern, dessen Gedicht „Jugend“ das Thema zu Mikls großem Deckenbild abgab: Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht der Asche. In Wien ist es in den letzten 50 Jahren meisterhaft gelungen, die Asche zu vergolden. Kompromisse wie hier in den Redoutensälen oder beim viel wichtigeren Projekt des Museumsquartiers werden daran nicht viel ändern.

Spectrum, So., 1997.10.26



verknüpfte Bauwerke
Sanierung der Redoutensäle

27. September 1997Christian Kühn
Spectrum

Die Maschen der Wirklichkeit

An der hiesigen Bautradition hat sich Jean Nouvel bei der Planung seiner Wohnhausblöcke in Wien-Floridsdorf orientiert. Und hat dabei zwischen Schrebergärten und Schnellstraßen so etwas wie städtische Ordnung hergestellt

An der hiesigen Bautradition hat sich Jean Nouvel bei der Planung seiner Wohnhausblöcke in Wien-Floridsdorf orientiert. Und hat dabei zwischen Schrebergärten und Schnellstraßen so etwas wie städtische Ordnung hergestellt

Stararchitekten sind Markenartikler. Wer bei Richard Meier kauft, wird stets denselben im Quadratraster arrangierten Corbusier-Verschnitt bekommen, ganz gleich, ob er ein Rathaus für Amsterdam oder ein Museum für Barcelona bestellt hat. Frank Gehry garantiert skulptural-dekonstruktive Lieferungen eher organischen Zuschnitts, während bei Zaha Hadid Ähnliches in kantenbetonter Ausführung zu erhalten ist. Natürlich haben diese Architekten Qualitäten jenseits solch oberflächlicher Zuordnungen: Ihr internationaler Marktwert gründet sich jedoch in erster Linie auf formale Exklusivität.

Jean Nouvel, der sicher zur Spitzengruppe internationaler Architekturstars gehört, fällt in dieser Hinsicht aus dem Rahmen. Seine Bauten zeigen kein gemeinsames Repertoire, Formen und Materialien wechseln von Projekt zu Projekt: Das Kulturzentrum in Nantes ist ein schwarzer Quader mit einer Außenhaut aus Gitterrosten; die Fondation Cartier in Paris ein reiner, entkernter Glaskubus; die Mediathek in NŒmes wollte Nouvel völlig unter Erdniveau legen; mit dem „Tours sans fins“ in La Défense mit seiner Fassade aus schwarzem Marmor und bedrucktem Glas lieferte er den Entwurf für das höchste Hochhaus Europas.

Nouvels bekanntester Bau ist das Institut du Monde Arabe in Paris, bei dem er formale Elemente der islamischen Architektur in eine technoide Struktur übersetzt hat, die sich auf den zweiten Blick als ironischer Kommentar zur Ideologie des High-Tech zu erkennen gibt: kein kraftvoller Organismus, wie es noch das Centre Pompidou sein wollte, sondern ein kunstvoll arrangiertes Nebeneinander technischer Finessen.

Für Wien hat Nouvel einen Entwurf zur geplanten Expo 96 gemacht und einen für den Neubau der Generali-Versicherung am Schwedenplatz. Sein Versuch, einem sachlichen Bürohaustypus ausschließlich durch die Behandlung der Fassade Würde und Poesie zu verleihen, konnte in Wien auf kein Verständnis treffen. Der Auftrag ging an Hans Hollein und damit an einen Wiener Markenartikler mit Hang zum Skulpturalen. Als Kompensation darf Nouvel für denselben Bauherrn ein Bürohaus in Vorarlberg bauen.

Im Wohnbau hat Nouvel in Wien zuletzt mit seinem Beitrag für den Umbau der Gasometer in Simmering von sich reden gemacht. Sein Projekt ist das einzige unter den jetzt geplanten, bei dem das Industriedenkmal nicht zur Kulisse degradiert wird, sondern die Einbauten sich der strukturellen Logik der Gasometer anpassen. Der faszinierende Innenraum des Nouvelschen Entwurfs mit seinen spiegelnden Metallverkleidungen könnte zumindest klaustrophobieresistente Gemüter überzeugen.

In der Leopoldauer Straße im 21. Bezirk hat Nouvel eine Anlage mit 75 Wohnungen geplant, die eben fertiggestellt wurde. In einer Umgebung, die im wesentlichen aus Schrebergärten und Schnellstraßen besteht, versuchte Nouvel hier so etwas wie städtische Ordnung herzustellen. Viergeschoßige Zeilen bilden eine Art Blockstruktur, die an den Ecken offen bleibt, um Stiegenhäuser und Durchgänge aufzunehmen. Im Inneren dieses lockeren Blocks findet noch ein freistehendes Gebäude Platz.

Den geringen Anteil an gemeinsamen Grünflächen, der sich aus der dichten Bebauung ergibt, hat Nouvel durch die Schaffung von jeweils den Wohnungen zugeordneten Freibereichen kompensiert. Jede Wohnung im Erdgeschoß hat zur Straße hin einen Garten und auf der Hofseite eine Terrasse. Markiert sind diese Bereiche nicht durch den üblichen Maschendrahtzaun, sondern durch tiefe Tröge aus Stahlbeton, die von den Bewohnern bepflanzt werden sollen.

Als Trennung zwischen den einzelnen Gärten beziehungsweise Terrassen hat Nouvel ein Element entwickelt, das den Charakter der Siedlung wesentlich bestimmt: meterhohe Rankgerüste aus Stahl, die im jetzt noch unbepflanzten Zustand eher an ein Umspannwerk erinnern, aber im Lauf der Zeit zu grünen Wänden werden sollen. Im Zusammenhang mit diesem Element muß auch die Wahl der dominierenden Gebäudefarbe gesehen werden: Alle Außenwände sind in einem dunklen Weinrot gestrichen, die Betontröge vor den Wohnungen ebenso wie die Holzverschalung der Fassade und die Verblechung des Dachs und der Gesimse. Das dunkle, erdige Rot gibt dem an sich schon gedrungenen Baukörper zusätzliche Schwere, vor der die Bepflanzung umso stärker zur Wirkung kommen wird.

Um Freibereiche auch für die Bewohner der oberen Geschoße zu schaffen, hat Nouvel seine Baukörper terrassiert: Das erste und zweite Geschoß bilden einen breiteren Sockel, die beiden Obergeschoße springen zurück. Bis auf die Räume im Dachgeschoß verfügt damit jeder Wohn- beziehungsweise Schlafraum über seinen eigenen vorgelagerten Freibereich. Große Fenstertüren erlauben in diesen Räumen eine enge Verbindung zwischen Innen und Außen. Schiebeläden mit verstellbaren Lamellen sorgen bei Bedarf für die nötige Abschirmung.

Die Wohnungen selbst sind großteils Maisonetten. Bei den meisten Typen führt der Eingang über einen kleinen Windfang direkt ins Wohnzimmer, Naßbereiche sind in der dunklen Kernzone der tiefen Baukörper zusammengefaßt. Dieser Grundrißzuschnitt ist ungewohnt, spart aber Erschließungsfläche und macht die Wohnungen großzügig - „Nur eine große Wohnung ist eine schöne Wohnung“, hat Nouvel einmal das Leitmotiv seiner Wohnungskonzepte umrissen. Trotzdem geht es in diesen Grundrissen nicht nur um Fläche: Nouvel legt offensichtlich großen Wert auf symmetrische und manchmal geradezu klassische Zuschnitte, beispielsweise bei einigen Maisonettetypen mit zentraler Wohnhalle.

In seiner Projektbeschreibung weist Nouvel darauf hin, daß er durchaus eine persönliche Interpretation des Wiener Kontexts im Sinne hatte. Wien ist für ihn ein Ort, an dem sich byzantinischer Überschwang mit dem Gefallen an der Strenge der Geometrie trifft, zugleich jene Stadt, der es „innerhalb zweier kurzer Jahrzehnte gelungen ist, Psychoanalyse, Zionismus, Zwölftonmusik, Expressionismus, moderne Architektur und Kunstkritik zu erfinden oder wiederzuentdecken, und die während der zweiten Jahrhunderthälfte mit Pichler, Hollein, den Haus-Ruckern und Coop-Himmelblau den Traum der Avantgarde auferstehen ließ“.

Er selbst habe sich in seiner Interpretation des Genius loci an der „Radikalität von Adolf Loos und der Freiheit von Josef Frank“ orientiert, weil sie das „moderne“ Wien am greifbarsten repräsentierten: „Der Fremde muß sich hier bescheiden, ja sogar etwas schüchtern verhalten und versuchen, seinen Beitrag, der auf jeden Fall exotisch sein muß, respektvoll anzupassen.“

Exotisch ist Nouvels Wohnbau schon deswegen, weil er viele gängige Trends unterläuft: eine elementare tektonische Lösung, zugleich aber ein Baukörper mit klarer Physiognomie, der bewußt historische und symbolische Referenzen sucht. Die Qualität von Nouvels Arbeit liegt generell in der Verweigerung jedes Konformismus, in der radikalen, forschenden Auseinandersetzung mit einer vielfältigen und jeweils einzigartigen Realität. „Ich glaube nicht an Generalisierungen, an kein Modell. Mich interessiert die Poesie einer Situation und das Aufspüren von Bedeutungen in einem Kontext der Pluralität.“

Daß die Realität des Wohnbaus in Wien nicht an den Qualitätsansprüchen von Loos oder Frank gemessen werden darf, mußte Nouvel bei der Ausführung seines Projekts gleich in mehreren Punkten erfahren. In der Durchführung durch einen Generalunternehmer blieben einige Elemente, wie die ursprünglich geplanten schlanken Kamine, die dem Gebäude eine ganz andere Silhouette gegeben hätten, gänzlich auf der Strecke. Anderes wurde in veränderter Qualität ausgeführt, die Rankgerüste etwa, wo statt glänzendem Edelstahl eine matte, pulverbeschichtete Lösung zum Einsatz kam.

Verändert wurde auch das Erschließungssystem. Ursprünglich hätten die Treppenhäuser nur überdacht werden sollen; um Auseinandersetzungen mit Baupolizei und zukünftigen Mietern zu vermeiden, wurden sie schließlich völlig geschlossen - eine teure und ästhetisch unglückliche Maßnahme. Daß auch die räumliche Qualität und die Logik der Bewegung zum Komfort eines Treppenhauses zu rechnen sind, hat bei dieser Entscheidung offenbar keine Rolle gespielt.

Wer jetzt aus dem geschützten Treppenhaus erst wieder auf eine offene Terrasse muß, bevor er seine Wohnung betreten kann, wird zu Recht irritiert sein. Die nachträgliche „Einhausung“ der Treppe zeigt Nouvel schließlich als das, was sie ist: Der Glaskobel reicht so knapp an das weit vorkragende Dach, das ursprünglich zum Schutz der Treppe vorgesehen war, heran, daß es weh tut.

Noch in einem anderen kleinen Detail wird die Psychopathologie der heutigen Wohnbau-Realitäten deutlich: Weil Nouvel alle Freibereiche baulich markiert hat, wären zusätzliche Abgrenzungen eigentlich überflüssig. Das Grundstück besteht aber aus drei unabhängigen Teilen, und daher wurden entlang der Grenzlinien Zäune aus Maschendraht errichtet, die streckenweise die Pflanzentröge begleiten, dann wieder einen Hofbereich in zwei ungleiche Teile zerschneiden.

Architektur und juristische Realitäten laufen ignorant aneinander vorbei. Man darf nur hoffen, daß sie irgendwann wieder zueinander finden

Spectrum, Sa., 1997.09.27



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Wohnanlage

17. August 1997Christian Kühn
Spectrum

Ein Dach aus Stoff und Form

Kein Architekt, sondern ein Maschinenbauer mit Gefühl für szenische Wirkung und ein kreativer Statiker verwandelten den Salzburger Residenzhof in eine regensichere Opernbühne: ansprechende Ingenieurbaukunst mit Schönheitsfehlern.

Kein Architekt, sondern ein Maschinenbauer mit Gefühl für szenische Wirkung und ein kreativer Statiker verwandelten den Salzburger Residenzhof in eine regensichere Opernbühne: ansprechende Ingenieurbaukunst mit Schönheitsfehlern.

Ein altes Klischee über das Verhältnis zwischen Architektur und Ingenieurbau besagt, daß der Architekt zuerst eine Form festlegt und der Ingenieur sich dann um deren Baubarkeit zu kümmern hat. Oft genug - so will es das Klischee - prallt dabei die freie Künstlernatur des Architekten mit der Verpflichtung des Ingenieurs zusammen, exakt zu rechnen und die geltenden Normen zu erfüllen.

Die wirkliche Beziehung zwischen den beiden Disziplinen ist freilich bei weitem nicht so simpel: Denn weder ist das Bauingenieurwesen eine exakte Wissenschaft, noch hat es je eine Architektur gegeben, die ihre Formen nicht auch aus dem Widerstand gegenüber dem Stofflichen abgeleitet hätte. Das Geheimnis der Ingenieurbaukunst besteht gerade darin, eine schlüssige Übereinstimmung zwischen konstruktivem Prinzip und formaler Durchbildung zu entwickeln, ohne einem der beiden Aspekte von vornherein Priorität einzuräumen. Die korrekte Berechnung ist dann nur ein nachgeordnetes, wenn auch nicht zu unterschätzendes Problem.

Die Überdachung des Hofs der alten Residenz in Salzburg ist ein gelungenes Beispiel für Ingenieurbaukunst in diesem Sinn. Die Aufgabenstellung erscheint auf den ersten Blick ganz simpel: Ein rechteckiger Hof, 24 mal 36 Meter im Geviert, soll für die Salzburger Festspiele in ein regensicheres „Opernhaus“ verwandelt werden. Schon in den fünfziger Jahren fanden hier Aufführungen statt, damals allerdings vor kleinerem Publikum. Als 1993 unter Gérard Mortier der Residenzhof als Spielstätte wiederentdeckt wurde, erhöhte man die Anzahl der Sitzplätze auf 800 und wich bei Regen ins Mozarteum aus.

Der Wunsch nach einer Überdachung ergab sich aus ökonomischen Überlegungen: Einerseits ist bei jeder Freiluftvorführung eine zweite Spielstätte als „Ausweichquartier“ blockiert, andererseits lassen sich Karten für eine Aufführung, die man unter Umständen nur konzertant erleben wird, nicht zum selben Preis verkaufen wie für andere Produktionen. Streng ökonomisch begründet war daher auch die Vorgabe für den Kostenrahmen: Das neue Dach sollte sich innerhalb von vier Jahren amortisieren und durfte daher nicht mehr als drei Millionen Schilling kosten.

Nun haben die Salzburger Festspiele mit der Überdachung von Spielstätten ja schon Erfahrung: Seit 1972 ist die Felsenreitschule mit einem flexiblen, auf Stahlseilen beweglichen Dach geschützt, das auch den stärksten Regenfällen trotzt. Um akustische Beeinträchtigungen zu vermeiden, ist dieses Dach zweischichtig ausgeführt: Über der eigentlichen Dachhaut liegt als Zerstäuberschicht ein dünnes Drahtnetz, das den Regen davon abhält, aufs Dach zu trommeln.

Eine ähnliche zweischichtige Lösung sollte nun auch im Residenzhof ausgeführt werden. Anders als in der Felsenreitschule braucht das Dach hier nicht beweglich zu sein, dafür muß es in wenigen Tagen auf- und wieder abgebaut werden können.

Für Klaus Kretschmer, der als Maschinenbauingenieur und technischer Direktor der Salzburger Festspiele die Überdachung des Residenzhofs zu konzipieren hatte, sind solche Aufgaben nichts Ungewöhnliches. Wer etwa bei der heurigen Inszenierung der „Zauberflöte“ einen Blick hinter die Bühne der Felsenreitschule werfen darf, wird dort eine weitgespannte Stahlkonstruktion zu sehen bekommen, von der das tonnenschwere hölzerne Zirkuszelt des Bühnenbilds abgehängt ist, das für den Zuschauer wie aus leichtem, bunt gestrichenem Pappendeckel aussieht.

Auch im Residenzhof spielte die Frage des Bühnenbilds eine gewisse Rolle. Immerhin war klar, daß als erste Produktion unter dem neuen Dach Mozarts „Entführung aus dem Serail“ zur Aufführung kommen würde. Die ersten Entwürfe Kretschmers glichen denn auch einem Zelt mit leicht orientalisierendem Anklang, das weit aus dem Hof herausgeragt hätte. Mit dieser Idee konnte sich die Altstadtkommission freilich ganz und gar nicht anfreunden: Eine Verfremdung der gewohnten Salzburger Silhouette wäre zwar eine schöne Visualisierung der Ära Mortier, aber unvereinbar mit dem Schutz des Altstadtbilds.

Auch der Statiker, der mit Kretschmer zusammenarbeitete, war mit der Idee des Großzelts nicht glücklich, freilich aus ganz anderen Gründen. Karlheinz Wagner, der für die Salzburger Festspiele alle Bühnenkonstruktionen prüft und sich auch sonst gern - etwa als Statiker für das Denkmal am Wiener Judenplatz und die Ausgrabungen darunter - mit ungewöhnlichen Aufgaben beschäftigt, hatte für das Dach eine viel simplere Lösung vor Augen, nämlich die Membranen an mehreren Hoch- und Tiefpunkten in die Fassade zu dübeln.

Diese formal und statisch interessante Lösung scheiterte allerdings an zwei Punkten: Einerseits wollte das Denkmalamt Veränderungen an der Fassade nur im kleinsten Umfang zulassen, andererseits waren für die Aufführungen zwei Beleuchtertribünen zu schaffen, die eine eigene Tragkonstruktion unabhängig vom Dach erfordert hätten. So entschied man sich schließlich für eine Lösung mit vier Stahlfachwerken, die als Saumträger für die beiden Membranen wirken. An den Längsseiten sind die Obergurte dieser Träger parabelförmig gekrümmt und erreichen in der Mitte eine Konstruktionshöhe von vier Metern. Seitlich bildet eine Folie aus transparentem Kunststoff, die das Fachwerk sichtbar läßt, den notwendigen Regenschutz, während die restliche Dachhaut aus einer vorgespannten, transluzenten Membran besteht. Das Gewicht des Dachs wird in den Ecken von vier zarten Stahlsäulen aufgenommen, deren obere Gelenkpunkte fast unmerklich an die massiven Mauern der Residenz angedübelt sind - die einzige direkte Verbindung der Konstruktion mit dem Altbau.

Eine ganz besondere Herausforderung ergab sich bei dieser Lösung in bezug auf den Brandschutz. Stahl ist zwar ein ideales Material, um große Spannweiten mit wenig Gewicht zu überbrücken, im Falle eines Brandes verliert er jedoch seine Tragfähigkeit schon bei relativ niedrigen Temperaturen. Nach den geltenden österreichischen Normen hätte die gesamte Konstruktion mit einem zusätzlichen, teuren Schutzanstrich versehen werden müssen, um den Flammen, die bei einem Brand in der Residenz aus den Fenstern schlagen würden, standzuhalten. Karlheinz Wagner hatte das Glück, auf seiten der Baupolizei mit Josef Reyer ein beamtetes Gegenüber zu haben, das sich nicht - wie so oft - hinter Normen versteckte, sondern einer intelligenteren Lösung durchaus offen gegenüberstand: Wagner führte eine Berechnung durch, die genauer auf die zu erwartenden Brandlasten und die Geometrien der Fensteröffnung einging, und es gelang ihm so, den Anstrich auf ganz wenige neuralgische Punkte zu beschränken.

Daß diese Überdachung ästhetisch ansprechend und mit insgesamt nur 2,6 Millionen Schilling Nettobaukosten kommod im Preisrahmen errichtet werden konnte, ist also der Zusammenarbeit einer Reihe von Akteuren zu verdanken: einem Maschinenbauer mit Gefühl für szenische Wirkung, einem kreativen Statiker, einem innovationsfreundlichen Beamten und einer Reihe von weiteren Planern und Bauleuten bei den ausführenden Firmen.

Eine Profession fehlt freilich in dieser Liste: der Architekt. Das kann Zufall sein, vielleicht ist es aber auch symptomatisch. Fragt man beim Auftraggeber nach, dann meint der lapidar, daß eine zeitgerechte Fertigstellung mit einem Architekten wohl kaum möglich gewesen wäre. Und auch dessen Honorar wäre bei einer so konstruktiv determinierten Aufgabe wohl kaum im richtigen Verhältnis zur Leistung gestanden. Dieses Urteil entspricht einer verbreiteten Auffassung: Billiger und schneller baut sich's ohne Architekten.

Vielleicht ist dieses Urteil sogar richtig. Aber daß man dafür einen Preis bezahlt, das zeigt sich sogar hier im Residenzhof. Als Ingenieurleistung hat die Lösung höchste Qualität, und auch die akustischen und bühnentechnischen Bedingungen mögen fast ideal sein. Daß es aber doch grundsätzlich um die Schaffung eines festlichen Gesamtrahmens gegangen wäre - nicht nur um Dach und Bühne, sondern auch um Raum und Bewegung - , hätte einem Architekten nicht entgehen können.

Und so sind es Kleinigkeiten, die die Freude an dem neuen Spielort trüben: Die Vorgabe der Altstadtkommission, die Überdachung nicht über den Altbau ragen zu lassen, hätte ein Architekt wohl kaum widerspruchslos hingenommen. Das hätte vielleicht Zeit gekostet, aber schon eine Hebung um zwei Meter hätte dem Hofraum seine Proportion erhalten. Und ein Architekt hätte auch jene Momente eines Opernbesuchs besser berücksichtigt, die außerhalb der eigentlichen Vorführung liegen. Die Treppenaufgänge, der Raum unter der Tribüne, die Eingangssituation - all das funktioniert hier, aber es könnte mehr: eben seinen spezifisch architektonischen Beitrag zur Feststimmung leisten. Vielleicht kann man sich in den nächsten Jahren dazu entschließen, die geglückte Überdachung um eine gleichwertige Infrastruktur zu ergänzen.

Spectrum, So., 1997.08.17



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Überdachung Residenzhof

06. Juli 1997Christian Kühn
Spectrum

Nur Durchblick, keine Aussicht

Dieser Tage in der Wiener Innenstadt: Angehende Architekten üben die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum und stellen die Frage, wem dieser gehört. Nicht länger den Architekten, wie es scheint - aber muß das ein Unglück sein?

Dieser Tage in der Wiener Innenstadt: Angehende Architekten üben die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum und stellen die Frage, wem dieser gehört. Nicht länger den Architekten, wie es scheint - aber muß das ein Unglück sein?

Die Wiener Ringstraße zwischen Oper und Schottentor galt unter Architekten schon immer als Stadtraum zweifelhafter Qualität: eine Aneinanderreihung von Repräsentationsbauten, die Stadtkern und alte Vorstädte mehr trennt als verbindet. Die große Klammer des Kaiserforums, die Gottfried Semper aus den Hofmuseen und der Hofburg bilden wollte, blieb ein Torso: Der zweite Flügel der Neuen Hofburg wurde nie gebaut, das klassizistische Burgtor Nobiles, das dem Kaiserforum hätte weichen sollen, blieb dagegen als Trennung bestehen. Die mögliche Ahnung eines großen Platzraums wird schließlich durch die dichte Alleepflanzung an der Ringstraße endgültig zerstört.

All das hat nicht verhindert, daß dieser Ort zum geschichtsträchtigsten öffentlichen Raum Wiens geworden ist: ein vielachsiges, kaum geordnetes Aufmarschgelände mit dem Heldenplatz in der Mitte. Daß jede Veränderung an dieser Stelle auf ganz besondere Schwierigkeiten stößt, weiß man spätestens seit den Querelen um das Museumsquartier: Das letzte große Bauwerk, das hier raumprägend werden konnte, ist der Flakturm in der Stiftskaserne, dessen mächtige Masse die Hofstallungen überragt und die Achse des Platzraums beschließt.

Wer in den vergangenen Wochen den Ring entlangfuhr, konnte direkt neben dem Burgtor eine seltsame Konstruktion entstehen sehen: Baugerüste, mit Netzen verkleidet, daneben ein schwebender Körper, der an einen Zeppelin erinnerte, und eine begehbare Blase aus Kunststoff. In der Nacht wurden diese Körper als Projektionsflächen für Videos und Computeranimationen genutzt.

