Übersicht

Texte

09. April 2024Philipp Meuser
Bauwelt

Zwischen Unesco-Welt­erbe und Guinness-Buch der Rekorde: Baukultur in Zentralasien

Für die von China forcierte Neue Seidenstraße wird Zentralasien strategisch immer wichtiger. Dort erleben Städte wie Taschkent oder Aschgabat einen Bauboom, der von staatlicher Verschwendungssucht und Turbokapitalismus geprägt ist. Zwischen Wüste und Steppe präsentiert sich eine Architektur, die in ihrer Form charakteristisch für die Region ist. Das baukulturelle Erbe aus sowjetischer und islamischer Zeit ist dagegen gefährdet.

Für die von China forcierte Neue Seidenstraße wird Zentralasien strategisch immer wichtiger. Dort erleben Städte wie Taschkent oder Aschgabat einen Bauboom, der von staatlicher Verschwendungssucht und Turbokapitalismus geprägt ist. Zwischen Wüste und Steppe präsentiert sich eine Architektur, die in ihrer Form charakteristisch für die Region ist. Das baukulturelle Erbe aus sowjetischer und islamischer Zeit ist dagegen gefährdet.

Vollständigen Artikel anssehen


verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2024|08 Baukulturelle Inszenierung in Zentralasien

28. Oktober 2022Philipp Meuser
Bauwelt

Für einen postkolonialen Blick auf die Ukraine

Seit 2014 führte Russland in der Ukraine einen hybriden Krieg. Haben wir in Europa wirklich gedacht, dass sich die zunehmende Radikalisierung der russischen Politik bändigen ließe?

Seit 2014 führte Russland in der Ukraine einen hybriden Krieg. Haben wir in Europa wirklich gedacht, dass sich die zunehmende Radikalisierung der russischen Politik bändigen ließe?

Vollständigen Artikel anssehen


verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2022|22 Entlang der Front

24. November 2014Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Bauen für die Zukunft

Die Mailänder Triennale präsentiert derzeit die bis anhin umfangreichste Auseinandersetzung mit moderner und zeitgenössischer Baukunst in Afrika. Damit schliesst sie eine Lücke in der jüngeren Architekturgeschichtsschreibung.

Die Mailänder Triennale präsentiert derzeit die bis anhin umfangreichste Auseinandersetzung mit moderner und zeitgenössischer Baukunst in Afrika. Damit schliesst sie eine Lücke in der jüngeren Architekturgeschichtsschreibung.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

02. Mai 2003Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Wo Lenin noch nach Moskau blickt

In der Hauptstadt der östlichsten GUS-Republik scheinen die Uhren zehn Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer etwas langsamer zu gehen als in den Nachbarländern. Bischkek, seit 1992 Kapitale der Kirgisischen Republik, wirkt auf seine Besucher fast noch wie zu Sowjetzeiten. Überzeugende neue Architektur findet man noch kaum.

In der Hauptstadt der östlichsten GUS-Republik scheinen die Uhren zehn Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer etwas langsamer zu gehen als in den Nachbarländern. Bischkek, seit 1992 Kapitale der Kirgisischen Republik, wirkt auf seine Besucher fast noch wie zu Sowjetzeiten. Überzeugende neue Architektur findet man noch kaum.

Kirgistan erscheint auch zehn Jahre nach der Unabhängigkeit wie eine vergessene Sowjetrepublik. Erst im vergangenen Sommer wurde auf dem Leninplatz in Bischkek, der nun wie in vielen anderen zentralasiatischen Städten Unabhängigkeitsplatz heisst, für Autos die Geschwindigkeitsbegrenzung von zwanzig Kilometern pro Stunde aufgehoben. Damit müssen nun die Fahrzeuge vor der knapp fünfzehn Meter hohen Lenin-Statue, die sich bis heute erhalten hat, nicht mehr abbremsen und so dem Volkshelden die Ehre bezeugen. Trotz dieser Beschleunigung muss man beim Blick auf den Stadtplan unweigerlich an eine Spielzeugstadt denken: Auf den von Strassen gerahmten grünen Flächen steht jeweils mittig ein Haus: Stadt, das ist in Bischkek vor allem eine Ansammlung streng auf die einzelnen Felder verteilter architektonischer Solitäre. Von einem städtebaulichen Kontext, gar einem Bezug zwischen Haus und Strasse wird man hier kaum sprechen wollen. Bischkek könnte eine sozialistische Idealstadt sein: Im Zentrum liegen gleich mehrere Parks, in die locker Kulturpaläste, Museen, Ministerien, Universitäten und sonstige Institutionen eingestreut sind. Was wie ein Freilichtmuseum der Sowjetarchitektur wirkt, ist jedoch das Ergebnis einer russischen Stadtgründung im 19. Jahrhundert.


Sowjetisches Erbe

Das für jene Zeit typische Schachbrettmuster, das sich in dieser Strenge in vielen altrussischen und sibirischen Städten wiederfindet, bot in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ideale Baugrundstücke für die an Selbstverliebtheit kaum zu übertreffende sowjetische Baukunst. Sieht das Zirkusgebäude von Bischkek wie ein soeben gelandetes Ufo aus, so sucht sich das unweit davon gelegene Hochschulgebäude mit seinem brutalen Fassadenschmuck als Bollwerk des kommunistischen Bildungssystems aufzuspielen. Auf dem monumentalen Platz vor dem Nationalen Historischen Museum hat sich Lenin inmitten kokettierender Baukörper auf einem fünf Meter hohen Sockel behauptet. Besucher, welche die zwanzig Meter breite Treppe zum Museum emporgestiegen sind, finden sich im Inneren des weissen Marmorwürfels erneut Lenin gegenüber, der übermannsgross mit vier Gefolgsleuten einherschreitet. Gleich eine ganze Etage ist seinem Leben und dem Werk von Marx und Engels gewidmet.

Vor dem Museum weist Lenin hinüber zu den schneebedeckten Gipfeln, als läge gleich dahinter das Arbeiter-und-Bauern-Paradies. Daran hat sich seit zehn Jahren nichts geändert. Von all den Gesten will Aigül Nasirdinova erst gar nichts wissen. Für die angehende Hochschulprofessorin an der schon zu Sowjetzeiten angesehenen Architekturfakultät von Bischkek ist die Umbenennung des ehemaligen Lenin-Museums in das Nationale Historische Museum eine Selbstverständlichkeit, über die man kaum nachdenken müsse. Dass sich innen ausser der Präsentation von einigen neuen Fotos des händeschüttelnden Staatspräsidenten Askar Askaev kaum etwas verändert hat, sei ebenso wenig der Rede wert. Schliesslich seien doch beide Figuren Teil der kirgisischen Geschichte im 20. Jahrhundert. In dieser Beziehung scheint Bischkek sehr tolerant mit der eigenen Vergangenheit umzugehen.
Architektonischer Neubeginn

Früher, als Bischkek noch Frunse hiess, war die Stadt ein wichtiger sowjetischer Vorposten vor dem Tienschan-Gebirge, dessen östliche Ausläufer bis nach China reichen. Heute präsentiert sich die kirgisische Hauptstadt als ein Ort, der sein architektonisches Erscheinungsbild zehn Jahre lang kaum verändert hat. Nur die Hyatt-Gruppe hat einen alten Hotelkasten mit einer neuen Fassade überzogen, dessen Bezug zum Strassenraum lediglich aus einem geschmiedeten Zaun besteht. Gleich davor liess ein ebenfalls privater Investor eine pyramidenförmige Bowlinganlage errichten. An diese beiden wohl auffälligsten Bauten in der Stadt denkt Nasirdinova, wenn sie eher zurückhaltend von einem architektonischen Neubeginn im jungen Staat spricht. Ihre sowjetische Vergangenheit verbietet ihr augenscheinlich, ein persönliches Urteil über die neue Architektur nach der Unabhängigkeit zu fällen. Und dann kommt doch noch ein Nachsatz, der sie als engagierte Architektin entlarvt. Die neue kirgisische Baukunst müsse doch ihre Form in der Tradition suchen. Das Wichtigste sei aber, dass überhaupt gebaut werde. Sonst könne sich wohl keine Tendenz herauskristallisieren, und die Entwürfe blieben wie in der Sowjetzeit blosse Utopien.

Tatsächlich sind seit dem Zerfall der Supermacht auch im Bau- und Planungswesen einige Änderungen durchgesetzt worden. Zu den wichtigsten gehört die Möglichkeit, Land zu besitzen. Wenn auch die von Staatspräsidenten unterstützte Forderung, Grundstücke als wirtschaftliches Gut zu betrachten, noch nicht vom Parlament ratifiziert wurde, so haben Hauseigentümer immerhin schon die Möglichkeit, ihre Grundstücke für 99 Jahre vom Staat zu pachten. Doch in Anbetracht der geringen Löhne und Gehälter - ein Lehrer verdient umgerechnet etwa 35 Franken im Monat - wird die kirgisische Bauwirtschaft wohl noch Jahre auf einen Boom der Einfamilienhäuser und Vorortvillen warten müssen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.05.02

17. März 2003Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Stars und Lokalmatadoren

Wettbewerb zur Erweiterung des Mariinsky-Theaters

Wettbewerb zur Erweiterung des Mariinsky-Theaters

Die Stadtverwaltung von Sankt Petersburg führt einen Realisierungswettbewerb zur Erweiterung des Mariinsky-Theaters durch. Zwölf Teilnehmer, unter ihnen die Global Players Mario Botta, Eric van Egeraat, Hans Hollein, Arata Isozaki, Eric Owen Moss und Dominique Perrault sowie die russischen Lokalmatadoren Andrei Bokow und Alexander Skokan, sind aufgefordert, bis Ende Mai ihre Entwürfe vorzulegen. Pünktlich zum 300. Geburtstag der Stadt soll dann eine Jury, der unter anderem Massimiliano Fuksas und Wolf D. Prix angehören, einen Sieger ermitteln. Die Architektenkonkurrenz erlangte vor allem deshalb Aufmerksamkeit, weil seit dem Wettbewerb für den Palast der Sowjets im Jahre 1931 weder in der Sowjetunion noch in Russland ein vergleichbar aufwendiges Verfahren zur Vergabe einer Bauaufgabe stattfand. Entsprechend hoch sind die Erwartungen der Veranstalter und der Öffentlichkeit. Der Kulturminister Michail Schwydkoi sprach denn auch von einem «grossen Moment in der russischen Kulturgeschichte». Davon zeugten allein schon die 100 Millionen Dollar, die für den Anbau zur Verfügung stünden. Inoffizielle Schätzungen, die auch die Sanierung des Altbaus einbeziehen, gehen allerdings von dreimal höheren Baukosten aus.

Der Mariinsky-Wettbewerb hat eine mehrjährige Vorgeschichte. Seit 1997 versuchte der Generaldirektor und Chefdirigent des Mariinsky- Theaters, Valery Gergiev, immer wieder, die Regierung in Moskau von der Notwendigkeit einer Theatererweiterung zu überzeugen. Nachdem er mehrfach abgewiesen worden war, bot ihm das amerikanische Ehepaar Frederick und Laurie Samitaur Smith ein privates Leasing- Modell zur Finanzierung eines Neubaus an. Der Kalifornier Eric Owen Moss wurde mit der Neubauplanung auf einer Insel im Mündungsdelta der Newa beauftragt. Doch der Entwurf für einen gläsernen Kristall inmitten eines militärischen Sperrgebiets fand keine politische Zustimmung. Immerhin brachte das Projekt den russischen Kulturminister und die Sankt Petersburger Stadtverwaltung in Zugzwang, so dass sie einem internationalen Wettbewerb zustimmten. Darüber hinaus führte die Debatte dazu, dass Russland im vergangenen Jahr auf der Architekturbiennale in Venedig die Umbau- und Erweiterungskonzepte für das Moskauer Bolschoi-Theater und einen neuen Vorschlag von Moss für das Mariinsky- Theater in Form einer Altbauerweiterung zeigte. Auch wenn der Kalifornier durch seine Vorarbeiten einen Vorteil zu haben scheint, bleibt der Ausgang des Wettbewerbs offen. Ob die Teilnehmer eine sensible Antwort auf die schwierige Frage der Erweiterung eines Hauptwerks der russischen Theaterbaukunst finden konnten, wird sich in einigen Wochen zeigen. Vor dem Juryentscheid sollen die Arbeiten ausgestellt werden, wodurch die russische Öffentlichkeit zu einem weiteren Mitglied des Preisgerichts werden dürfte.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2003.03.17

31. Januar 2003Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Der Wiederaufbau von Kabul

Ein neuer Masterplan für die afghanische Hauptstadt

Ein neuer Masterplan für die afghanische Hauptstadt

Die gegenwärtige politische Grosswetterlage mit drohendem Irak-Krieg und nur teilweise erfolgreicher Terrorismusbekämpfung im Hindukusch wirkt sich negativ auf Wiederaufbauhilfe in Afghanistan aus. Erst kürzlich beklagte sich der afghanische Aussenminister Abdullah Abdullah darüber, dass in anderen ehemaligen Bürgerkriegsregionen - etwa Rwanda, Kosovo oder Osttimor - pro Einwohner und Jahr durchschnittlich 250 Dollar an Hilfsgeldern zur Verfügung stünden, während in Afghanistan diese Zahl nur rund 60 Dollar betrage. Doch ohne verstärkte internationale Finanzhilfe drohten seinem Land neben ethnischen Konflikten auch soziale Spannungen, die eine Rückkehr zur Normalität behinderten. Etwas Hoffnung verbreiten die über 200 Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich inzwischen bei den Ministerien haben registrieren lassen, um mit Arbeit vor Ort zu helfen.


Unwirtliche Trümmerfelder

Wenn Mirajan Sahebi durch den immer dichter werdenden Verkehr von Kabul fährt, lässt ihn die Erinnerung an die Vergangenheit nicht los. Vor zehn Jahren stand der afghanische Geschäftsmann, der nach dem Einmarsch der Mujahedin 1992 seine Handelsgeschäfte im Ausland fortsetzen musste, das letzte Mal an der Strasse zum ehemaligen Königspalast. Damals, so weiss er zu erzählen, spielten hier unzählige Kinder. Sie suchten im Schatten der Bäume Schutz vor der Sonne oder versteckten sich im Garten des für seine Sammlung zentralasiatischer Kunst bekannten Kabul-Museums. Doch vom einstigen Idyll ist nichts geblieben. Der Stadtteil in Sichtweite des Darulaman-Palastes gleicht einem Trümmerfeld. Kein Haus hat sein Dach, geschweige denn seine Fenster behalten. Meist ragen nur noch Wände in den Himmel; und von den Bäumen am Strassenrand sind nur abgebrannte Stümpfe geblieben. Trotzdem hat der Bürgerkrieg hier im Süden Kabuls weniger gewütet als in Sahebis Heimatdorf im Westen Afghanistans: Dort überstand kein einziges Haus die Angriffe der Taliban.

In seinem frisch renovierten Haus im Kabuler Diplomatenviertel Wazir Akbar Khan hat der studierte Geologe ein knappes Dutzend Geschäftspartner versammelt: zwei Architekten aus dem usbekischen Taschkent, einen Bauingenieur aus der Türkei, einen Techniker aus dem pakistanischen Peshawar und Bekannte aus allen Landesteilen. Die Ausländer sind zum ersten Mal in Sahebis Haus, einem modernen Bungalow aus den sechziger Jahren. Dieser überstand den Bürgerkrieg und die Taliban-Diktatur wie durch ein Wunder ohne Schäden. Mit seinem betont europäischen Erscheinungsbild muss der Bau einst ebenso fremd gewirkt haben wie heute die Satellitenanlage, die Sahebi gerade installieren liess. Weil Natels nur eingeschränkt funktionieren und das Telefonnetz zeitweise ausfällt, ist die Anlage mit ihren 120 TV-Programmen die einzige zuverlässige Verbindung zur Aussenwelt.


Ein Masterplan zu Neujahr

Seit dem Einzug der internationalen Schutztruppen kehrt der Alltag zurück. Auf den Basaren werden wieder Produkte aus Pakistan angeboten, die Strassen im Zentrum sind nach Sonnenuntergang nicht mehr nur mit patrouillierenden Soldaten, sondern auch mit Passanten gefüllt, und überall zeugen Baustellen von der ungebrochenen Zuversicht hinsichtlich einer friedlichen Zukunft - auf die auch Sahebis Gäste hoffen. Denn sie sind nach Kabul gekommen, um hier an der ersten internationalen Wiederaufbaukonferenz teilzunehmen, zu der das Ministerium für Stadtentwicklung und Wohnungsbau knapp 200 Stadtplaner und Architekten aus 25 Ländern eingeladen hat.