Diese temporäre Installation war die Abschlußarbeit zu einer Entwurfsübung, die Gerhard Steixner im Rahmen einer Gastprofessur am Institut für Raumgestaltung der Technischen Universität Wien betreute. Die Studenten sollten sich mit der Frage auseinandersetzen, was für sie einen öffentlichen Raum ausmache und wie der an diesem Ort entstehen könne.

Wäre diese Aufgabe vor 15 Jahren gestellt worden, so hätte die Mehrheit der Studenten versucht, die Form des Platzes zu thematisieren - den Torso des Forums zu schließen oder zumindest zu ergänzen - , in jedem Fall aber dem öffentlichen Leben irgendein Gefäß zu geben. Bemerkenswert an den Vorschlägen des Jahres 1997 sind weniger die Einzellösungen, ist vielmehr die Tendenz, dem Bauwerk das Potential zur Definition eines öffentlichen Raums abzusprechen. Öffentlichkeit sei Kommunikation, so wird argumentiert, und die erfolge heute über Medien, die den gebauten Raum immer weniger benötigen.

An den vorgestellten Konzepten lassen sich zwei grundverschiedene Antworten ablesen. Einerseits soll an die Stelle des Bauwerks das Kunstwerk im großen Maßstab treten: Da wird der ganze Platz mit einem System von Becken unter Wasser gesetzt, da wird die bestehende Struktur mit einem Raster kleiner Pavillons überlagert oder der ganze Platz von schwebenden Körpern überspannt. Es ist eine Art von naiver Flucht nach vorn: Wenn die Architektur nicht mehr ernst genommen wird, dann müsse sie eben den Status des autonomen Kunstwerks beanspruchen.

Die andere Antwort ist radikaler: Nur dort, wo Architektur leicht, unbestimmt und schnellebig wird, könne sie vielleicht noch eine öffentliche Rolle spielen. Neu ist eine solche Argumentation nicht: Die sechziger Jahre haben genug Konzepte für aufblasbare Strukturen und Medien-Environments hervorgebracht. Selbst Laurids Ortner, der heute mit dem Museumsquartier versucht, einen öffentlichen Raum im ganz konventionellen Sinn zu bauen, hat ja vor 30 Jahren als Haus-Rucker Klimakugeln, Mind-Expander und Blickzerstäuber entwickelt.

Die kurzlebige Installation am Burgtor hat sich als Zentrum für öffentliche Events jedenfalls bewährt: Bei den Parties rund um den psychedelisch beleuchteten Kubus drängten sich die Besucher. Als freilich eines Abends zu einer Podiumsdiskussion zum Thema „Wem gehört der öffentliche Raum?“ gebeten wurde, waren die geladenen Diskutanten beinahe unter sich - der Vergleich mit den sechziger Jahren scheint sich doch eher aufs Formale der pneumatischen Konstruktionen zu beschränken.

Auf dem Podium saßen mit den Museumsdirektoren Noever und Seipel auch zwei Schutzherren öffentlicher Räume, die sich zumindest darin einig waren, daß man Öffentlichkeit zwar nicht bauen kann, daß aber Gebautes durchaus dazugehöre.

Auf Seipels provokante Frage an jene Studenten, die den Heldenplatz und seine Umgebung künstlerisch umgestaltet hatten, ob sich denn wirklich jede Zeit an einem Ort baulich abbilden müsse, gab es nur diffuse Antworten: Da wurde von Herrschaftsarchitektur gesprochen, zu der es keine innere Verbindung mehr gebe und die deshalb keine Existenzberechtigung mehr habe.

So sehr es auch erschrecken mag, daß angehende Architekten in einem historischen Ort wie dem Heldenplatz nicht mehr sehen können als eine Anhäufung von Ziegeln: Seipels Provokation geht an der Realität vorbei. Denn die besteht nicht darin, daß ununterbrochen gestalterische Angriffe abgewehrt werden müßten, sondern vielmehr in der völligen Tabuisierung des historischen Zentrums, die jene selbstverständliche, kontinuierliche Veränderung verhindert, die einen Ort erst davor bewahrt, zur touristischen Kulisse zu verkommen.

Das Museumsquartier ist nur ein Beispiel für die nachhaltige Wirksamkeit dieser Tabus. Selbst wenn es nun tatsächlich realisiert wird, bleibt es hinter die Kulisse eines mittelmäßigen barocken Pferdestalls geduckt.

Daß es möglich ist, sogar den Heldenplatz als Bauplatz zu denken, hat eines der Studentenprojekte überzeugend bewiesen: Es setzt Erweiterungssäle für die Nationalbibliothek auf Stützen in den halbkreisförmigen Raum vor der Neuen Burg und schafft darunter eine direkte Verbindung in den Burggarten. Wenn es gelänge, die Denkhemmung aufzubrechen, die einen solchen Vorschlag nur als Anschlag auf ein gewohntes Bild verstehen kann und nicht als selbstverständliches Weiterdenken bestehender Strukturen, wäre schon viel gewonnen.

Besonderen Anlaß zu Optimismus gibt es da freilich nicht. Tatsächlich scheint die Disziplin der Architektur eine immer geringere Rolle für den öffentlichen Raum zu spielen. Dort, wo die Politik größere Summen investiert, um diesen Raum lebendig zu machen - wie etwa bei den diversen Spektakeln am Rathausplatz - , ist Architektur auch kaum gefragt. Die freie Fläche zwischen Burgtheater und Rathaus ist dabei symptomatisch für die geänderte Auffassung von Stadtraum. Für Camillo Sitte, für Wagner und Loos war diese Fläche ein Paradebeispiel einer verunglückten Lösung, und alle drei haben Vorschläge zu einer urbanen Neudefinition gemacht. Heute kann die Fläche gar nicht undefiniert genug sein, um vom Zirkus bis zum Filmfestival alles zuzulassen.

Ein Beitrag der Architektur müßte unter heutigen Bedingungen ganz andere Strategien anwenden, und nur wenige Architekten wie Eichinger oder Knechtl haben sich bisher dezidiert mit dieser Aufgabe beschäftigt. Ob die Politik von der Architektur hier irgendwann einen Beitrag erfragen wird oder ob man sich weiterhin mit einer Mischung aus Wurstelprater und Magistratsästhetik abfindet, bleibt abzuwarten.

Zu schnell sollte man die Erlösung der Architektur von der Verpflichtung, ewige Werte zu schaffen, aber nicht begrüßen. Die Frage, wem der öffentliche Raum gehört, ist damit nämlich längst nicht beantwortet. Daß er nicht den Architekten gehört, um ihren Gestaltungstrieb auszuleben, werden wir gern akzeptieren. Aber das war immer schon mehr bösartige Unterstellung als ernstzunehmender Vorwurf.

Nach wie vor sollten Architekten aber Verantwortung für den öffentlichen Raum übernehmen und dafür auch entsprechende Rechte einfordern dürfen. Die Liebe der Politik zu den kurzlebigen, flüchtigen Strukturen hat nur wenig mit Demokratie zu tun; sie ist vor allem darin begründet, daß die Entscheidung leichter wiegt.

Die neuen Events finden aber nicht im Niemandsland statt, sondern an Orten mit starken räumlichen Qualitäten: Die Free- und die Regenbogen-Party sind schließlich nicht über die Brünner Straße gezogen, sondern über den Ring, und ein Filmfestival am Leberberg würde nicht nur an der schlechten Erreichbarkeit scheitern, sondern auch daran, daß es dort keinen geeigneten Freiraum gibt.

So hat vielleicht eine andere Installation die Lage besser getroffen: Im großen abgesenkten Oval der Schottentorpassage sind derzeit 300 weißlackierte Fensterrahmen aus Abbruchhäusern ins Gras gesetzt und mit Drähten abgespannt. Roland Graf und Michael Bieglmayr haben ein Konzept entwickelt, das den scheinbar ungehinderten Durchblick in der Wiederholung hinterfragt: In endlosen Reflexionen und Überlagerungen geht die Transparenz schließlich verloren.

Das freigestellte Fenster verweist dabei auf ein Abwesendes: die Behausung. Bei aller Faszination durch den virtuellen Raum dürfen Architekten und ihre Auftraggeber nicht vergessen, dem Qualität zu geben, was bleibt, wenn der Strom ausfällt.

Spectrum, So., 1997.07.06

03. Mai 1997Christian Kühn
Spectrum

Komfort mit Ecken und Kanten

Wohnen im Raum, nicht im Zimmer: Nach diesem Prinzip hat Anton Schweighofer in Wien- Simmering ein Haus gebaut - und die Behauptung widerlegt, im geförderten Wohnbau gehe es nur darum, standardisierte Grundrisse kostengünstig zu reproduzieren.

Wohnen im Raum, nicht im Zimmer: Nach diesem Prinzip hat Anton Schweighofer in Wien- Simmering ein Haus gebaut - und die Behauptung widerlegt, im geförderten Wohnbau gehe es nur darum, standardisierte Grundrisse kostengünstig zu reproduzieren.

Früher einmal, da wohnte der Wiener in Zimmer, Küche, Kabinett. Der gründerzeitliche Spekulationsbau hat diese Kombination aus quadratischem Wohnraum und zwei schmalen Nebenräumen tausendfach addiert, zu Mietshäusern gestapelt und ganze Stadtviertel aus ihnen errichtet. Daß dieser Typus auch Qualitäten besitzt, ist unbestritten. Die Raumproportionen sind gut, und die einfache, repetitive Geometrie bietet die Möglichkeit zur Anpassung an geänderte Bedürfnisse.

Als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse ist das gründerzeitliche Zinshaus weit weniger sympathisch. Es ist eine Degenerationsform des bürgerlichen Wohnhauses, in der nicht das Wohnen, sondern die Rendite im Mittelpunkt steht. Während das bürgerliche Wohnhaus das vielfältige Wechselspiel zwischen öffentlichen und privaten Verpflichtungen zum Ausdruck brachte und damit um sich herum Urbanität erzeugte, beschränkt sich der Beitrag des Zinshauses zur Stadt auf die Fassade. Dahinter reiht sich Zimmer an Zimmer, funktionell geordnet, aber ohne jene eigenständige Verfassung, die aus den Zimmern erst eine Wohnung und aus der Wohnung eine Heimat machen könnte.

Ist die heutige Wohnbaupraxis dieser Haltung tatsächlich so weit überlegen, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat? Was den Komfort, die Wohnungsgröße und die technische Ausstattung betrifft, ist das natürlich keine Frage. In all diesen Punkten haben sich Standards eingebürgert, die kein Bauträger zu unterschreiten wagt. Die prekäre Beziehung zwischen privater und öffentlicher Sphäre ist dagegen ein Thema, dessen Vernachlässigung kaum jemandem Kopfzerbrechen zu bereiten scheint.

Solange es um Reihenhäuser oder verdichtete Teppichsiedlungen geht, ist das weniger problematisch: Hier impliziert die Aufgabe an sich das Nachdenken über Grenzen und Übergange vom Öffentlichen zum Privaten. Beim mehrgeschoßigen Wohnbau dagegen, der ja derzeit aus ökonomischen Gründen in Wien wieder absolute Priorität hat, scheint man in dieser Frage aber ungestraft noch unter das Niveau des Zinshauses zurückfallen zu dürfen. Jedenfalls überwiegen nach wie vor die Fälle, bei denen - angeblich im Interesse der Bewohner - nur die Maximierung von Nutzfläche betrieben wird.

Wie sehr letztlich auch die Bewohner davon profitieren können, wenn man die Beziehung zwischen Haus und Stadt ernsthaft thematisiert, beweist ein jüngst nach dem Entwurf von Anton Schweighofer fertiggestelltes Wohnhaus in Wien- Simmering. Es ist ein Bau von eindeutig urbanem Charakter, ein langgestreckter, zur Kaiserebersdorfer Straße hin fünfgeschoßiger Riegel mit markant ausgeformten Ecken, der an den Seiten auf drei Geschoße reduziert ist und dort präzise an die gründerzeitliche Bebauung anschließt. Was sofort auffällt, ist der tiefe Vorgarten an der Hauptstraße, der jetzt noch etwas kahl wirkt, aber im Laufe der Zeit einen grünen Filter vor das Haus setzen wird. Der Vorgarten ist teilweise den Wohnungen im Erdgeschoß zugeordnet, teilweise schafft er großzügige Vorbereiche vor den Eingängen ins Haus. Das Flächenpotential ist damit zwar nicht ganz ausgeschöpft, der Bauherr ließ sich aber davon überzeugen, daß der tiefe Vorgarten die Qualität der Wohnungen steigern würde.

Im Erschließungssystem setzt sich diese Großzügigkeit fort: Statt das Stiegenhaus auf ein Minimum zu reduzieren, hat Schweighofer daraus einen lichtdurchfluteten Raum gemacht, der durchaus auch zum Verweilen einlädt. Abgeschlossen ist dieser Raum durch einen gläsernen Wintergarten, der als großer, ruhig proportionierter Kasten genau so weit über die Putzfassade vorspringt, daß man beim Begehen der Treppe immer wieder aus dem Baukörper herauszutreten vermeint und einen Blick nicht nur auf die andere Straßenseite, sondern weit in die Kaiserebersdorfer Straße hinein werfen kann. Die Stiegenpodeste sind hier über das notwendige Maß hinaus zu kleinen, zwischen den Stockwerksniveaus schwebenden Plattformen erweitert, die sich die Bewohner im Lauf der Zeit aneignen werden.

Mit ihrem raffinierten Spiel aus Symmetrie und Asymmetrie prägen zwei solcher verglaster Stiegenhäuser den Mittelteil der Fassade. Die Ecken des Baukörpers sind dagegen als massive Blöcke ausgeformt. Im obersten Stock lösen sich diese Blöcke in ein Gerüst aus Rahmen auf, die ihrerseits einen achteckigen Turm einfassen. Eine solche Verbindung zwischen der Sprache der klassischen Moderne und einer in der klassischen Tradition verankerten Geometrie hat Schweighofer schon oft durchexerziert. Bemerkenswert ist hier allerdings, wie sich diese Spannung bis in die Grundrisse der Wohnungstypen verfolgen läßt.

In den Ecktypen findet sich eine Variante dessen, was Schweighofer als „Kreuzgrundriß“ bezeichnet: Vier annähernd quadratische, in ihrer Nutzung nicht genau vorbestimmte Raumeinheiten umschließen einen kreuzförmigen Innenbereich, der zum gemeinsamen Wohnen und zur Erschließung der umliegenden Einzelräume dient. Bei seinen Wohnbauten der späten achtziger Jahre hat Schweighofer dieses Prinzip erprobt, und es hat sich trotz anfänglicher Bedenken bezüglich der Möblierbarkeit und der Belichtung gut bewährt.

Daß dieser Wohnungstyp nicht nur einfach eine gemeinsame Innenzone, sondern auch eine geometrisch klar definierte Mitte hat, auf die sich die anderen Räume beziehen, wird bei den Dachwohnungen mit ihrem achteckigen Turmaufbau, der den Zentralraum noch überhöht, deutlich. Einem verwandten, aber in der räumlichen Wirkung gänzlich anderen Prinzip gehorchen die Wohnungen an den verglasten Stiegenhäusern. Auch hier gibt es ein gemeinsames Innen, aber es gibt keine geometrisch fixierte Mitte mehr. Indem einer der vier umliegenden Einzelräume um 45 Grad gedreht wird, löst sich der Kreuzgrundriß auf: Es entsteht eine fließende Innenzone, die hier noch durch zwei diagonal eingestellte, tragende Säulen an Komplexität gewinnt. Zur Fassade hin ist diese Innenzone durch einen im Grundriß trapezförmigen Wintergarten erweitert.

Natürlich ist ein Raumgrundriß mit elf oder mit fünf Ecken für die übliche Wohnvorstellung eine gewisse Zumutung: Als Abstellraum für das standardisierte Programm der Möbelhäuser taugt diese Wohnung nur bedingt. Dafür sieht Schweighofer ein größeres Potential zur individuellen Gestaltung, und wer Mobiliar tatsächlich als leicht und mobil versteht, hat hier sicher mehr Freiheiten als üblich.

Die Idee einer fließenden, gemeinsamen Innenzone, die zwischen individuell genutzten Einzelräumen entsteht, hat Schweighofer bei seinem wichtigsten jüngeren Bau, einem Studentenheim im zehnten Bezirk, entwickelt. Dort lag die Zumutung an die Bewohner vor allem darin, sich für ihren privaten Bereich auf einen Raum von 2,3 mal 2,8 Meter - wenn auch bei einer „hochbettfähigen“ Raumhöhe von drei Metern - zu beschränken. Obwohl man dem Gebäude anfangs zwar guten Willen, aber Unkenntnis der tatsächlichen, angeblich rein individualistisch geprägten Bedürfnisse studentischer Nutzer nachgesagt hatte, hat sich das Konzept zum allgemeinen Erstaunen ausgezeichnet bewährt.

Die Bewohner haben dort praktisch umgesetzt, was Schweighofer mit der Idee eines „Wohnens im Raum und nicht im Zimmer“ zu umschreiben versucht: Wo das „Wohnen im Zimmer“ den individuellen Besitzanspruch an ein paar Quadratmetern Fläche benennt, versteht Schweighofer unter „Wohnen im Raum“ eine Form des Wohnens, die ihre Qualität aus dem Zusammenspiel der Räume gewinnt. Die kleinste individuelle Einheit ist zwar durchaus abschließbar; indem sich diese Einheiten zum gemeinsamen Innenbereich öffnen, können sie aber, im Gegensatz zu einer Gang-und-Zimmer-Lösung, zueinander in Beziehung treten.

Von einem kollektiven Wohnen kann man dabei aber nur bedingt sprechen. Der Ausgangspunkt der Betrachtung ist für Schweighofer stets das Individuum, dem die Möglichkeit geboten wird, sich seinen Wohnraum aktiv anzueignen und über die Grenzen hinaus zu erweitern. Dieses Prinzip gilt in der Kaiserebersdorfer Straße im Inneren der Wohnung genauso wie im räumlichen Überfluß der Erschließungsbereiche.

Daß vom Bewohner dabei Offenheit und Konfliktfähigkeit erwartet werden, ist sicher auch eine gewisse Zumutung. Ob die Wiener Mentalität mit dieser Zumutung zurechtkommt, bleibt abzuwarten. Die Behauptung, innerhalb der engen und immer enger werdenden Grenzen des geförderten Wohnbaus gebe es, wenn überhaupt, nur noch eine einzige Aufgabe für die Architektur, nämlich standardisierte Grundrisse immer kostengünstiger zu reproduzieren, hat Schweighofers Bau jedenfalls schon jetzt widerlegt.

Spectrum, Sa., 1997.05.03



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Wohnbau Kaiserebersdorfer Straße

22. März 1997Christian Kühn
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Am Ende der wilden Jahre

Mit dem Versuch, eine Kunsthalle nach ihrem Geschmack durchzudrücken, setzen steiermärkische Landespolitiker das internationale Ansehen des Landes als Standort hochwertiger Architektur aufs Spiel. Eine Intervention.

Mit dem Versuch, eine Kunsthalle nach ihrem Geschmack durchzudrücken, setzen steiermärkische Landespolitiker das internationale Ansehen des Landes als Standort hochwertiger Architektur aufs Spiel. Eine Intervention.

Erst Salzburg, dann Linz und jetzt Graz: Kultur in den Berg zu bauen ist offensichtlich in Mode. In Salzburg hätte es das Guggenheim-Museum werden sollen, in Linz der Neubau eines Landestheaters im Schloßberg. Da darf Graz nicht zurückstehen: Direkt unter dem Uhrturm soll eine Kunsthalle als Erweiterung der Neuen Galerie in den Fels gesprengt werden.

Der Standort mag zwar für all jene Kunstliebhaber seinen Reiz haben, die im Museum die Schätze der abendländischen Kultur sicher geborgen sehen wollen. Ausstellungstechnisch ist er insofern weniger ideal, als Berge im allgemeinen keine Fenster haben. Das läßt sich freilich ändern.

Der Architekt Klaus Gartler, auf den der Plan zurückgeht, hinter dem Palais Herberstein den Fels auszuhöhlen und die Öffnung mit einer geneigten Glasfläche abzudecken, rühmt die „unique selling proposition“ dieser Idee, also die einzigartige Anziehungskraft, die Graz durch diese Maßnahme auf dem Tourismusmarkt entwickeln könnte: „Die Architektur des Schloßbergfensters als vorgestellte Fassade läßt eine diesem stadthistorisch bedeutsamen Ort adäquate einzigartige städtebauliche Lösung im Sinne des vielzitierten USP erwarten.“

Das klingt vielversprechend. Trotzdem fragt sich der Beobachter, ob es in Graz nicht andere geeignete Standorte für das Projekt „Kunsthalle“ gibt. Klaus Gartler hat im Auftrag der Stadt Graz eine Standortuntersuchung durchgeführt, und sein Schloßbergfenster ist nur eine der in dieser Studie genannten Möglichkeiten. Als gleichwertig bezeichnet Gartler den Pfauengarten, ein langgestrecktes Grundstück, das auf dem Niveau der alten Befestigungsmauern direkt an den Stadtpark angrenzt. Eine Kunsthalle an dieser Stelle käme an der Verbindung zwischen dem Stadtpark und dem dicht bebauten alten Stadtkern zu liegen und würde sich mit dem Schauspielhaus, dem Künstlerhaus und dem Forum Stadtpark zu einer schlüssigen urbanen Struktur ergänzen.

Ein einziges Argument spricht gegen diesen Standort: daß nämlich hier bereits eine Kunsthalle geplant war. 1988 wurde dafür ein Wettbewerb ausgeschrieben, den die Architekten Schöffauer und Tschapeller für sich entscheiden konnten. Als für das Projekt 1995 endlich alle baurechtlichen Bewilligungen vorlagen, geriet es in die Pattstellung, von der die steiermärkische Politik seit dem Verlust der absoluten Mehrheit der ÖVP im Jahr 1991 geprägt ist. Hatte die SPÖ ursprünglich dem Projekt zugestimmt, verlegte sie sich jetzt aufs Blockieren: Die bereits gesicherte Finanzierung wurde eingefroren.

Als nach der Wahlniederlage 1995 das Kulturressort an die SPÖ überging, sah der neue Landesrat für Kultur, Peter Schachner-Blazizek, die Chance, mit einem neuen Projekt eigenständiges Profil zu zeigen.

Der neue Standort ist freilich nicht ohne Tücken: Jener Teil des Schloßbergs, unter dem das Museum errichtet werden soll, wurde erst vor zehn Jahren als „geschützter Landschaftsteil“ gewidmet; die ersten Proteste von Umweltschützern gegen Veränderungen an der Oberfläche haben bereits eingesetzt. Ähnliche Argumente werden aus der Sicht des Ensembleschutzes vorgebracht, gilt doch die Dachlandschaft in diesem ältesten Teil der Stadt als besonders schützenswert. Von einem großzügigen Schloßbergfenster ist schon längst keine Rede mehr.

Auch wirtschaftlich ist die Entscheidung für den neuen Standort fragwürdig. Zwar soll das Museum im Schloßberg annähernd gleich viel kosten wie das Trigon; während dort aber über 4400 Quadratmeter Nutzfläche geplant waren, sind es im Schloßberg nur 2500. Eine Untersuchung über die Wirtschaftlichkeit des Gesamtprojekts liegt jedenfalls bis heute nicht vor.

Nun würde man es einem Privatmann nicht verübeln, wenn er seine Meinung ändert und beschließt, sein Geld eben an einem anderen Ort zu verbauen. In diesem Fall liegt die Sache aber anders: Immerhin geht es um öffentliche Mittel, zu denen auch noch die verlorenen Planungskosten für das Trigon kommen, und die betragen bereits über 16 Millionen Schilling.

Für diesen Betrag liegt ein praktisch baureifes Projekt höchster architektonischer Qualität vor, das über mehrere Jahre konzeptionell verfeinert wurde, ohne an künstlerischer Substanz eingebüßt zu haben, was im übrigen auch in Gartlers Studie dezidiert festgehalten wird.

Dort findet sich auch eine weitere Anmerkung: Falls die neue Kunsthalle bereits für die Landesausstellung im Jahr 2000 genutzt werden soll, „ist das Projekt im Pfauengarten das einzig machbare“. Der Beschluß der Landesregierung vom 25. September 1996, alle Planungen am Trigon-Museum zugunsten des Schloßbergs einzustellen, ist zwar mit Hinweis auf Gartlers Studie begründet; trotzdem wird ausdrücklich festgelegt, daß die neue Kunsthalle im Jahr 2000 fertiggestellt sein muß.

Was das bedeutet, kann man bereits jetzt, in der ersten Phase der Projektabwicklung, beobachten. Die Ausschreibung des Wettbewerbs geriet zum Chaos: Von neun Jurymitgliedern waren bei einer konstituierenden Sitzung gerade drei - Gustav Peichl, Vittorio Magnago Lampugnani und Georges Calteux - fixiert, und die konnten mangels brauchbarer Unterlagen nichts anderes empfehlen, als den Abgabetermin in den Herbst zu verschieben. Ob überhaupt qualifizierte Architekten teilnehmen werden, ist trotz eines hohen Preisgeldes von zusammen drei Millionen Schilling fraglich: Denn parallel zum Architektenwettbewerb hat das Land Steiermark schon jetzt nicht nur die Statik und die Haustechnikplanung ausgeschrieben, sondern auch die Ausführungs- und die Detailplanung. Wer immer aus dem Architektenwettbewerb als Sieger hervorgeht, wird zwar den Entwurf liefern dürfen, die Detailplanung aber nicht mehr selbst durchführen können.

In welche Richtung der Auslober damit das Projekt treiben will, liegt auf der Hand. „Bewährte, gängige technische Lösungen sind Experimenten vorzuziehen“, heißt es lapidar in einer Machbarkeitsstudie der Landesregierung. Daß dieses Prinzip nicht nur im Detail zur Anwendung kommt, dafür soll die Präsenz Vittorio Magnago Lampugnanis in der Jury sorgen.

Lampugnani hat sich in Berlin einen Namen gemacht als Proponent einer klassischen Formensprache, einer Architektur, die mit dem sorgfältigen Aneinanderfügen zweier Ziegelsteine beginnt, wie das Mies van der Rohe einmal formuliert hat. Auch von einem Museum hat Lampugnani klare Vorstellungen: „Bietet es nichts als schlichte rechteckige Räume mit vier weißen Wänden und ein Oberlicht, und dies in einem klaren Rundgang, dann stellt es alle zufrieden.“

Das paßt gut ins Bild der neuen steiermärkischen Architekturpolitik: Nach den wilden Jahren, in denen es schon als Kunst gegolten hat, zwei Stahlträger schräg aneinanderzuschweißen, soll wieder die Vernunft einkehren. Aber ist diese simple Polarisierung zwischen dekonstruktivistisch schräg und wertkonservativ aufrecht wirklich stichhaltig? Die Domenigs, Kadas und Plotteggs, die jetzt aus allen öffentlichen Aufträgen ferngehalten werden sollen, sind alles andere als eine homogene Gruppe und lassen sich schon gar nicht auf jenen Stil reduzieren, mit dem ihre Epigonen die Grazer Schule in Verruf gebracht haben. Den Schritt vom Experiment zur souveränen Beherrschung ihrer Mittel haben die besten steirischen Architekten auch ohne Zutun der Politik schon längst vollzogen.

Das Trigon-Museum hat in dieser spezifisch grazerischen Polarisierung schon gar nichts verloren. Denn das Projekt von Tschapeller und Schöffauer ist so ganz und gar nicht „dekonstruktiv“: Seine Qualitäten liegen in der präzisen städtebaulichen Einfügung, in der poetischen Interpretation des Orts, in der außergewöhnlichen skulpturalen und räumlichen Durchbildung.

Welche Räume die Kunst des 21. Jahrhunderts tatsächlich braucht, weiß heute natürlich niemand: vielleicht neutrale, vielleicht dramatische, vielleicht gar keine. Im Zweifelsfall sollte man sich aber gegen die Touristenattraktion entscheiden und für die Architektur.

Spectrum, Sa., 1997.03.22



verknüpfte Bauwerke
Kunsthalle Graz

08. Februar 1997Christian Kühn
Spectrum

Sanierung mit Totalschaden

Das alte Technische Museum barg eine ganze Sammlung von Beweisstücken für das tragische Schicksal österreichischer Erfinder. Das umgebaute neue ist selbst ein Beweisstück - für das tragische Schicksal österreichischer Architektur.

Das alte Technische Museum barg eine ganze Sammlung von Beweisstücken für das tragische Schicksal österreichischer Erfinder. Das umgebaute neue ist selbst ein Beweisstück - für das tragische Schicksal österreichischer Architektur.

Kein Zweifel: Österreich ist das Land der tragischen Erfinderschicksale. Von heimtückischen Nachahmern um seine geniale Idee betrogen, stirbt der österreichische Erfinder vereinsamt und verarmt, während das böse Ausland den Gewinn einfährt.

Das alte Technische Museum, so wie es vielen Wienern noch von sonntäglichen Besuchen in Erinnerung ist, war eine Ansammlung von Beweisstücken für dieses Klischee: Mitterhofers Schreibmaschine, Ressels Schiffsschraube, die Maderspergersche Nähmaschine, Marcuswagen und Etrich-Taube. Ansonsten zeigte das Museum Technik aus der Perspektive und mit den Mitteln des späten 19. Jahrhunderts: Dampfmaschinen, Lokomotiven und Autos als Bubenträume von der rohen Kraft der Maschine und der Macht des Menschen über die Natur.

Zwei Weltkriege und eine Ökologiekrise später ist diese Perspektive obsolet (obwohl sie für „echte“ Buben - wie wir ehrlich zugeben müssen - nichts von ihrer Faszination verloren hat). Sie ist genauso veraltet wie die kühle Distanz, mit der die Tierwelt noch heute im Wiener Naturhistorischen Museum gezeigt wird. In endlosen Reihen von Vitrinen wird dort eine Sicht der animalischen Natur demonstriert, die sich auf eine Folge von Abschießen, Ausstopfen und Ausstellen zu beschränken scheint.

Aber diese Sicht, der wir einen guten Teil unserer heutigen ökologischen Misere verdanken, ist im Naturhistorischen Museum auf eine einzigartige Weise dokumentiert, und die derzeitige Aufstellung gilt daher zu Recht als kulturhistorisch erhaltenswert.

Das Technische Museum in seiner alten Form hätte einen vergleichbaren Status beanspruchen dürfen. Das Museum geht auf die Initiative Wilhelm Exners zurück, der sich bereits 1879 mit der Gründung der ersten Höheren Technischen Lehranstalt der Monarchie um die Förderung der Technik verdient gemacht hatte. 1907 wurde auf sein Betreiben hin ein Komitee für die Errichtung eines Technischen Museums geschaffen. Exner selbst arbeitete ein Museumskonzept aus, das technikhistorische mit pädagogischen Zielen vereinen sollte.

Der Architekt Emil von Förster legte auf dieser Grundlage einen ersten Entwurf für das Gebäude vor. Und nun folgt eine Reihe von Ereignissen, die für die spätere Geschichte des Hauses symptomatisch ist: 1909 fordert der Ingenieur- und Architektenverein einen öffentlichen Wettbewerb für das Museum; Exner will aus Zeitgründen trotzdem Försters Entwurf ausführen lassen und stimmt dem Wettbewerb erst nach dessen plötzlichem Tod zu; 27 Architekten, darunter Otto Wagner, Adolf Loos und Robert Oerley, nehmen am Wettbewerb teil; der erste Preis geht aber an jenen Architekten, der am wenigsten von Försters Entwurf abweicht, Hans Schneider. Das Museum wird in einer ersten Ausbaustufe noch während des Weltkriegs im Jahr 1918 eröffnet. Von Anfang an trägt man sich mit Erweiterungsplänen, aber bis zur Mitte der achtziger Jahre reicht die Finanzierung gerade für die notwendigsten Umbauten. 1987 gibt der Verein der Freunde des Technischen Museums eine erste Studie in Auftrag: Anton Schweighofer schlägt eine Sanierung und moderate, teilweise unterirdische Erweiterungen zu beiden Seiten des Altbaus vor. Als mit Peter Rebernik ein neuer Direktor für das Museum bestellt und gleichzeitig im Wirtschaftsministerium, das für den Bundeshochbau zuständig ist, eine „Museumsmilliarde“ für die Sanierung und Erweiterung der Bundesmuseen in Aussicht gestellt wird, bricht sich das mangelnde Selbstbewußtsein des österreichischen Erfindergeists Bahn und schlägt in sein Gegenteil um: Endlich soll die wirklich große, international Maßstäbe setzende Erweiterung realisiert werden.

Rebernik, der wohl nicht auf Grund museologischer Kompetenz zum Direktor bestimmt wurde, sondern wegen der in ihn gesetzten Hoffnung, durch geschickte Öffentlichkeitsarbeit Industriesponsoring ins Haus zu bringen, setzt 1989 eine Wettbewerbsausschreibung durch, die von vornherein zu einem vom Bund allein kaum finanzierbaren Ergebnis führen muß. Das Siegerprojekt in diesem Wettbewerb stammt vom Atelier in der Schönbrunner Straße, und es benutzt an neuester Bautechnik alles, was gut und teuer ist. Die Jury hat damit bewußt jenes Projekt gewählt, das die höchsten technischen Herausforderungen stellt, auch wenn es vom Räumlichen her in einigen Punkten nicht wirklich überzeugen kann.

Nach einem Haus-im-Haus-Prinzip ist das Museum in eine doppelte gläserne Hülle eingebaut und schließt als gläserner Block von beinahe denselben Ausmaßen wie das alte Museum im rechten Winkel an dieses an. Bestehende Bäume werden umbaut und sollen die Verbindung von Natur und Technik illustrieren, ein ausgeklügeltes Energiekonzept soll die neuesten Möglichkeiten der Gebäudetechnik nutzen. Für den Altbau schlagen die Architekten eine behutsame, etappenweise Sanierung vor.

Von Anfang an wird dieses Projekt vom Wirtschaftsministerium bekämpft. Die Architekten arbeiten unter Mitwirkung internationaler Experten mehrere Varianten aus, um die Kosten zu senken. Eine Machbarkeitsstudie wird in Auftrag gegeben. Die Autoren Oberndorfer und Reismann kommen zum Schluß, daß der Bau nur unter bestimmten Bedingungen zu befürworten sei. Eine davon: „daß der Bauherr ein Zeichen in Richtung moderner Museumsarchitektur setzen wollte“ und dabei „die Risken, die ohne Zweifel mit der Realisierung eines solchen Projekts verbunden sind, bewußt trägt“.

Das Ergebnis der Studie bleibt schwammig: Wenn alles gutgeht, könnte der Termin - noch ist eine Eröffnung im unseligen Millenniumsjahr 1996 vorgesehen - eingehalten werden; technisch ist der Bau wahrscheinlich beherrschbar; die Kosten könnten im vertretbaren Bereich bleiben. Eines ist aber bald klar: daß der Bauherr nicht daran denkt, irgendein Risiko zu tragen.

Schließlich bringt die Idee einer „inneren Erweiterung“ das endgültige Aus für den Neubau: Durch Hebung der Kuppeln in den zwei Höfen des Museums soll Platz gemacht werden für umlaufende Galerien mit rund 3500 Quadratmeter zusätzlicher Ausstellungsfläche. Den Auftrag für die Sanierung erhält Suter + Suter als Generalplaner, das Atelier in der Schönbrunner Straße soll die Neugestaltung des Eingangsbereichs übernehmen. Ab nun nimmt das Unglück seinen Lauf.

Ohne klares Konzept für eine Wiederaufstellung wird das Museum hastig geräumt, die Bestände in Hallen des Bundesheers eingelagert. Die Kuppelhebung bleibt die einzige technisch bemerkenswerte Leistung beim Bau: Die neuen Galerien werden trotz Einspruch des Denkmalamts aus Brandschutzgründen in Beton ausgeführt. Der Versuch, sie auf Pilzstützen unabhängig in den Raum zu stellen, ist gründlich mißlungen: Ein gröberer, geometrisch unglücklicherer Kontrast läßt sich kaum denken.

Wie man auf den schmalen Galerien überhaupt ausstellen soll, ist bis heute unklar. Noch dazu leiden die Galerien genau an dem Problem, das man zuvor der Glaskiste vorgeworfen hat: Sie erhalten über die Kuppel viel zuviel Licht.

Noch problematischer ist die neue Eingangslösung. Um mehr Platz für Garderoben, Museumsshop und Toiletten zu erhalten, ist das Museum auf Kellerniveau um ein verglastes Foyer erweitert worden. Oben, zwischen den Säulen des Mittelrisalits, wo von außen nach wie vor jeder Passant den Haupteingang vermuten würde, findet sich nur noch der Notausgang für das Café. Zum neuen Eingang hinunter führen zwei langgezogene Rampen, die einen Graben zwischen Museum und Straße bilden. Funktionell ist das nicht unbedingt eine Verbesserung: Wenn hier im strömenden Regen eine Schulklasse aus dem Bus steigen möchte, darf sie zuerst über zwei lieblos detaillierte Stahltreppen hinunterklettern, bevor sich im neuen Foyer der Anspruch auf „moderne Museumsarchitektur“ einlöst: endlich ein (beinahe) flaches Glasdach. Dafür geht es nun in eine ziemlich tiefe Dunkelzone, bis es die Besucher über eine steile Treppe in die zentrale Halle hinauf drängt.

Was den Besucher hier erwartet, ist noch unklar. Im jüngst vom neuen, seit 1994 amtierenden Direktor, Thomas Werner, vorgestellten Konzept sind zwar Bereiche definiert und Exponate bestimmt, zur Ausstellungsgestaltung sollen jedoch erst jetzt Ideenwettbewerbe ausgeschrieben werden. Im Konzept finden sich bisher nur einige Skizzen, die in ihrer Unbedarftheit das Schlimmste befürchten lassen.

Das „skulpturhaft Mythische“ der Maschinen, das eine „Aura der Adoration“ erzeugte, soll jedenfalls nicht mehr betont werden. Statt dessen droht der neue Direktor mit „Inszenierungen und Klangcollagen, die das Verhältnis zwischen Maschine, Besucher und Umwelt in mehrschichtig assoziativer Form“ herstellen sollen. Für die Neuaufstellung rechnet er allein in der ersten Phase mit Kosten von mindestens 200 Millionen Schilling.

Ob das alles nicht vielleicht doch teurer ist als ein Neubau, wird man erst in ein paar Jahren sagen können. Daß das jetzige Ergebnis zumindest in architektonischer Hinsicht eine Blamage für Österreich als Kulturland ist, steht aber fest. Von einem Ort, der dem Klischee vom österreichischen Erfinderschicksal eine positive Vision entgegensetzt und sie auch baulich an ein breites Publikum vermittelt, wird man wohl erst in 100 Jahren wieder träumen dürfen.

Spectrum, Sa., 1997.02.08



verknüpfte Bauwerke
Technisches Museum, Eingangsbereich

18. Januar 1997Christian Kühn
Spectrum

Vom Nutzen der Unwirtlichkeit

Elementare Erfahrung von Material, Raum und Licht: Wie man mit einem vergleichsweise kleinen Bau die Freiheiten im Chaos der Peripherie nützen kann, zeigen ARTEC mit ihrer Schule in Wien Donaustadt.

Elementare Erfahrung von Material, Raum und Licht: Wie man mit einem vergleichsweise kleinen Bau die Freiheiten im Chaos der Peripherie nützen kann, zeigen ARTEC mit ihrer Schule in Wien Donaustadt.

Erinnerungen an die Volksschule haben immer etwas seltsam Traumartiges an sich. Vielleicht liegt es daran, daß damals alles viel größer war, die Farben und Gerüche intensiver und daß höchstes Glück und größte Angst ausgelöst werden konnten durch Anlässe, die man später nicht einmal mehr wahrnehmen würde.

Meine eigene Volksschule war ein großer Bau aus der Gründerzeit, streng symmetrisch geteilt in eine Mädchen- und eine Knabenschule. Die Klassen waren hell und freundlich, es roch nach Linoleum und Schulkakao. Das Stiegenhaus erschien mir damals geradezu gigantisch - während der Stunde alleine ins nächste Stockwerk geschickt zu werden, um etwas aus der Direktion zu holen, hatte etwas von einem Abenteuer.

Eingebettet war diese Schule in den Ordnungsraster der gründerzeitlichen Stadt, mit einem kleinen Respektabstand vom Blockrand zurückgesetzt und damit deutlich als öffentlicher Bau erkennbar. Wie das urbane System, deren Teil sie war, hatte auch diese Schule einen zwiespältigen Charakter: Sie war wohlgeordnet, aber zugleich repressiv.

Der Zusammenhang zwischen dem öffentlichen Bau und seinem Kontext spielt auch dort eine Rolle, wo sich die traditionelle Stadt längst aufgelöst hat und an Stelle eines geplanten urbanen Rhythmus die zufällige Verbindung von Strukturen den Ton angibt. Beträchtliche Teile der Wiener Stadterweiterungsgebiete fallen in diese Kategorie: Wer sich jenseits von Kagran in das Gebiet zwischen Rennbahnweg und Großfeldsiedlung verirrt, wird zwischen verödeten alten Ortskernen, vierspurigen Schnellstraßen und Plattenbauten so etwas wie Stadt vergeblich suchen.

Dabei fehlt es nicht an urbaner Masse: Immerhin wurde hier erst kürzlich mit der Veterinärmedizinischen Fakultät eines der großen Universitätsareale Wiens geschaffen. Aber wieder einmal hat man sich darauf beschränkt, Kubaturen beziehungslos im Gelände abzustellen.

Wie man mit einem vergleichsweise kleinen Bau die Freiheiten im Chaos der Peripherie nützen kann, haben Bettina Götz und Richard Manahl, die zusammen als ARTEC-Architekten firmieren, mit ihrem Schulbau in der Zehdengasse bewiesen. Nur ein paar Gehminuten von der neuen „Vetmed“ entfernt, liegt diese Volksschule an einer für die Aufgabe denkbar unwirtlichen Stelle: Im Osten, also dort, wohin üblicherweise die Schulklassen orientiert werden, führt unmittelbar die Eipeldauer Straße vorbei, eine vierspurige Schnellstraße.

Das Grundstück liegt außerdem gut zwei Meter tiefer als dieser Verkehrsträger, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite bilden die Parkdecks der angrenzenden Gemeindebauten eine Mauer. Ein weiteres Problem ergab sich aus der extrem knapp bemessenen Grundstücksfläche, die für die Situierung der Schule praktisch keinen Spielraumließ.

Das von ARTEC gewählte Prinzip für die Organisation der Schule ist einfach. Weniger lärmempfindliche Bereiche wie die Turnsäle und ein kleiner Pausenhof wurden an die Eipeldauer Straße gelegt, die Klassen dagegen nach Westen, zum angrenzenden Sportplatz hin. Dazwischen liegt als verbindendes Rückgrat ein langgestreckter, dreigeschoßiger Erschließungsbereich.

Was an der Schule sofort auffällt, sind die „harten“ Materialien: Stahlbeton, Verkleidungen aus Titanzink, Aluminiumfenster, Glas. Idyllische Gegenwelt zur Unordnung rundum ist das Gebäude sicher nicht, und es braucht einen genaueren, zweiten Blick, um seine Qualitäten zu erkennen.

Es sind vor allem die feinen Nuancierungen der harten Schale, die sich einprägen: Gläser unterschiedlicher Transparenz, die Feinstruktur der Blechverkleidung, die aus schuppig übereinandergesetzten Lamellen besteht, ein paar kräftige Farben, die aus dem Inneren hervorblitzen. Wenn das Zinktitanblech, das jetzt noch glänzt wie Aluminium, seine matte Patina angesetzt hat, wird sich dieser differenzierte Eindruck noch verstärken.

Im Inneren haben die Architekten die harten Oberflächen beibehalten, aber durch Lichtführung und Farbgebung Räume erzeugt, die kräftiger und „kindgerechter“ sind als das meiste, was es im jüngeren Wiener Schulbau zu sehen gibt. Das dominierende Material der Grundstruktur ist Beton, freilich in verschiedenen Formen: einmal mit rauhen Brettern geschalt, einmal als Fertigteil, feinporig und von hellerer Tönung, dann wieder glänzend lackiert. Die Ausfachungen zwischen den tragenden Elementen bestehen aus gestrichenen Holz- und Gipskartonplatten. An den Klassenwänden dominieren dabei zwei kräftige Gelbtöne: ein sattes, dunkles Melonengelb und ein helles Zitron. Alle Metallteile, also die Handläufe und das Lochblech der Brüstungen, sind signalorange, das Linoleum der Böden graugrün meliert.

Das Licht wird vor allem im mittleren Erschließungsbereich kalkuliert eingesetzt, um verschiedene Zonen zu schaffen, die jeweils mit einem der drei L-förmig an das Rückgrat angeschlossenen Klassentrakte korrespondieren. In der ersten Zone fällt das Licht von der Seite ein und wird durch Glasstreifen im Boden nach unten gefiltert. In der mittleren Zone belichtet ein Oberlicht eine über alle drei Geschoße reichende Wand aus Stahlbeton, mit der die Architekten so etwas wie eine Felswand in die transdanubische Ebene bringen wollten, und tatsächlich wird das für viele Kinder der erste Innenraum mit dieser Erstreckung in der Vertikalen sein.

Ans Ende der Erschließungszone haben die Architekten im Erdgeschoß den Bereich für die Nachmittagsbetreuung gelegt: einen kleinen Speisesaal, die Küche und einen Aufenthaltsraum. Diese Räume sind geschickt mit zwei ganz unterschiedlich ausgeformten Freiflächen verbunden: dem geschlossenen, durch eine Mauer zur Eipeldauer Straße geschützten Innenhof und einer kleinen, nach Westen offenen Spielfläche zwischen zwei Klassentrakten.

Daß die Möblierung dieser Freiflächen schließlich mit rustikalen Bänken erfolgte, ist bedauerlich. Wahrscheinlich hätte man hier gar keine Möbel gebraucht, sondern einfach einen geschälten Baumstamm und ein paar große Steine, aber überall dort, wo freies Spielen auch nur mit minimalem Risiko verbunden ist, setzt sich offensichtlich die normgemäße, aber phantasielose Lösung durch.

Auch die Klassen selbst folgen dem starren Schema, das von der Wiener Schulbaubehörde als Normvorgegeben ist und bis zur Lage des Waschbeckens jedes Detail vorgibt. Die Klassentiefe beträgt generell sieben Meter, ganz gleich, ob es sich um eine große Stammklasse oder um eine kleine Integrationsklasse für nur sechs Schüler handelt. Daß dabei oft unsinnige Proportionen entstehen, ist nur ein Nachteil dieses rigiden Systems. Neue Formen des Schulbaus lassen sich so nicht erproben, und das zu Recht gelobte Wiener Schulbauprogramm hat ja bisher auch eher formale Fortschritte gebracht, als die Schulbautypologie weiterzuentwickeln.

Daß es auf diesem Gebiet durchaus Bewegung gibt, zeigt beispielsweise die Diskussion in den Niederlanden oder in Japan, und man wird auch bei uns nicht darum herumkommen, über neue, stärker gemeinwesenorientierte und offenere Formen des Schulbaus nachzudenken. Um diese Diskussion anzuregen, hat die Österreichische Gesellschaft für Architektur übrigens ihr mit 50.000 Schilling dotiertes Wilhelm-Schütte-Stipendium 1997 für Forschungsarbei-ten zum Thema „Innovation im Schulbau“ ausgeschrieben.

Immerhin ist es den Architekten gelungen, auch in dieser Beziehung in ein paar Punkten vom Üblichen abzuweichen: Verglaste Vitrinen bieten zumindest in einigen Klassen eine Sichtverbindung zwischen Klassenraum und Pausenbereich, und beim Eingang gibt es einen großen, auch öffentlich nutzbaren Veranstaltungssaal, der direkt von außen zugänglich ist.

Mit ihren technoiden Oberflächen und ihrer sperrigen, eher das Abstrakt-Skulpturale betonenden Geometrie ist die Schule von ARTEC sicher nicht die im konventionellen Sinn schönste unter den jüngeren Wiener Schulbauten. Aber sie reagiert klug auf den unwirtlichen Ort und nutzt dessen offensichtlichen Schwächen für eine starke architektonische Aussage. Ihre Innenräume sind auf eine sympathische Weise „arm“ und frei von jener oberflächlichen Fröhlichkeit vieler neuer Schulen, die bei längerem Hinsehen zwanghaft wirkt. Statt dessen bietet sie die elementare Erfahrung von Material, Raum und Licht, und darin liegt wahrscheinlich ihre größte Stärke.