Im Mittelpunkt der Tagung steht eine Diskussion über den neuen Masterplan, der in Kürze vorgelegt werden soll. Dafür hat Wiederaufbauminister Yousuf Pashtun den Karlsruher Städtebauprofessor und Exil-Afghanen Abdullah Breshna verpflichtet, der in seiner Heimatstadt den Abstimmungsprozess für den ersten Generalplan seit dem Einmarsch der Sowjets 1979 koordinieren soll. Breshna hat sich etwas vorgenommen, was in einer zur Hälfte zerstörten Stadt wie Kabul schier unmöglich erscheint. Der grauhaarige Professor, der wie Sahebi über zehn Jahre nicht mehr in seiner Heimat war, soll einen Plan erarbeiten, der Nothilfe und Kulturschutz zugleich ist. Einerseits gilt es, für den Alltag der Bevölkerung ein Wasser-, Strom- und Kommunikationssystem aufzubauen; anderseits muss der Masterplan aber auch eine Vision für die Zukunft der Stadt, ja eine Art Identifikation für alle Hauptstädter darstellen. Doch ist das in einer Gesellschaft, in der Frauen lange Zeit aus dem öffentlichen Leben verbannt, Cafés geschlossen und unterhaltende Radiosendungen durch religiöse Reden ersetzt waren, innerhalb eines Jahres möglich? Auch die Konferenz kann diese Frage kaum beantworten.

Stattdessen stellen Exil-Afghanen ihre Vorstellungen von einem zukünftigen Kabul vor, reden von einem mehrspurigen Autobahnring, der um die Zweimillionenstadt herum geführt werden soll. Ein Verkehrsexperte aus den USA referiert über den Sinn einer angemessenen Gestaltung von Autobahnabfahrten. Die Höflichkeit gebietet es den Gastgebern, zu den Vorschlägen freundlich zu nicken, wohl wissend, dass es sich doch eher um Luxusprobleme handelt. Wer das alles zahle, erkundigen sie sich immer wieder. So bleibt das Ergebnis der Konferenz ein offener Fragenkatalog, der eine mögliche Stadtentwicklung vorzeichnet und quasi nebenbei zu einer Art rotem Faden des neuen Masterplans avanciert.

Eine Diskussion kommt erst auf, als es um das bauliche Erbe Afghanistans geht. Zwei Themen stehen hier im Vordergrund: Wie erhaltenswert sind die Überreste der Denkmäler, und lassen sie sich überhaupt wieder aufbauen? Und wie kann man die Altstadt Kabuls vor anonymen Bürobauten bewahren? Während die Experten den Wiederaufbau des Königspalastes und des Kabul- Museums im Konsens erörtern, trifft die Debatte über den Erhalt der Altstadt zunächst auf Unverständnis. Warum sollten zufällig gewachsene Strukturen ohne Anschluss an die Kanalisation erhalten werden? Ohnehin sei nicht klar, wo die Altstadt anfange und wo sie aufhöre. Den Nerv trifft die Diskussion, als es um die bedeutenden Denkmäler in der Altstadt geht. Welche Strategie könne man verfolgen, fragt ein indischer Bauhistoriker, um die Monumente von illegal errichteten Wohnbauten zu befreien? Die Vertreter des Ministeriums nehmen die Frage interessiert entgegen, wissen aber nicht, wie sie ihren Landsleuten plausibel machen könnten, Wohnraum einer denkmalpflegerischen Idee zu opfern.

Auch die unkontrolliert entstandenen Siedlungen stehen auf der Tagesordnung: Überall in Kabul prägen die eingeschossigen Hofhäuser, die sich treppenartig immer höher um die baumlosen Hügel gelegt haben, das Stadtbild. Auch wenn einzelne Fassaden inzwischen einen farbenfrohen Anstrich aufweisen, bleiben die hygienischen Verhältnisse katastrophal. Viele Siedlungen verfügen weder über Wasserversorgung noch über Kanalisation. Kinder schöpfen zweimal am Tag Wasser aus den öffentlichen Brunnen, um es in Kanistern ins Elternhaus zu tragen. Vehement setzt sich eine Konferenzteilnehmerin dafür ein, die Spontanbehausungen in die Stadtstruktur zu integrieren und lebenswerter zu gestalten, statt die Bewohner in anonyme Viertel umzusiedeln.


Selbsthilfe

Überall in Kabul zeugen grosse Schilder von der Wiederaufbauhilfe ausländischer Organisationen. Alle öffentlichen Baustellen tragen das Logo mindestens einer internationalen Institution auf ihren Bauschildern. Die Mehrzahl der Projekte - von Kindergärten über Schulen bis zu Krankenhäusern - werden im Rahmen der Nothilfe realisiert, wodurch Antragsfristen und lange Genehmigungsphasen vermieden werden können. Doch Mirajan Sahebi will nicht nur auf die Hilfe von aussen bauen. Er hat damit begonnen, Baustoffe aus Usbekistan zu importieren. Auch denkt er darüber nach, eine stillgelegte Kalksandsteinfabrik in Deutschland zu kaufen und sie in Afghanistan wiederaufzubauen. Das Grundstück für die neue Produktion stellt ihm sein Cousin zur Verfügung: eine alte Lkw-Fabrik, die im Bürgerkrieg besonders heftig beschossen wurde. Auch das gehört zum Alltag einer wieder erwachenden Metropole.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.01.31

03. Januar 2003Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Die Stadt als Freizeitpark

Bestandeserneuerung und Nutzungsmischung spielen in der chinesischen Stadtplanung noch keine Rolle. Stattdessen dominieren medienwirksame Neubauprojekte die öffentliche Debatte. Stellvertretend für diese Entwicklung steht die Dreimillionenstadt Dalian. Auch wenn die nordchinesische Metropole inzwischen ihre Stadtgeschichte wiederentdeckt hat, ist von der restaurierten Altstadt kaum mehr als die Fassade geblieben.

Bestandeserneuerung und Nutzungsmischung spielen in der chinesischen Stadtplanung noch keine Rolle. Stattdessen dominieren medienwirksame Neubauprojekte die öffentliche Debatte. Stellvertretend für diese Entwicklung steht die Dreimillionenstadt Dalian. Auch wenn die nordchinesische Metropole inzwischen ihre Stadtgeschichte wiederentdeckt hat, ist von der restaurierten Altstadt kaum mehr als die Fassade geblieben.

«Die Stadt gehört nicht dem Bürgermeister.» Mit diesen Worten provozierte der Architekt Sun Yi Min seine Berufskollegen kürzlich auf einer Architekturtagung in Dalian. Damit wollte der kantonesische Hochschulprofessor auf das nach wie vor autokratische und wenig kooperative Planungssystem im bevölkerungsreichsten Land der Welt aufmerksam machen. Denn immer noch fehlt es in der chinesischen Stadtentwicklung an einer qualifizierten Auseinandersetzung mit Schlüsselthemen wie Bestandeserneuerung und Nutzungsmischung. Während etwa im südchinesischen Guangzhou erste Modellprojekte zur Stadtreparatur in Planung sind, werden in den Mega-Citys Schanghai und Peking wertvolle Altstadtbereiche abgerissen. Hier müsse, wie Sun forderte, ein grundlegendes Umdenken erfolgen, wolle man das Gesicht der chinesischen Städte nicht ganz der Globalisierung preisgeben.
Kopierte Architekturbilder

Das «Sechste deutsch-chinesische Symposium für Architektur und Stadtentwicklung» - eine Veranstaltungsreihe, die seit 1999 von der Heinrich-Böll-Stiftung finanziert wird - fand im vergangenen Herbst in der nordchinesischen Küstenstadt Dalian statt, die neben Shenzhen und Schanghai mit jährlich über 20 Prozent die höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten zu verzeichnen hat. Dieser Prosperität entsprechend steht die drei Millionen Einwohner zählende Stadt unter einem hohen Planungsdruck, dem die örtlichen Architekten kaum gerecht werden können. Wang Zhenggang, Chefplaner des Dalian Urban Planning and Land Ressources Bureau (DUPLRB), prognostiziert bis zum Jahre 2020 einen Anstieg der städtischen Bevölkerung um 35 Prozent und der ländlichen Bevölkerung um weitere 50 Prozent. Um die Zuwanderung in die Provinz Liaoning zu kanalisieren, werden insgesamt vier Satellitenstädte errichtet, die durch eine Schnellbahn mit dem Zentrum verbunden werden sollen. Zudem ist geplant, die über ein Dutzend Industriegebiete auf drei Bereiche zu reduzieren.

Bei der Gestaltung der Gebäude scheinen sich die Architekten ihre Anregungen in den internationalen Hochglanzmagazinen zu suchen. Der chinesische Stilmix geht so weit, dass Repliken des französischen Klassizismus und des amerikanischen Neotraditionalismus neben japanischem High-Tech und kanadischer Blockhaus-Architektur in dichter Nachbarschaft stehen. In Sichtweite des Jahrhundertparks, der 1998 zum Hundertjahrjubiläum der Stadt eröffnet wurde, entsteht derzeit sogar eine exklusive Wohnanlage in der Form von Neuschwanstein. In den Erkern und Türmchen wird sich bald der neue chinesische Geldadel niederlassen. Die exklusiven Apartments erzielen inzwischen auf dem Immobilienmarkt Quadratmeterpreise, die mit jenen westeuropäischer Stadtzentren konkurrieren können. Fast ausschliesslich handelt es sich um Eigentumswohnungen, die von privaten Projektentwicklern angeboten werden. Immer wieder steht dabei eine gewisse Sehnsucht nach europäischer Romantik oder US-amerikanischer Vorstadtidylle im Fokus der Vermarkter. Welche Bedeutung die Architektur für das Selbstverständnis der Stadt hat, lässt sich nicht zuletzt auch am Architekturmuseum von Dalian ablesen. Das 1997 errichtete Gebäude dokumentiert die wichtigsten Neubauprojekte der vergangenen Jahre und damit zugleich die Globalisierungseffekte, denen die Stadt ausgesetzt ist.

Ein erfolgreicheres Konzept hat dagegen das Wohnviertel Pao Wai zu bieten. Das Gebiet in Sichtweite des internationalen Flughafens von Dalian gleicht einem Bilderbuchdorf, in dem sich Einfamilienhäuser nach nordamerikanischem Vorbild um kleine Grüninseln gruppieren, auf denen lebensgrosse Kühe und überdimensionierte Gartenzwerge eine kindlich-surreale Kulisse bilden. Oberhalb des von Hügeln umringten Hauptplatzes ragen sogar Dinosaurierköpfe aus dem Felsen. Sie sind so gross, dass die daneben stehenden Häuser wie Miniaturen in einer Modelllandschaft wirken. Unweigerlich drückt sich darin auch der Wunsch aus, das endlose Meer ein und desselben Haustypus zu differenzieren. Zwischen den Attrappen, die genauso gut in einem Filmstudio stehen könnten, und den weissen Wohngebäuden, deren Erker und Giebel dem «New Urbanism» nacheifern, sorgen Dutzende von Gärtnern für die Grünanlagen, die mit ihren pseudo-antiken Statuen zum Vermarktungskonzept des Viertels gehören. Mit Erfolg: Selbst die Häuserreihen mit direktem Blick auf den Flughafen erfreuen sich bei den an Lärm gewöhnten Chinesen grösster Beliebtheit.
Russische und japanische Vergangenheit

Die Anfänge Dalians gehen auf das Jahr 1898 zurück, als die Halbinsel Liadong unter russischer Herrschaft stand. Die für die zaristischen Stadtgründungen im 19. Jahrhundert typischen Blöcke und Plätze bilden auch heute noch das Muster des Stadtgrundrisses. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Plan des Russen Sacharow nach 1905 von den Japanern zu Ende geführt wurde. Nach dem Russisch-Japanischen Krieg hatte das Zarenreich die Hafenstadt Dalian abtreten müssen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges verantworteten Japaner die Stadtentwicklung. Die Monumentalarchitektur, die vor allem in den dreissiger Jahren entstand, prägt bis heute das Stadtbild.

Während die neuen Projekte im öffentlichen Raum wie nahezu überall in China die offizielle Nationalgeschichte thematisieren, hat Dalian mit der Sanierung und Rekonstruktion des russischen Viertels einen Sonderweg eingeschlagen. Noch Anfang der neunziger Jahre wurde über einen Abriss der Holzhäuser aus dem frühen 20. Jahrhundert nachgedacht. Im Hinblick auf den wachsenden Tourismus rückte die Stadt jedoch von dieser Idee ab und entschied sich für eine Konservierung dieses nichtchinesischen Kapitels der Stadtgeschichte. Soziologisch betrachtet hat das Quartier freilich einen nicht mehr zu reparierenden Bruch erlebt. Die Bewohner, die in Räumen ohne fliessendes Wasser lebten, wurden in Neubauwohnungen am Stadtrand umgesiedelt. Seither präsentieren sich die russischen Holzgebäude wie in einem Architekturmuseum unter freiem Himmel: unbewohnt und mit Souvenirgeschäften im Erdgeschoss. Nach Ladenschluss gleicht der Ort daher einer Geisterstadt. Weitaus besser in die Stadtstruktur integriert sind dagegen die zahlreichen Villen aus der japanischen Besatzungszeit. Viele von ihnen thronen auf den umliegenden Hügeln mit Aussicht auf Stadt und Meer. Vor dem Zugriff durch Projektentwickler sind sie weitgehend geschützt, können sie doch inmitten der kleinteiligen Nachbarschaft kaum durch anonyme Wohnblocks ersetzt werden. Hinzu kommt, dass die Stadtverwaltung inzwischen auch die japanische Besatzungszeit als Teil der architektonischen Identität Dalians anerkennt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.01.03

Alle 18 Texte ansehen

Publikationen

Alle 36 Publikationen ansehen

Presseschau 12

09. April 2024Philipp Meuser
Bauwelt

Zwischen Unesco-Welt­erbe und Guinness-Buch der Rekorde: Baukultur in Zentralasien

Für die von China forcierte Neue Seidenstraße wird Zentralasien strategisch immer wichtiger. Dort erleben Städte wie Taschkent oder Aschgabat einen Bauboom, der von staatlicher Verschwendungssucht und Turbokapitalismus geprägt ist. Zwischen Wüste und Steppe präsentiert sich eine Architektur, die in ihrer Form charakteristisch für die Region ist. Das baukulturelle Erbe aus sowjetischer und islamischer Zeit ist dagegen gefährdet.

Für die von China forcierte Neue Seidenstraße wird Zentralasien strategisch immer wichtiger. Dort erleben Städte wie Taschkent oder Aschgabat einen Bauboom, der von staatlicher Verschwendungssucht und Turbokapitalismus geprägt ist. Zwischen Wüste und Steppe präsentiert sich eine Architektur, die in ihrer Form charakteristisch für die Region ist. Das baukulturelle Erbe aus sowjetischer und islamischer Zeit ist dagegen gefährdet.

Vollständigen Artikel anssehen


verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2024|08 Baukulturelle Inszenierung in Zentralasien

28. Oktober 2022Philipp Meuser
Bauwelt

Für einen postkolonialen Blick auf die Ukraine

Seit 2014 führte Russland in der Ukraine einen hybriden Krieg. Haben wir in Europa wirklich gedacht, dass sich die zunehmende Radikalisierung der russischen Politik bändigen ließe?

Seit 2014 führte Russland in der Ukraine einen hybriden Krieg. Haben wir in Europa wirklich gedacht, dass sich die zunehmende Radikalisierung der russischen Politik bändigen ließe?

Vollständigen Artikel anssehen


verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2022|22 Entlang der Front

24. November 2014Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Bauen für die Zukunft

Die Mailänder Triennale präsentiert derzeit die bis anhin umfangreichste Auseinandersetzung mit moderner und zeitgenössischer Baukunst in Afrika. Damit schliesst sie eine Lücke in der jüngeren Architekturgeschichtsschreibung.

Die Mailänder Triennale präsentiert derzeit die bis anhin umfangreichste Auseinandersetzung mit moderner und zeitgenössischer Baukunst in Afrika. Damit schliesst sie eine Lücke in der jüngeren Architekturgeschichtsschreibung.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

02. Mai 2003Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Wo Lenin noch nach Moskau blickt

In der Hauptstadt der östlichsten GUS-Republik scheinen die Uhren zehn Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer etwas langsamer zu gehen als in den Nachbarländern. Bischkek, seit 1992 Kapitale der Kirgisischen Republik, wirkt auf seine Besucher fast noch wie zu Sowjetzeiten. Überzeugende neue Architektur findet man noch kaum.

In der Hauptstadt der östlichsten GUS-Republik scheinen die Uhren zehn Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer etwas langsamer zu gehen als in den Nachbarländern. Bischkek, seit 1992 Kapitale der Kirgisischen Republik, wirkt auf seine Besucher fast noch wie zu Sowjetzeiten. Überzeugende neue Architektur findet man noch kaum.

Kirgistan erscheint auch zehn Jahre nach der Unabhängigkeit wie eine vergessene Sowjetrepublik. Erst im vergangenen Sommer wurde auf dem Leninplatz in Bischkek, der nun wie in vielen anderen zentralasiatischen Städten Unabhängigkeitsplatz heisst, für Autos die Geschwindigkeitsbegrenzung von zwanzig Kilometern pro Stunde aufgehoben. Damit müssen nun die Fahrzeuge vor der knapp fünfzehn Meter hohen Lenin-Statue, die sich bis heute erhalten hat, nicht mehr abbremsen und so dem Volkshelden die Ehre bezeugen. Trotz dieser Beschleunigung muss man beim Blick auf den Stadtplan unweigerlich an eine Spielzeugstadt denken: Auf den von Strassen gerahmten grünen Flächen steht jeweils mittig ein Haus: Stadt, das ist in Bischkek vor allem eine Ansammlung streng auf die einzelnen Felder verteilter architektonischer Solitäre. Von einem städtebaulichen Kontext, gar einem Bezug zwischen Haus und Strasse wird man hier kaum sprechen wollen. Bischkek könnte eine sozialistische Idealstadt sein: Im Zentrum liegen gleich mehrere Parks, in die locker Kulturpaläste, Museen, Ministerien, Universitäten und sonstige Institutionen eingestreut sind. Was wie ein Freilichtmuseum der Sowjetarchitektur wirkt, ist jedoch das Ergebnis einer russischen Stadtgründung im 19. Jahrhundert.