Spectrum, Sa., 1997.01.18



verknüpfte Bauwerke
Volksschule Zehdengasse

28. Dezember 1996Christian Kühn
Spectrum

Der edle Wilde und seine Villa

Der Schweizer Kunsthistoriker Adolf Max Vogt legt in einer Studie über die Archäologie der Moderne die Wurzeln von Le Corbusiers „Schachtel auf Pfahlstützen“ frei. Bis in die feinsten Verästelungen.

Der Schweizer Kunsthistoriker Adolf Max Vogt legt in einer Studie über die Archäologie der Moderne die Wurzeln von Le Corbusiers „Schachtel auf Pfahlstützen“ frei. Bis in die feinsten Verästelungen.

Unter den Texten über die Architektur unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts werden mir zwei immer die liebsten bleiben: Julius Poseners „Vorlesungen zur Geschichte der neuen Architektur“ und Adolf Max Vogts knapp gefaßter „Entwurf zu einer Architekturgeschichte 1940 bis 1980“.

Vogts Text - das Einleitungskapitel einer kritischen Zusammenschau von Beispielen, die er unter dem Titel „Architektur 1940 bis 1980“ am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich herausgebracht hat - geht von zwei Grundpositionen zur weiteren Entwicklung der Architektur aus der Sicht des Jahres 1945 aus: einerseits die Hoffnung, daß sich nun endlich die Konzepte der Vorkriegs-Avantgarde allgemein durchsetzen würden, wie es Sigfried Giedion in seinem noch vor Kriegsende geschriebenen Buch „Raum, Zeit und Architektur“ als geradezu zwangsläufige Folge einer sich abzeichnenden Kongruenz zwischen Wissenschaft und Kunst darstellt. Mit der Benennung von Gropius, Le Corbusier, Mies van der Rohe und Alvar Aalto bevölkert Giedion auch gleich das Pantheon der modernen Architektur mit jenen Meistern, die dann tatsächlich für die nächsten Jahrzehnte bestimmend bleiben.

Die Gegenposition dazu findet Vogt in Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“, geschrieben zwischen 1938 und 1947, also praktisch zeitgleich mit „Raum, Zeit und Architektur“ und ebenfalls im amerikanischen Exil. Giedions Idealbild der modernen Architektur ist für Bloch angesichts der gesellschaftlichen Realität „verchromte Misere“ und „Lichtkitsch“. Architektur definiert er schlicht als „Produktionsversuch menschlicher Heimat - vom gesetzten Wohnzweck bis zur Erscheinung einer schöneren Welt in Proportion und Ornament“.

Wo Giedion also von der Architektur endgültige (Er-)Lösungen erwartet, zählt für Bloch der Versuch, auch und gerade in Hinblick auf den Begriff der Heimat als „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“.

Vogt läßt keinen Zweifel an seiner grundsätzlichen Sympathie für Blochs Position. Seine „Architekturgeschichte 1940 bis 1980“ gerät ihm trotzdem nicht zu einer Abrechnung, sondern zu einer einfühlsamen Verteidigung der Moderne - gegen selbstzerstörerische Erlösungsversprechen ebenso wie gegen die „allzu sichtbaren, allzu verketteten Mächte“, denen die Architektur sich immer stärker ausgesetzt sieht. Und so gelangt er schließlich zu einer Definition von Kunst und Architektur, wie sie einer Zeit der massiven Entfremdung angemessen sei: als prozeßhaftes - und damit immer nur partielles - Bloßlegen von Wahrheit im Rahmen eines grundsätzlich offenen Utopieverständnisses.

Nun hat Adolf Max Vogt ein neues Buch herausgebracht, in dem er scheinbar einen völlig anderen Zugang beschreitet. Statt die Architektur- in die Kulturgeschichte einzubetten und damit Übersicht zu gewinnen, beschränkt er sich auf einen einzigen Architekten und sogar in dessen Werk auf nur einen Aspekt, nämlich das Abheben des Bauwerks vom Boden.

„Le Corbusier, der edle Wilde“ (Vieweg Verlag, Wiesbaden), so der auf Rousseau verweisende Titel des Buchs, befaßt sich mit dem Thema der „Schachtel auf Pfahlstützen“, das sich durch das gesamte Werk Le Corbusiers verfolgen läßt. Wo liegen die Wurzeln dieses Themas, und was hat Le Corbusier beinahe obsessiv an diese Idee gefesselt?

Vogts These ist, daß Le Corbusier schon in seiner Schulzeit mit diesem Thema konfrontiert wurde: Die Pfahlbauten der La-Tène-Kultur, deren Reste 1854 bei extrem niedrigem Wasserstand am Ufer vieler Schweizer Seen aufgetaucht waren und seither systematisch erforscht wurden, hatten in der Schweiz ein regelrechtes „Pfahlbaufieber“ ausgelöst, und sie waren verpflichtend in den Lehrplan aufgenommen worden, kurz bevor Corbusier die Volksschule zu besuchen begann.

Was die Schüler über die Pfahlbauten zu sehen bekamen, waren freilich phantasievolle Rekonstruktionen nach dem Vorbild pazifischer Hütten, die Ferdinand Keller, einer der führenden ersten Pfahlbau-Forscher, in einem gewagten Schritt von Neuguinea in die prähistorische Schweiz übertragen hatte. Daß Le Corbusier sich mit diesem Thema intensiver befaßte, kann Vogt anhand von viel späteren Zeichnung nachweisen, die nur von einem näher in die Pfahlbauforschung Eingeweihten stammen können.

Es wäre zu einfach, diese These als „Entlarvung“ von Le Corbusiers berühmter Villa Savoye als Pfahlbau oder gar seiner städtebaulichen Entwürfe als ins Gigantische vergrößerte Pfahlbaudörfer zu verstehen. Vogt will keine formale Ableitungs-Kunstgeschichte betreiben, und die wäre hier auch besonders fragwürdig. Die Idee der vertikal zonierten Stadt hat viele Wurzeln, ebenso der einfache schwebende Kubus, und Vogt zeigt selbst am Beispiel der Orientreise, die Corbusier 1911 nach Istanbul geführt hat, wie sehr die traditionelle osmanische Holzarchitektur im allgemeinen und die leichten, am Ufer des Bosporus plazierten Kioske ihn fasziniert haben. Aber Vogt macht plausibel, daß Le Corbusier für alle diese formalen Eindrücke durch seine frühen Erfahrungen sensibilisiert war, und diesen Gedanken nimmt er nun zum Anlaß, die Wurzeln des „internationalen“ Architekten Le Corbusier in der Schweizer Romandie genauer zu untersuchen.

Le Corbusiers Heimatstadt, La Chaux-de-Fonds, nördlich des Neuenburger Sees gelegen, ist um die Jahrhundertwende die Hauptstadt des Schweizer Uhrenbaus. 90 Prozent der weltweiten Uhrenproduktion kommen damals aus der Schweiz, und dort wieder 60 Prozent aus La Chaux-de-Fonds - ein Bergstädtchen als Zentrum der Hochtechnologie. Der Konflikt zwischen Kunsthandwerk und Industrie treibt Corbusiers Vater, der eine Manufaktur zur Bemalung von Zifferblättern besitzt, schließlich in den Konkurs. Hier sieht Vogt eine Ursache für Corbusiers stete Versuche einer Harmonisierung von Kunst und Industrie, die ja immer einen eher symbolischen als systematischen Charakter haben.

Die nächste Schicht, die Vogt freilegt, ist die Bedeutung des Genfers Jean-Jacques Rosseau für Le Corbusier, und zwar sowohl durch die direkte Lektüre als auch indirekt über die Pädagogen Pestalozzi und Fröbel. Vogt kann hier auf jüngere Forschungen zurückgreifen, die nachweisen, daß für Corbusier - ebenso wie Frank Lloyd Wright - die geometrischen „Spielgaben“ Friedrich Fröbels zur räumlich geometrischen Grundschule wurden.

Fröbel, der Erfinder des Kindergartens, entwickelte ein Spielsystem aus Elementargeometrien, die sich als reine Volumina und als Musterkombinationen in Le Corbusiers Entwürfen wiederfinden. Der direkte Einfluß Rousseaus spricht aus vielen Schriften Le Corbusiers: Daß die Idee des edlen Wilden in den Pfahlbaufunden noch einen lokalen Anknüpfungspunkt finden konnte, ist ein glücklicher Zufall.

Damit kann Vogt jene Aufgabe benennen, die für ihn die „eigentliche Lebensarbeit“ Le Corbusiers ausmacht: das „rational- vorstellungsmäßig Primäre der Geometrie und das geschichtsmäßig Primäre der Anthropologie und der Archäologie zu vermitteln und zu versöhnen“. Der auf Pilotis aufgestelzte Kubus ist geometrisch rein, weil er auch noch seine Unterseite zeigt und daher vollständig erfahrbar ist, und zugleich erinnert er an das ursprüngliche Leben, auf einer leichten Plattform abgehoben über dem Grund.

Daß Corbusier diese Vision nicht irgendwo, sondern am Genfer See beinahe hätte realisieren können, fügt sich gut ein in den Versuch zur lokalen Verankerung, den Vogt an Le Corbusier unternimmt: der Völkerbundpalast, auf Pilotis so leicht zwischen die Bäume ans Ufer des Genfer Sees gesetzt, daß Corbusier mit Recht sagen konnte, ihn „lufthaltig“ konzipiert zu haben.

Entsprechend groß ist die Enttäuschung, als das Projekt schließlich anhaltenden Intrigen zum Opfer fällt: Kein Monumentalbau ähnlicher Leichtigkeit scheint Corbusier mehr zu gelingen, und in seiner Verzweiflung an den demokratischen Prozessen streift er so nahe ans Regime des Marschall Pétain an, daß ihm später die Teilnahme am Wiederaufbau beinahe vollständig verwehrt bleibt. Vogts Buch ist ein faszinierendes Labyrinth, das von der scheinbar so abstrakten Idee der einfachen aufgestelzten Schachtel in immer feinere Verästelungen führt. Es eröffnet neue Einblicke in die Innenwelt des Architekten Le Corbusier, der bei seiner ganz persönlichen, unbewußten Suche nach jener Heimat gezeigt wird, die „allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“.

Spectrum, Sa., 1996.12.28



verknüpfte Bauwerke
Villa Savoye

16. November 1996Christian Kühn
Spectrum

Bodenlose Punkte der Stille

Vor einigen Jahren noch galt sie als große, defekte Maschine. Heute ist der Blick auf die Stadt wieder pragmatischer. In Wien-Meidling versuchte ein Projekt von Rüdiger Lainer, die Strukturelemente der Stadt neu zu definieren.

Vor einigen Jahren noch galt sie als große, defekte Maschine. Heute ist der Blick auf die Stadt wieder pragmatischer. In Wien-Meidling versuchte ein Projekt von Rüdiger Lainer, die Strukturelemente der Stadt neu zu definieren.

Selten zuvor hat es in Wien so viele Veranstaltungen zum Thema „Stadt“ gegeben. Im Architektur Zentrum läuft derzeit ein Kongreß über den „European Sprawl“, die europäische Variante jener Auflösung der Stadt in die Region, wie sie in den USA längst zur Regel geworden ist; vor einer Woche veranstaltete die Österreichische Gesellschaft für Architektur ein Symposium über die „Stadt mit beschränkter Haftung“, ein doppeldeutiger Titel, mit dem die zunehmende funktionale und soziale Entmischung der Stadt angesprochen war und zugleich die unklare Verantwortung dafür, die sich Architekten, Investoren und Politiker gegenseitig zuschieben. Und nächsten Freitag wird im Rahmen des Europaforums ein Vortrag Saskia Sassens über „Städte und die neue Geographie der Macht“ zu hören sein, der eine Reihe von Workshops zu diesem Thema einleitet.

Worum dreht sich heute die Diskussion um die Stadt? Offensichtlich nicht mehr darum, ob die Stadt funktioniert. Noch vor ein paar Jahren galt sie ja als eine große defekte Maschine, die sozial, ökologisch oder stadträumlich repariert oder verbessert werden müsse. Heute steht vielmehr die Idee der Stadt als jenes Gebilde in Frage, das die moderne Gesellschaft zusammenhält. Der Soziologe Alain Touraine spricht in diesem Zusammenhang vom Verschwinden der Stadt: Sie habe zuerst durch das Entstehen der großen Nationalstaaten ihre Bedeutung als politische Institution verloren und schließlich durch die Globalisierung der Wirtschaft ihre verbindende Rolle als Ort der Produktion.

Natürlich haben wir, behauptet Touraine, noch den Eindruck, in Städten zu leben, aber wir leben nicht in „unseren“ Städten, sondern in längst vergangenen Stadtmodellen. Während die Stadt uns noch vorgaukelt, ein „Ganzes“ zu sein, wächst die Kluft zwischen jenen, die einem globalisierten Leben gewachsen sind, und jenen, die arm und unqualifiziert sind und sich auf lokale Gemeinschaften zurückziehen. Was wir im Moment erleben, sei daher das Verschwinden der Gesellschaften und insbesondere dessen, was wir seit dem 12. Jahrhundert geschaffen haben, der Stadt.

Nun ist die Krise der Stadt sicher so alt wie die Stadt selbst. Sie war zu allen Zeiten ein Ort der Kontraste und nicht der Harmonie. Insofern ist Touraines Argument überzogen, und es ist auch kaum glaubhaft, daß zwischen dem privaten und dem globalen Bereich nichts Urbanes mehr übrigbleibt. Aber in einem Punkt wird man Touraine recht geben müssen: Architektur und Städtebau sind nicht länger Instrumente der Weltverbesserung. Sie allein können weder unsere sozialen noch unsere politischen oder ökologischen Probleme lösen. Das klingt hart für eine Disziplin, die Corbusiers Schlachtruf „Baukunst oder Revolution!“ verinnerlicht hat, aber es läßt sich durchaus als Angelpunkt ihrer Erneuerung umdeuten. Denn ohne den selbstzerstörerischen Reflex der Moderne, immer das „große Ganze“ ins Lot bringen zu müssen, eröffnet sich ein unvoreingenommener Blick auf die Realität und damit die Option auf eine Stadt, die den Bedingungen ihrer Zeit besser angepaßt ist.

Was kann das konkret bedeuten? Zum Beispiel den Ausbruch aus einem System, in demes nur noch Getriebene gibt, die das Scheitern ihrer großen Ideale an Sachzwängen betrauern und sich gegenseitig die Schuld dafür zuschieben: Investoren, die zwar gerne Qualität schaffen wollten, aber leider an der Trägheit der öffentlichen Verwaltung scheitern; Architekten, deren große Visionen angesichts des allgemein inferioren Geschmacks und der Renditewünsche ihrer Auftraggeber bestenfalls als Karikaturen realisiert werden; und Politiker, die immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Partikularinteressen anstreben dürfen.

Ein von Rüdiger Lainer - er hatte mit seinem Projekt für das Flugfeld Aspern einmal versucht, Bauträger und öffentliche Verwaltung aus ihren festgefahrenen Positionen zu locken - konzipierter und organisierter Workshop machte es sich zur Aufgabe, aus einer solchen Pattsituation herauszukommen. Ohne falsche Bescheidenheit wurde das ganze Unternehmen „Millenniumsworkshop“ getauft mit dem Anspruch, „konkrete Utopien“ zu entwickeln und die Strukturelemente der Stadt neu zu definieren. Als konkreter Ort wurde ein Areal im 12. Bezirk gewählt, das ehemalige Gelände der Kabel und Draht AG, ein verkehrsmäßig durch die verlängerte U 6 gut erschlossenes Gebiet, auf dem rund 1000 Wohnungen errichtet werden sollen.

Eingeladen waren Beamte verschiedener Magistratsabteilungen, die Direktoren mehrerer großer Bauträger, Vertreter des Bezirks und sechs Planungsteams. Gemeinsam sollten Leitbilder entwickelt und immer wieder an den konkreten gesetzlichen Bedingungen und auf ihre Finanzierbarkeit hin geprüft werden, nicht um diese Leitbilder auf ein „machbares“ Maß zurechtzustutzen, sondern um sinnvolle Veränderungen der Rahmenbedingungen zu formulieren.

Ein wesentliches Leitbild, das sich bei allen sechs der schließlich ausgearbeiteten Konzepte findet, ist das Ideal einer funktionell durchmischten Stadt. Nicht 1000 Wohnungen, auch nicht ein vordefinierter Mix von Wohnungen und Büro- oder Betriebsflächen sollten angeboten werden, sondern eine flexible Baustruktur, die beides zuläßt. Das ist natürlich nichts Neues. In Stadterweiterungsgebieten scheitert diese Nutzungsvielfalt aber an einer ganzen Reihe von Problemen: an Bestimmungen zum Arbeitnehmerschutz, die bei Raumhöhen und Stiegenbreiten zwar nur minimal über die Festlegungen in der Bauordnung hinausgehen, aber trotzdem eine neutrale Nutzung unmöglich machen; an einer Praxis der Flächenwidmung, die immer noch einer Entmischung der Stadt den Vorzug gibt; und schließlich an unterschiedlichen Instrumenten der öffentlichen Förderung, die eine Kombination von Wohn-, Gewerbe- und Bürobau zusätzlich erschwert. In Wien gibt es außerdem unterschiedliche Fonds für den Grundstückskauf für Wohn- oder Gewerbenutzung.

Ein weiteres Charakteristikum der Konzepte ist der Versuch, Wohnformen zuzulassen, die außerhalb des Standards liegen. Die Architektengruppe „Poor Boys Enterprise“ hat in ihrem Konzept versucht, Funktionen aus der Wohnung in einen öffentlichen Bereich auszulagern und eine Art von Stadthotel zu entwickeln, das Arbeitsplätze für Teleworker und Gemeinschaftsflächen aus der Isolation der Einzelwohnung herauslöst und ins Wohnumfeld integriert.

Formal tendieren die meisten der Konzepte dazu, jedes vorgefertigte und leicht konsumierbare Stadtbild zu verweigern. Mascha und Seethaler schlagen als Alternative zum Bebauungsplan eine offene Bebauungsmatrix vor, die durch systematische Verknüpfungen über die Parzellengrenzen hinweg nur noch sachliche Erfordernisse wie Lichteinfall, Emissionen und Infrastruktur festlegt, aber jeden Einfluß auf Form, Funktion oder Ästhetik ausschließt. Im Gegensatz zu diesem Totalverzicht auf jeden Städtebau entwickeln ARTEC eine neue städtebauliche Figur, ein klares, räumliches Gitter, das sie als Adaption der gründerzeitlichen Stadt mit einer differenzierter abgestuften Hierarchie der Verkehrswege verstehen. Lebendigkeit bekommt diese Struktur durch die Möglichkeit der späteren Verdichtung, die das ursprüngliche Gitter überlagert.

Insgesamt zeigen die Konzepte ein klares Bekenntnis zur Großstadt, wie sie Robert Musil einmal beschrieben hat: ein Geflecht von „Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, eine kochende Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht“.

Das Bild der jemenitischen Stadt Shebam, das auf dem Plakat zum Millenniumsworkshop zu sehen war, ist klug gewählt. Die Idee der Stadt ist zeitlos, und sie wird ihren Wert behalten als Vermittler zwischen der globalen und der individuellen Sphäre. Zu ihrer Weiterentwicklung wird es allerdings radikal veränderter Rahmenbedingungen bedürfen. Aber da ist Hoffnung: In einem Pressetext zum Workshop wird Planungsstadtrat Hannes Swoboda mit der gewagten Bemerkung zitiert, in Wien gehe es „im allgemeinen mit der Umsetzung von Visionen viel schneller“ als anderswo. Sein Nachfolger wird den Wahrheitsbeweis antreten müssen.

Spectrum, Sa., 1996.11.16



verknüpfte Bauwerke
Milleniumsworkshop

02. November 1996Christian Kühn
Spectrum

Wie klingt eine Hauptstadt?

Ist der neue Regierungssitz in St. Pölten das versprochene Jahrhundertereignis - oder doch nur Stein gewordene Mittelmäßigkeit? Ein Lokalaugenschein.

Ist der neue Regierungssitz in St. Pölten das versprochene Jahrhundertereignis - oder doch nur Stein gewordene Mittelmäßigkeit? Ein Lokalaugenschein.

Das ist also St. Pölten: 50.000 Einwohner, die „Barockstadt“ Prandtauers und Munggenasts, die schon immer besser war als ihr Ruf, eine Kleinstadt mit ihrem ganz eigenen urbanen Rhythmus, mit einem charakteristischen Maß.

Und da ist die Jahrhundertchance: die eigene Landeshauptstadt für Niederösterreich, der feierliche Auszug aus der Wiener Herrengasse in einen Regierungssitz im geographischen Zentrum des Landes, Verwaltungsbauten für 3000 Beamte, dazu ein Kulturforum mit Bibliothek, Museum und einem Festspielhaus.

Nachdem St. Pölten 1986 zur Landeshauptstadt erhoben worden war, sollte ein Architektenwettbewerb klären, wie diese Aufwertung städtebaulich und architektonisch umzusetzen sei. Die älteren Rechte der bestehenden Stadt blieben von Anfang an gewahrt: Bürgerbeteiligungsverfahren und ein städtebauliches Leitbild, das ein integriertes Regierungsviertel eindeutig gegenüber einem Einzelmonument bevorzugte, sollten eine hohe Akzeptanz bei der Bevölkerung garantieren.

Der Standort war im Wettbewerb noch nicht eindeutig festgelegt: Zur Disposition standen das gesamte Gebiet beiderseits der Traisen im Osten des Stadtkerns und ein kleines Areal jenseits der Bahntrasse, die den Stadtkern im Norden tangiert. Der undramatische Flußraum der Traisen hatte für die innere Struktur der Stadt bisher keine besondere Rolle gespielt. Der Umgang mit diesem Flußraum wurde nun zu einem zentralen Thema des Wettbewerbs: Würden die neuen Baumassen ausreichen, um eine urbane Uferkante zu definieren? Oder sollte der Flußraum in seiner naturnahen Form erhalten und nur durch Brückenbauten oder Solitärformen verändert werden?

Die Ergebnisse der ersten Wettbewerbsstufe 1989 waren alles andere als vielversprechend. Die innovativeren Beiträge schieden durchwegs in den ersten Runden aus. Sie haben eine kurze Gedenkminute verdient: die großzügige Überbauung der Traisen von Prohazka/ Hiesmayr, die ein präzise gerahmtes Stück Flußlandschaft zu einem urbanen Raum einzigartiger Qualität gemacht hätte; Anton Schweighofers Konzept, Landhaus und Verwaltung an und über der Bahntrasse zu errichten und den Kulturbezirk als grüne Verbindung vom bestehenden Stadtpark bis zur Traisen auszubilden; ähnliche, weniger klassisch angelegte Versuche in diese Richtung von Rieder/Wörndl und Heidulf Gerngroß. Und dann gab es da noch das Projekt von Bily/Katzberger, das mit seinen langen, parallel zur Traisen geführten Verwaltungsbauten der jetzt ausgeführten Lösung ähnelt, aber die Verbindung zur Stadt durch eine differenzierte Wohnbebauung herstellt und die Kulturbauten in einen spannungsvoll komponierten Platzraum direkt an den Fluß setzt.

In der letzten Stufe des Wettbewerbs waren es schließlich zwei Projekte, zwischen denen die Entscheidung fallen sollte: ein monumentaler Solitärbau von Wilhelm Holzbauer, 24 Stockwerke hoch die Büroetagen, daran angelagert im Oval die Kulturbauten; und eine flächige Stadtreproduktion von Ernst Hoffmann, im Geist der metaphernfreudigen achtziger Jahre zusammengesetzt aus Boulevard und Passage, Anger und Platz. Holzbauers Projekt hätte eigentlich nie so weit kommen dürfen, denn bei aller Symbolkräftigkeit sagte es vor allem eines: Ich bin wichtig! Von Bürgernähe war da nichts zu spüren, und die Idee, den Landtagssaal in einer hermetisch abgeschlossenen Kugel unterzubringen, war bestenfalls ein bitterer Scherz über den Wunsch des Auslobers, politische Offenheit sichtbar zu machen.