Sowjetisches Erbe

Das für jene Zeit typische Schachbrettmuster, das sich in dieser Strenge in vielen altrussischen und sibirischen Städten wiederfindet, bot in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ideale Baugrundstücke für die an Selbstverliebtheit kaum zu übertreffende sowjetische Baukunst. Sieht das Zirkusgebäude von Bischkek wie ein soeben gelandetes Ufo aus, so sucht sich das unweit davon gelegene Hochschulgebäude mit seinem brutalen Fassadenschmuck als Bollwerk des kommunistischen Bildungssystems aufzuspielen. Auf dem monumentalen Platz vor dem Nationalen Historischen Museum hat sich Lenin inmitten kokettierender Baukörper auf einem fünf Meter hohen Sockel behauptet. Besucher, welche die zwanzig Meter breite Treppe zum Museum emporgestiegen sind, finden sich im Inneren des weissen Marmorwürfels erneut Lenin gegenüber, der übermannsgross mit vier Gefolgsleuten einherschreitet. Gleich eine ganze Etage ist seinem Leben und dem Werk von Marx und Engels gewidmet.

Vor dem Museum weist Lenin hinüber zu den schneebedeckten Gipfeln, als läge gleich dahinter das Arbeiter-und-Bauern-Paradies. Daran hat sich seit zehn Jahren nichts geändert. Von all den Gesten will Aigül Nasirdinova erst gar nichts wissen. Für die angehende Hochschulprofessorin an der schon zu Sowjetzeiten angesehenen Architekturfakultät von Bischkek ist die Umbenennung des ehemaligen Lenin-Museums in das Nationale Historische Museum eine Selbstverständlichkeit, über die man kaum nachdenken müsse. Dass sich innen ausser der Präsentation von einigen neuen Fotos des händeschüttelnden Staatspräsidenten Askar Askaev kaum etwas verändert hat, sei ebenso wenig der Rede wert. Schliesslich seien doch beide Figuren Teil der kirgisischen Geschichte im 20. Jahrhundert. In dieser Beziehung scheint Bischkek sehr tolerant mit der eigenen Vergangenheit umzugehen.
Architektonischer Neubeginn

Früher, als Bischkek noch Frunse hiess, war die Stadt ein wichtiger sowjetischer Vorposten vor dem Tienschan-Gebirge, dessen östliche Ausläufer bis nach China reichen. Heute präsentiert sich die kirgisische Hauptstadt als ein Ort, der sein architektonisches Erscheinungsbild zehn Jahre lang kaum verändert hat. Nur die Hyatt-Gruppe hat einen alten Hotelkasten mit einer neuen Fassade überzogen, dessen Bezug zum Strassenraum lediglich aus einem geschmiedeten Zaun besteht. Gleich davor liess ein ebenfalls privater Investor eine pyramidenförmige Bowlinganlage errichten. An diese beiden wohl auffälligsten Bauten in der Stadt denkt Nasirdinova, wenn sie eher zurückhaltend von einem architektonischen Neubeginn im jungen Staat spricht. Ihre sowjetische Vergangenheit verbietet ihr augenscheinlich, ein persönliches Urteil über die neue Architektur nach der Unabhängigkeit zu fällen. Und dann kommt doch noch ein Nachsatz, der sie als engagierte Architektin entlarvt. Die neue kirgisische Baukunst müsse doch ihre Form in der Tradition suchen. Das Wichtigste sei aber, dass überhaupt gebaut werde. Sonst könne sich wohl keine Tendenz herauskristallisieren, und die Entwürfe blieben wie in der Sowjetzeit blosse Utopien.

Tatsächlich sind seit dem Zerfall der Supermacht auch im Bau- und Planungswesen einige Änderungen durchgesetzt worden. Zu den wichtigsten gehört die Möglichkeit, Land zu besitzen. Wenn auch die von Staatspräsidenten unterstützte Forderung, Grundstücke als wirtschaftliches Gut zu betrachten, noch nicht vom Parlament ratifiziert wurde, so haben Hauseigentümer immerhin schon die Möglichkeit, ihre Grundstücke für 99 Jahre vom Staat zu pachten. Doch in Anbetracht der geringen Löhne und Gehälter - ein Lehrer verdient umgerechnet etwa 35 Franken im Monat - wird die kirgisische Bauwirtschaft wohl noch Jahre auf einen Boom der Einfamilienhäuser und Vorortvillen warten müssen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.05.02

17. März 2003Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Stars und Lokalmatadoren

Wettbewerb zur Erweiterung des Mariinsky-Theaters

Wettbewerb zur Erweiterung des Mariinsky-Theaters

Die Stadtverwaltung von Sankt Petersburg führt einen Realisierungswettbewerb zur Erweiterung des Mariinsky-Theaters durch. Zwölf Teilnehmer, unter ihnen die Global Players Mario Botta, Eric van Egeraat, Hans Hollein, Arata Isozaki, Eric Owen Moss und Dominique Perrault sowie die russischen Lokalmatadoren Andrei Bokow und Alexander Skokan, sind aufgefordert, bis Ende Mai ihre Entwürfe vorzulegen. Pünktlich zum 300. Geburtstag der Stadt soll dann eine Jury, der unter anderem Massimiliano Fuksas und Wolf D. Prix angehören, einen Sieger ermitteln. Die Architektenkonkurrenz erlangte vor allem deshalb Aufmerksamkeit, weil seit dem Wettbewerb für den Palast der Sowjets im Jahre 1931 weder in der Sowjetunion noch in Russland ein vergleichbar aufwendiges Verfahren zur Vergabe einer Bauaufgabe stattfand. Entsprechend hoch sind die Erwartungen der Veranstalter und der Öffentlichkeit. Der Kulturminister Michail Schwydkoi sprach denn auch von einem «grossen Moment in der russischen Kulturgeschichte». Davon zeugten allein schon die 100 Millionen Dollar, die für den Anbau zur Verfügung stünden. Inoffizielle Schätzungen, die auch die Sanierung des Altbaus einbeziehen, gehen allerdings von dreimal höheren Baukosten aus.

Der Mariinsky-Wettbewerb hat eine mehrjährige Vorgeschichte. Seit 1997 versuchte der Generaldirektor und Chefdirigent des Mariinsky- Theaters, Valery Gergiev, immer wieder, die Regierung in Moskau von der Notwendigkeit einer Theatererweiterung zu überzeugen. Nachdem er mehrfach abgewiesen worden war, bot ihm das amerikanische Ehepaar Frederick und Laurie Samitaur Smith ein privates Leasing- Modell zur Finanzierung eines Neubaus an. Der Kalifornier Eric Owen Moss wurde mit der Neubauplanung auf einer Insel im Mündungsdelta der Newa beauftragt. Doch der Entwurf für einen gläsernen Kristall inmitten eines militärischen Sperrgebiets fand keine politische Zustimmung. Immerhin brachte das Projekt den russischen Kulturminister und die Sankt Petersburger Stadtverwaltung in Zugzwang, so dass sie einem internationalen Wettbewerb zustimmten. Darüber hinaus führte die Debatte dazu, dass Russland im vergangenen Jahr auf der Architekturbiennale in Venedig die Umbau- und Erweiterungskonzepte für das Moskauer Bolschoi-Theater und einen neuen Vorschlag von Moss für das Mariinsky- Theater in Form einer Altbauerweiterung zeigte. Auch wenn der Kalifornier durch seine Vorarbeiten einen Vorteil zu haben scheint, bleibt der Ausgang des Wettbewerbs offen. Ob die Teilnehmer eine sensible Antwort auf die schwierige Frage der Erweiterung eines Hauptwerks der russischen Theaterbaukunst finden konnten, wird sich in einigen Wochen zeigen. Vor dem Juryentscheid sollen die Arbeiten ausgestellt werden, wodurch die russische Öffentlichkeit zu einem weiteren Mitglied des Preisgerichts werden dürfte.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2003.03.17

31. Januar 2003Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Der Wiederaufbau von Kabul

Ein neuer Masterplan für die afghanische Hauptstadt

Ein neuer Masterplan für die afghanische Hauptstadt

Die gegenwärtige politische Grosswetterlage mit drohendem Irak-Krieg und nur teilweise erfolgreicher Terrorismusbekämpfung im Hindukusch wirkt sich negativ auf Wiederaufbauhilfe in Afghanistan aus. Erst kürzlich beklagte sich der afghanische Aussenminister Abdullah Abdullah darüber, dass in anderen ehemaligen Bürgerkriegsregionen - etwa Rwanda, Kosovo oder Osttimor - pro Einwohner und Jahr durchschnittlich 250 Dollar an Hilfsgeldern zur Verfügung stünden, während in Afghanistan diese Zahl nur rund 60 Dollar betrage. Doch ohne verstärkte internationale Finanzhilfe drohten seinem Land neben ethnischen Konflikten auch soziale Spannungen, die eine Rückkehr zur Normalität behinderten. Etwas Hoffnung verbreiten die über 200 Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich inzwischen bei den Ministerien haben registrieren lassen, um mit Arbeit vor Ort zu helfen.


Unwirtliche Trümmerfelder

Wenn Mirajan Sahebi durch den immer dichter werdenden Verkehr von Kabul fährt, lässt ihn die Erinnerung an die Vergangenheit nicht los. Vor zehn Jahren stand der afghanische Geschäftsmann, der nach dem Einmarsch der Mujahedin 1992 seine Handelsgeschäfte im Ausland fortsetzen musste, das letzte Mal an der Strasse zum ehemaligen Königspalast. Damals, so weiss er zu erzählen, spielten hier unzählige Kinder. Sie suchten im Schatten der Bäume Schutz vor der Sonne oder versteckten sich im Garten des für seine Sammlung zentralasiatischer Kunst bekannten Kabul-Museums. Doch vom einstigen Idyll ist nichts geblieben. Der Stadtteil in Sichtweite des Darulaman-Palastes gleicht einem Trümmerfeld. Kein Haus hat sein Dach, geschweige denn seine Fenster behalten. Meist ragen nur noch Wände in den Himmel; und von den Bäumen am Strassenrand sind nur abgebrannte Stümpfe geblieben. Trotzdem hat der Bürgerkrieg hier im Süden Kabuls weniger gewütet als in Sahebis Heimatdorf im Westen Afghanistans: Dort überstand kein einziges Haus die Angriffe der Taliban.

In seinem frisch renovierten Haus im Kabuler Diplomatenviertel Wazir Akbar Khan hat der studierte Geologe ein knappes Dutzend Geschäftspartner versammelt: zwei Architekten aus dem usbekischen Taschkent, einen Bauingenieur aus der Türkei, einen Techniker aus dem pakistanischen Peshawar und Bekannte aus allen Landesteilen. Die Ausländer sind zum ersten Mal in Sahebis Haus, einem modernen Bungalow aus den sechziger Jahren. Dieser überstand den Bürgerkrieg und die Taliban-Diktatur wie durch ein Wunder ohne Schäden. Mit seinem betont europäischen Erscheinungsbild muss der Bau einst ebenso fremd gewirkt haben wie heute die Satellitenanlage, die Sahebi gerade installieren liess. Weil Natels nur eingeschränkt funktionieren und das Telefonnetz zeitweise ausfällt, ist die Anlage mit ihren 120 TV-Programmen die einzige zuverlässige Verbindung zur Aussenwelt.


Ein Masterplan zu Neujahr

Seit dem Einzug der internationalen Schutztruppen kehrt der Alltag zurück. Auf den Basaren werden wieder Produkte aus Pakistan angeboten, die Strassen im Zentrum sind nach Sonnenuntergang nicht mehr nur mit patrouillierenden Soldaten, sondern auch mit Passanten gefüllt, und überall zeugen Baustellen von der ungebrochenen Zuversicht hinsichtlich einer friedlichen Zukunft - auf die auch Sahebis Gäste hoffen. Denn sie sind nach Kabul gekommen, um hier an der ersten internationalen Wiederaufbaukonferenz teilzunehmen, zu der das Ministerium für Stadtentwicklung und Wohnungsbau knapp 200 Stadtplaner und Architekten aus 25 Ländern eingeladen hat.

Im Mittelpunkt der Tagung steht eine Diskussion über den neuen Masterplan, der in Kürze vorgelegt werden soll. Dafür hat Wiederaufbauminister Yousuf Pashtun den Karlsruher Städtebauprofessor und Exil-Afghanen Abdullah Breshna verpflichtet, der in seiner Heimatstadt den Abstimmungsprozess für den ersten Generalplan seit dem Einmarsch der Sowjets 1979 koordinieren soll. Breshna hat sich etwas vorgenommen, was in einer zur Hälfte zerstörten Stadt wie Kabul schier unmöglich erscheint. Der grauhaarige Professor, der wie Sahebi über zehn Jahre nicht mehr in seiner Heimat war, soll einen Plan erarbeiten, der Nothilfe und Kulturschutz zugleich ist. Einerseits gilt es, für den Alltag der Bevölkerung ein Wasser-, Strom- und Kommunikationssystem aufzubauen; anderseits muss der Masterplan aber auch eine Vision für die Zukunft der Stadt, ja eine Art Identifikation für alle Hauptstädter darstellen. Doch ist das in einer Gesellschaft, in der Frauen lange Zeit aus dem öffentlichen Leben verbannt, Cafés geschlossen und unterhaltende Radiosendungen durch religiöse Reden ersetzt waren, innerhalb eines Jahres möglich? Auch die Konferenz kann diese Frage kaum beantworten.

Stattdessen stellen Exil-Afghanen ihre Vorstellungen von einem zukünftigen Kabul vor, reden von einem mehrspurigen Autobahnring, der um die Zweimillionenstadt herum geführt werden soll. Ein Verkehrsexperte aus den USA referiert über den Sinn einer angemessenen Gestaltung von Autobahnabfahrten. Die Höflichkeit gebietet es den Gastgebern, zu den Vorschlägen freundlich zu nicken, wohl wissend, dass es sich doch eher um Luxusprobleme handelt. Wer das alles zahle, erkundigen sie sich immer wieder. So bleibt das Ergebnis der Konferenz ein offener Fragenkatalog, der eine mögliche Stadtentwicklung vorzeichnet und quasi nebenbei zu einer Art rotem Faden des neuen Masterplans avanciert.

Eine Diskussion kommt erst auf, als es um das bauliche Erbe Afghanistans geht. Zwei Themen stehen hier im Vordergrund: Wie erhaltenswert sind die Überreste der Denkmäler, und lassen sie sich überhaupt wieder aufbauen? Und wie kann man die Altstadt Kabuls vor anonymen Bürobauten bewahren? Während die Experten den Wiederaufbau des Königspalastes und des Kabul- Museums im Konsens erörtern, trifft die Debatte über den Erhalt der Altstadt zunächst auf Unverständnis. Warum sollten zufällig gewachsene Strukturen ohne Anschluss an die Kanalisation erhalten werden? Ohnehin sei nicht klar, wo die Altstadt anfange und wo sie aufhöre. Den Nerv trifft die Diskussion, als es um die bedeutenden Denkmäler in der Altstadt geht. Welche Strategie könne man verfolgen, fragt ein indischer Bauhistoriker, um die Monumente von illegal errichteten Wohnbauten zu befreien? Die Vertreter des Ministeriums nehmen die Frage interessiert entgegen, wissen aber nicht, wie sie ihren Landsleuten plausibel machen könnten, Wohnraum einer denkmalpflegerischen Idee zu opfern.

Auch die unkontrolliert entstandenen Siedlungen stehen auf der Tagesordnung: Überall in Kabul prägen die eingeschossigen Hofhäuser, die sich treppenartig immer höher um die baumlosen Hügel gelegt haben, das Stadtbild. Auch wenn einzelne Fassaden inzwischen einen farbenfrohen Anstrich aufweisen, bleiben die hygienischen Verhältnisse katastrophal. Viele Siedlungen verfügen weder über Wasserversorgung noch über Kanalisation. Kinder schöpfen zweimal am Tag Wasser aus den öffentlichen Brunnen, um es in Kanistern ins Elternhaus zu tragen. Vehement setzt sich eine Konferenzteilnehmerin dafür ein, die Spontanbehausungen in die Stadtstruktur zu integrieren und lebenswerter zu gestalten, statt die Bewohner in anonyme Viertel umzusiedeln.