Genau auf diese Wünsche ist das Projekt Ernst Hoffmanns eingegangen: kein Monument, sondern ein Stadtviertel mit langen Zeilen von Verwaltungsbauten parallel zur Traisen, die eine urbane, befestigte Uferkante herstellen. Der Landtagssaal, mittig ganz an den Fluß geschoben, markiert den Beginn einer in die Stadt führenden Querachse, an der die Kulturbauten liegen. Die konsequente Umsetzung der Idee eines lockeren städtischen Ensembles, in dem jede Verwaltungseinheit gewissermaßen ihr Haus mit eigenem Eingang erhalten konnte, gab den Ausschlag für dieses Projekt, und die Jury empfahl es zur Weiterbearbeitung. Und dann gab sie ihm noch eine kleine Hypothek mit auf den Weg: „Zu bemängeln ist die Eintönigkeit und die Unverbindlichkeit der Architektur.“

Ernst Hoffmann hat sich jede Mühe gegeben, dieses Urteil zu widerlegen. Aber gerade das hat dem Projekt nicht gutgetan. Statt zu einer präzisen und zurückhaltenden Sprache zu finden, pendelt die Architektur unentschlossen zwischen modernistischen Figuren und postmoderner Kraftmeierei. Die Fassaden der Verwaltungsbauten, ursprünglich als leichte Glasfassaden in einem tragenden Skelett angedeutet, bekamen ein Rahmenmotiv aus Kunststein vorgesetzt, das ihnen eine unnötige Schwere verleiht. Der Landtagssaal selbst, in der Terminologie der Planer gerne als „schwebendes Schiff“ bezeichnet, erweist sich in natura als hohle Geste, deren dynamischer Schwung vollkommen ins Leere läuft. Was das Innere dieses Bauwerks mit seinem Äußeren zu tun hat, bleibt unklar, und sein statisches Konzept der Auskragung - eine sehr, sehr dicke Betonplatte auf runden Stützen - ist alles andere als innovativ.

Ein Stück dahinter erhebt sich der Klangturm, eine Erfindung Hoffmanns, die dem flächigen Ensemble eine vertikale Achse gibt. Der Turm soll symbolisieren, daß hier neben dem administrativen und politischen auch das geistige Zentrumdes Landes zu finden sei: ein Symbol dafür, daß nicht nur die nützlichen Dinge im Leben einen Wert haben. Deshalb ein Turm für den vergänglichsten Ausdruck unserer Kultur, den Klang. Ein schöner Gedanke, und doch sagt er nichts Gutes über den Geist des Projekts aus: Die Zeiten, als man Architektur selbst als Stein gewordene Musik, als poetischen Akt verstehen durfte, sind längst vorbei. Statt das Schöne im Nützlichen zu suchen, lassen wir das Nützliche nützlich sein, und wenn die Budgets ausreichen, errichten wir der Schönheit daneben ein Denkmal.

Was wird also vom St. Pöltner Landtag in der Architekturgeschichte Österreichs übrigblei- ben? Die Tatsache eines perfekt administrierten, termingerecht und im Kostenrahmen durchge- führten Bauvorhabens im allergrößten Maßstab. Das ist keine geringe Leistung und gebietet Respekt. Bleiben wird sicherlich die Idee eines bürgernahen Dienstleistungsviertels, wenn auch seine Anbindung an die Stadt in der Realität viel weniger geglückt ist, als es im Plan suggeriert wurde. Die poetische Umsetzung dieser Idee in architektonische Formen wird man in St. Pölten freilich vergeblich suchen.

Spectrum, Sa., 1996.11.02



verknüpfte Bauwerke
NÖ - Landhaus / Regierungsviertel

07. September 1996Christian Kühn
Spectrum

Im Schatten der Blue box

Klaus Leitner und Walter Michl haben in Linz das Ars Electronica Center errichtet, das zugleich ein Museum der Zukunft sein will. Kann es diesem Anspruch gerecht werden?

Klaus Leitner und Walter Michl haben in Linz das Ars Electronica Center errichtet, das zugleich ein Museum der Zukunft sein will. Kann es diesem Anspruch gerecht werden?

Es hätte eigentlich keine Attraktion werden sollen: Als Klaus Leitner und Walter Michl 1988 als Sieger aus dem städtebaulichen Wettbewerb für den Linzer Stadtteil Alt-Urfahr-Ost hervorgingen, hatten sie an der markantesten Stelle ihres Projekts ein öffentliches Gebäude mit kultureller Nutzung vorgeschlagen. Seine zurückhaltende Form ergab sich aus dem städtebaulichen Gesamtkonzept: Als integrierter Bestandteil einer langgestreckten, fast bis an den Brückenkopf der Nibelungenbrücke geführten Zeile aus Büro- und Geschäftshäusern sollte es seine besondere Rolle nur zur Flußseite hin ausspielen. Hier schlugen die Architekten im obersten Stock ein nach drei Seiten verglastes Café unter einem leicht geschwungenen Dach vor, mit Panoramablick über die Donau auf den gegenüberliegenden Stadtkern von Linz.

Soweit das grobe Konzept, das von Anfang an feststand. Die erste konkrete Planung entwickelten Leitner und Michl in der Annahme, daß die Linzer Neue Galerie hier ihre graphische Sammlung zeigen würde. Unter dem Dachcafé wurden zwei völlig geschlossene Ausstellungsebenen vorgesehen, die sich nach außen als massiver, auf Stützen über einem verglasten Eingangsfoyer schwebender Block abzeichnen sollten.

Auch dieses transparente Foyer ergab sich vor allem aus städtebaulichen Überlegungen: Die andere Seite des Brückenkopfes wird vom neuen Linzer Rathaus gebildet, einem Bau aus den frühen achtziger Jahren, der in mehreren Stufen träge dem Donauufer entgegenzufließen scheint. Die neue Bebauung sollte dagegen dem Straßenraum eine klare Kontur geben, zugleich aber eine Sichtverbindung zum revitalisierten Teil von Alt-Urfahr-Ost herstellen: Deswegen gibt es einen großen Durchbruch, der den Blick auf die alte Pfarrkirche erlaubt, und eben die teilweise transparente Erdgeschoßzone.

Weil sie von solchen städtebaulichen Überlegungen bestimmt sind, blieben die wesentlichen Charakteristika des Gebäudes auch erhalten, als mit dem Ars Electronica Center (AEC) ein neuer Nutzer feststand. Aus dem Museum für Graphik wurde nun ein Zentrum für elektronische Kunst, das zugleich ein Museum der Zukunft sein will ­ eine beachtliche Addition großer Aufgaben für ein vergleichsweise kleines Gebäude. Daß man damit in Linz aufs richtige Pferd gesetzt hat, ist offensichtlich.

Was bei der Grundsteinlegung noch als exotisches Thema für Experten galt, findet nun bei der Eröffnung des AEC angesichts der allgemeinen Multimedia-Euphorie Interesse auch beim Massenpublikum. Ein Museum der Zukunft ist das AEC aber bestenfalls in seiner informationstechnischen Ausstattung, sicherlich nicht als Gebäude: Zu deutlich ist die Zufallsbekanntschaft zwischen Form und Inhalt, und ganz offensichtlich ist die Ausstellungsgestaltung, die nicht von Leitner und Michl stammt, sondern großteils von Rainer Verbizh, mit der Aufgabe überfordert, zwischen virtueller und realer Welt zu vermitteln.

Besondere Sympathie hat zwischen diesen Welten ja noch nie geherrscht: Die Welt der reinen Information, stets bedroht von Stromausfällen, korrodierenden Kabeln und Kurzschlüssen, fordert von der Architektur in der Regel nicht mehr als große Kabelschächte, eine gute Klimaanlage und gleichmäßige Belichtung. Wer diese Welt in einer Ausstellung vermitteln will, muß mit einem Publikum rechnen, das die gebaute Hülle eher als notwendiges Übel ansieht: Für den Cybernauten könnte sie genausogut unsichtbar sein.

Das Gebaute unsichtbar machen: In ihrem Grundkonzept für das Innere des Ars Electronica Centers haben Leitner und Michl versucht, diesen Gedanken aufzunehmen. Im Treppenhaus und in den zwei oberen Ausstellungsgeschoßen sind Wände und Decken in jenem Blau gestrichen, das im Fernsehen für die Blue box verwendet wird, um den Moderator aus seinem realen Hintergrund zu lösen und ihn in eine beliebige Szene zu montieren. Ein so ausgemalter Raum könnte durch das Auge einer Kamera tatsächlich aus dem Bild verschwinden. In den Ausstellungsgeschoßen des AEC würde dann neben den Installationen und Computerschirmen nur noch der in kräftigem Orange gestrichene, ovale Liftturm als letztes architektonisches Element übrigbleiben.

Von dieser Idee ist nicht mehr viel zu sehen. Die Ausstellungsgestalter haben sich dazu entschlossen, die Räume mit einer Art von Messearchitektur zu möblieren: Es gibt abgehängte Lichtrasterdecken, Nischen, die den an sich schon knappen Raum in kleinere Bereiche unterteilen, und eine Ledersitzgruppe, die ein wenig Möbelhausatmosphäre aufkommen läßt. An sich wäre das Konzept, die digitale Welt in der Umgebung eines Wohnzimmers auszustellen, durchaus interessant. Die Vollausstattung unserer Wohnungen mit Set-Top-Boxen und flachen Flüssigkristallschirmen wird sicher zu neuen Blüten des Technokitsches führen, wie sie in vielen Cyber-Punk-Romanen ja als Gegenbild zur glatten Perfektion der Maschine zu finden sind. (Im AEC weisen zwar ein paar pelzbezogene Monitore in diese Richtung, das Mobiliar selbst bleibt jedoch keimfrei.) Wirklich unverständlich ist, daß zum Thema „Klassenzimmer der Zukunft“ nicht mehr geboten wird als ein Raum, der aussieht, wie man sich einmal die Zentrale des Pentagons vorgestellt hat: 16 Computerarbeitsplätze im Oval aufgestellt, davor ein Großbildmonitor. Kreative Lernatmosphäre, in der spielerisch mit neuen Technologien umgegangen wird, ist das wirklich nicht.

Zukunftsweisend ist das Museum dagegen in der Art, wie der Besucher beim Gang durch die einzelnen Abteilungen digital begleitet wird. Jeder erhält eine Chipkarte, die als „Schlüssel“ zu den Exponaten dient, und ist so immer eindeutig zu identifizieren. Wer sich durch die Art seiner Eingaben als blutiger Laie erweist, bekommt vorerst nur die Informationen vermittelt, mit denen er auch umgehen kann, und kann sich dann selbst in die Tiefe vorarbeiten. Natürlich zeigt dieses System auch, wieviel Persönliches durch den scheinbar harmlosen Umgang mit interaktiven Systemen preisgegeben wird und welche Formen der Überwachung dabei möglich sind. Aber das gehört durchaus zu den Erfahrungen, die das AEC vermitteln will. In dieser Hinsicht ist das AEC eher ein technisches Museum auf einem neuen Niveau. Die Beziehung zur Ars Electronica, zur elektronischen Kunst, ist dagegen weniger sichtbar: Natürlich sind alle prämierten Beiträge des Ars-Electronica-Festivals über einen Video-Server abrufbar, natürlich gibt es Internet-Projekte, die ihre geistige Heimat im AEC haben ­ wenn so eine räumliche Metapher in diesem Zusammenhang noch erlaubt ist. (Mit diesem Problem setzt sich eines der Projekte auf eine sehr amüsante Art auseinander: In einem großen Beet, das im Erdgeschoß des AEC aufgestellt ist, können per Roboter über das Internet Blumen gepflanzt und bewässert werden.)

Was aber ein wenig abgeht, ist die Beziehung der elektronischen Kunst zu den anderen Künsten. Man kann das vielleicht als radikale Position der reinen Virtualität verteidigen; bedenkt man aber die fruchtbare gegenseitige Beeinflussung von Literatur, Musik, bildender Kunst und Architektur, dann sollte eine Präsentation elektronischer Kunst auch diesen Aspekt thematisieren. An dieser Herausforderung sind bekanntlich schon andere gescheitert: Auch für das Karlsruher Zentrum für Kunst- und Medientechnologie war ja ein Neubau nach den Plänen von Rem Koolhaas vorgesehen, der das Versprechen eines „elektronischen Bauhauses“ hätte einlösen können. Am Ende fehlte dann doch der Mut zur radikalen baukünstlerischen Antwort auf die neuen Technologien: Für das ZKM wurde eine alte Munitionsfabrik adaptiert. So bleibt der erste Eindruck vom AEC zwiespältig: auf der einen Seite ein qualitätvolles, aus städtebaulichen Prämissen abgeleitetes Gebäude, das die klassischen Themen der Architektur wie Stütze und Last, Volumen und Fläche bearbeitet.

Man merkt dem AEC an, daß die Architekten eine Neuinterpretation dieser Themen anstreben und die konventionelle Lösung immer wieder in einem zweiten Entwurfsschritt überformt haben: Die runde Säule wird zum gedrückten Oval, und statt gerade in die Decke zu laufen, ist sie bleistiftartig zugespitzt; das Flugdach über dem Cafégeschoß wird nicht nur leicht nach oben gebogen, sondern auch an der Vorderseite in einer konkaven Linie geführt. Auf der anderen Seite findet sich hier eine technische Ausstattung, die auch international zur Spitze gehört und das AEC tatsächlich zu einem führenden Produktionszentrum für digitale Kunst machen könnte. Zur kreativen gestalterischen Auseinandersetzung zwischen realer und virtueller Welt ist es vorerst jedoch nicht gekommen.

Spectrum, Sa., 1996.09.07



verknüpfte Bauwerke
Ars Electronica Center

03. August 1996Christian Kühn
Spectrum

Und ein Parkplatz als Paradies

Erich Hubmann, Peter Nigst und Andreas Vass haben das Zugangsareal zur Alhambra im spanischen Granada neu gestaltet - und damit die Sinnhaftigkeit eines architektonischen Zugangs zur Landschaftsgestaltung unter Beweis gestellt.

Erich Hubmann, Peter Nigst und Andreas Vass haben das Zugangsareal zur Alhambra im spanischen Granada neu gestaltet - und damit die Sinnhaftigkeit eines architektonischen Zugangs zur Landschaftsgestaltung unter Beweis gestellt.

Ein unberührtes Landschaftsparadies, das durch einen Akt der rücksichtslosen Ausbeutung gefährdet ist: Kaum ein anderes Thema hat in unserer ökologiebewußten Zeit einen ähnlichen Erfolg beim Publikum. Wo sonst gibt es noch die Chance auf einen eindeutigen Standpunkt: Wenn man die Natur sich selbst überläßt, braucht man über ihre Gestaltung nicht weiter zu diskutieren. Der Kampf für ein bedrohtes Ökosystem wird damit nebenbei zu einem bequemen Ventil für das Unbehagen in der Zivilisation, zu einem Symbol für die Hoffnung, sich der totalen Entfremdung doch noch irgendwie entziehen zu können.

In dieser Auseinandersetzung zwischen der „Natur an sich“ und den „zerstörerischen Mächten der Zivilisation“ ist eines immer mehr verdrängt worden: das Gefühl für die Qualität der Kulturlandschaft. Glücklichere Zeiten, die noch etwas von Gartenkunst verstanden, waren sich bewußt, daß die „Natur an sich“ eine grausame und gefährliche Angelegenheit ist und ein Paradies daher niemals entdeckt, sondern bestenfalls künstlich angedeutet werden kann, als höchste Stufe der Kultivierung einer natürlichen Vorgabe.

Die Kulturlandschaft als Ergebnis intensiver Bewirtschaftung war in dieser Auffassung ein Schritt in Richtung Paradies - und daher, bewußt oder unbewußt, auch eine Gestaltungsfrage. Wo dagegen die unberührte Natur als einzig denkbares Paradies gilt, wird die Bewirtschaftung zu einem mechanischen Akt der Ausbeutung ohne jede ästhetische Implikation.

Folgerichtig ist Landschaftsplanung hierzulande im Vergleich mit den ihr eigentlich untergeordneten Aufgaben des Landschafts- und Naturschutzes ein zweitrangiges Thema. Beim Neubau einer Straße wird zwar erwartet, daß der Landschaftsschutz sagt, wo die Straße nicht durchführen soll; daß eine Streckenführung aber auch eine wichtige Gestaltungsaufgabe ist, erscheint alles andere als selbstverständlich. Und auch im sensiblen Bereich am Übergang von der städtebaulichen zur landschaftsplanerischen Dimension sind in Österreich keine nennenswerten Beispiele zu entdecken. (In Wien wird dieses Thema offenbar vom Stadtgartenamt abgehandelt, dessen Beiträge zur fortschreitenden Verkrautung, etwa mit der rustikalen Naturwiese rund um die Minoritenkirche, freilich nur als bedingungslose Kapitulation vor dem Zeitgeist Erwähnung verdienen.)

Daß auch bei uns das entspre-chende Potential vorhanden ist, haben nun die Architekten Erich Hubmann, Peter Nigst und Andreas Vass mit ihrer Neugestaltung des Zugangsareals zur Alhambra im spanischen Granada bewiesen. 1990 konnten sie einen Wettbewerb für dieses Areal für sich entscheiden; heute sind die Baumaßnahmen großteils abgeschlossen, die Bepflanzung ist so weit angewachsen, daß sich der angestrebte Endzustand zumindest erahnen läßt. Ausgangspunkt des Projekts war eine verkehrsplanerische Maßnahme: Um die Innenstadt Granadas vom Fahrzeugverkehr zu entlasten, wurde eine neue Umfahrungsstraße angelegt, die auch eine neue Zufahrt zur Alhambra ermöglichte.

Statt durch die Altstadt sollten die motorisierten Touristen nun an die Ostseite des Alhambra- Palastes geleitet und von dort durch die Gärten innerhalb der Befestigungsmauern zu den berühmten maurischen Höfen und dem Palast Karls V. geführt werden. Eine leicht zum neuen östlichen Eingang abfallende Fläche, die in jüngster Zeit ungenutzt geblieben war, wurde so zu einem neuen, wichtigen Vorbereich des Palastes. Die vielen Abstellplätze und Verkehrswege hätten diesem Gebiet leicht den Charakter eines besseren Shopping-Center-Parkplatzes verleihen können; der Wettbewerb des Jahres 1990 sollte statt dessen für eine der Bedeutung des Ortes angemessene Lösung sorgen.

Hubmann, Nigst und Vass haben diesen Wettbewerb gewonnen, weil sie ihr Projekt aus einer genauen Beobachtung der Situation entwickelt haben, ohne dabei jemals formale Anleihen bei einer touristisch eingängigen maurischen Sprache zu nehmen. Sie selbst beschreiben ihre Vorgangsweise als ein „Aufspüren nicht bildhafter Wirklichkeitsschichten“: der alten maurischen Nutzgärten, die östlich der Alhambra angelegt waren, der Bewässerungssysteme, der teilweise noch vorhandenen Zisternen. Mit ähnlichen Mitteln strukturiert die neue Anlage den etwa 800 Meter langen Geländestreifen: Im präzisen Raster mit Bäumen bepflanzte Terrassen sind durch aufgeständerte Bewässerungsanlagen aus Stahlbeton voneinander getrennt, die quer zur Bewegungsrichtung in den Hang hineinführen. Zwischen den teilweise durch Betonelemente überdachten Rinnen und den leicht geböschten Stützmauern zur jeweils höherliegenden Terrasse sollen schattige Zwischenräume zu einem Umweg verführen - oder zu einer Pause beim Anmarsch zur touristischen Attraktion.

Das Bewässerungssystem selbst ist in zwei Ebenen angelegt: Die voluminösen Tröge, die den Wasserkörper für die Bewässerung speichern, sind durch flache, offene Betonrinnen abgedeckt. Hier fließt das Wasser sichtbar und fällt in mehreren Stufen bis auf das unterste Niveau, von wo die Restwassermenge über Pumpen wieder nach oben gelangt. In der Nähe des Eingangs wird Wasser in einer großen, schwebenden Wasserplattform gefangen, die das Thema auf eine neue Art abwandelt. Im ursprünglichen Konzept hätte diese Anlage als „funktionsloser“ Park errichtet werden sollen, der von den noch weiter außerhalb liegenden Parkplätzen aus zu durchqueren gewesen wäre.

Nicht der direkte, widerstandslose Zugang, sondern der Zugang als Filter, als schützender Hain um den Palast war das Ziel der Architekten. Zuletzt hat sich freilich auch hier Nützlichkeit breitgemacht: Zwischen den Baumreihen liegen nun die Parkplätze, und auch eine vor Jahren angelegte Allee, die direkt auf den Eingang zielt, mußte in das Konzept einbezogen werden. Man kann dem aber auch positive Seiten abgewinnen: Die widerstrebenden Kräfte bleiben so zumindest deutlich erkennbar.

Daß Hubmann, Nigst und Vass hier auf die formale Anknüpfung an die maurische Architektur verzichten konnten, liegt nicht zuletzt an ihrer intensiven Beschäftigung mit den Grundlagen der islamischen Bautradition. Noch als Studenten hatten Vass und Hubmann einen längeren Studienaufenthalt in Fes dazu genutzt. Peter Nigst war damals ihr Assistent in der Meisterklasse von Gustav Peichl. Die berühmten Innenhöfe der Alhambra mit ihren Brunnen und Wasserläufen waren für sie leicht als jene kultivierte Andeutung des Paradieses zu verstehen, von der eingangs die Rede war. Mit der Gestaltung des neuen Vorbereichs setzen sie genau am richtigen Punkt an - keine unnötige Kopie zu schaffen, sondern einen Hauch des Paradieses in die Alltäglichkeit hinüberzuretten.

Hubmann und Vass haben sich in ihren jüngeren Arbeiten noch mehrmals mit der Durchbildung von Landschaftsräumen auseinandergesetzt. In einem Projekt für die Magadinoebene im Schweizer Tessin zwischen Bellinzona und Locarno haben sie diesen der Zersiedlung ausgesetzten Landschaftsraum mit einem ähnlichen Verfahren der genauen Beobachtung bearbeitet. Ihre Methode ist ein vielschichtiger und wählerischer Kontextualismus, der landschaftlich wirksame Achssysteme, Kanäle und Bepflanzungen auf ihren Ursprung hin befragt.

Das Ergebnis ist vorerst eine Desillusionierung: Das trockengelegte Land, der Natur abgerungen, ist schon immer einer Ästhetik des Gebrauchs unterworfen. Will man dem Entwicklungsdruck durch kommerzielle Interessen begegnen, kann das nur über eine neue Form der Bewirtschaftung gelingen. Neben den Vorschlägen zur Verkehrs- und Bebauungsstruktur empfehlen Hubmann und Vass daher für die großen landwirtschaftlichen Flächen, die zu immer größeren Teilen brachliegen, eine neue Nutzung: schnellwüchsiges Schilfgras, das in Blockheizkraftwerken zur Energieerzeugung verwendet werden kann - eine Landschaft, die ihren Charakter jedesmal plötzlich verändert, wenn das meterhohe, im ebenen Gelände jeden Ausblick versperrende Schilfgras geerntet wird.

Ein solcher Vorschlag steht keineswegs im Gegensatz zu den subtilen Bewässerungsanlagen und Wegführungen beim Eingang zur Alhambra. Es handelt sich - im größeren Maßstab - um dieselbe Methode: Wirklichkeitsschichten aufzuspüren und zu aktivieren, die hinter dem oberflächlich Wahrnehmbaren verborgen liegen. Wer an die bevorstehenden Umbrüche auch in der heimischen Landwirtschaft denkt und an die Wunden, die der kommerzielle Entwicklungsdruck an den Rändern der heimischen Gemeinden schon jetzt hinterlassen hat, wird hier eine der wichtigsten gestalterischen Aufgaben für die nächsten Jahrzehnte entdecken.

Spectrum, Sa., 1996.08.03



verknüpfte Bauwerke
Zugangsareal zur Alhambra

29. Juni 1996Christian Kühn
Spectrum

So oder doch ganz anders

Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein einfacher Terrassenbau: Ernst Beneders Einfamilienhaus in Waidhofen an der Ybbs. Im Inneren jedoch entpuppt es sich als komplexes Raumkunstwerk.

Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein einfacher Terrassenbau: Ernst Beneders Einfamilienhaus in Waidhofen an der Ybbs. Im Inneren jedoch entpuppt es sich als komplexes Raumkunstwerk.

So sollte ein Einfamilienhaus eigentlich nicht aussehen: ein abgetreppter grauer Kubus; breite Fensterbänder; Zwillingsrauchfänge aus Edelstahl. Davor ein großer Trog aus Stahlbeton, in dem sich das Regenwasser der Flachdächer sammelt.

„Es muß nicht aussehen wie ein Haus.“ Gleich zu Planungsbeginn, so berichtet der Architekt Ernst Beneder, habe ihn sein Bauherr mit diesem Satz überrascht. Man kann das leicht falsch interpretieren: Wollte der Bauherr ein Haus, das anders aussieht als die anderen, ein richtiges, modernes Bürgerschreckhaus, 100prozentig „bourgeois-proof“, wie das der amerikanische Kritiker Tom Wolfe in seiner Abrechnung mit der Bauhausarchitektur spöttisch bezeichnete?

So oberflächlich war dieser Satz natürlich nicht gemeint. Es geht hier um etwas ganz anderes: Bauherr und Architekt beschließen, beim Entwurf das Ziel aus den Augen zu verlieren - nicht mehr von vornherein zu wissen, wie ein Haus aussieht - und sich statt dessen auf den Weg zu konzentrieren. Statt das Entwerfen mit dem Lösen eines Problems gleichzusetzen, machen sie sich erst auf die Suche nach dem Problem. Aber anders als in der frühen Moderne, als Le Corbusier ja auch davon sprach, daß das „Problem des Hauses noch nicht gestellt worden sei“, ist heute jede Hoffnung verflogen, dieses Problem ohne historischen Ballast ein für allemal abhandeln zu können, und es ist auch klar geworden, welche Verarmung damit verbunden wäre.

Ernst Beneder hat in den späten achtziger Jahren - anknüpfend an die Theorie des „kritischen Regionalismus“ - in einem Aufsatz die geänderte geistige Verfassung beschrieben. Seine Überlegungen weisen so weit über die damalige verklemmte Diskussion zwischen Postmoderne und Dekonstruktion hinaus, daß es sich lohnt, ihn zu zitieren: „Orten wir die initiale Zündung des Entwurfes nicht erst in der Artikulation einer Lösung, vielmehr schon in der Formulierung der Problemstellung, also in der Gegenüberstellung zu dem Prätext, den Wünschen, den Grenzen, dem Bauplatz, dem politischen und sozialen Spannungsfeld mit all jenen Kriterien, die erst eine einmalige und unwiederholbare Herausforderung entstehen lassen, vielleicht sogar in der bewußten Steigerung des Schwirigkeitsgrades, um dann mit den plausibelsten Methoden eine Lösung herbeizuführen, die in ihrer Stimmigkeit, im scheinbar Nicht-anders-sein-Können alle formalistischen Spuren abgestreift hat. Ironisch ausgedrückt: Ein Problem wird manieristisch provoziert und modern aufgelöst. Ernsthaft ausgedrückt: Freiräume, die zunächst dem Pragmatiker schon unbrauchbar erscheinen, werden noch angenommen.

Der erste Entwurf für das Haus, das Ernst Beneder in Waidhofen an der Ybbs für eine heute fünfköpfige Familie geplant hat, entstand zeitgleich mit diesem Text. Beneder wurde schon bei der Auswahl des Grundstücks beigezogen, und das schließlich gewählte ist tatsächlich eine „bewußte Steigerung des Schwierigkeitsgrades“, ein steiles Hanggrundstück, noch dazu ein gutes Stück weg von der Erschließungsstraße und mit dieser nur durch eine schmale Grundstücksfahne verbunden. Eine glasgedeckte Stahlbrücke führt von der Straße zu dem eigentlichen, seitlich ans Haus gesetzten Eingang.

Was auf den ersten Blick wie ein einfaches Terrassenhaus aussieht, entpuppt sich im Inneren als ein komplexes Raumkunstwerk: Die drei Wohnebenen sind durch einen über alle Geschoße laufenden, acht Meter hohen Vertikalraum verbunden, der Licht bis in den untersten, schon weit im Hang liegenden Bereich fallen läßt. Hier liegt eine kleine Bibliothek als innerster Kern des Hauses, ein Rückzugsbereich an heißen Sommertagen, für den Winter steht ein gemauerter Ofen bereit.

Quer dazu liegt an der verglasten Außenwand der Sitz- und Eßbereich mit direktem Ausgang in den Garten. Im nächsten Geschoß befinden sich das Eltern- und das Kinderschlafzimmer, im Eingangsgeschoß noch ein kleines Studio mit einer tonnenförmig gedeckten Empore, die nur über eine Leiter zu erreichen ist, ein luftiger Rückzugsraum als Gegengewicht zu jenem auf der untersten Ebene: zur Höhle im Berg das Faß des Diogenes.

Verbunden sind diese Ebenen durch zwei Treppen. Eine Wendeltreppe ist in einem eigenen Turm hangseitig an das Haus angefügt. Im unteren Teil ist der Turm verglast und läßt so auch von dieser Seite noch Licht in den Kern des Hauses dringen. Die Haupttreppe ist in Verbindung mit dem offenen Zentralbereich genau in der Fallinie des Hangs geführt. Sie durchbricht dabei das System des abgetreppten Baukörpers, unterschneidet dessen Kanten und erzeugt auf den Terrassen die schmalen, dreieckförmigen Aufbauten. Im Inneren entsteht dabei eine diagonale Verbindungszone, deren Dynamik vom massiven Block des Wasserbeckens aufgefangen wird. Wenn das Becken gefüllt ist, reflektieren die Wellen das Sonnenlicht bis zur Decke des obersten Geschoßes.

Die Spannung, die sich aus dem Ineinandergreifen der zwei divergierenden Systeme von Baukörper und Erschließung ergibt, ist auch im konstruktiven System sichtbar. Dessen Prinzip scheint ganz einfach zu sein: massive Wandscheiben an den Seiten und gegen den Hang, die innere Konstruktion und die Fassade aus Holz. Aber wiederum zerschneidet die Treppe diese Ordnung. Teile der Deckenkonstruktion werden von oben angehängt, die Hierarchie von tragenden und lastenden Elementen durcheinander gebracht. In den Details spürt man das Vergnügen, mit dem diese komplizierten Knoten gelöst wurden. Die meisten sind das Ergebnis einer langen Entwicklung, und Beneder legt Wert darauf, die Rolle seiner Mitarbeiter, Heinz Plöderl und Anja Fischer, zu betonen.

Man spürt hier aber auch die Intensität, mit der sich der Bauherr selbst hand- und kopfwerklich am Bau beteiligt hat. Bei dieser Arbeit habe er begonnen, sich mit Adolf Loos zu beschäftigen, mit dessen ökonomischem Ansatz, der Entwicklung der Form aus dem Gebrauch und der radikalen Absage an alle formalen Motive.

Es bleibt die Frage, ob dieses Haus mit dem gleichen Recht am Rande einer niederösterreichischen Kleinstadt steht wie seine so offensichtlich bodenständigen Nachbarn. „Region“ und „Kontext“, argumentiert Beneder, seien nichts Gegebenes, man muß sie sich erarbeiten; im Extremfall kann dabei, so wie hier, eine persönliche Region entstehen, die vielleicht auf den ersten Blick fremd wirkt.

Die kreative Bestimmung von Region und Kontext als erste Aufgabe des Architekten: Es liegt auf der Hand, daß man mit dieser Auffassung den selbsternannten und den beamteten Ortsbildpflegern in die Quere kommt. So hat man sich bei der Baubewilligung für Beneders Haus auch gleich vorsorglich darauf geeinigt, das Bauwerk eher als Terrasse für das dahinterliegende, in jeder Hinsicht ortsbildkonforme Gebäude zu interpretieren denn als eigenständiges Haus.

Inzwischen hat sich die niederösterreichische Bauordnung geändert: Durfte früher das Ortsbild durch einen Neubau nicht gestört werden, so ist nun eine „harmonische Einbindung“ verlangt, die aber explizit nicht an Dachformen, Stilelemente, Materialien gebunden ist. Vielleicht besteht also Hoffnung, daß in absehbarer Zukunft die Betrachter eines Hauses wie jenes in Waidhofen nicht großteils mit Befremden reagieren, sondern mit Offenheit: „So sollte ein Einfamilienhaus aussehen. Oder vielleicht ganz anders.

Spectrum, Sa., 1996.06.29



verknüpfte Bauwerke
Haus Mayrhofer

18. Mai 1996Christian Kühn
Spectrum

Heiße Halle statt kühler Kiste

Einprägsam, bunt, beschwingt: Hans Hollein hat für St.Pölten den idealen Kulturbau der Freizeitgesellschaft entworfen. Kunst macht Spaß! lautet die Botschaft.

Einprägsam, bunt, beschwingt: Hans Hollein hat für St.Pölten den idealen Kulturbau der Freizeitgesellschaft entworfen. Kunst macht Spaß! lautet die Botschaft.

Zehn Jahre ist es her, daß die Bürger Niederösterreichs in einer Volksbefragung dafür gestimmt haben, St. Pölten zu ihrer Hauptstadt zu machen. Der erste Wettbewerb für das neue Landhausviertel fand 1989 statt, 1990 wurde in einer zweiten Stufe das Projekt von Ernst Hoffmann zur Ausführung bestimmt, seit 1992 wird gebaut; ein Jahr später wurden die Projekte für den Kulturbezirk mit Museum, Bibliothek und Festspielhaus präsentiert, und diesen Herbst werden die ersten Beamten von Wien nach St. Pölten übersiedeln.

All das ist eine bemerkenswerte Leistung. Zum Vergleich: 1987 fand der Wettbewerb für das Museumsquartier in den Wiener Hofstallungen statt. Was diesem Vorhaben seither angetan worden ist, wie Entscheidungsschwäche und Intrigen Wien um einen wichtigen kulturellen Impuls gebracht und die Museumsentwicklung der Stadt nachhaltig paralysiert haben, ist bemerkenswert.

Öffentliche Projekte dieser Dimension, das hat man in Niederösterreich richtig erkannt, müssen, sobald die Entscheidung getroffen ist, aus der tagespolitischen Diskussion herausgehalten werden. Sobald jemand versucht, mit einem „Ja, aber“ politisches Kleingeld zu machen, wird jedes Projekt zum Spielball von Interessen, die mit der Sache nichts zu tun haben.

In St.Pölten war man so klug, die Durchführung des Projekts aus der direkten politischen Einflußnahme herauszuhalten und eine eigene Gesellschaft für das Projektmanagement zu gründen, deren Vorstand - Norbert Steiner und Josef Ladenbauer - über einen international operierenden Personalberater ausgewählt wurde. Daß dieses komplexe Großprojekt zeitgerecht, im Kostenrahmen und ohne die gewohnten Skandale durchgeführt werden konnte, ist nicht zuletzt ein Erfolg dieser Vorgangsweise.

Städtebaulich ist man mit der Auswahl des Projekts von Hoffmann den Weg des geringsten Risikos gegangen. Radikalere, den Traisenfluß überspannende oder die Bahnlinie begleitende Vorschläge fanden im Wettbewerb keine Berücksichtigung. Hoffmanns Konzept sieht parallel zur Traisen lange Zeilen von Bürobauten vor, die, ganz im Sinne der metaphernfreudigen achtziger Jahre, unterschiedliche Typen von Straßenräumen begrenzen: einen gedeckten „Landhausboulevard“, eine „Neue Herrengasse“ genannte Alleestraße, als südlichen Abschluß einen „Anger“ und in der Mitte einen „Landhausplatz“.

Alle politisch bedeutenden Bauten sind hier aneinandergeschoben: das Landhaus, der Landtag, ein dem Landeshauptmann gewidmeter Trakt, die Landhauskapelle. Angesichts dieser Fülle von Wichtigkeiten gibt es manche formale Entgleisung. Die schwierige Balance zwischen Machtdarstellung und demokratischer Transparenz wird in einem geschwungenen Baukörper am Traisenfluß, der den Landtagssaal aufnimmt, offiziell „Das Schiff“ genannt, noch einigermaßen gehalten; dahinter erhebt sich jedoch der 80 Meter hohe „Klangturm“, eine abgestufte Stahlkonstruktion mit exzentrischem, aufgesetztem Schalldeckel. In Hoffmanns Wettbewerbsprojekt standen hier zwei schmale Türme, die die Architekten unter den Juroren wohl an Oscar Niemeyers Zentrum von Brasilia erinnern sollten.

Herausgekommen ist nun ein Objekt, das männliche Machtphantasien mit demokratischen Prinzipien versöhnen soll: Wie hier die abgedroschene Idee des Monumentalen - des Turms als Weltachse - durch Auflösung der Masse in ein Stahlskelett konterkariert wird, erscheint mir als monströser Kitsch. (Noch ist der Turm eingerüstet, und ich darf für die St.Pöltner hoffen, mit meiner Einschätzung so un-recht zu behalten wie die einstigen Kritiker des Eiffelturms.)

Der Landhausplatz markiert den Beginn einer Richtung Altstadt führenden Querachse, die am Kulturbezirk mit Archiv und Landesbibliothek, Festspielhaus und Ausstellungshalle vorbeiführt. Das Festspielhaus von Klaus Kada und die Bibliothek von Bily, Katzberger und Loudon flankieren einen leicht ansteigenden Platz, der „Franz-Schubert- Platz“ getauft wurde. Noch sind die beiden Objekte in Bau, aber es zeichnet sich ein spannungsvoller Dialog auf hohem gestalterischem Niveau ab.

Die Ausstellungshalle von Hans Hollein ist vom Volumen her das unbedeutendste der drei Gebäude, sie markiert aber mit ihrer Stirnseite die Hauptachse des Schubert-Platzes. Was Hollein hierher gesetzt hat, ist ein ins Überdimensionale vergrößertes Logo von starker Einprägsamkeit: eine wellenförmige Stahlkonstruktion, die vor demeigentlichen Baukörper zu schweben scheint. Der Assoziationsspielraum, den diese Form bietet, ist ebenso groß wie ihre gestaltpsychologische Wirkung. Daß Hollein sich gegen metaphorische Vereinnahmungen zu wehren versucht hat, nützt da nicht viel: Noch unzählige Reisegruppen werden sich vor der „Welle“ photographieren lassen.

Die Umsetzung der formalen Idee in ein dreidimensionales Objekt ist Hollein in gewohnt virtuoser Weise gelungen. Der mit Glasplatten gedeckte Gitterrost des geschwungenen Daches wird auf der linken Seite von einem stählernen Träger abgestützt, der sich vom Gesims des Hauptbaukörpers schräg nach unten zu einem massiven, dreieckigen Element spannt, das sich bei näherer Betrachtung als Aufgang der Tiefgarage erweist. Auf der rechten Seite tragen neun schlanke Stahlsäulen das Dach: Acht von ihnen sind gelb, die mittlere ist blau gestrichen, und weil sie ihre Lasten schräg in den Boden abtragen, ergeben sich, den Landesfarben entsprechend, hübsche blaugelbe Verschneidungen. Über dem Dach schwebt eine Tafel zur Ankündigung der Ausstellungen.

Der Eingang führt, zwischen den schrägen Stützen hindurch, in ein Foyer, an das linker Hand die Garderobe anschließt. Hier ist eine Art Erkerfenster eingeschnitten, das den Blick auf die abfallende Fläche des Schubert-Platzes lenkt und die vielen schrägen, geschwungenen Formen in das orthogonale System des Platzes zurückbindet.

Über das Innere der Halle lassen sich noch keine auf Erfahrung beruhenden Aussagen treffen: Die Gestalter der Ausstellung „1000 Jahre Österreich“, mit der das Gebäude eröffnet wurde, gaben sich alle Mühe, den Raum und seine Möglichkeiten für eine natürliche Belichtung zu ignorieren, indem alle Fenster verdunkelt wurden. Die Haupthalle verfügt sowohl über Sheddächer, die eine Belichtung von oben zulassen, als auch über seitliche Lichtschlitze und Lichtbänder an der südseitigen Stirnwand. Angrenzend an die zweigeschoßige Halle sitzt über dem Foyerbereich noch ein kleinerer Ausstellungsraum, von dem aus das Café mit Terrasse erreichbar ist. Eine Freitreppe führt von der Terrasse, an der Außenseite der Garderobe entlang, wieder auf den Vorplatz.

Zumindest bei der jetzigen Ausstellung ist diese Organisation verwirrend, da man vom Café mitten in die Ausstellung gelangt, ohne an der Kasse vorbei zu müssen. Allerdings handelt es sich beim Café um ein Provisorium, das in der nächsten Baustufe - bei Errichtung des großen Landesmuseums - verschwinden soll. Hollein begründet damit auch die Verkleidung des Körpers mit wetterfesten Sperrholzplatten. Daß man die Gestaltung des Café-Interieurs der lokalen Gastronomie überlassen hat, ist damit freilich kaum zu entschuldigen.

Betrachtet man die Ausstellungsgebäude von dort aus, wo einmal der Komplex des Lan-desmuseums stehen soll, wird die Zweiteilung der Anlage in einen expressiven Kopf und den Körper der eigentlichen Halle deutlich.

Hollein zeigt hier, daß er mit einem einfachen Baukörper nicht mehr anzufangen weiß, als ihn zu ornamentieren. Die Sheddächer bilden schräge Zacken, deren Linien sich in den diagonal geschnittenen, hell- und dunkel-grünen Verkleidungsplatten der Seitenwand fortsetzen.

In einer Zeit, in der die „kühlen Kisten“ der sechziger Jahre wieder in Mode sind, macht selbst die relativ sparsame Gestaltung, ganz zu schweigen vom formalen Feuerwerk an der Vorderseite, Holleins Halle zu einem „heißen“ Gebäude. Die markante Figur der „Welle“ und die räumliche Qualität des Eingangsbereiches werden die Zustimmung des Publikums sichern. Daß Kunst aber nicht nur Spaß macht, sondern oft brutal, erschreckend und aggressiv sein muß, davon schweigt Holleins beschwingtes Eingangsportal. Für das Kulturleben des Landes bleibt zu hoffen, daß wir durch dieses Portal hindurch auch manchmal eine andere Welt als die des Kulturkonsums werden betreten dürfen.

Spectrum, Sa., 1996.05.18



verknüpfte Bauwerke
Shedhalle

06. April 1996Christian Kühn
Spectrum

Stadt der schönen Worte

Neue Stadtteile schießen in Wien aus dem Boden - etwa das Stadterweiterungsgebiet Langobardenstraße Süd zwischen Stadlau und Aspern. Das Konzept: klingende Namen, fixfertige Vielfalt. Ein Einwurf.

Neue Stadtteile schießen in Wien aus dem Boden - etwa das Stadterweiterungsgebiet Langobardenstraße Süd zwischen Stadlau und Aspern. Das Konzept: klingende Namen, fixfertige Vielfalt. Ein Einwurf.

Nur der Tourist kann eine Stadt betrachten wie ein Kunstwerk. Sein Blick fügt Monumente zusammen zu einer Erinnerung, an die er zurückdenken kann wie an den Besuch in einem Museum. Der Bewohner dagegen erlebt seine Stadt ganz anders: Für ihn ist sie so allgegenwärtig und zugleich so unfaßbar wie die Luft, die er atmet. Die Stadt altert mit ihm, verwandelt sich mit ihm, teilt sein Schicksal, während sie dem Touristen nur Augenblicke zu schenken vermag. Die kritische Betrachtung der Stadt aus der Perspektive des Touristen ist immer auf das Besondere gerichtet. Der öffentliche Raum erscheint ihr als eine Abfolge wichtiger Stationen, um die herum sich die gewöhnliche Stadt als eine kaum wahrgenommene Masse ohne Kontur ausbreitet. Es ist dies dieselbe Art von Wahrnehmung, mit der auch das Stadtmarketing rechnet. Im internationalen Vergleich wird Wien hier nicht schlecht abschneiden: Denkmalpflege und Stadterneuerung haben sich zu Recht einen guten Ruf erworben. Die aktive Neugestaltung des öffentlichen Raumes kommt wohl etwas zu kurz, aber immerhin beweisen wir mit dem Haas-Haus Mut zur Innovation auch in der historischen Stadt: Hätte Paris es gewagt, Notre-Dame derartiges gegenüberzustellen?

In der Stadterweiterung teilt Wien mit vielen anderen europäischen Städten die leidvollen Erfahrungen mit dem funktionalistischen Städtebau der sechziger und siebziger Jahre: monofunktionale Großsiedlungen ohne ausreichende Verkehrsanbindung und soziale Infrastruktur. Aber auch hier haben sich in der jüngsten Phase der Stadterweiterung neue Modelle durchgesetzt, nicht mehr Siedlungen, sondern neue Stadtteile mit klingenden Namen wie Erzherzog-Karl-Stadt werden gebaut und Themenstädte vom „Naturnahen Wohnen“ bis zur „Frauen Werk Stadt“. Die Leitmotive sind Vielfalt und Pluralismus, und neben einheimischen Spezifika wie Hundertwassers Monumenten können so auch geförderte Wohnbauten von Architekten wie Zaha Hadid oder Jean Nouvel entstehen, die eindrucksvoll die internationale Offenheit Wiens unter Beweis stellen.

Nun ist gegen Stadtmarketing im Prinzip nichts einzuwenden, nichts gegen Stararchitekten und auch nichts dagegen, den Dingen einen schönen Namen zu geben. Wer würde nicht lieber zwischen „Copa Kagrana“ und „Donauinsel“ als in einem „Entlastungsgerinne“ baden, wer würde nicht das „Donauspital“ einem „Sozialmedizinischen Zentrum Ost“ vorziehen?

Auch die Schaffung „vielfältiger und lebendiger Stadtteile“ ist ein legitimes Leitziel jeder Stadterweiterung. Freilich: Architektur und Stadt sind keine abstrakten Themen, sondern sinnlich und konkret.

Um sie zu erfahren, muß man an den Ort gehen, die schönen Worte vergessen, die Augen öffnen und die Stadt einatmen. &&gAlso hinaus an die Peripherie, wo die versprochenen neuen, lebendigen Stadtteile liegen: 3000 Wohnungen an der Brünner Straße, 1800 am Leberberg, 2900 zwischen Stadlau und Aspern. Dem touristischen Blick - falls je ein solcher auf die genannten Gebiete fallen wird - bieten sich tatsächlich vielfältige Strukturen, ein Patchwork aus architektonischen Einfällen und Zufällen, viele Farben und Formen im Vergleich zu den grauen Betonwüsten der siebziger Jahre.

Leberberg und Brünner Straße sind noch Mischformen. In seiner reinen Gestalt ist das von der Wiener Stadtplanung propagierte Konzept der Patchwork-City jedoch zwischen Stadlau und Aspern zu bewundern. Hier beginnt östlich und nördlich des „Sozialmedizinischen Zentrums Ost“ ein zusammenhängendes Stadtentwicklungsgebiet etwa in der Größe des achten Bezirks. Nördlich des SMZ-Ost wurde schon in den achtziger Jahren das Spiel des Patchworks eröffnet. Ein Wohnblock von Viktor Hufnagl, in dem sich glasgedeckte innere Straßen und Wohnhöfe abwechseln, grenzt an ein Stückchen Gartenstadt von Roland Rainer, das wieder in eine zitathafte Anordnung von Plätzen, Angern und Gäßchen zerfällt und eine stadträumliche Tristesse erzeugt, die Rainers größeren Siedlungen fremd ist. Denn wo diese großzügig Bezug zum angrenzenden Landschaftsraum aufnehmen können, ist hier gerade Platz genug für ein trockenes städtebauliches Manifest.

Den Hintergrund für Rainers und Hufnagls Wohnbauten bildet ein Pensionistenheim der Gemeinde Wien, ein Exemplar eines standardisierten Typs: ein mehrfach abgewinkelter fünfgeschoßiger Bau, der verdreht auf seinem rechteckigen Grundstück sitzt und mehrere dreieckige, mit Maschendraht von der Umgebung abgegrenzte Restflächen übrigläßt. Eine Verknüpfung mit den angrenzenden Bereichen ist nicht einmal im Ansatz versucht.

Ebenfalls noch aus der Zeit vor der jüngsten Welle der Stadterweiterung stammt ein Wohnbau von Boris Podrecca am Kapellenweg, der das Areal des SMZ-Ost östlich begrenzt. Der langgestreckte Bau sollte eine Art Stadtkante definieren, ein Gedanke, über den die Entwicklung längst hinweggegangen ist: 2200 Wohnungen wurden in den letzten Jahren jenseits dieser Kante errichtet. Gleich neben Podreccas langer Zeile stößt ein weiteres Stück Gartenstadt von Roland Rainer an die drei unförmigen Finger eines Wohnbaus von Harry Glück und an eine Volks- und Sonderschule, für die Hannes Lintl verantwortlich zeichnet. Vor der Architektur dieses Baus muß die Kritik kapitulieren: Was gibt es zu Säulen im Design zugespitzter Bleistifte noch zu sagen? Mit ihrer Breitseite sperrt sich diese Schule gegen einen Park, der das Gebiet als „Grünzug“ in zwei Teile trennt. Er folgt zuerst den alten Flurformen, knickt dann aber plötzlich diagonal aus.

Auch hier wurde schon gestaltet: Ein Serpentinenweg ist angelegt, Laternen und Bäume sind locker verteilt, ein kleiner Buckel in der Mitte soll noch von einem Salettl gekrönt werden.

Im östlich angrenzenden Teil werden wieder zwei verschiedene Stadtkonzepte durchgespielt: einerseits eine Variante des konventionellen Straßenraums, andererseits die zusammenhängende, von mehreren Architekten gestaltete Großform. Das erste Konzept leidet daran, daß noch lange keine Straße entsteht, wenn man für den Zeilenbau konzipierte Bautypen enger zusammenschiebt.

Man hätte sich Podreccas Wohnbau genauer ansehen sollen, der ohne jedes Gegenüber eine Straße zu definieren imstande ist. Hier kann dagegen kein Gebäude den Straßenrand halten: Unter dem Motto der Vielfalt spricht jeder seine eigene Sprache, machen sich Elemente und Farben selbständig.

Das zweite Konzept ist im Ansatz ebenso fragwürdig: Eine autonome, kompliziert gegliederte Großform mit mehrgeschoßigen Durchfahrten läßt sich kaum ohne schmerzhafte Brüche auf verschiedene Architekten aufteilen. Gerade die besseren Teillösungen - wie etwa Helmut Wimmers ruhiger Hoftyp mit seinen flexiblen Wohnungsgrundrissen - machen die Schwächen des gemeinsamen Korsetts noch deutlicher. Was wäre hier alles möglich gewesen, wenn man die Vielfalt nicht fix eingeplant, sondern in einem viel einfacheren System einfach zugelassen hätte.

Mit diesem Gedanken verlassen wir endgültig den Weg einer retrospektiven, touristischen Betrachtung. Alles Gesagte war ja eine Kritik aus sicherer Distanz. Nichts zwingt mich, jemals wieder in die Gegend zwischen Aspern und Stadlau zu fahren, und selbst wenn ich für das Stadtmarketing verantwortlich wäre, blieben viele Wege offen: Ich könnte andere Bildausschnitte wählen, spielende Kinder in den Vordergrund bringen, schöne neue Namen erfinden - noch für den langweiligsten Baublock. Die Bewohner können all das nicht. Sie werden ihrem Stadtteil trotzdem verbunden sein: Das Bedürfnis nach Heimat mißt nach eigenen Kriterien. Aber das darf nichts an einer prospektiven Kritik an der fixfertigen Vielfalt ändern, die hier als pluralistisch oder gar demokratisch verkauft werden soll. Denn echte Vielfalt ist stets das Ergebnis von Freiheit, nicht ihr abstraktes Abbild. Die Freiheit der Architekten, ihre Formvorstellungen durchzusetzen, ist da sekundär. Es geht um die Reserve an Freiheit, die in einem Stadtteil verblieben ist, um zukünftige Entwicklungen zu bewältigen, die wir heute kaum erahnen können: vielleicht die Umwandlung einer hedonistischen Gesellschaft in eine solidarische; die Bewältigung ökologischer Krisen; veränderte Formen von Arbeit und Freizeit. All das wird auch seine räumlichen und baulichen Konsequenzen haben, wird Platz brauchen für Experimente mit neuen Formen des Zusammenlebens und wandlungsfähige Institutionen wie Schulen und Kindergärten in flexiblen Bauten. Groß ist die Reserve dafür in den neuen Stadterweiterungen nicht.

Zu oft haben sich hier die alten Seilschaften von unbeweglichen Bauträgern, gleichgültigen Architekten und einer das Risiko meidenden öffentlichen Verwaltung durchgesetzt. Aber eine Stadt ist ja nie fertig: Die nächste Welle der Stadterweiterung wird kommen, und auch die nun wieder angesagte Verdichtung im Inneren kann von einer offenen Kritik der jüngsten Erweiterungen nur profitieren.

Spectrum, Sa., 1996.04.06

25. November 1995Christian Kühn
Spectrum

Das Ende der Kalkputzstadt?

Eine neue Form der Urbanität – ohne jeden Bezug zur imperialen Vergangenheit Wiens? Mit ihrem Schulzubau in der Zinckgasse setzen die Rainer-Schüler Georg Driendl und Gerhard Steixner einen Schritt in diese Richtung.

Eine neue Form der Urbanität – ohne jeden Bezug zur imperialen Vergangenheit Wiens? Mit ihrem Schulzubau in der Zinckgasse setzen die Rainer-Schüler Georg Driendl und Gerhard Steixner einen Schritt in diese Richtung.

Vergangenes Jahr hat die „Königliche Kommission für die Schönen Künste“ Großbritanniens ein Buch herausgegeben, das unter britischen Architekten für einiges Aufsehen sorgte. Sein Titel lautete schlicht: „What makes a good building?“ Auf die Frage, was für das Gelingen eines guten Gebäudes notwendig sei, bietet dieses Buch eine äußerst einfache Antwort: ein gutes Raumprogramm, ein guter Bauherr und ein guter Architekt. Architektur als kulturelle Positionsbestimmung könne nur gelingen, wenn diese drei Faktoren zusammenstimmen.

Diese einfache Antwort stellt die Frage nach der Qualität von Architektur in den Kontext der vielfältigen und oft widersprüchlichen Kräfte, die an der Entstehung eines Bauwerks beteiligt sind. Daß dabei neben dem Architekten und dem Bauherrn auch das Raumprogramm als ein eigenständiger Faktor bezeichnet wird, ist bemerkenswert, gelten doch Raumprogramme meist als objektive Vorgaben, die getrennt vom Entwurfsprozeß erarbeitet werden können.

In Wahrheit ist das kaum je der Fall. Raumprogramme sind nichts wissenschaftlich Objektives, sondern das Ergebnis von Konventionen und Erfahrungswerten und verschiedensten, oft irrationalen Einflüssen. Sie sind nur ein erster Ansatz, um menschliche Bedürfnisse und Sehnsüchte in bezug auf einen bestimmten Ort quantitativ und qualitativ zu formulieren. Ein guter Bauherr zeichnet sich unter anderem dadurch aus, daß er von seinem Architekten erwartet, das Raumprogramm im Entwurfsprozeß nicht nur zu erfüllen, sondern über die bisherige Erfahrung hinaus kritisch weiterzuentwickeln.

Wenn es der Wiener Stadtverwaltung in letzter Zeit irgendwo gelungen ist, sich als guter Bauherr in diesem Sinn zu erweisen, dann im Rahmen des Schulbauprogramms 2000, jener Summe von rund 60 Einzelprojekten, in die bis zur Jahrtausendwende über neun Milliarden Schilling investiert werden sollen. Dabei ist bisher eine erstaunliche Anzahl qualitätsvoller Schulbauten entstanden und in der Öffentlichkeit heftig diskutiert worden.

Die Feststellung der Vizebürgermeisterin und Stadträtin für Jugend, Familie, Soziales und Sport, Grete Laska, daß „architektonische Kinkerlitzchen nicht wichtiger sein dürfen als ein ordentlicher Schulbetrieb“, markiert zusammen mit dem lustvollen Auswalzen von Kontrollamtsberichten die unterste Grenze des Diskussionsniveaus. Dagegen steht am anderen Ende die differenzierte Auseinandersetzung, die sich unter den Benutzern und in der Fachwelt entwickelt hat. Daß man nicht nur in, sondern auch von diesen Schulen lernen kann, ist unbestritten; und das ist ein gutes Zeichen.

Die Schule in der Zinckgasse im 15. Bezirk, ein Entwurf der Architekten Georg Driendl und Gerhard Steixner, ist das jüngste Beispiel dieser Entwicklung. Driendl und Steixner haben 1992 mit einem Wettbewerbsbeitrag für die Hauptschule in der Langobardenstraße auf sich aufmerksam gemacht. Ihr Projekt – im Wettbewerb leider sang- und klanglos untergegangen – war der interessanteste Beitrag zur Schulbautypologie, der in Wien in den letzten Jahren entstanden ist. War in der Langobardenstraße ein Neubau auf der grünen Wiese gefordert, für den Driendl und Steixner ein urbanes Raumgerüst vorschlugen, so handelt es sich in der Zinckgasse um einen Zubau zu einer bestehenden, innerstädtischen Schule aus dem 19. Jahrhundert. Dieser Zubau sollte speziell für den Unterricht sehbehinderter Kinder konzipiert werden. Zur Verfügung stand eine enge Baulücke – auf der einen Seite begrenzt vom bestehenden Schulbau, auf der anderen von einem privaten Wohnhaus.

In ihrem ersten Entwurf schlugen die Architekten vor, an die Schule mit einem leichten Verbindungsbau anzuschließen und vom Nachbarhaus ein Stück abzurücken. Dieser Gedanke, das Gebäude zumindest optisch frei in die Baulücke zu stellen, hatte einerseits ganz pragmatische Gründe: Der Zustand des Nachbarhauses ließ mittelfristig einen Verkauf der Liegenschaft erwarten, was die Möglichkeit geboten hätte, dort eine für die Schule dringend benötigte Freifläche zu schaffen. Zugleich war dieses Abrücken aber auch ein Ausdruck der Ablehnung gegenüber dem festgefügten, geschlossenen Baublock der Gründerzeit.

Der Versuch, über ein Schulprojekt so etwas wie Städtebau von unten zu betreiben, erwies sich jedoch bald als unrealisierbar. Die Forderung nach Nutzflächenmaximierung machte eine fast vollständige Überbauung des Grundstücks notwendig, selbst ein kleiner Lichthof, der den im Keller untergebrachten Turnsaal erstaunlich gut mit Seitenlicht versorgt, mußte in den oberen Geschoßen – bis auf einen winzigen Rest von sechs Quadratmetern – mit auskragenden Gebäudeteilen überdeckt werden.

Um im Inneren trotz dieser hohen Dichte nirgendwo das Gefühl von Beengtheit aufkommen zu lassen, haben sich die Architekten bemüht, die umliegenden Straßen- und Hofräume durch geschickte Orientierung und großzügige Verglasung einzubeziehen. Oberlichten und einige klug gesetzte, verglaste Innenwände erlauben immer wieder Durchblicke durch das Gebäude, die aber nicht als jeweils für sich inszenierte Bilder wirken, sondern erst in ihrer Summe eine gesteigerte Raumerfahrung vermitteln.

Wer an große Gesten gewöhnt ist, wird hier nicht auf seine Rechnung kommen. Dafür stellt sich rasch das Gefühl ein, in einem harmonisch aufgebauten Gehäuse zu sein, das den Benutzer schützt, ohne ihn einzuschließen. Für die Grundrißanordnung ließ die enge Baulücke nur wenig Dispositionsfreiheit. Pro Stockwerk sind zwei Klassen an die Straßenseite gelegt, ein schmaler Pufferraum dient als Garderobe. In die Grundstückstiefe schiebt sich ein etwas verschmälerter Quertrakt, der eine weitere Stammklasse, das Treppenhaus und Sonderunterrichtsräume aufnimmt. Die Straßenfassade ist, dieser Anordnung entsprechend, symmetrisch gegliedert, nur im Erdgeschoß wird das leicht zurückgesetzte Fensterband der Lehrküche über die Mitte hinaus bis zum Haupteingang geführt. Dieser durchaus konventionellen Anordnung steht eine konstruktive und formale Durchbildung gegenüber, die das Gebäude von seiner Umgebung abhebt. Um den Klassen möglichst viel Licht zu geben, ist die Straßenfassade fast vollständig verglast. Wegen der großen Höhe der Stockwerke wurde eine Fixverglasung vorgesehen, vorgehängte Balkons erlauben eine einfache Reinigung. Für die Belüftung sorgen etwas schmälere, nicht verglaste Elemente.

Aus dieser Trennung der Funktionen des Fensters – in Belichtung und Ausblick auf der einen und Belüftung auf der anderen Seite – entsteht eine ungewöhnliche, auf den ersten Blick irritierende Ordnung der Fassaden, die durch die ursprünglich vorgesehene Ausführung als Holzriegelwand noch verstärkt worden wäre; die jetzt ausgeführte Aluminiumkonstruktion, zusammen mit dem graugefärbten Putz, gibt dem Gebäude von außen einen technoiden Charakter. Wenn die vorgesehene Begrünung der Fassade als zusätzliche organische Schicht tatsächlich realisiert wird, könnte der ursprünglich angestrebte Eindruck zumindest annähernd Wirklichkeit werden.

Im Inneren beweist die Materialwahl deutlich, daß die glattpolierte Fassade nicht die erste Wahl der Architekten gewesen sein kann. Hier stoßen massive Klinkerwände an Fichtenholzverschalungen, Solnhofner Platten an Terrazzo. Diese Mischung von Materialien, die nicht nur optisch, sondern auch bei der Berührung sehr unterschiedlich wirken, ist in einer Schule für sehbehinderte Kinder natürlich besonders gerechtfertigt.

Wer andere Bauten von Driendl und Steixner kennt, weiß, daß sie diese sich hart an der Grenze zur Dissonanz bewegende Materialkombination aber in jedem Fall gewählt hätten. Als Schüler von Roland Rainer haben sie keine übertriebene Ehrfurcht vor dem, was oft als „Genius loci“ Wiens bezeichnet wird, vor der „Kalkputzstadt“ und deren Klassizismus. Es gibt in dieser Hinsicht eine Verwandtschaft zwischen Rainers gerade in Fertigstellung begriffenem Akademiehof und der Schule in der Zinckgasse. Hier wie dort wird eine andere Form von Urbanität gesucht, eine Urbanität ohne jeden Bezug zur imperialen Vergangenheit Wiens, und daher auf den für Wien typischen Versuch einer Verbindung von Moderne und Klassizismus verzichtet.

Es ist erstaunlich, daß Bauten wie diese im Wiener Kontext nach wie vor „fremd“ erscheinen, zumindest im Vergleich mit so typisch „wienerischen“ Bauten wie den Ringstraßengalerien oder dem Penta-Hotel. Auch wenn die Letztgenannten dazu jeden Anlaß geben: Der „Genius loci“ kann nicht emigrieren. Aber er kann sich verändern und entwickeln. 80 Jahre nach dem Ende der Monarchie ist dafür vielleicht die Zeit gekommen

Spectrum, Sa., 1995.11.25



verknüpfte Bauwerke
Sonderschule für sehbehinderte Kinder

23. September 1995Christian Kühn
Spectrum

Kein Geruch von Stadel

In Schweden hat sich der Grazer Architekt Hubert Rieß mit der Kultur des Holzbaus vertraut gemacht. In Bayern hat er nun den unterschätzten Werkstoff bei der Errichtung von Fertigteilhäusern eingesetzt.

In Schweden hat sich der Grazer Architekt Hubert Rieß mit der Kultur des Holzbaus vertraut gemacht. In Bayern hat er nun den unterschätzten Werkstoff bei der Errichtung von Fertigteilhäusern eingesetzt.

Nichts fürchten Fertighaushersteller mehr, als daß man ihre Erzeugnisse als das erkennen könnte, was sie sind: erstens Industrieprodukte und zweitens meist aus Holz. Die Mehrheit der Bauherren wünscht sich Individualität und bleibende Werte, und beides wird hierzulande eher einem massiven Ziegelbau zugetraut. Holz darf zwar gewisse rustikale Assoziationen wecken, etwa als Blockhaus, aber ansonsten bleibt da immer ein Geruch von Stadel oder gar Baracke. Als städtisches Material ist Holz bei uns so gut wie undenkbar. Fertighäuser verstecken ihre wahre Natur daher meist hinter einer Putzschicht, und die meisten österreichischen Bauordnungen sorgten bis vor kurzem dafür, daß Holz im Wohnbau nur für kleine, maximal zweigeschoßige Bauten zum Einsatz kam.

Die Gründe dafür liegen nicht im technischen, sondern im kulturellen Bereich. In den USA ist der überwiegende Teil des Wohnbaus in Holz konstruiert, auch wenn das auf den ersten Blick oft nicht sichtbar ist; selbst fünfgeschoßige Holzbauten sind dort nichts Ungewöhnliches, da der Brandschutz durch eine Sprinkleranlage nachgewiesen werden darf. Skandinavien hat eine von Holzkonstruktionen geprägte Baukultur, wobei Holz auch in manchen Städten als vorherrschendes Baumaterial zu finden ist. Daß man sich seit einigen Jahren allgemein wieder mehr für Holz als Baustoff mehrgeschoßiger Gebäude zu interessieren beginnt, hat zwei Gründe: Erstens zeigen vor allem die amerikanischen Beispiele, daß man mit Holz unter bestimmten Bedingungen sehr billig bauen kann. Zweitens wird Holz immer mehr als ein technologisch avantgardistisches Material erkannt. Das war es im Schiffsbau schon immer, und auch eines der größten Flugzeuge, das je gebaut wurde, die „Spruce Goose“ des amerikanischen Millionärs Howard Hughes, hatte Rumpf und Tragflächen aus Holz.

Heute sind es in erster Linie neue Produktionsmethoden, die Holz für den Geschoßbau interessant machen. Vorfertigung erlaubt die Verlagerung des Bauens von der Baustelle in die Fabrikshalle – bis hin zu computergesteuerten Fertigungsstraßen. Das klingt nicht gerade neu, im Vergleich zu Betontafelbauten ist die Vorfertigung in Holz aber flexibler und kann auch von kleineren Betrieben geleistet werden. Dazu kommen ökologische Argumente: gute Wärmedämmung, wenig Probleme mit Bauschutt, geringer Energieverbrauch in der Produktion.

Die Steiermärkische Landesregierung hat schon vor zehn Jahren für ein Grundstück in Zeltweg einen Wettbewerb unter dem Titel „Holz im Wohnbau“ ausgeschrieben. Gewonnen hat damals Hubert Rieß, der keine reinen Holzbauten, sondern eine gemischte Bauweise mit massiven Wänden, aber Decken und Wintergärten aus Holz vorsah.

Rieß hatte sich in Schweden, wo er mehrere Jahre lang bei Ralph Erskine arbeitete, mit der Kultur des Holzbaus vertraut gemacht. Erskine, ein gebürtiger Engländer, der sein Büro bezeichnenderweise in einem Schiff eingerichtet hatte, hat seit Ende der vierziger Jahre sehr eigenständige Beiträge zu dieser Kultur geleistet. Bekannt wurde er durch Vorschläge für Städte in der Arktis und vor allem durch ein Schihotel in Lappland aus dem Jahr 1949, ein fröhliches Bauwerk mit befahrbarem Dach und schrägen Stützen, das aus der Doktrin des „internationalen Stils“ ausbrach, ohne an traditionelle Formen anzuknüpfen.

Hubert Rieß kehrte nach dem gewonnenen Wettbewerb aus Erskines Atelier nach Graz zurück. Was schließlich in Zeltweg realisiert wurde, war eher enttäuschend – nicht zuletzt, weil die Bauordnung sogar für dieses gar nicht so radikale Konzept zu wenig Spielraum bot und auch das Interesse der Industrie an den Vorfertigungsmöglichkeiten gering war. Immerhin hatte Rieß sich auf diesem Sektor einen Namen gemacht, und 1992 lud ihn die bayrische oberste Baubehörde zusammen mit anderen Architekten ein, Vorschläge für Prototypen von „Mietwohnungen in Holzsystembauweise“ zu erarbeiten. Man war dabei vor allem am kostengünstigen Bauen interessiert: Aussiedlerunterkünfte, die Ende der achtziger Jahre in Holztafelbauweise errichtet worden waren, hatten gezeigt, daß sich die reinen Baukosten von den üblichen rund 16.000 auf unter 10.500 Schilling pro Quadratmeter senken ließen – allerdings unter beachtlichen qualitativen Einbußen, und auch ästhetisch war der Eindruck gestapelter Baracken kaum zu leugnen. Um diese Bauweise auf den sozialen Wohnbau übertragen zu können, wurden Kosten von umgerechnet rund 13.000 Schilling als Ziel festgelegt; über das Gutachterverfahren suchte man nach ästhetisch befriedigenden Lösungen und begann zugleich eine Reform der Bauordnung im Hinblick auf mehr „Holzgerechtigkeit“.

Hubert Rieß schlug eine südorientierte, dreigeschoßige Zeilenbebauung vor, nordseitig Laubengänge zur Erschließung, südseitig Balkone. Küche und Eßplatz liegen am Laubengang, alle anderen Räume öffnen sich nach Süden. In Schwabach bei Nürnberg wurde nach diesem Konzept ein Pilotprojekt mit 56 Wohnungen errichtet. Integriert wurden 16 Altenwohnungen und sechs Wohnungen für Alleinerziehende. Die Montage für eine Rohbaueinheit mit 14 Wohnungen erfolgte durch fünf Monteure in neun Tagen, die Vorfertigung dauerte etwa einen Monat.

Die Baukosten blieben mit knapp 12.000 Schilling pro Quadratmeter noch unter dem angestrebten Limit. Problemlos war das ganze Unternehmen dennoch nicht. Das Grundstück liegt zentrumsnah in einer vergleichsweise teuren Wohngegend, und die Ablehnung der Bewohner der umgebenden Einfamilienhäuser gegen den Sozialbau, den man ihnen vor die Nase gesetzt hatte, wurde durch die Holzbauweise nicht gerade vermindert. Die blau gestrichenen Sperrholzhäuser mit den orangeroten Säulen wurden als Kaninchenställe apostrophiert, und daß alle Fenster nach außen aufgingen, wurde als Beweis dafür betrachtet, daß es sich nur um bessere Baracken handeln konnte.

Inzwischen hat sich die Aufregung etwas gelegt. Die Bewohner sind großteils zufrieden, und auch die Nachbarschaft muß anerkennen, daß die Häuser mit ihren Grasdächern und Regenzisternen vielleicht wirklich ökologischer sind als ihre eigenen und daß vor allem die Mischung mit Seniorenwohnungen eine bessere Bewohnerstruktur herstellt, als sie sonst im sozialen Wohnbau zu finden ist. Auch die technischen Probleme waren, wie bei einem Pilotprojekt nicht anders zu erwarten, beachtlich. Durch die Vorfertigung ergeben sich für den Ausbau ungewohnte Koordinationsprobleme, und so wurde an der Baustelle einiges vom Einsparungspotential wieder verschenkt. Auch das verwendete Verkleidungsmaterial, amerikanisches Sperrholz, erwies sich als weniger witterungsfest als angenommen.

Die Erfahrungen aus Schwabach und den anderen Projekten des Modellvorhabens werden von der Industrie und den öffentlichen Auftraggebern systematisch ausgewertet und in neue Entwicklungen umgesetzt. Hubert Rieß hat für Wald-Kraiburg am Inn ein neues Projekt entwickelt, das nächstes Jahr realisiert wird. Das Grundstück liegt auf dem Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik mit der angeschlossenen Außenstelle eines KZs. Wald-Kraiburg wurde nach dem Krieg großteils von Sudetendeutschen neu errichtet, und auch das Gelände des Lagers wurde parzelliert und mit Einfamilienhäusern bebaut.

In der Mitte, in unmittelbarer Nachbarschaft des Bauplatzes, stehen noch ein monumentales Wachgebäude und eine U-förmige Wohnanlage der SS. Assoziationen zu Baracken wären hier doppelt untragbar gewesen. Rieß hat sich daher bemüht, den Bauten des tausendjährigen Reichs einen urbanen Holzbau entgegenzusetzen, der seine technologischen Qualitäten deutlich nach außen darstellt. Das Konzept entspricht im Prinzip jenem von Schwabach: hintereinandergestellte, südorientierte Zeilen ohne Keller, teilweise vom Boden abgehoben.