Selbsthilfe

Überall in Kabul zeugen grosse Schilder von der Wiederaufbauhilfe ausländischer Organisationen. Alle öffentlichen Baustellen tragen das Logo mindestens einer internationalen Institution auf ihren Bauschildern. Die Mehrzahl der Projekte - von Kindergärten über Schulen bis zu Krankenhäusern - werden im Rahmen der Nothilfe realisiert, wodurch Antragsfristen und lange Genehmigungsphasen vermieden werden können. Doch Mirajan Sahebi will nicht nur auf die Hilfe von aussen bauen. Er hat damit begonnen, Baustoffe aus Usbekistan zu importieren. Auch denkt er darüber nach, eine stillgelegte Kalksandsteinfabrik in Deutschland zu kaufen und sie in Afghanistan wiederaufzubauen. Das Grundstück für die neue Produktion stellt ihm sein Cousin zur Verfügung: eine alte Lkw-Fabrik, die im Bürgerkrieg besonders heftig beschossen wurde. Auch das gehört zum Alltag einer wieder erwachenden Metropole.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.01.31

03. Januar 2003Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Die Stadt als Freizeitpark

Bestandeserneuerung und Nutzungsmischung spielen in der chinesischen Stadtplanung noch keine Rolle. Stattdessen dominieren medienwirksame Neubauprojekte die öffentliche Debatte. Stellvertretend für diese Entwicklung steht die Dreimillionenstadt Dalian. Auch wenn die nordchinesische Metropole inzwischen ihre Stadtgeschichte wiederentdeckt hat, ist von der restaurierten Altstadt kaum mehr als die Fassade geblieben.

Bestandeserneuerung und Nutzungsmischung spielen in der chinesischen Stadtplanung noch keine Rolle. Stattdessen dominieren medienwirksame Neubauprojekte die öffentliche Debatte. Stellvertretend für diese Entwicklung steht die Dreimillionenstadt Dalian. Auch wenn die nordchinesische Metropole inzwischen ihre Stadtgeschichte wiederentdeckt hat, ist von der restaurierten Altstadt kaum mehr als die Fassade geblieben.

«Die Stadt gehört nicht dem Bürgermeister.» Mit diesen Worten provozierte der Architekt Sun Yi Min seine Berufskollegen kürzlich auf einer Architekturtagung in Dalian. Damit wollte der kantonesische Hochschulprofessor auf das nach wie vor autokratische und wenig kooperative Planungssystem im bevölkerungsreichsten Land der Welt aufmerksam machen. Denn immer noch fehlt es in der chinesischen Stadtentwicklung an einer qualifizierten Auseinandersetzung mit Schlüsselthemen wie Bestandeserneuerung und Nutzungsmischung. Während etwa im südchinesischen Guangzhou erste Modellprojekte zur Stadtreparatur in Planung sind, werden in den Mega-Citys Schanghai und Peking wertvolle Altstadtbereiche abgerissen. Hier müsse, wie Sun forderte, ein grundlegendes Umdenken erfolgen, wolle man das Gesicht der chinesischen Städte nicht ganz der Globalisierung preisgeben.
Kopierte Architekturbilder

Das «Sechste deutsch-chinesische Symposium für Architektur und Stadtentwicklung» - eine Veranstaltungsreihe, die seit 1999 von der Heinrich-Böll-Stiftung finanziert wird - fand im vergangenen Herbst in der nordchinesischen Küstenstadt Dalian statt, die neben Shenzhen und Schanghai mit jährlich über 20 Prozent die höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten zu verzeichnen hat. Dieser Prosperität entsprechend steht die drei Millionen Einwohner zählende Stadt unter einem hohen Planungsdruck, dem die örtlichen Architekten kaum gerecht werden können. Wang Zhenggang, Chefplaner des Dalian Urban Planning and Land Ressources Bureau (DUPLRB), prognostiziert bis zum Jahre 2020 einen Anstieg der städtischen Bevölkerung um 35 Prozent und der ländlichen Bevölkerung um weitere 50 Prozent. Um die Zuwanderung in die Provinz Liaoning zu kanalisieren, werden insgesamt vier Satellitenstädte errichtet, die durch eine Schnellbahn mit dem Zentrum verbunden werden sollen. Zudem ist geplant, die über ein Dutzend Industriegebiete auf drei Bereiche zu reduzieren.

Bei der Gestaltung der Gebäude scheinen sich die Architekten ihre Anregungen in den internationalen Hochglanzmagazinen zu suchen. Der chinesische Stilmix geht so weit, dass Repliken des französischen Klassizismus und des amerikanischen Neotraditionalismus neben japanischem High-Tech und kanadischer Blockhaus-Architektur in dichter Nachbarschaft stehen. In Sichtweite des Jahrhundertparks, der 1998 zum Hundertjahrjubiläum der Stadt eröffnet wurde, entsteht derzeit sogar eine exklusive Wohnanlage in der Form von Neuschwanstein. In den Erkern und Türmchen wird sich bald der neue chinesische Geldadel niederlassen. Die exklusiven Apartments erzielen inzwischen auf dem Immobilienmarkt Quadratmeterpreise, die mit jenen westeuropäischer Stadtzentren konkurrieren können. Fast ausschliesslich handelt es sich um Eigentumswohnungen, die von privaten Projektentwicklern angeboten werden. Immer wieder steht dabei eine gewisse Sehnsucht nach europäischer Romantik oder US-amerikanischer Vorstadtidylle im Fokus der Vermarkter. Welche Bedeutung die Architektur für das Selbstverständnis der Stadt hat, lässt sich nicht zuletzt auch am Architekturmuseum von Dalian ablesen. Das 1997 errichtete Gebäude dokumentiert die wichtigsten Neubauprojekte der vergangenen Jahre und damit zugleich die Globalisierungseffekte, denen die Stadt ausgesetzt ist.

Ein erfolgreicheres Konzept hat dagegen das Wohnviertel Pao Wai zu bieten. Das Gebiet in Sichtweite des internationalen Flughafens von Dalian gleicht einem Bilderbuchdorf, in dem sich Einfamilienhäuser nach nordamerikanischem Vorbild um kleine Grüninseln gruppieren, auf denen lebensgrosse Kühe und überdimensionierte Gartenzwerge eine kindlich-surreale Kulisse bilden. Oberhalb des von Hügeln umringten Hauptplatzes ragen sogar Dinosaurierköpfe aus dem Felsen. Sie sind so gross, dass die daneben stehenden Häuser wie Miniaturen in einer Modelllandschaft wirken. Unweigerlich drückt sich darin auch der Wunsch aus, das endlose Meer ein und desselben Haustypus zu differenzieren. Zwischen den Attrappen, die genauso gut in einem Filmstudio stehen könnten, und den weissen Wohngebäuden, deren Erker und Giebel dem «New Urbanism» nacheifern, sorgen Dutzende von Gärtnern für die Grünanlagen, die mit ihren pseudo-antiken Statuen zum Vermarktungskonzept des Viertels gehören. Mit Erfolg: Selbst die Häuserreihen mit direktem Blick auf den Flughafen erfreuen sich bei den an Lärm gewöhnten Chinesen grösster Beliebtheit.
Russische und japanische Vergangenheit

Die Anfänge Dalians gehen auf das Jahr 1898 zurück, als die Halbinsel Liadong unter russischer Herrschaft stand. Die für die zaristischen Stadtgründungen im 19. Jahrhundert typischen Blöcke und Plätze bilden auch heute noch das Muster des Stadtgrundrisses. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Plan des Russen Sacharow nach 1905 von den Japanern zu Ende geführt wurde. Nach dem Russisch-Japanischen Krieg hatte das Zarenreich die Hafenstadt Dalian abtreten müssen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges verantworteten Japaner die Stadtentwicklung. Die Monumentalarchitektur, die vor allem in den dreissiger Jahren entstand, prägt bis heute das Stadtbild.

Während die neuen Projekte im öffentlichen Raum wie nahezu überall in China die offizielle Nationalgeschichte thematisieren, hat Dalian mit der Sanierung und Rekonstruktion des russischen Viertels einen Sonderweg eingeschlagen. Noch Anfang der neunziger Jahre wurde über einen Abriss der Holzhäuser aus dem frühen 20. Jahrhundert nachgedacht. Im Hinblick auf den wachsenden Tourismus rückte die Stadt jedoch von dieser Idee ab und entschied sich für eine Konservierung dieses nichtchinesischen Kapitels der Stadtgeschichte. Soziologisch betrachtet hat das Quartier freilich einen nicht mehr zu reparierenden Bruch erlebt. Die Bewohner, die in Räumen ohne fliessendes Wasser lebten, wurden in Neubauwohnungen am Stadtrand umgesiedelt. Seither präsentieren sich die russischen Holzgebäude wie in einem Architekturmuseum unter freiem Himmel: unbewohnt und mit Souvenirgeschäften im Erdgeschoss. Nach Ladenschluss gleicht der Ort daher einer Geisterstadt. Weitaus besser in die Stadtstruktur integriert sind dagegen die zahlreichen Villen aus der japanischen Besatzungszeit. Viele von ihnen thronen auf den umliegenden Hügeln mit Aussicht auf Stadt und Meer. Vor dem Zugriff durch Projektentwickler sind sie weitgehend geschützt, können sie doch inmitten der kleinteiligen Nachbarschaft kaum durch anonyme Wohnblocks ersetzt werden. Hinzu kommt, dass die Stadtverwaltung inzwischen auch die japanische Besatzungszeit als Teil der architektonischen Identität Dalians anerkennt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.01.03

27. November 2002Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Wohntürme und Raketenrampen

Die bauliche Erneuerung der turkmenischen Hauptstadt

Die bauliche Erneuerung der turkmenischen Hauptstadt

Als sich die Präsidenten der GUS-Republiken im vergangenen Jahr zu einem Gipfeltreffen im russischen Sotschi am Schwarzen Meer verabredeten, erhielt Wladimir Putin nur eine einzige Absage. Sie kam aus Aschchabad; ihr Absender war Saparmurat Nijasow, auch bekannt unter dem Namen Turkmenbaschi (Führer der Turkmenen). Der turkmenische Präsident habe, wie er seine Kollegen wissen liess, an der Endredaktion seines neuen Buches «Ruchnama» (kulturelles Vermächtnis) zu arbeiten. Was von der internationalen Diplomatie als Affront gewertet werden konnte, passt allerdings zum Bild des turkmenischen Alleinherrschers. In kaum einem anderen Land konnte der Präsident einen derartigen Kultstatus erlangen wie im Wüsten- und Ölstaat Turkmenistan. Die Hauptstadt gleicht einer einzigen Verehrungsstätte Turkmenbaschis. Im vergangenen Sommer kündigte der Präsident sogar eine Umbenennung der Namen der Monate und Wochentage an. So wird der Januar künftig Turkmenbaschi heissen. Aber nicht nur Staat und Gesellschaft, auch die Architektur Aschchabads ist ganz auf die Person des Präsidenten ausgerichtet.

Auf dem Neutralitätsplatz, der früher Karl- Marx-Platz hiess, überragt heute ein dreifüssiger Aussichtsturm das Stadtzentrum. Die vom türkischen Architekten Erol Tabanca 1998 fertig gestellte, einer Raketenrampe ähnelnde Konstruktion wird von einer vergoldeten Statue bekrönt, die den im Ausland umstrittenen Staatspräsidenten mit ausgebreiteten Armen darstellt und sich in 24 Stunden einmal um die eigene Achse dreht. In Sichtweite des Neutralitätsdenkmals liess Turkmenbaschi in den vergangenen Jahren zwei weitere Erinnerungsstätten errichten. Eine gemahnt an den Zweiten Weltkrieg, dem sein Vater zum Opfer fiel; die andere erinnert an das Erdbeben im Jahre 1948, bei dem 80 Prozent der Bevölkerung, darunter seine Mutter, starben. Dieser Familienkult des 1940 geborenen Staatsmanns passt in das Bild Zentralasiens. Denn wie die Herrscher Usbekistans, Kasachstans und Kirgistans regiert auch der turkmenische Präsident uneingeschränkt - und dies seit über zehn Jahren. An der Peripherie Aschchabads liess der «Führer der Turkmenen» ein Heim für obdachlose Kinder bauen. Auch sein Geburtsort kommt in den Genuss staatlicher Geschenke. In Kiptschak, eine halbe Autostunde von der Hauptstadt entfernt, baut der französische Konzern Buig die grösste Moschee des Landes. Laut ausländischen Geschäftsleuten werden die meisten Bauprojekte durch Kredite finanziert, die über noch nicht abgebaute Bodenschätze abgesichert werden.

Das Land verfügt über grosse Öl- und Gasvorkommen, deren Verkaufserlöse in überdimensionierte Infrastrukturen investiert werden - mit politischem Kalkül. So verfügt Aschchabad über den modernsten Flughafen in Zentralasien, zwei gigantische Sportstadien und eine Vielzahl von öffentlichen Neubauten wie Bibliotheken, Museen und Schulen. Mitten im Stadtzentrum liess Turkmenbaschi den Präsidentenpalast, das Parlament und eine Reihe von Ministeriumsbauten errichten. Wie sehr der Staatsführer, der gerne auch als der eigentliche Chefarchitekt Aschchabads bezeichnet wird, persönlich Einfluss auf die Gestaltung der Hauptstadt nimmt, lässt sich an vielen Beispielen ablesen. Als ihm die aus weissem Marmor errichtete Tribüne für offizielle Paraden die Sicht auf seinen Dienstsitz nahm, liess er das Gebäude kurzerhand um einige hundert Meter verschieben. Batur Myhatow, der ehemalige stellvertretende Chefarchitekt und Entwerfer der Tribüne, wurde dazu nicht einmal befragt.

Aschchabad liegt inmitten einer wüstenähnlichen Landschaft, lediglich 40 Kilometer von der iranischen Grenze entfernt. Mit Wasser wird die Oasenstadt über den 1500 Kilometer langen Karakum-Kanal versorgt. Dieser entnimmt sein Wasser dem Amurdarja und ist deshalb eine der Ursachen für das ökologische Desaster am Aralsee, der seit 40 Jahren kontinuierlich austrocknet. An einen sparsamen Umgang mit Wasser ist in Aschchabad jedoch nicht zu denken. Selbst in Neubauten ist der Einbau von Wasserzählern noch keine Pflicht. «Wasser ist von Gott gegeben - deshalb sollte es auch für alle kostenlos zur Verfügung stehen», ist der immer wieder zitierte Satz des Präsidenten, der seine Hauptstadt in ein «Königreich der Brunnen» verwandeln will.

Der kaum zu übersehende Bauboom in Aschchabad dient ähnlich wie im kasachischen Astana, wo sich Präsident Nursultan Nasarbajew eine neue Hauptstadt in der Steppe bauen lässt, als Spiegel einer vermeintlichen Erneuerung der Gesellschaft. Dabei werden Architekturtraditionen beschworen, die es in Turkmenistan ausser bei Sakralbauten niemals gegeben hat. Der Grossteil des Nomadenvolkes ist erst seit zwei Generationen sesshaft und hat die russischen Wohnformen - Plattenbau und Datscha - übernommen. Hinzu kommt, dass an die Zeit vor dem Erdbeben im Jahre 1948 nur drei Gebäude erinnern. Obwohl die Bausubstanz Aschchabads kaum älter als 50 Jahre ist, stehen viele Häuser aus der Sowjetzeit zur Disposition. Gerade zwei Prozent der Bauten sind unter Denkmalschutz, darunter die ehemalige Karl-Marx-Bibliothek (1975) und das Lenin-Denkmal (1927).

Gleichsam als Antwort auf die zahlreichen Monumente ragen am Stadtrand die Wohntürme der Neureichen in die Höhe. Mehr als zwanzig dieser von Zäunen und üppigem Grün umgebenen Immobilien sind in den vergangenen Jahren schon errichtet worden. Ihre unregelmässige Anordnung entlang der Ausfallstrassen lässt vermuten, dass weitere dieser eklektizistischen Wohnburgen folgen sollen. Beidseits der mehrspurigen Schnellstrasse zum Flughafen drehen sich zudem die Kräne für die Bauvorhaben des Präsidenten. Hier entstehen vor allem verspiegelte Bürogebäude. Ein riesiges Bild Turkmenbaschis begrüsst die zukünftigen Mieter auf jedem der Bauschilder. Im Hinblick auf eine noch prächtigere architektonische Inszenierung der Hauptstadt werden zentrumsnahe Wohnanlagen aus der Sowjetzeit abgerissen, und die Bevölkerung wird an den Stadtrand umgesiedelt. Widerstand kann sich im turkmenischen Einparteienstaat freilich nicht organisieren. Mit seinen architektonischen Gesten und zahlreichen Geschenken an das Volk beugt Turkmenbaschi jeglicher Kritik vor. Jeder Bürger erhält kostenlos Wasser, Gas und Strom. Für den öffentlichen Transport auf Stadtgebiet und für die Wohnungsmieten kommt ebenfalls der Staat auf. Allerdings beträgt der durchschnittliche Monatslohn nur zwischen 80 und 100 US-Dollar.

Als seine Hauptaufgabe sieht Wolodja Filiptschenko, der Chefarchitekt Aschchabads, den Umbau der Hauptstadt zu einem Kultur-, Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum - Eigenschaften, die der Halbmillionenstadt in der Vergangenheit nicht vergönnt gewesen seien. Turkmenistan sei zu Sowjetzeiten immer nur Lieferant von Rohstoffen - vor allem von Baumwolle - gewesen. Nun müsse es darum gehen, die Eigenständigkeit auch baulich auszudrücken. Dabei ist die Bevölkerungszahl Aschchabads seit der Unabhängigkeit im Jahre 1991 von 550 000 auf heute 400 000 Einwohner zurückgegangen. Für Filiptschenko ist dies lediglich eine Argumentationshilfe bei der Umsetzung der neotraditionalistischen Ideen, die vom Staatspräsidenten persönlich abgesegnet oder beauftragt werden. Die Abwanderung vor allem der russischen Bevölkerung vereinfache den Abriss der sowjetischen Wohnquartiere, in denen der Standard ohnehin nicht hoch sei. Zudem seien die «Chruschtschewskis» - fünfgeschossige Plattenbauten der ersten Generation - aus klimatisch ungünstigem Beton errichtet. Dass in diesen zum Teil üppig begrünten Abrissgebieten aber auch zahlreiche Einfamilienhäuser liegen, die für die Behörden als Keimzellen der Opposition gelten, wird verschwiegen. Von einer modernen Gesellschaft ist Turkmenistan noch weit entfernt - politisch und architektonisch.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.11.27

20. März 2002Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Konstruktivistisches Vermächtnis

Moskauer Schau zum 100. Geburtstag von Iwan Leonidow

Moskauer Schau zum 100. Geburtstag von Iwan Leonidow

Der russische Konstruktivismus, der Mitte der dreissiger Jahre in politische Ungnade fiel und in der Folge vom stalinistischen Neoklassizismus abgelöst wurde, erlebt seit dem Zerfall der Sowjetunion auch in Moskau eine Renaissance. Diese Rückbesinnung hängt nicht nur mit der Suche der neuen Architektengeneration nach historischen Wurzeln zusammen. Auch durch die Popularisierung der konstruktivistischen Baukunst durch internationale Fürsprecher wie Rem Koolhaas oder Zaha Hadid ist das baukünstlerische Werk von Melnikow, Ginsburg und Kollegen in die breite Öffentlichkeit gelangt. Deshalb war es mehr als eine gut inszenierte PR-Strategie, dass Koolhaas jüngst persönlich die Moskauer Ausstellung «100 Jahre Leonidow» eröffnete. Dabei bekannte sich der niederländische Stararchitekt als Verehrer Iwan Leonidows, dessen Werk sich bis auf eine Treppenanlage in Kislowodsk lediglich in zeichnerischer Form begutachten lässt. Seine Begeisterung für Leonidow, so Koolhaas, habe ihn bereits 1969 nach Moskau geführt, wo er mit der Witwe zusammentraf und dabei zufällig unter dem Küchentisch eine bis dahin unbekannte Farbskizze zum Vorschein kam. Sie ist nun zusammen mit Modellen, Zeichnungen und Malereien im Schtschussew-Museum für Architektur in Moskau zu sehen, das mit 110 Mitarbeitern zu den weltweit grössten und ältesten Institutionen seiner Art gehört.

Zu den bekanntesten Arbeiten von Iwan Leonidow (1902-1959) zählen das Modell des Lenin- Instituts (1927) - eines nie realisierten Kugelbaus, der schon früh Leonidows Traum von der architektonischen Aufhebung der Schwerkraft veranschaulichte -, der Entwurf für einen pyramidenförmigen Kulturpalast auf dem Gelände des ehemaligen Simonow-Klosters (1930) in Moskau und die mannshohe Zeichnung eines Hochhauses am Roten Platz (1934). Das Besondere an der Ausstellung sind die zahlreichen Skizzen in Postkartenformat, die aus dem Familienarchiv stammen und bislang noch nie der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Sie spiegeln das Leben eines vermutlich schizophrenen Genies, das nach seiner kurzen Karriere am All-Unions-Institut für Kunst und Technik (Wchutein) nur noch als Mitarbeiter einer Modellwerkstatt eine Anstellung fand. Das Lehrinstitut, eine Art Kaderschmiede des Konstruktivismus, war 1931 geschlossen worden. Leonidow soll nie darüber hinweggekommen sein.

Ein Projekt, das Leonidow zeit seines Lebens verfolgte, war die «Stadt der Sonne». Planetenbahnen und Sonnenläufe bildeten hierbei Vorbilder für städtebauliche und architektonische Formen. Hohe Türme und kegelförmige Bauten weisen in den Entwürfen direkt zur Sonne, in der Leonidow den Quell des Lebens sah. Nun hat das Schtschussew-Museum angekündigt, die ausgestellten Arbeiten für eine Buchpublikation zur Verfügung zu stellen. Koolhaas, der um ein Vorwort gebeten wurde, meldete unverzüglich Interesse an einer noch aktiveren Mitarbeit an. Damit dürfte der russische Konstruktivismus endgültig Einzug in der globalen Liga der Koolhaas'schen Medienpräsenz halten.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.03.20

21. Dezember 2001Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Öko-Stadt zwischen Steppe und Sumpf

Kisho Kurokawas Masterplan für die Hauptstadt Astana

Kisho Kurokawas Masterplan für die Hauptstadt Astana

Ob Brasilia, Canberra oder Chandigarh - das 20. Jahrhundert war von der Utopie neuer Metropolen fasziniert. Das jüngste Beispiel ist die kasachische Hauptstadt Astana, deren Masterplan der japanische Architekt Kisho Kurokawa kürzlich vorlegte.

So leer wie die kasachische Landschaft wirken auch die wenigen Städte des Landes, die alle noch von der sowjetischen Zeit geprägt sind. Viele von ihnen gehen auf russische Siedlungen zurück, die seit dem 19. Jahrhundert als Aussenposten Moskaus errichtet wurden. Die typisch kasachische Stadt sucht man vergebens. Deshalb zieht der Masterplan für die nach Astana verlegte neue Hauptstadt - eine Idee des Staatspräsidenten Nursultan Nasarbajew - besondere Aufmerksamkeit auf sich. Der Entwurf stammt vom japanischen Architekten Kisho Kurokawa, der sich 1998 in einem internationalen Wettbewerb durchsetzen konnte. Der Plan soll der Regierung als Werkzeug dienen, um aus dem von Umweltverschmutzung und Verschleiss geprägten Ort eine zukunftweisende Hauptstadt zu machen.


Architektonisches Zeichen in der Leere

In seiner gestalterischen Umsetzung liest sich der Masterplan wie ein traubenartiges Gebilde, das die bestehende Stadt nach Süden erweitert. Hier sollen bis zum Jahre 2030 knapp 800 000 Menschen eine neue Heimat finden. Das entspricht einer Verdreifachung der Einwohnerzahl. Das neue Astana unterscheidet sich von den bis heute umstrittenen Hauptstadtplanungen des vergangenen Jahrhunderts: Während Brasilia und Chandigarh vom «grossen Wurf» ihrer Architekten geprägt wurden, verzichtet Kurokawa bis auf das im Stadtgrundriss verankerte Band der Regierungsbauten gänzlich auf starren Formalismus. Stattdessen entwickelte er eine Strategie, um das Wasser- und Abfallmanagement zu erneuern - mit dem Ergebnis, dass im kommenden Frühjahr mit japanischer Finanzhilfe zunächst die Kanalisation Astanas modernisiert wird. Darüber hinaus soll durch ein grossflächiges Aufforstungsprojekt das extreme Mikroklima der Stadt verbessert werden: Ein Temperaturunterschied von bis zu 80 Grad wird hier im Jahresverlauf gemessen.

Eine schnelle Umsetzung von Kurokawas Masterplan war im vergangenen Jahr jedoch fraglich geworden, nachdem die Stadtverwaltung ohne Absprache mit der gesamtstaatlichen Planungsbehörde von der saudischen Bin-Ladin-Gruppe einen eigenen Generalplan hatte erarbeiten lassen. Dieser basierte zwar auf den Wettbewerbsergebnissen von 1998, wurde jedoch nicht mit Kurokawa abgesprochen. Da seither bereits Strassenzüge angelegt und zahlreiche Baugenehmigungen erteilt worden waren, musste Kurokawa diese Planungen in sein Werk integrieren.

Der parallelen Planung ist es aber auch zuzuschreiben, dass auf dem Areal der neuen Regierungsstadt bereits eine rege Bautätigkeit zu beobachten ist, obwohl der eigentliche Masterplan erst vor wenigen Wochen von Kurokawa offiziell der kasachischen Regierung übergeben wurde. Inmitten einer öden Leere erhebt sich inzwischen eine 200 Meter hohe Konstruktion. Die schlanke Vertikale wirkt in der flachen Landschaft, als habe man auf einer Karte mit der Nadel die neue Hauptstadt markieren wollen. Der Aussichts- und Kommunikationsturm wird das Zentrum des neuen Regierungsviertels überragen und das gestalterische Gleichgewicht zwischen den beiden Endpunkten der neuen Achse bilden. Auf der westlichen Seite wächst der 25-geschossige Zwillingsturm des staatlichen Ölkonzerns in die Höhe, während auf der östlichen Seite Bagger und Planierwalzen auf einem Areal, wo einst Datschen standen, den Bau des Präsidentenpalastes vorbereiten, der in zwei Jahren eingeweiht werden soll.

Astana, bis vor wenigen Jahren ein eher unbedeutender Ort auf dem Weg von Moskau nach Almaty, ist eine Stadt der zwei Geschwindigkeiten. Während die ansässige Bevölkerung in ihren von kleinen Gärten umgebenen Häuschen der Selbstversorgung nachgeht, zeugen die Bagger vom politischen Wunsch einer schnellen Erneuerung. Welchen Bedeutungswandel die Kapitale in den kommenden Jahren erleben dürfte, haben die Bewohner bereits erfahren können, liegt doch Astana seit der künstlichen Verbreiterung des Ishim an einem Fluss, der in seinem Erscheinungsbild mit Seine, Themse oder Donau konkurrieren will. Allerdings entpuppt er sich bei genauerem Hinsehen als stehendes Gewässer. Denn der schmale Fluss, der sich vom Gebirge Hunderte von Kilometern bis in die sumpfige Region um Astana schlängelt, ist im Stadtgebiet lediglich aufgestaut. Immerhin hat Astana seitdem eine Uferpromenade, die an jene der Städte an Ob, Wolga und Ural erinnert.

Die neuen Wohnbauten entlang dem Flussufer, die die Regierung für ihre Beamten errichten liess, wirken wie aus der Lego-Kiste: bunte Farben und einfache Gebäudeformen. Die alten Bewohner haben zwei von ihnen Spitznamen verliehen: «Titanik» und «Kursk» - eine Anspielung darauf, dass die Uferzone nie bewohnt wurde, weil der Ishim in den Jahren vor dem Bau der befestigten und erhöhten Promenade nach der Schneeschmelze regelmässig über die Ufer trat und alles unter Wasser setzte. Freilich spielt auch ein wenig Neid mit. Denn nach wie vor lebt das Gros der Astaner in einfachen Wohnblocks, die in der Nach-Stalin-Ära errichtet wurden. Damals war die Stadt gerade von Akomolinsk in Tselinograd umbenannt worden - in Anlehnung an die landwirtschaftliche Erschliessung der Region im Rahmen des sogenannten Neulandprogramms, in dessen Folge sich Kasachstan zu einem wichtigen Getreidelieferanten der UdSSR entwickelte. Als ab 1991 in den GUS viele Städte ihre alten Namen zurückerhielten, blieb auch Tselinograd nicht von einer Umbenennung verschont. Kurze Zeit hiess es Akmola, bevor Staatspräsident Nasarbajew seiner neuen Hauptstadt diesen Namen wieder nahm. Kritiker hatten nämlich gespottet, dass Akmola in einer freien Übersetzung auch «weisses Grab» bedeuten könne - ein problematischer Name, wenn man an die schneereichen Winter dieser Region denkt. Seither heisst die Hauptstadt auf Wunsch des Präsidenten schlicht Astana, was auf Kasachisch Hauptstadt heisst. Nur noch der Flughafen-Code TSE erinnert an vergangene Zeiten.


Neues Image durch Ökologie

Ginge es nach Kurokawa, dürfte Astana in 30 Jahren zu den modernsten Städten der Welt zählen. Der Japaner überzeugte die Jury vor allem mit der in den sechziger Jahren entwickelten Theorie der metabolischen Stadt, die wie ein Organismus wachsen und sich wandeln soll. Darüber hinaus skizzierte er das Bild einer Symbiose von sowjetischer Altstadt und kasachischer Neustadt anhand der Integrierung des Ishim in den Stadtkörper. Im Gegensatz zu anderen zentralasiatischen Staaten - etwa Usbekistan - will sich Kasachstan nämlich nicht vom sowjetischen Erbe lossagen. Doch so sehr Kurokawa seine Vision einer zukunftsfähigen Stadt in der kasachischen Steppe auch mit ökologischen Ideen verknüpfen mag, einem Denkfehler unterliegt auch er. Denn wie nachhaltig geplant ist eine Hauptstadt, deren Wachstumserwartungen sich nur auf Kosten der Landflucht erfüllen lassen? In der alten Kapitale Almaty hält sich noch immer das Gerücht, dass ein Nachfolger Nasarbajews als erste Amtshandlung die Hauptstadtentscheidung wieder rückgängig machen werde. Den Erbauern des neuen Astana mag dies derzeit aber kaum mehr als ein kräftiger Motivationsschub sein.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.12.21



verknüpfte Bauwerke
Astana - Masterplan

22. Oktober 2001Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Erfindung von Geschichte

Der architektonische Umbau der usbekischen Hauptstadt

Der architektonische Umbau der usbekischen Hauptstadt

Seit den Angriffen auf Afghanistan ist Taschkent ins Rampenlicht gerückt. Die usbekische Kapitale ist mit ihren 2,5 Millionen Einwohnern die grösste Stadt im mehrheitlich islamischen Zentralasien. Auch wenn der Fundamentalismus von der Politik bekämpft wird, ist das kulturelle Leben stark von Traditionen und von der Rückbesinnung auf die vorsowjetische Zeit geprägt. Sichtbar wird dies vor allem in der neuen Architektur.

Taschkent muss für mittelalterliche Reisende ein faszinierender Rastplatz zwischen Europa und China gewesen sein: Inmitten der Hungersteppe an der Seidenstrasse gelegen, zählte die Oasenstadt mit dem Reichtum ihrer Basare, Moscheen und Paläste neben Buchara und Samarkand zu den schönsten Orten in den Ausläufern des Tien-Schan-Gebirges. Heute findet man in der usbekischen Hauptstadt kaum noch altorientalische Baukunst, dafür die umso reicher dekorierten Fassaden sogenannter Plattenbauten. Es scheint, als habe sich die Profession der Architekten in der mittelasiatischen Metropole mit der Formenvielfalt selber etwas beweisen wollen. Und man möchte fast meinen, jeder Wohnblock in der Stadt warte wie in einer Musterschau darauf, von einem potenziellen Auftraggeber in hoher Auflage bestellt zu werden.


Versuchslabor des Plattenbaus

Tatsächlich galt Taschkent zu Sowjetzeiten als Versuchslabor des industriellen Bauens. Die zahlreichen Wohnriegel, die ab Ende der sechziger Jahre errichtet wurden, gehören mit zu den architektonischen Highlights in der mittelasiatischen Steppe - zumindest was ihr Anspruch an die Detaillierung der Fassaden angeht. Gegen die jahrhundertealte Baukunst des Islams konnten die industriell vorgefertigten Profanbauten freilich nie antreten. Trotzdem war die sowjetische Architektur von einem Geist beseelt, der jenseits von monotonen Schlafstädten und Lochfassaden das Thema Massenwohnungsbau auf ästhetisch anspruchsvolle Weise zu beantworten suchte. Dass die viertgrösste Stadt der ehemaligen Sowjetunion zu diesen architektonischen Würden kommen konnte, hat einen tragischen Hintergrund. 1966 wurde fast die ganze Stadt durch ein Erdbeben zerstört. Binnen weniger Sekunden fielen verwinkelte Altstadtquartiere und wohlgestaltete Stadtanlagen in Schutt und Asche. Was für die Bewohner, aber auch für Kunsthistoriker eine Katastrophe darstellte, war für die von Utopien und Ideologien geprägten Planer der Sowjetunion eine Herausforderung. Bereits ein Jahr nach dem Beben konnten die ersten Bewohner in neue Wohnungen ziehen. Möglich gemacht hatte dies ein Arbeitsstab aller Sowjetrepubliken, die ihre besten Planer - so will es zumindest die Legende - in die südliche Teilrepublik entsandt hatten.

Der politische und wirtschaftliche Druck, in kürzester Zeit eine Stadt für mehr als eine Million Menschen wieder aufzubauen, beflügelte die Architekten und Planer zu Höchstleistungen. Trotz kurzer Planungszeit entstanden in Taschkent Siedlungen mit Plattenbauten, in denen sich bautechnische Anforderungen mit lokalen Traditionen verbanden. So etwa finden sich auf den Fassaden vieler Wohnbauten geometrische Formenmuster, die ihre Wurzeln in der islamischen Baugeschichte haben.