Aus den Loggien wurden Wintergärten, für die Verkleidung wurden statt Sperrholz Lärchenschindeln verwendet. Die Fenster öffnen sich immer noch nach außen, aber der Reinigung wegen mit einer technisch aufwendigeren Konstruktion. Wo die Zwischenwände an die Fassade stoßen, erlauben kleine Innenflügel eine Sichtverbindung zwischen den Räumen und erweitern den Blick nach außen. Die Kosten sollen sich durch verbesserte Produktionsplanung im angestrebten Bereich halten lassen.

Das Ergebnis sieht im Modell fast zu perfekt aus. Um den Raum zwischen Gefühl und Technologie auszuloten, wird es auch im Holzbau noch viele Experimente brauchen. Hubert Rieß hat jedenfalls gezeigt, wie man diese Experimente auch durchführen kann, wenn es vordergründig nur ums Sparen geht.

Spectrum, Sa., 1995.09.23

20. Mai 1995Christian Kühn
Spectrum

Knoten im Wald

„Spaces before, spaces between and spaces after“: Unter Leitung des Bauingenieurs Neil Thomas und des Architekten Ian Ritchie haben Studenten der TU Wien Objekte zum Thema Raum entwickelt. Zu sehen im Architekturzentrum Wien.

„Spaces before, spaces between and spaces after“: Unter Leitung des Bauingenieurs Neil Thomas und des Architekten Ian Ritchie haben Studenten der TU Wien Objekte zum Thema Raum entwickelt. Zu sehen im Architekturzentrum Wien.

Bekanntlich leben in Wien die besten Architekten der Welt. Sie sind an der Akademie der bildenden Künste ausgebildet, lehren dort oder an der Hochschule für angewandte Kunst und haben überall auf der Welt Freunde, die auch die besten Architekten der Welt sind. Zu diesen gehört Helmut Richter nicht. Er ist Professor an der Wiener Technischen Universität und der Ansicht, daß das architektonische Niveau in dieser Stadt bei weitem nicht so hoch ist, wie oft behauptet wird, sondern geprägt von Selbstgefälligkeit und von Ignoranz gegenüber den technologischen, aber auch den philosophischen Grundlagen des Bauens.

Richters eigene Bauten können als Versuch interpretiert werden, all das zu verwirklichen, was im technologiefeindlichen österreichischen Umfeld üblicherweise keine Chance hat. Darin liegt ihre Qualität, aber natürlich auch ein beachtliches Risiko. Denn anders als in Frankreich oder England, wo Architekten, Ingenieure und die Bauindustrie ein zumindest im Prinzip kooperatives Verhältnis verbindet, wird in Österreich ein Architekt, der aus den gewohnten Normen ausbricht, rasch zum Störenfried in der prästabilisierten Harmonie des Mittelmaßes.

Daß sich dieses Umfeld nicht zuletzt durch Helmut Richters konsequentes Bemühen verändert hat, beweist ein Vergleich zwischen seinem ersten Wohnbau auf den Gräf&Stift-Gründen, wo praktisch kein Detail in seinem Sinn realisiert wurde, und der Schule in der Waidhausenstraße, die ihm als Manifest eines technologisch orientierten Bauens großartig gelungen ist. Als Lehrer ist Richter bemüht, Ingenieure verstärkt in die Architektenausbildung zu integrieren. Zugleich hat er seine Beziehungen zur Architekturszene jener Länder, in denen diese Kooperation in der Baukultur stark verankert ist, genutzt: Peter Cook und Christine Hawley haben auf seine Einladung hin zweimal als Gastprofessoren an der Technischen Universität unterrichtet. Eine Vortragsserie hat eine Reihe von Architekten und Ingenieuren, die aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln über die Bedeutung der Technologie für ihre Arbeit referierten, nach Wien gebracht. Einer dieser Vortragenden war William Alsop, dessen gerade fertiggestellte Bezirksverwaltung in Marseille zu den spektakulärsten Bürohausbauten der letzten Jahre gehört – und der inzwischen für die Nachfolge von Hans Puchhammer als Professor für Hochbau an der Wiener Technischen Universität nominiert wurde.

Auch im letzten Semester haben – wenngleich mit unterschiedlichem Erfolg – an Helmut Richters Institut im Rahmen des normalen Studienbetriebs zwei international besetzte Veranstaltungen stattgefunden. Beeindruckend sind vor allem die Ergebnisse eines Entwurfsseminars, das von dem Bauingenieur Neil Thomas und dem Architekten Ian Ritchie gemeinsam betreut wurde. Ritchie und Thomas hatten schon zu Beginn des Seminars einen Sponsor mitgebracht, der sich bereit erklärte, die Realisierung einiger Studentenprojekte zu finanzieren – und das Architekturzentrum Wien versprach, diese Objekte in einem Hof des Messepalastes auszustellen. Abgesehen von dieser konkreten Vorgabe, blieb die Aufgabenstellung, wie sie aus dem Titel des Seminars – „Spaces before, spaces between and spaces after“ – abzulesen ist, äußerst abstrakt. In der ersten Arbeitsphase sollte ein Konzept entwickelt werden, den Begriff Raum, wie er sich aus der Sicht der einzelnen Studenten darstellte, sinnlich erfahrbar zu machen. Mit diesem Problem ist ein Architekt natürlich bei jeder Aufgabe implizit konfrontiert, und die explizite Auseinandersetzung mit der Frage des Raums gehört zu jeder Grundlehre der Architektur. Raum muß dabei in unterschiedlichsten Erscheinungsformen erforscht werden, als objektiver geometrischer Raum, als subjektiver Raum des individuellen Erlebens oder als Resultat sozialer Abläufe.

Ritchie forderte die Studenten auf, in der weiteren Arbeit über die Grenzen einer rein architektonischen Betrachtungsweise hinauszugehen und sich auch mit der Darstellung von Raum in der Literatur, im Film und in der Philosophie auseinanderzusetzen. Schließlich sollte auch der Einfluß der Medien – vor allem auf den städtischen Raum – untersucht werden. Eine derartig megalomane Aufgabenstellung führt oft genug zu oberflächlichen Ergebnissen, die nur den Anschein philosophischer Tiefe erwecken. Ritchies Forderung nach einer objekthaften Realisierung hat die Studenten jedoch großteils vor dieser Gefahr bewahrt. Der „space after“, der jetzt im Messepalast zu sehen ist, repräsentiert das, was sich von ihren Ideen nach der Auseinandersetzung mit Material und Konstruktion, mit Behörden und Sponsoren als realisierbar erwiesen hat, und diese Herausforderung hat den meisten Projekten ganz offensichtlich gut getan. Natürlich ist die Qualität der Objekte, die von acht Gruppen von Studenten geschaffen wurden, unterschiedlich. Es gibt eine aus quadratischen Teilen zusammengeschweißte Metallspirale, gläserne, faltbare Paravents, einen schwarzen Betonblock, eine Videoanimation. Eine Gruppe hat vier quadratische Glaspaneele unterschiedlicher Transparenz dazu verwendet, an verschiedenen Orten in Wien räumliche Situationen aufzubauen und photographisch zu dokumentieren. Jetzt liegen die Paneele flach auf dem Boden und haben die Spuren ihrer räumlichen Vergangenheit in sich eingeschrieben.

Die außergewöhnlichste Realisierung ist freilich jene, die den ganzen Hof vor dem Architekturzentrum mit einem Wald von Kunststoffrohren ausfüllt. Am Anfang dieses Konzepts stand die Idee, kein eigenes Objekt zu entwerfen, sondern den Raum zwischen den Objekten der anderen Gruppen zum Thema zu machen. Das Ergebnis ist eine Umkehrung der üblichen Verhältnisse: Zwar ist die räumliche Spannung zwischen den im Hof aufgestellten Objekten noch spürbar, aber jedes einzelne Objekt muß sich seinen Platz im Raum erkämpfen. Dasselbe gilt für den Besucher, der sich zwischen den Rohren durch Raumverdrängung seinen Weg bahnen muß. Die Rohre sind aus einem flexiblen, transluzenten Kunststoffmaterial und können von den Besuchern verbogen und sogar verknotet werden, wodurch dauerhafte Störungen des sonst homogenen Raumfelds entstehen.

Die Idee, 1500 Rohre in einem einfachen Raster in die Luft zu hängen, klingt einfacher, als sie schließlich zu realisieren war. Die Stahlseile für die Aufhängung konnten nicht an den umgebenden Gebäuden verankert werden, und so wurde eine eigene Primärkonstruktion aus schräg gestellten Stahlträgern notwendig, die wiederum nach Fundamenten verlangten. All das überstieg die vom Hauptsponsor zugesagten Mittel um ein Vielfaches, und die Studenten mußten sich um zusätzliche Geldquellen für die Finanzierung des Unternehmens kümmern. So ist jetzt jedes Rohr mit einer transparenten Hülle überzogen, auf der die Logos der verschiedenen Sponsoren aufgedruckt sind. Das tut der Gesamtidee keinen Abbruch: Der Raum, der sich selbständig gemacht und die anderen Objekte beinahe absorbiert hat, wird so seinerseits parasitär genutzt.

Daß unter diesen Bedingungen Kompromisse eingegangen werden mußten, ist verständlich. Die verwendeten Stahlträger hätten um einiges leichter ausgeführt werden können, aber man mußte sich auf die vom Sponsor produzierten Maße beschränken. Viel schmerzlicher ist ein Zugeständnis an die behördlichen Auflagen: Um den ungehinderten Durchgang und die Zulieferung für Lkws durch den Hof zu ermöglichen, mußten – obwohl die Flexibilität der Rohre wahrscheinlich jedem Sattelschlepper genug Platz gelassen hätte – breite Schneisen in den Wald geschlagen werden, und das beeinträchtigt das Konzept spürbar.

Was hat diese Installation nun mit Architektur oder gar mit den aktuellen Fragen des Bauens zu tun? Ian Ritchie spricht dezidiert von einer architektonischen Arbeit: Es ginge um konstruktive und organisatorische Probleme, um den Umgang mit Raum, Licht, Schatten, aber auch um Fragen der Symbolik. Der Wald aus Kunststoffrohren ist für ihn die Antithese zum archaischen Säulenwald, in dem das vertikale Element aus der Erde wächst, während es hier im Himmel verankert ist und den Boden nicht berührt. Vor allem aber, betont Ritchie, wollte er seine Studenten auf eine Welt vorbereiten, in der Formen niemandem mehr gehören. Die übliche Art der Architektenausbildung, bei der Studenten ihre Projekte als ihre persönliche Errungenschaft betrachten, die sie gegen Kritik von außen verteidigen müssen, lehnt er ab. Das Ergebnis sei nur Selbstsüchtigkeit, und die ist für Ritchie „die Nemesis der Architektur“.

Die Zusammenarbeit in Gruppen und der Kontakt nach „außen“, zu anderen künstlerischen und technischen Disziplinen ebenso wie zur Bauindustrie und zu den Behörden ist für Ritchie ein zentrales didaktisches Anliegen. Denn die besten Architekten der Zukunft würden sich nicht durch formale Originalität und persönliche Handschrift auszeichnen, sondern vor allem durch Kooperationsfähigkeit und Offenheit über Disziplingrenzen hinaus. Von einer solchen Entwicklung könnte auch die Baukultur nur profitieren. Die Ausstellung „Spaces before, spaces between and spaces after“ ist noch bis 30. Juni im Hof des Architekturzentrums Wien zu sehen.

Spectrum, Sa., 1995.05.20

04. Februar 1995Christian Kühn
Spectrum

Edle Wilde und Hundertwassers Hosenträger

Wiener Donaukanal ist architektonisch ein Katastrophengebiet. Auch die neue Brücke für die U6 hat das Niveau dort nicht gehoben. Aber durfte man das erwarten?

Wiener Donaukanal ist architektonisch ein Katastrophengebiet. Auch die neue Brücke für die U6 hat das Niveau dort nicht gehoben. Aber durfte man das erwarten?

Die schönsten Brücken über den Donaukanal kenne ich nur von Zeichnungen: Otto Wagner hat sie im Rahmen seines Stadtbahnprojekts für den Bereich des Schwedenplatzes entworfen, leichte Stahltragwerke mit steinernen Pylonen, die den Übergang vom zweiten Bezirk zur inneren Stadt markieren sollten. In der ersten Variante aus dem Jahr 1896 sind die Brückenträger noch reich mit floralen Ornamenten geschmückt und teilweise auch nach dem Vorbild von Pflanzen geformt. 1905, in einer späteren Variante, sind davon nur einige streng geometrisierte Kränze und Girlanden übriggeblieben, offensichtlich als selbständige Schmuckelemente über die Konstruktion gehängt. Auch in der Art der Menschendarstellung in den Zeichnungen gibt es eine bemerkenswerte Radikalisierung. Im ersten Projekt macht Wagner seine Brücke zu einer Kulisse für eine äußerst naturalistische Szene, in der Zeichnung von 1905 bilden Stadt, Brücke und Passanten dagegen eine stilistische Einheit. Obwohl die Rationalität der Konstruktion und die „peinlichste Erfüllung des Zwecks“ in Wagners Bauten immer deutlich spürbar sind, bleibt Schönheit für ihn das eigentliche Ziel. Architektonische Schönheit ist dabei eine eigenständige Qualität, die dem rohen Material vom Künstler-Architekten auf der Grundlage von tradierbaren, aber begrifflich nicht faßbaren Regeln aufgeprägt werden muß. Aus dieser Grundhaltung rechtfertigt sich bei Wagner der Anspruch auf eine totale Stilisierung der sichtbaren Welt.

Die Architektengeneration nach dem ersten Weltkrieg glaubte freilich, eine ganz andere Art von Schönheit entdeckt zu haben, deren Wirkung nicht auf einer „Veredlung“ des Materials durch eine künstlerische Form beruht, sondern auf der möglichst reinen Darstellung der Wechselwirkung zwischen dem Material und den einwirkenden Kräften. Das Ideal dieser Ästhetik waren die Schöpfungen des Ingenieurs, in erster Linie natürlich die Präzision der Maschine. Le Corbusier verglich den Ingenieur mit einem „edlen Wilden“, der unbelastet von tradierten Vorurteilen zur reinen, natürlichen und exakten Form gelangen könne. Die Formen, die von Ingenieuren für sogenannte Zweckbauten, für Lagerhäuser, Wasserbehälter und Silos entwickelt wurden, galten als Vorboten einer neuen Architektur, die auf ähnlich wissenschaftlicher Basis zu einer zeitlosen Ästhetik gelangen sollte. Daraus ist nicht viel geworden: die komplexen und widersprüchlichen Randbedingungen der Architektur ließen sich nicht ohne Verluste in eine wissenschaftliche Formel zwängen. Unter den Händen der Architekten verwandelte sich die ingenieurmäßige Formensprache in einen neuen, internationalen Stil, der genauso kurzlebig war wie seine Vorgänger. Geblieben ist die Idee einer selbständigen Ästhetik des Ingenieurbaus. Überall dort, wo es in erster Linie um die Beherrschung von Kräften geht, gilt die Ableitung der Form aus einer ingenieurmäßig korrekten Durcharbeitung als selbstverständlich.

Die neue Brücke über den Donaukanal, die jetzt im Zuge der Verlängerung der U6 nach Floridsdorf errichtet wurde, gibt wieder einmal Anlaß, über die Frage einer autonomen Ästhetik des Ingenieurbaus nachzudenken. Bei der Brücke handelt es sich um eine asymmetrische Schrägseilbrücke, deren Kabelbündel vom Brückenträger weg strahlenförmig zu zwei rund dreißig Meter hohen Pylonen aus Stahlbeton führen. Die Pylone selbst sind zur anderen Seite hin abgespannt, um ihre Belastung zu minimieren. Als Überbrückung eines relativ schmalen Gewässers ist diese Konstruktion jedenfalls ungewöhnlich: alle anderen Brücken am Donaukanal kommen für die Spannweite von knapp 60 Metern mit viel einfacheren Mitteln aus. Auf den ersten Blick liegt die Vermutung nahe, daß hier mit einer aufwendigen Konstruktion ein besonderes Signal gesetzt werden sollte. Eine Anfrage beim Bauingenieur, von dem das Konzept für die Brücke stammt, klärt das als Irrtum auf. Peter Biberschick, Partner von Manfred Pauser, einem der bekanntesten österreichischen Brückenbauer, begründet die Entscheidung für die gewählte Konstruktion Punkt für Punkt aufgrund besonderer Voraussetzungen. Es handelt sich eigentlich nicht um eine, sondern um drei Brücken: die mittlere dient der U-Bahn; die stromaufwärts liegende ist eine Abfahrtsrampe von der Gürtelbrücke zur Brigittenauer Lände für den Autoverkehr; stromabwärts bildet ein drittes Tragwerk einen Fußgängersteg mit direkter Anbindung an die neue Station „Spittelau“. Alle drei Tragwerke liegen auf Querträgern auf, die ihre Last über die Kabelbündel an die Pylonen weiterleiten. Die Schrägseilkonstruktion selbst ist durch den weiteren Streckenverlauf der U-Bahn bedingt. Da die nächste Station unterirdisch angelegt werden mußte, ist die U-Bahntrasse schon im Brückenbereich mit der maximal erlaubten Neigung von 4 Prozent nach unten geführt und verschwindet am Brigittenauer Ufer in einem überschütteten Rampentunnel. Um das Schiffahrtsprofil des Donaukanals nicht unnötig einzuschränken, mußte das Tragwerk über das Fahrbahnniveau der Brücke gelegt werden.

Eine erste Grundentscheidung bestand darin, die drei Funktionsbereiche der Brücke knapp nebeneinander zu legen und zwischen ihnen Raum für eine übergeordnete Tragkonstruktion zu lassen. Als Alternativen dafür boten sich eine Bogenkonstruktion und die nun ausgeführte Schrägseillösung an. Die Idee der Bogenbrücke wurde aus ästhetischen Gründen nicht weiterverfolgt, wie Peter Biberschick betont: die schräg geführten Fahrbahnen seien als unverträglich mit der Bogenform angesehen worden. Die Schrägseilkonstruktion erfüllte dagegen nicht nur alle äußeren Anforderungen, sie hatte vom Ingenieursstandpunkt aus auch den zusätzlichen Reiz, daß sich das anschließende Tunnelbauwerk zur Verankerung der Abspannseile mitbenutzen ließ. Von diesem Punkt an ist die Gestalt der Brücke das Ergebnis von Berechnungen: die Höhe der Pylonen ergibt sich aus der sinnvollen Neigung der Seilabspannung, ihre Dimension aus den angreifenden Lasten und die Form der seltsamen stählernen Aufsätze auf den Pylonen aus der Notwendigkeit, die Kabelaufhängung für Wartungszwecke zugänglich zu halten.

Die Architekten Holzbauer, Marschalek, Ladstätter und Gantar, als Architektengemeinschaft U-Bahn schon für die Strangpreßästhetik der ersten U-Bahn-Bauten zuständig, haben dieser Darstellung der Gestaltfindung für die neue Brücke kaum etwas hinzuzufügen. Heinz Marschalek ist zwar über die Dicke und die Farbgebung der Abspannseile nicht gerade glücklich. Eine Durchfärbung der Polyäthylenhülle in einer anderen als der schwarzen Materialfarbe wäre jedoch zu teuer gekommen. Und was die Höhe der Pylonen betrifft, so ist er mit dem Tragwerksplaner einig, daß es sich hier eben um einen reinen Zweckbau handelt, bei dem skulpturale Überlegungen keine Rolle gespielt hätten.

Überhaupt scheint sich die AGU um dieses Bauwerk nicht besonders angenommen zu haben: die einzig merkbaren Zutaten sind ein plump gelöster Stiegenaufgang zum Fußgängersteg (eine Brücke weiter stromaufwärts hätte man nachsehen können, wie leicht eine Stahlbetontreppe konstruiert sein kann) und das Tunnelportal, in dem die U-Bahn nach der Brücke verschwindet. Dieses Portal ist im Grunde nicht mehr als die Überdachung einer Abfahrtsrampe, und doch vermittelt es mit seinen Betonmassen den Eindruck, als müsse es sich gegen den Mont Blanc stemmen. (Mit der hinteren Abspannung der Kabelbündel haben diese Betonmassen im übrigen keinen zwingenden Zusammenhang: deren Widerlager liegt eine ganz Kontruktionsebene tiefer.) Wenn man von diesen den Architekten anzulastenden Zutaten einmal absieht, ist freilich alles an dieser Brücke begründbar. Schön ist sie deswegen aber noch lange nicht. Die Proportionen sind grob, der visuelle Eindruck unruhig. Alle Details sind auf ein einziges Kriterium hin optimiert, das mit einer Ingenieurästhetik der minimierten Konstruktion gar nichts zu tun hat, nämlich auf geringste Kosten. Innovativ ist dabei höchstens, daß auch die Erhaltungskosten in die Rechnung einbezogen wurden: daher die mehrfache Polyäthyleneinbettung der Kabel und die Verdopplung der Abspannung. Aber hätte man sich denn bei einem solchen Bauwerk überhaupt mehr erwarten dürfen? Ich denke schon. Der U-Bahn-Bau ist eines der größten öffentlichen Projekte der Stadt Wien. Im Rahmen eines solchen Projekts gibt es eine große Anzahl von Standardsituationen, die allein auf Grund ihrer Wiederholbarkeit auf einem nicht nur konstruktiv, sondern auch ästhetisch hohen Niveau gelöst werden können. Und es gibt außergewöhnliche Punkte, die als besondere Herausforderung erkannt und angenommen werden müssen. Der Bauabschnitt, in dem die neue Donaukanalbrücke liegt, ist aus dieser Perspektive betrachtet wahrscheinlich der interessanteste der ganzen U6: er schließt direkt an die alte Wagnersche Stadtbahn an, muß eine Flußquerung und zugleich den Wechsel der Streckenführung von Hoch- in Tieflage bewerkstelligen und ist durch seine Lage an einer der Wiener Stadteinfahrten auch ein markantes Element im Stadtbild.

Um diese Herausforderung anzunehmen, hätte es den Mut gebraucht, sich von einer Ingenieurästhetik zu befreien, die sich für wissenschaftlich hält und dabei doch nur für eine Ideologie der minimierten Kosten vereinnahmt wird. Natürlich hätte mehr Qualität auch mehr gekostet, und bei einer Gesamtsumme von 1,3 Milliarden Schilling, die für die 672 Meter dieses Bauabschnitts projektiert sind, ist jedes Prozent ein beachtlicher Betrag. Freilich: Der beste Beweis, daß selbst die pervertierteste Form von Schönheit öffentlich finanziert werden kann, steht in unmittelbarer Nachbarschaft – Hundertwassers Kostüm für den Verbrennungsturm hat den Steurzahler 85 Millionen gekostet. Der Meister wurde übrigens schon in der Nähe der Brücke gesehen. Wird er die Pylonen mit Kacheln verzieren, oder werden die schwarzen Abspannseile bald bunt bemalt als Hundertwassers Hosenträger ins Wiener Stadtbild eingehen?

Spectrum, Sa., 1995.02.04

Profil

Studium an der TU-Wien (Dipl.Ing.) und an der ETH-Zürich (Dr.sc.techn.); unterrichtet am Institut für Gebäudelehre der TU-Wien; seit 1995 im Vorstand der österreichischen Gesellschaft für Architektur; seit 2000 Vorstand der Architekturstiftung Österreich. Publikationen unter anderem „Das Wahre, das Schöne und das Richtige - Adolf Loos und das Haus Müller in Prag“, Vieweg 1989 (Neuauflage 2001); „Stilverzicht - CAAD und Typologie als Werkzeuge einer autonomen Architektur“, Vieweg 1998; „Anton Schweighofer - A Quiet Radical“, Springer 2001; „Ringstraße ist überall - Texte über Architketur und Stadt 1992 - 2007“; seit 1992 Architekturkritiker für „Die Presse“ und „Architektur & Bauforum“. Studiendekan der Studienrichtungen Architektur und Building Science an der TU Wien von 2008 bis 2023; Vorsitzender des Beirats für Baukultur im Österreichischen Bundeskanzleramt seit 2015; Kommissär für den österreichischen Beitrag zur Architekturbiennale in Venedig 2014.

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