Rückbesinnung auf die Tradition

Dass auf diese Weise in Zentralasien wohl die phantasievollsten Beispiele des modernen Plattenbaus entstanden, ist für die heutigen Stadtpolitiker kaum interessant, und für offizielle Vortrags- und Lehrveranstaltungen scheinen die Jahrzehnte vor 1991 tabu zu sein. Laut Aussagen von Studenten werden zurzeit sogar die Bände der sowjetischen Architektur aus den Bibliotheken geräumt. Von einer Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte kann daher keine Rede sein.

Die neue Architektur in Taschkent ist derweil von einer retrospektiven Haltung gekennzeichnet. Im Drang, eine nationale usbekische Identität als Kontrapunkt zum sowjetischen Funktionalismus zu formulieren, greifen die Entwürfe auf stilgeschichtliche Elemente aus dem Mittelalter zurück. So erinnern das Timuriden-Museum, die Börse oder auch das Rathaus, die alle zwischen 1997 und 1999 fertiggestellt wurden, auf Grund ihrer ornamentalen Mosaiken und filigranen Holzarbeiten an eine Zeit, in der die Seidenstrasse die einzige Verbindung zwischen Europa und China darstellte und Zentralasien den gewinnbringenden Handel ermöglichte. Ganz offensichtlich dominiert in den Entwürfen der Repräsentationsbauten der Wunsch nach einer «usbekischen Leitkultur» innerhalb eines Vielvölkerstaates, in welchem jeder vierte Einwohner einer ethnischen Minderheit angehört. Von geschichtlichem Rückblick und architektonischer Ideologie ist auch der Neubau des usbekischen Parlaments geprägt. Bereits im Jahr der Unabhängigkeit 1991 schrieb Präsident Islam Karimow, im Obersten Sowjet der einstigen Weltmacht für interkulturellen Austausch zuständig, den Wettbewerb für einen neuen Stadtpark aus. Der Sieger erhielt kurze Zeit später den Direktauftrag für das Parlamentsgebäude: eine Mixtur aus antikem Säulengang, orientalischer Kuppelarchitektur und modischer Spiegelglas-Fassade - in der Ideologie des postsowjetischen Usbekistan eine Verkörperung von Demokratie, Tradition und Weltoffenheit. Ganz so, wie es der Präsident bestellt hatte.

Architekt des 1997 fertiggestellten Oliy Majli ist Valerie Akopdschanjan. Der heutige Direktor des wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Architektur hatte sich in den frühen neunziger Jahren als Architekt erfolgreich selbständig gemacht, entschied sich aber auf Grund einer unternehmensfeindlichen Steuerpolitik für eine Rückkehr in das staatliche Institut, in dem er wieder seinen Chefposten einnahm. Freischaffende Architekten bilden wie in den anderen GUS-Staaten Zentralasiens ohnehin die Ausnahme. Dies hat in Usbekistan verschiedene Gründe. Zum einen fehlen Architekten potenzielle private Auftraggeber, zum anderen sind viele Architekten nach der Unabhängigkeit zu Teilhabern der einst staatlichen Planungsinstitute geworden - auch wenn sich im Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer kaum etwas geändert hat. Die Büros dienen wie schon zu Sowjetzeiten als verlängerter Arm der Verwaltung und übernehmen öffentliche Planungen und Bauaufgaben.


Dirigierte Bauwirtschaft

Usbekistan gehört zu den fünf zentralasiatischen Staaten, die vor zehn Jahren aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgegangen sind. Das Land gilt wegen seiner reichen Öl-, Gas-, Gold- und Uranvorkommen als Tigerstaat in einer strategisch wichtigen Lage zwischen Russland, China und Indien. Das zeigt nicht zuletzt die gegenwärtige Stationierung amerikanischer Kampfjets in der Nähe zur afghanischen Grenze. Doch die stark auf Autarkie ausgelegte Wirtschafts- und Finanzpolitik hat einen Durchbruch auf internationalem Parkett bisher verhindert. Die wenigen grossen Neubauprojekte in Taschkent sind fast ausschliesslich von der Regierung finanziert; die Entwürfe dazu stammen von Projektinstituten, deren Mitarbeiterzahlen von bis zu 500 Personen noch immer auf planwirtschaftliche Verhältnisse schliessen lassen. Die hohe Staatsquote in der Bauwirtschaft gilt auch für die Landwirtschaft, in der knapp die Hälfte aller Erwerbstätigen arbeiten und die wie zu Sowjetzeiten stark vom Baumwollanbau geprägt ist. Seit den siebziger Jahren wurden Wüsten durch die Umleitung der Zuflüsse des Aralsees in fruchtbares Land verwandelt. Gleichzeitig ist der Pegel des einst viertgrössten Binnensees der Erde um 16 Meter gesunken und dessen Fläche auf ein Drittel geschrumpft, so dass aus den fischreichen Gewässern Salzwüsten geworden sind.

Auch in der Hauptstadt ist das Bewusstsein für einen intakten Wasserhaushalt wenig ausgeprägt: Taschkent, das von Steppen und Wüsten umgeben ist, zählt über tausend Brunnenanlagen auf Stadtgebiet. Während die öffentlichen Grünanlagen von einem Kanalsystem durchzogen werden, sind weite Teile der Altstadt bis heute nicht an die Kanalisation angeschlossen. Der Stadt ist dieser Zustand Anlass, die historischen Quartiere abzureissen und durch anonyme Wohnblöcke zu ersetzen. Gerechtfertigt wird die Eliminierung intakter Nachbarschaften mit dem Vorwand, die schmalen Wege verunmöglichten im Brandfall die Durchfahrt der Löschfahrzeuge. Hinzu kommen immer wieder auch Befürchtungen, in den verwinkelten Quartieren könnten terroristische Keimzellen wuchern. Vor diesem Hintergrund fühlen sich die Befürworter der geordneten und daher kontrollierbaren Grosssiedlungen gegenwärtig mehr als bestätigt. Unter dem Vorwand, eine sichere Stadt zu planen, dürften in den kommenden Jahren daher auch die letzten Teile der noch erhaltenen Taschkenter Altstadt verschwinden. Bisher waren die Rettungsaktionen erfolglos.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2001.10.22

06. Juli 2001Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Weitsicht im dichten Häuserwald

Hongkongs Suche nach einem eigenen Profil in China

Hongkongs Suche nach einem eigenen Profil in China

Vier Jahre nach der Rückgabe an China droht Hongkong im Schatten Schanghais und des nahen Pearl-River-Deltas seine Bedeutung einzubüssen. Doch mit Stadtentwicklungsprojekten und einem städtebaulichen Wettbewerb soll nun das Interesse der internationalen Architektenschaft wieder auf die Metropole gelenkt werden.

Wenn Edward Li aus seinem Fenster schaut, blickt er auf die Silhouette von Kowloon, jener Halbinsel, die dem dichten Häuserwald von Hongkong Island vorgelagert ist. Und so beginnt der Stadtplaner denn von den grossen Ideen für den gegenüberliegenden Victoria Harbour zu schwärmen. Innerhalb einer Generation solle auf dem Kai Tak Airport, wo bis vor zwei Jahren die Jets landeten, ein neuer Stadtteil mit Parks und Erholungsflächen entstehen. Derzeit gleicht das ehemalige Flughafenareal allerdings noch einer Mondlandschaft. Für Li, Mitarbeiter der Stadtverwaltung, ist dies ein vorübergehender Zustand. Kai Tak habe Hongkong jahrzehntelang mit der Welt verbunden, nun dürfe man nicht erwarten, dass der alte Flughafen sofort aus dem Stadtbild entfernt würde.


Vom Flugfeld zum Wohnquartier

Der von Norman Foster geplante und 1998 eröffnete Flughafen Chek Lap Kok wurde als letztes grosses Projekt der Kolonialherren auf einerkünstlichen Insel 30 Kilometer vom Geschäftszentrum entfernt errichtet, wobei dank der neuen Flughafenbahn die Fahrzeit nach Hongkong Island nun kürzer ist als vom näher gelegenen alten Flughafen. Durch den Flughafen-Neubau hatte das ständig unter Landknappheit leidende Hongkong quasi über Nacht knapp 250 Hektaren innerstädtische Baufläche dazugewonnen. Unmittelbar nach Schliessung des Kai Tak Airport abermusste das Flugfeld unter die Aufsicht von Toxikologen gestellt werden, die im Boden neben Kerosin und Öl auch Schwermetalle nachwiesen. Seitdem wurde das Gelände zu einem Fünftel dekontaminiert, unterirdische Kraftstofftanks beseitigt und nahezu alle Gebäude entfernt. Lediglichdie weitläufige Abfertigungshalle und das Parkhaus werden noch zwischengenutzt: als Gebrauchtwagenmarkt, Bowling- und Go-Kart-Bahn, ja sogar als Büros. Jährliche Mieteinnahmen von rund zehn Millionen Franken tragen zu einer Reduzierung der Sanierungskosten bei.

Wenn die Abbrucharbeiten Anfang 2002 abgeschlossen sind, wird man vom ehemaligen KaiTak Airport allenfalls noch die schmale Piste erahnen, deren Umrisse sich wie eine Mole im Meer abzeichnen. Nach heutiger Planung sollen bis 2006 der Grossteil des Victoria Harbour sowie das schmale Hafenbecken Kwun Tong zwischen der ehemaligen Piste und dem gleichnamigen Stadtteil zugeschüttet sein. Um Transportkosten zu vermeiden, haben die Wasserbauingenieure ein Verfahren entwickelt, das die Nutzung des Bauschutts als Befestigung des Meeresbodens erlaubt - trotz Kontamination des Betons. Mit Hilfe eines Sprays werden die Bruchstücke der Piste versiegelt und erst danach in der Bucht versenkt.

Das städtebauliche Muster des neuen Stadtteils, der in den Plänen schlicht South East Kowloon Development heisst, unterscheidet sich kaum von den monotonen Hochhaussiedlungen, die sich entlang der Küste erstrecken. Auch die Einzelgebäude verheissen kaum Individualität. Die Türme stehen entweder auf kreuzförmigem Grundriss, um eine möglichst grosse Oberfläche für Fenster zu erhalten, oder sind in ihrer Höhe gestaffelt, um zahlreiche Wohnungen mit Weitblick anbieten zu können. Mit 53 000 Einwohnern pro Quadratkilometer ist das neue Quartier extrem dicht besiedelt. Selbst die Parks, die im Modell wie Schneisen im Häuserwald erscheinen, können diesen Superlativ kaum relativieren.

Offiziell reduzierten die Behörden die Fläche für die Neulandgewinnung auf Grund von Beschwerden zahlreicher Anwohner. Doch die vordergründig demokratische und politisch korrekte Entscheidung wird durchaus kritisch betrachtet. In Bankkreisen spricht man sogar von gezielter Propaganda. Grund für die geringere Anzahl von Wohnhochhäusern sei allenfalls die für die kommende Dekade nach unten korrigierte Bevölkerungsprognose. Am äusseren Ende der ehemaligen Start- und Landebahn soll ein Fährschiffterminal entstehen; und neben einem Luftfahrtmuseum sollen ein Aussichtsturm und ein Heliport zumindest etwas vom genius loci bewahren.


Luxuriöses «Fischerdorf»

Der für europäische Verhältnisse gigantomanische Massenwohnungsbau gehört zu einer Reihe von Stadtentwicklungsprojekten, die den Standort Hongkong für ausländische Immobilienbroker wieder attraktiv machen soll. Während in East Kowloon zu einem Drittel Sozialwohnungen entstehen, ist in den vergangenen Jahren an der Südseite der Insel Lantau eine Art Gegenmodell realisiert worden. Die Siedlung in der malerisch gelegenen Discovery Bay ist autofrei, verfügt dafürüber einen Jachthafen und direkte Fährverbindungen nach Hongkong Island. Breite Uferpromenaden und ein Sandstrand suggerieren Ferienstimmung. Wären nicht die 20-geschossigen Wohnhochhäuser, liesse sich das simulierte Fischerdorf durchaus als Beitrag zur New-Urbanism-Bewegung verstehen. Als eine Art Themenpark ist auch die sogenannte Silicon Bay in Pokfulam, an der Westküste Hongkongs, angelegt. Sobald das neu gewonnene Land befestigt ist, soll dort mit dem Bau von Büros und Wohnungen für Softwarespezialisten begonnen werden.

Währenddessen plant die Regierung Hongkongs einen städtebaulichen Wettbewerb, um nicht nur die Aufmerksamkeit der internationalen Architekturelite auf West Kowloon und das dort neu gewonnene Land zu lenken. Anfang 2001 soll die bereits mit Spannung erwartete Auslobung erfolgen. Ob es sich dabei um ein zu realisierendes Grossprojekt handelt oder lediglich um eine PR- Massnahme für das Stadtmarketing, steht freilich noch offen. Diese bittere Erfahrung musste vor knapp zwanzig Jahren Zaha Hadid machen, als sie sich mit ihrem Wettbewerbsbeitrag für ein Klubhaus auf dem Hongkong Peak zwar gegen 600 Konkurrenten aus aller Welt behauptete und so in die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts einschrieb, ihr Entwurf aber nie realisiertwurde. Die Unternehmerfamilie, die den Wettbewerb ausgeschrieben hatte, profitiert jedoch bis heute von dem so erzielten Bekanntheitsgrad.

Auf dem schmalen, dicht mit Hochhäusern besetzten Küstenstreifen auf Hongkong Island, der durch den Postkartenblick vom Peak weltberühmt ist, hat sich seit dem Abzug der Briten 1997 nur wenig verändert - einmal abgesehen von zwei Neubauten: der blütenförmigen Kongresshalle von SOM (NZZ 6. 6. 97) und einem gläsernen Hochhaus von Cesar Pelli. Dieser vor einigen Monaten eingeweihte Wolkenkratzer, der sich zwischen Peis Bank of China (1990) und Fosters Hongkong & Shanghai Bank (1986) erhebt, kann bezüglich der architektonischen Qualität allerdings kaum mit seinen Nachbarn rivalisieren.


Leben im Happy Valley

Architektonische Massstäbe - im typologischen Sinn - setzt da vielmehr ein neues Produkt auf dem Immobilienmarkt, das sich inzwischen auch in Europa durchsetzt: Wohnungen, bei denen der Unterschied zum Hotel nur noch darin besteht, dass man die eigenen Möbel mitbringt. Das derzeit exklusivste Projekt entsteht im Happy Valley, wo Hongkongs Pferderennbahn allwöchentlich Tausende von wettfreudigen Zuschauern anlockt. Am Fusse des Leighton Hill ragen acht 30-stöckige Rohbauten in den Himmel. Die Eigentumswohnungen werden für stolze 25 000 Franken pro Quadratmeter verkauft. Im Sockel der nach Feng-Shui-Regeln auf wellenförmigem Grundriss angeordneten Türme befinden sich Parkgaragen, Serviceräume und sogar ein Ballsaal. Private Bedürfnisse wie Sonnenbäder, Schwimmen und Fitness werden in den obersten Stockwerken mit grandiosem Blick auf die Skyline befriedigt. In den «Schlafgeschossen» sorgen Catering- und Reinigungsdienste rund um die Uhr für das Wohl der Bewohner. Als Mitglieder des Leighton Hill müssen die Bewohner lediglich ihre Klubkarte vorzeigen, um die Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können. Das an Exklusivität kaum zu übertreffende Projekt führt exemplarisch vor, dass die bei der Übernahme durch das kommunistische China gehegte Angst vor wirtschaftlicher Bevormundung vollends verflogen zu sein scheint.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.07.06

06. Juli 2001Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Profit diktiert die Form

Der Hongkonger Architekt Rocco Yim im Gespräch

Der Hongkonger Architekt Rocco Yim im Gespräch

Seit dem Rückzug der Briten im Jahre 1997 suchen die Hongkongchinesen nach einem eigenen Profil. Über das architektonische Selbstverständnis in der südchinesischen Stadt sprach Philipp Meuser mit dem ortsansässigen Architekten Rocco Yim.

Hongkong fasziniert zunächst durch die städtebauliche Dichte. Die einzelnen Gebäude aber überzeugen nur in Ausnahmefällen.

Architektur gehorcht in Hongkong zunächst der Funktion und dem Geld. Der Architekt ist daher gezwungen, als Geschäftsmann, Techniker und Verwalter gegenüber dem Auftraggeber aufzutreten. Dass der Architekt auch Künstler ist, wird kaum erwartet. Ganz anders als in Europa, wo die Baukunst Teil der Kultur ist, müssen wir uns zunächst mit der Rendite eines Gebäudes beschäftigen. Hinzu kommt, dass die Schnelllebigkeit der Stadt auch einiges dazu beiträgt, dass die Gestaltung der Bauten vernachlässigt wird. Die Form wird somit vom Profit diktiert.

Welche Rolle spielen Architekturwettbewerbe?

Wettbewerbe finden so gut wie gar nicht statt. Der wohl bekannteste Wettbewerb fand Anfang der achtziger Jahre auf dem Peak statt. Zaha Hadid gewann zwar, doch die Auslober nutzten das Ergebnis nur zur Eigenwerbung. Wie Sie wissen, kam der Entwurf Hadids nie zur Ausführung. Das selbe gilt für öffentliche Bauten. Sie werden überwiegend von der Verwaltung selbst errichtet. Dass dabei das Gebäude-Design in einem kreativen Prozess generiert wird, kann man kaum annehmen. Die Stadtverwaltung hat nun einen internationalen Wettbewerb für ein Areal in West-Kowloon angekündigt. Ich kann nur hoffen, dass das Ergebnis auch umgesetzt wird.

Wodurch wird hier die Architektur beeinflusst?

Das lässt sich nicht leicht beantworten. Dennoch glaube ich, dass das Denken über Architektur sehr von Amerika bestimmt ist. Zu häufig stehen die Wünsche des Kunden - also eine möglichst hohe Rendite - im Vordergrund. Das trifft im Übrigen auch für Wohngebäude zu. Seit einigen Jahren beobachte ich jedoch ein zunehmendes Interesse für eine technische Robustheit und eine gewisse Qualität im Detail. Zu diesem Paradigmenwechsel haben sicherlich Norman Fosterund I. M. Pei beigetragen. Ihre Bankgebäude geniessen bis heute Vorbildcharakter. Insofern finden Hongkonger Architekten auch in ihrer eigenen Stadt Anregungen für ihre Entwürfe.

Den eigentlichen städtebaulichen Boom verzeichnen in China derzeit die Städte auf dem Festland. Wie behauptet sich Hongkong dagegen?

Einen grossen Vorteil gegenüber anderen Städten sehe ich darin, dass es in Hongkong trotz aller Hektik und Geschäftemacherei möglich ist, sich kulturell Gehör zu verschaffen. Das mag mit unserer britischen Vergangenheit zusammenhängen. In Schanghai oder Shenzhen ist das ungleich schwieriger. Architektur und Kultur werden dort einfach nicht zusammengedacht. Wichtig ist, dass wir diesen Vorteil ausbauen und nicht in der Gleichförmigkeit der «chinesischen Stadt» untergehen. Neben der Kultur spielen inzwischen auch umweltpolitische Themen eine gewisse Rolle. Dies erscheint mir ein weiterer Vorteil. Wenn wir es nicht schaffen, Hongkong als «world class city» auszubauen, wird unsere Sonderrolle in China schnell verspielt sein.

Welche Unterschiede sehen Sie zwischen der Stadtstruktur Hongkongs und dem Typus der «europäischen Stadt»?

Der wesentliche Unterschied zwischen der europäischen und der chinesischen Stadt besteht in der Art der Sicht von Architektur. Hongkong ist so dicht gebaut, dass man ein Gebäude kaum in seiner Gesamtheit betrachten kann. Man sieht meist nur einen Bruchteil. Das ist in einer traditionellen europäischen Stadt anders. Dort ist das Haus zur Strasse orientiert und präsentiert sich mit seiner Fassade. Hier ist das allein schon aus Platzgründen nicht möglich. Wir bauen so, wie wir die Architektur wahrnehmen: als Teil von Funktionsabläufen und Wegbeziehungen.


[Daten zu Rocco Yim

International machte Rocco Yim schon als 31- Jähriger von sich Reden: Denn 1983 wurde er als einer der drei Preisträger im Wettbewerb um die Bastille- Oper bekannt. Anschliessend erprobte Rocco Yim als Entwerfer von privaten Villen die Verbindung von Landschaft und Baukunst. Erst in den späten achtziger Jahren widmete er sich wieder dem urbanen Kontext. Zu seinen Bauten zählen der Citibank Plaza Tower (1992), ein Wohnbaukomplex (1998) auf Hongkong Island und die Central Station des Flughafen-Expresses (1999), bei der er auch für den Masterplan der Umgebung verantwortlich zeichnete. In diesen Tagen erscheint bei Images Publishing, Mulgrave, Australien, die Monographie: The City in Architecture. Recent works of Rocco Design Limited.
]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.07.06

04. Februar 2000Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Ende einer Utopie des modernen Wohnungsbaus

Wie nach einem Atomschlag sieht es zwischen den verlassenen Blöcken zwar nicht aus, doch unwirtlicher könnte sich die einst intakte Nachbarschaft im Schatten...

Wie nach einem Atomschlag sieht es zwischen den verlassenen Blöcken zwar nicht aus, doch unwirtlicher könnte sich die einst intakte Nachbarschaft im Schatten...

Wie nach einem Atomschlag sieht es zwischen den verlassenen Blöcken zwar nicht aus, doch unwirtlicher könnte sich die einst intakte Nachbarschaft im Schatten des Sears Tower kaum präsentieren. Fünf Autominuten von downtown Chicago entfernt offenbart sich das dunkelste Kapitel der lokalen Stadtentwicklung: die Robert Taylor Homes, bis vor kurzem Heimat von knapp 20 000 Sozialhilfeempfängern. Nach der Theorie der funktionalen Stadt wurden die 16stöckigen Hochhäuser Anfang der sechziger Jahre entlang der South State Street errichtet. Keine vierzig Jahre später werden nun die «Sozialpaläste» abgerissen; die Hälfte von ihnen ist bereits geräumt und von Bauzäunen umzingelt. Chicago will die Armut aus dem Stadtbild ausradieren.


Chicago als Versuchslabor

Der Untergang einer längst überholten Utopie begann im Dezember 1998. Was Chicago an jenem Wintermorgen erlebte, steht beispielhaft für eine neue Strategie auf dem amerikanischen Wohnungsmarkt: Die Sozialburgen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Boston und Los Angeles hoffnungsvoll aus dem Boden wuchsen, haben ausgedient und werden - wie schon 1972 Minoru Yamasakis Siedlung Pruitt Igoe in Saint Louis - gesprengt. In den nächsten drei Jahren will das Ministerium für Wohnungsbau und Stadtentwicklung rund 100 000 Sozialwohnungen abreissen. Damit stirbt eine Vision, die das soziale Leitbild für eine ganze Generation darstellte: staatliche Wohnungsfürsorge als Garant für ein sorgenfreies Leben. Denn aus den einst gepflegten Nachbarschaften sind im ganzen Land Ghettos geworden, auch in Chicago.

Seit die Mieter an der South State Street mitunter recht widerwillig ausziehen, werden die Fenster mit roten Brettern vernagelt. Übrig bleiben leblose Baukörper, denen man eine schnelle Sprengung wünscht. Jenen Bewohnern, die sich erfolgreich gegen eine Umquartierung in einen anderen Stadtteil gewehrt haben, hat die zuständige Wohnungsbehörde drei Blöcke vorbehalten, die sich U-förmig um einen neu gestalteten Hof mit Rasen und Spielgeräten gruppieren. Dort ist das gesamte Gelände mit einem neuen Zaun und Pförtnerhaus versehen, so dass unkontrollierte Besuche und Lieferungen von Waffen und Drogen - zuvor bitterer Alltag - unmöglich sind. Über den Hauszugängen weisen Schilder auf Metalldetektoren hin, die jeden Besucher automatisch scannen. Und ganz in der Nähe hat die Polizei einen Fuhrpark eingerichtet. Seitdem übt sie permanente Präsenz.

Die Szenerie vor der Silhouette von Chicago ist grotesk. Denn die abgestorbenen Wohnzellen werden von zweigeschossigen Villen gesäumt, die vor mehr als achtzig Jahren errichtet und schon vor Jahrzehnten verlassen wurden. Die Stadtgeschichte Chicagos ist hier in der Near South Side eine Zerstörungs- und Abrissgeschichte. Bis in die fünfziger Jahre war die Nachbarschaft noch gutbürgerlich - und mehrheitlich von Weissen bewohnt. Doch mit dem sozialen Wohnungsbau, der in Chicago unweit vom Geschäftszentrum realisiert wurde, verfielen die einst intakten Viertel nach und nach. Aus dem Süden zogen ärmere - zumeist farbige - Bevölkerungsgruppen Richtung Norden. Downtown Chicago, Synonym für wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung, war nur noch durch Industrie- und Gleisanlagen von der neuen Wohngegend getrennt. Doch was für die sozial schwächeren Migranten einen emanzipatorischen Sieg im Kampf gegen Diskriminierung und Unterdrückung darstellte, stürzte die Mittelschicht in eine Identitätskrise. Aus dem niedlichen Vorort Chicagos war eine Übergangsstation für Sozialhilfeempfänger geworden. Wer es sich von den Alteingesessenen leisten konnte, verliess seine angestammte Nachbarschaft und zog weg.


Stadtgeschichte als Abrissgeschichte

Diesen Exodus durchlebten vor allem die Robert Taylor Homes. Als grösstes Sozialquartier, das je in den USA errichtet wurde, zählte es 1962 nach seiner Fertigstellung 4200 Wohnungen. Doch auch hier musste die Utopie bald begraben werden, ärmere Bürger durch die temporäre Einquartierung in eine Wohnung mit Heizung, Strom und fliessendem Wasser auf ein geregeltes Leben in der Grossstadt vorbereiten zu können. Das ambitiöse Projekt sollte sich in einen sozialen Bumerang verwandeln: Bald schon wurden die ursprünglichen Pauschalmieten den Einkommen ihrer Bewohner angepasst. Wer arbeitete, musste nun mehr für seine eigenen vier Wände zahlen; wer von der Sozialhilfe lebte, profitierte weiterhin von den Billigmieten. Die amerikanische Variante der deutschen «Fehlbelegungsabgabe» vertrieb die Besserverdienenden innerhalb weniger Jahre. Zurück blieben nur die Schwächsten.

Die Chicago Housing Authority (CHA) musste einsehen, dass Stadtplanung als kollektives Erziehungsinstrument ungeeignet war. Die Folgen waren in der gesamten Umgebung zu spüren. Innerhalb von vierzig Jahren sank die Einwohnerzahl der sogenannten Douglas and Grand Boulevard Communities von knapp 200 000 Personen auf weniger als ein Drittel. Ausschlaggebend dafür war nicht zuletzt die Angst vor der hohen Kriminalität, die bis heute von den Sozialghettos ausgeht. Auf diese Weise entwickelte sich die gesamte South Side zu einem städtebaulichen Bermudadreieck, in dem die Bürgerhäuser nach und nach aus dem Stadtbild verschwanden. Sie wurden verlassen, geplündert oder gar abgebrannt.


Vorbildliche Sprengung

Auch wenn der Abriss von Sozialwohnungen in Europa immer wieder zu heftigen Diskussionen in der Öffentlichkeit führt, gilt die Methode der kommunalen Wohnungsverwaltung in Chicago als vorbildlich. Die Stadtplaner haben erkannt, dass die Ästhetik des Stadtbildes wesentlich zur Wohnqualität beiträgt. Hässliche Gebäude werden von der CHA aus dem Stadtgrundriss ausradiert. Seit 1996 geschah dies knapp 70 Mal; bis 2003 sollen weitere zwanzig Standorte folgen. Für die Umsiedlung der knapp 20 000 Betroffenen sind sogenannte Relocation Manager zuständig. Ein fünfköpfiges Team der CHA muss dabei zunächst Nachhilfeunterricht im Umgang mit der Verwaltung leisten. Denn die Erfahrung der Bewohner mit Behörden reicht in der Regel nicht über Kontakte mit dem Sozialamt oder der Polizei hinaus. Für diejenigen, die auf dem freien Wohnungsmarkt eine Bleibe finden wollen, stellt die Wohnungsbehörde ein offizielles Zertifikat aus. Dieses Ticket in ein neues Leben garantiert dem Vermieter, dass die CHA für sämtliche Kosten aufkommt, die über die vom Bewohner zu zahlende Sozialmiete hinausgehen. Wer bis vor kurzem noch in einer verdreckten Kammer lebte, geniesst heute einen bescheidenen Luxus - selbst wenn dieser nur darin besteht, auf die aufwendige Sicherheitstechnik am Türschloss verzichten zu können oder im Vorgarten grünen Rasen und Blumenbeete pflegen zu dürfen.

Doch der gesellschaftliche Aufstieg hat seinen Preis: Während sich die 16stöckigen Wohnsilos der Robert Taylor Homes in den vergangenen 40 Jahren zu regelrechten Familien-Clustern entwickelt haben - nicht selten leben bis zu 50 Verwandte unter einem Dach -, droht den Umsiedlern in ihrer neuen Nachbarschaft die Vereinsamung. Betroffen sind davon vor allem die jungen Mütter, die in der Bewohnerstruktur die grösste Gruppe einnehmen: In den Mieterlisten der CHA sind zu über 80 Prozent Frauen eingetragen. Dass bereits 22jährige drei und mehr Kinder von verschiedenen Vätern haben, ist keine Seltenheit, sondern Ausdruck für die völlige Auflösung traditioneller Lebensformen. In der vaterlosen Gesellschaft zählen deshalb Tanten, Cousinen, Grossmütter und Mütter, die in derselben Etage oder wenige Stockwerke entfernt wohnen, zu den eigentlichen sozialen Stützen. Probleme bereitet der CHA daher auch, die Bewohner von den Vorteilen einer neuen, sauberen und sicheren Wohnung zu überzeugen. Schliesslich ist es Teil der Strategie, die Bewohner dezentral auf die gesamte Stadt zu verteilen. Und dazu zählt auch die Integration der Umsiedler in das Sozialgefüge der neuen Nachbarschaft.

In den Jahren 1960 bis 1962 wurden die anonymen Blocks aus gelben und roten Ziegeln an der South Michigan Avenue von den Architekten Shaw, Metz & Associates parallel zum Interstate Highway errichtet. Benannt wurde das neue Wohnviertel nach dem ersten farbigen Präsidenten des CHA, Robert Taylor. Die Auswahl dieses Namens hätte allerdings ironischer kaum ausfallen können. Während sich Taylor in seinen Dienstjahren 1943 bis 1950 stets für die Integration der schwarzen Bevölkerung in weissen Nachbarschaften eingesetzt hatte, förderte sein Nachfolger im CHA-Amt und zugleich Bürgermeister, Richard J. Daley, die Entflechtung der Bevölkerung. In Chicago entstand mit den Robert Taylor Homes die grösste Sozialsiedlung in den USA. Sie blieb bis heute ohne Nachahmung.

Aber statt für eine ethnische Mischung steht der Name bis heute für die urbane Ghettoisierung im Süden von downtown Chicago - unmittelbar südlich des renommierten Illinois Institute of Technologie (IIT), wo die Theorie des neuen Städtebaus seinerzeit in konkrete Architektur umgesetzt wurde. Ein planerisches Eigentor: Die Eliteschule IIT liegt heute inmitten eines sozialen Schlachtfeldes und städtebaulichen Niemandslandes, das Rem Koolhaas durch ein kombiniertes Studentenzentrum mit Bahnstation aufwerten will. Einen Steinwurf entfernt hat die Chicagoer Polizei bereits ein neues Headquarter eingerichtet. Seitdem fahren auch Taxifahrer wieder ohne Zögern Richtung Süden.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.02.04

02. Oktober 1999Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Ein vergessener Künstlerarchitekt

Meu. Vor wenigen Monaten wurde mit der ehemaligen Reichskreditgesellschaft in der Friedrichstrasse das grösste Berliner Bauwerk von Fritz August Breuhaus...

Meu. Vor wenigen Monaten wurde mit der ehemaligen Reichskreditgesellschaft in der Friedrichstrasse das grösste Berliner Bauwerk von Fritz August Breuhaus...

Meu. Vor wenigen Monaten wurde mit der ehemaligen Reichskreditgesellschaft in der Friedrichstrasse das grösste Berliner Bauwerk von Fritz August Breuhaus de Groot abgerissen, und nun erscheint eine Reprint- Monographie über diesen stillen Vertreter der deutschen Moderne, dessen Schaffenszeit im Kaiserreich begann und 1960 in der noch jungen Bundesrepublik endete. Trotz den wechselnden politischen Rahmenbedingungen, in denen der Schüler von Peter Behrens wirkte, weisen die zumeist innenarchitektonischen Projekte von Breuhaus de Groot gestalterische Kontinuität auf: Vor allem durch den geschickten Einsatz der Materialien überzeugen seine Landhäuser und Villen sowie die aufwendigen Innenräume von Kasinos oder Luxusdampfern. Selbst Teppich- und Tapetenmuster gehören zum Repertoire von Breuhaus de Groot. Im Vorwort des Reprints wird er als Architekt charakterisiert, der im Dienste seiner zumeist privaten Bauherren über hundert Nächte im Jahr im Schlafwagen verbrachte. In einem kurzen, neu verfassten Nachwort analysiert Catharina Berents das «zu den am besten publizierten Architektenœuvres dieses Jahrhunderts» zählende Werk. Allein sechs Monographien erschienen zu Lebzeiten des Architekten, eine weitere postum. Die Forschung hat den «Gesamtkünstler» bisher allerdings stark vernachlässigt. Mit diesem Band setzt der Gebrüder-Mann-Verlag seine ebenso erfolgreiche wie aufwendige Reprint-Reihe «Neue Werkkunst» fort, die einen Zusammenhang zwischen Buch- und Baukunst aufzeigen will.


[ Neue Werkkunst. Fritz August Breuhaus de Groot. Reprint von 1929. Hrsg. Roland Jaeger. Gebr.-Mann-Verlag, Berlin 1999. 136 S., Fr. 248.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.10.02

09. April 1999Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Mentale Mobilität

Die vom Städtebau der Moderne propagierte Auflösung der kompakten Stadt führte zu einer Verkehrsplanung, die die historischen Städte Europas schwer beeinträchtigte. Auch wenn sich in der Schweiz keine Eingriffe wie in Stockholm, Berlin oder Genua finden, stellt sich auch hier die Frage, wie man die verlorengegangene Urbanität wiederherstellen kann. Ein neues Mobilitätsverständnis muss dabei die Fixierung auf das Automobil ablösen.

Die vom Städtebau der Moderne propagierte Auflösung der kompakten Stadt führte zu einer Verkehrsplanung, die die historischen Städte Europas schwer beeinträchtigte. Auch wenn sich in der Schweiz keine Eingriffe wie in Stockholm, Berlin oder Genua finden, stellt sich auch hier die Frage, wie man die verlorengegangene Urbanität wiederherstellen kann. Ein neues Mobilitätsverständnis muss dabei die Fixierung auf das Automobil ablösen.

Kaum eine andere Disziplin versprach den Menschen mehr Modernität als die Verkehrsplanung. Grossen Einfluss übten die beiden Schweizer Modernisten Le Corbusier und Sigfried Giedion aus, die einerseits durch praktische Entwürfe, andererseits durch theoretische Ableitungen ein Lebensgefühl beschrieben, das auf der Dominanz des Automobils basierte. Ihre utopischen Konzepte, in denen das Privatauto als Synonym für Freiheit und Wirtschaftserfolg galt, propagierten die Überwindung von Raum und Zeit. In Europas Städten ist dieses Erbe bis heute in brutalen Strassendurchbrüchen sichtbar.

Als Errungenschaft des neuen Städtebaus wurde der Abschied von den engen Gassen der zum Teil noch mittelalterlichen Stadtkerne und deren Ersatz durch breite Schneisen gefeiert. Während etwa in Zürich auf Grund der direkten Demokratie von all den utopischen Visionen nur die Sihlhochstrasse realisiert werden konnte, schlug Köln für seine Nord-Süd-Fahrt ein für Fussgänger unüberwindbares Trassee durch die Altstadt. Stuttgart trennte seine Staatsgalerie vom Schlossgarten mit einer Autobahn, und Hamburg zerstörte ein historisch einmaliges Ensemble von Kontor-Häusern durch den Bau der Ost-West- Strasse. Die Moderne hatte spätestens 1957 mit der Internationalen Bauausstellung (Interbau) in Berlin ein wichtiges Etappenziel erreicht. Aus einem ehemals hochverdichteten und kompakten Stadtviertel war eine aufgelockerte Siedlung mit breiten Parkways geworden. Legitimiert wurde der autogerechte Ausbau mit der aus heutiger Sicht fast zynischen Bemerkung, der «vollkommen planlos zunehmende Kraftverkehr durchflutet Städte, die ursprünglich für Pferdefuhrwerke geplant waren». Der populäre Ausstellungskatalog der Interbau ging sogar noch einen Schritt weiter: Um die Verkehrsdichte an Automobilen zu verringern, sei die Bebauungsdichte aufzulockern – ein in der heutigen Nachhaltigkeitsdebatte schier unmöglicher Gedanke.

Schneisen statt Gassen

Einer der Väter dieser antiurbanen Ideen war Le Corbusier, der sich bereits 1945 über den Wiederaufbau der zerstörten Städte in seinen «Grundfragen des Städtebaus» geäussert hatte. Fussgänger müssten grundsätzlich vom Fahrzeugverkehr getrennt werden. Als moderne Verkehrsadern pries er Autobahnen. Diesen hatte sich die Bebauungsstruktur zu unterwerfen. Schliesslich erfolgte die Wahrnehmung der Umwelt nicht mehr aus der Fussgängerperspektive sondern vom Steuer des Autos aus. Mit zunehmender Geschwindigkeit verändere sich das Raum-Zeit-Gefühl, wie es Sigfried Giedion 1941 in seinem Standardwerk «Space, Time and Architecture» beschrieb. Vor allem durch eine Fahrt auf der Autobahn – Zeichen für Modernität und Fortschritt – könnten die unterschiedlichen Blicke in die Landschaft simultan erlebt werden: Das Raum-Zeit- Gefühl könne selten so stark erfahren werden, wie am Steuerrad, wenn man hügelauf-hügelab, durch Unterführungen, über Rampen oder über riesige Brücken dahinrolle. Giedion vertrat als Sekretär der Congrès Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM) die Ideale des Neuen Bauens und stützte sich in seiner Argumentation auf Le Corbusier, der das Auto längst als untrennbaren Teil von Städtebau und Architektur verstand.

Motorisierungsgrad und Mobilität faszinierten weltweit eine ganze Architekten- und Planergeneration. Der Amerikaner Frank Lloyd Wright sprach gar von einem neuen Raumsinn, der auf dem Automobilwesen beruhe. Raumwerte hätten sich längst in Zeitwerte verwandelt und einen neuen Massstab in den Städtebau eingeführt. Auch seine rhetorische Agitation war schnell durchschaut: Da der Anspruch auf Motorisierung nicht mehr dem verfügbaren Strassenraum entsprach, blieb nur die Verbreiterung von Hauptverkehrsachsen oder die Auflösung der Stadt – eine Strategie, die bis heute in US-amerikanischen Metropolen ihre Gültigkeit behalten hat.

In der Büro-City arbeiten und im vorstädtischen Einfamilienhaus wohnen, lautete das Glaubensbekenntnis einer Ära, in der Schnellstrassen und Autobahnen als Lösung zukünftiger Verkehrsprobleme gesehen wurden. Die Theorie der Moderne war daher eine Kampfansage an die traditionelle Stadt, die von automobilbegeisterten Verkehrspolitikern angeführt und von geschichtslosen Planern legitimiert wurde. Doch an vielen Stellen musste die Stadtplanung vor den aufgeständerten Schnellstrassen und antiurbanen Tunnels in der Innenstadt kapitulieren. Die automobile Übermacht hatte mit baulichen Fakten ihre Spuren in der Stadtstruktur hinterlassen.

Neues Verkehrsverhalten

Die sich seit den achtziger Jahren intensivierende Diskussion über die Bevorzugung des öffentlichen Verkehrs gegenüber dem Auto – die etwa in Zürich schon weit fortgeschritten ist – und über eine Siedlungspolitik und Raumordnung der kurzen Wege hat erst vereinzelt zu Erfolgen geführt. Mobilitätsforschung ergänzt inzwischen die Disziplin Verkehrswissenschaften. Im Vordergrund der Debatte steht dabei nicht mehr der Ausbau neuer Verkehrsnetze, sondern die intelligente Nutzung und Auslastung der vorhandenen Ressourcen. Heute erweist sich als das eigentliche Dilemma im Verkehrsverhalten die bereits früh anerzogene Fixierung auf das Auto. Deshalb soll sich eine neue Definition von Mobilität nicht mehr auf das Auto konzentrieren, sondern auf alle Fortbewegungsmittel ausweiten. Die kombinierte Mobilität – das neue Schlagwort der Verkehrswissenschaften – soll in Deutschland vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) von diesem Frühjahr an im Rahmen eines Car-Sharing-Modells in der Praxis studiert werden. In der Schweiz ist mit «Mobility» ein ähnliches Modell bereits im Gebrauch.

Während sich Verkehrswissenschafter die Umerziehung der Automobilisten zum Ziel gemacht haben, besiegeln Architekten das Ende der modernen Verkehrsplanung mit baulichen Tatsachen. Verkehrsachsen werden nach und nach zurückgebaut. In Berlin etwa orientieren sich die Projekte am alten Strassengrundriss wie etwa beim Bahnhof Friedrichstrasse. Mario Campi und Franco Pessina aus Lugano und Miroslav Volf aus Saarbrücken haben dort der ehemals unwirtlichen Geschäftsstrasse mit dem Dussmann- und dem Boarding-Haus eine «Urbanität durch Dichte» verliehen. Gegenüber hat sich inzwischen das alte Metropol-Hotel nach einem Umbau von Nettbaum aus Berlin in den Strassenraum geschoben. Statt über vier Fahrbahnen verfügt das neue Nadelöhr nur noch über zwei Spuren. DDR- Pläne zur Verbreiterung der Friedrichstrasse auf 70 Meter verschwanden mit der Wende 1990 in den Schubladen.

Dass das Auto aus unseren Städten allerdings nicht ganz verbannt werden kann, scheinen inzwischen auch die Fahrrad- und Fussgängerfraktionen erkannt zu haben. Verkehrsverhalten ist längst zum kulturellen Phänomen avanciert und darf daher nicht zu einer Vorverurteilung bei der Wahl des einen oder anderen Gefährts führen. Möglicherweise wird sich die Stadt der Zukunft am Modell des Potsdamer Platzes in Berlin orientieren müssen, wo oberirdisch eine fussgängerfreundliche Struktur nach dem Modell der europäischen Stadt entstanden ist. Erst der Blick in die Untergeschosse offenbart das wahre Ausmass des Individualverkehrs: 2500 Stellplätze sorgen für eine perfekte Logistik – eine eigene Stadt unter der eigentlichen Stadt. Den Traum vom «simultanen Raum-Zeit-Gefühl» haben die Automobilisten offensichtlich noch nicht ganz ausgeträumt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.04.09

04. Dezember 1998Philipp Meuser
Neue Zürcher Zeitung

Exklusiver Spreeblick in Berlin

Die Wiederentdeckung des Wassers als stadtentwicklungspolitisches Element führte in vielen europäischen Städten zu einer Transformation obsoleter Hafenanlagen...

Die Wiederentdeckung des Wassers als stadtentwicklungspolitisches Element führte in vielen europäischen Städten zu einer Transformation obsoleter Hafenanlagen...

Die Wiederentdeckung des Wassers als stadtentwicklungspolitisches Element führte in vielen europäischen Städten zu einer Transformation obsoleter Hafenanlagen und vernachlässigter Uferzonen. Ohne Zweifel liegen die Gründe für dieses neue Interesse auch in der zurückgegangenen Verschmutzung und der dadurch gesteigerten Wasserqualität. Auch in Berlin ist der Aufbruch zu neuen Ufern spürbar. Ein landeseigener Entwicklungsträger, die Wasserstadt GmbH, verwandelt gegenwärtig zwei ehemalige Industriebrachen in wertvolles Wohnland. Vorab in der Rummelsburger Bucht – knapp fünf Minuten vom Alexanderplatz entfernt – haben namhafte Architekten sehenswerte Bauten errichtet. Das Motto: Die Stadt entdeckt ihre Adressen am Wasser wieder.


Olympische Idee

Rund um den Rummelsburger See sind in den vergangenen vier Jahren die ersten 1000 von insgesamt 5900 zunächst als olympisches Dorf geplanten Wohneinheiten realisiert worden. Bei näherer Betrachtung der hochverdichteten Quartiere bleibt die Stadtflucht von Tausenden von Jungfamilien in die Peripherie unverständlich: Vier S-Bahn-Stationen vom historischen Zentrum entfernt sind grüne Idyllen am Wasser entstanden. Fast schon Ferienstimmung herrscht auf dem Stralauer Speicherplatz, an dem sich die Konversion des brachliegenden Umfeldes überzeugend darstellen lässt. Am nördlichen Ufer der Halbinsel, die dem Stadtleben jahrzehntelang durch Industrie- und Gewerbezonen entzogen war, hat der niederländische Architekt Herman Hertzberger zusammen mit seiner Berliner Kontaktarchitektin Inken Baller einen weissen Wohnriegel errichtet, der sich viertelkreisförmig um einen alten Palmölspeicher legt. Aus allen 45 Eigentumswohnungen bleibt der fast auf Seeniveau gesenkte Platz und das neben dem Ziegelgebäude spannungsvoll inszenierte Wasser sichtbar. Zudem verbindet Hertzberger städtisches Wohnen (die Erdgeschosszone wird gewerblich genutzt) mit einem Lebensgefühl, das andernorts nur nach langen Verkehrsstrapazen erlebt werden kann: einladende Sitztreppen, eigene Bootsanleger sowie eine ans IJsselmeer erinnernde Hafenatmosphäre.

Auch wenn Hertzbergers Idee, die gesamte Halbinsel mit Grachten zu durchkämmen und damit ein Klein-Amsterdam nach Stralau zu exportieren, von der Bauherrin aus Kostengründen nicht mitgetragen wurde, hat das Wasser dennoch Einzug in das Stadtbild gehalten. Der Niederländer hat es verstanden, das Quartier mit einer linearen Zeilenstruktur zu überziehen, die eine Art Korridor zwischen Rummelsburger See und Stralauer Spree herstellten. Das Filetstück am Speicher hat Hertzberger, der Mitgewinner des städtebaulichen Wettbewerbs von 1992, mit einem Riegel mit Mietwohnungen und der schwungvollen Kurve mit Eigentumswohnungen selbst bebaut. Der abgetreppte Sockel, unter dem sich die Tiefgarage mit nur 23 Stellplätzen befindet, trägt eine verziegelte Ladenzone und drei weiss verputzte Etagen. Zunächst mag dort verwundern, dass Hertzberger innenliegende Bäder ausführte. Dies kommt jedoch der freien Grundrissgestaltung der restlichen Wohnfläche zugute, in die eine offene Küche integriert ist und die in den grossen, amorphen Balkonen eine äusserst benutzerfreundliche Erweiterung erfährt. Ohne weiteres lässt sich dort ein runder Esstisch für acht Personen unterbringen. Hertzbergers Architektur soll Identität schaffen und den Nutzer zur Partizipation anregen.

Die Handschrift des heute 66jährigen, für seine Schul-, Kultur- und Wohnbauten international bekannten Amsterdamer Architekten liest sich auch in der zweigeschossigen, schirmartigen Dachzone, die zum See hin in Maisonettes übergeht. Dort ist Hertzberger allerdings ein mehr als nur kosmetischer Fehler unterlaufen: Denn die Eckwohnung – zudem mit 136 Quadratmetern die grösste im Block – verfügt nur über winzige Fenster. Der attraktivste Seeblick wird dem zukünftigen Bewohner versperrt bleiben, weil die strenge und ästhetische Fassadengraphik offenbar keine zusätzliche Öffnung gegen Osten hin zuliess.


Filter der Öffentlichkeit

Dennoch hat Herzberger mit der Bebauung «Am Speicher 1 bis 10» einen Entwurf realisiert, der sich von den Banalitäten des Berliner Nachwendebooms zwischen Karow im Nordosten und Rudow im Süden absetzt. Sein geschickter Umgang mit öffentlichen und privaten Räumen mag dafür ausschlaggebend gewesen sein. Denn bereits bei Austritt aus den eigenen vier Wänden befinden sich die Bewohner in einem öffentlichen Raum, der durch die transparenten Treppenhäuser und Aufzüge geschaffen wird. Dieser Filter der Öffentlichkeit wiederholt sich auch in der Torsituation, die der Besucher durchschreiten muss. Dort türmt der Mitbegründer des Strukturalismus, der bereits in seinen jüngsten holländischen Kulturbauten, etwa dem Theater von Den Haag oder der Musikbibliothek von Breda, zu freieren Formen gefunden hat, die Volumen aufeinander und fängt sie mit V-förmigen Stützen wieder ab. Die schrägen, konstruktiv wenig nachvollziehbaren Betonsäulen machen nur Sinn, wenn man sie als gestalterische Wiederholung der Dachkonstruktion deutet.

Mit der einfachen Formel «vorne Friedrichstrasse, hinten Ostsee» hatte Kurt Tucholsky seinerzeit die Lebensbedürfnisse der Berliner beschrieben. Doch das Privileg des grossstädtischen Wohnens mit Schiffsanleger vor der Haustür verbuchten nur wenige Bürger für sich. Von einem allgemeinen Wohnen am Wasser konnte keine Rede sein, zumal die Ufer der rohstoffabhängigen Industrie und ihren Lagerhallen vorbehalten waren. Darüber hinaus galt eine Wohnung in Hafennähe nicht als eine der Adressen, die in Goldprägung auf der Visitenkarte erschienen. Dies dürfte sich bei heutigen Quadratmeterpreisen allerdings ändern. Die Lofts, die 1999 im alten Speicher nach den Plänen des jungen Berliner Büros Becker, Gewers, Kühn & Kühn entstehen werden, sollen für knapp 5500 Franken pro Quadratmeter angeboten werden – eine für Berliner Verhältnisse hohe Summe.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1998.12.04



verknüpfte Bauwerke
Wohnbau am Rummelsburger See

Profil

Studium der Architektur in Berlin und Zürich mit Schwerpunkt Geschichte und Theorie. Promotion an der TU Berlin zur Typologie des sowjetischen Wohnungsbaus. 2017 Bundesverdienstkreuz am Bande für den baukulturellen Austausch mit Osteuropa. 2005 Gründung des Verlags DOM publishers.

Lehrtätigkeit

Seit 2018 Ehrenprofessur an der O.M. Beketow-Universität in Charkiw/Ukraine. 2022 Gastprofessur für Public Humanities and Cultural Heritage an der Brown University in Providence/Rhode Island.

Publikationen

Meuser Architekten 1995-2010, , DOM publishers

7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1