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16. September 2010Wolfgang Pauser
zuschnitt

Essay - Ein alltägliches Material im Schein neuer Werte

Viele Dinge des Alltags sind aus Holz. Bei vielen von ihnen ist uns das Holz so alltäglich, dass es nicht weiter auffällt. Utensilien nannte man einst...

Viele Dinge des Alltags sind aus Holz. Bei vielen von ihnen ist uns das Holz so alltäglich, dass es nicht weiter auffällt. Utensilien nannte man einst...

Viele Dinge des Alltags sind aus Holz. Bei vielen von ihnen ist uns das Holz so alltäglich, dass es nicht weiter auffällt. Utensilien nannte man einst jene Gegenstände, bei denen der Gebrauch so stark im Vordergrund steht, dass wir den Unterschieden ihrer materiellen Beschaffenheit nicht allzu viel Aufmerksamkeit widmen. Zu Kleiderbügeln, Kochlöffeln und Bleistiften pflegt nur ein kleiner Teil der Menschen die intensivierte Beziehungsform des Gourmets oder Fetischisten. Woraus Zahnstocher, Eisstiele und Streichhölzer bestehen, ist schließlich allen egal. Doch es gibt sie: Stammkunden des Manufactum-Katalogs, Alphamänner, die auf hölzerne Schuhstrecker schwören, Kräuterfrauen, die fürchten, aus dem Kunststoffschneidbrett könnten böse Moleküle vergiftend ins Biogemüse eindringen. Vom Marketing nach Kräften angespornt, mehrt sich die Minderheit der Obsessiven langsam, aber stetig. In ihren wohlinformierten Augen wandelt sich Alltägliches zu Besonderem.

Gegenüber den praktisch Orientierten finden sich – am anderen Ende des Spektrums – die Holzbegeisterten. Nicht nur das Material ist ihnen nicht egal, auch auf feinste Nuancen der Oberflächen und Farbtönungen, kombiniert mit spezieller Formgebung des Gegenstands, legen sie großen Wert. Seit die Gesellschaft in immer mehr Kulturen zerfällt, die nebeneinander und auch gemischt koexistieren, hat auch das Holz seine möglichen Bedeutungen vervielfacht. Neue Moden, Trends, Ideologien und Marketingoffensiven vermehren kontinuierlich die Mythen und Zuschreibungen, mit denen hölzerne Dinge aufgeladen werden. Damit wird Holz zum Spiegel, in dem sich die jeweils aktuelle Gliederung der Gesellschaft in subkulturelle Milieus, Werte- und Glaubensgemeinschaften abbildet. Holz wird zum Medium und zur Sprache, die uns verschiedene Geschichten erzählt und erzählen lässt.

Zeige mir deinen Holz-Mix, und ich sage dir, wer du bist. Zwischen rustikalem Braun und Biedermeierfurnier tun sich kulturelle Abgründe auf. Fischgrät- oder Stabparkett, das ist die Frage, an der Liebe und Hass gegenüber der architektonischen Moderne sich scheiden. Eine hohe Zahl an Astlöchern in hellem Holz bemisst den Grad jener Bio-Gesinnung, die in den 1980er Jahren Verbreitung fand. Ebenfalls unlackiert, jedoch ohne Astlöcher und in graubraun stumpfen Tönungen kommen jene Produkte daher, die dem Wellnesskult seine hölzernen Formen der Anschaulichkeit geben.

Holz ist zum Wellnessbaustoff schlechthin geworden. Im Bezugssystem der Wellnessbewegung symbolisiert es »Natürlichkeit« und »Gesundheit«. Dank dieser doppelten Zuschreibung fungiert Holz als tragende Säule der Ideologie, da es die vermeintliche Einheit der beiden Begriffe verkörpert.

Für Wellnessjünger gilt nämlich Gesundheit als natürlich und die Natur als gesund. Die Hohepriester gehen so weit, im Holz an und für sich ein Heilmittel des Leibes, des Geistes und der Seele zu sehen.

Auch wenn Krankheit ein Naturphänomen ist, dessen Heilung teils durch die Regenerationsfähigkeit des Organismus, teils durch menschliche Eingriffe erfolgt, stört doch das Realitätswidrige der Gleichsetzung von Natur und Gesundheit die Wellnessgläubigen kaum. Schließlich ist es das Wesen jeder Heilslehre und Religion, Wunschvorstellungen den Vorrang gegenüber der Wirklichkeit einzuräumen. Und weil der Glaube Berge versetzt, wirkt schließlich auch der Holzglaube heilsam. Ist denn nicht alles wirklich, was wirkt?

Über jeden Zweifel erhaben ist die heilbringende Wirksamkeit des Wellnessfaktors auf die Holzmärkte. Das von der Lebensmittelindustrie für die Verbreitung der Naturgesundheitsesoterik eingesetzte Kapital kann nun mit wenig zusätzlichem Aufwand vom Holzmarketing lukriert werden. Der Imagetransfer gelingt umso besser, je genauer man versteht, wie der Wellnessgedanke funktioniert.

Einige wesentliche Unterschiede zum Naturbezug der Ökobewegung zeichnen die Wellnesswelt aus: In den 1980er Jahren wollte man auf Konsum und Ästhetik verzichten, um die Natur zu retten – die Ökos waren Altruisten. Die Wellnessbewegten sind Egoisten, ihr eigenes Wohlbefinden soll umfassend und mittels Konsum teurerer Waren und Dienstleistungen gesteigert werden. Nicht Rohes und Ungeformtes, sondern höchste Ästhetisierung heben sie deutlich von allen Müslis und Schafzuchtträumern ab. Was man früher eine »Schönheitsfarm« nannte, wurde durch milde Beimischungen »fernöstlicher« Esoterik zum Wellnesstempel weiterentwickelt. Hier unterzieht man sich Ritualen der Salbung, Reinigung und besänftigenden Hautberührung, um jene Spannungen abzubauen, die aus der alltäglichen Unvereinbarkeit von Zielen wie Fitness, Geld, Fairtrade, Erfolg, Umweltschonung, Schönheit, Askese, Genuss, Luxuskonsum, gutem Gewissen, Arbeitsleistung, Design und Kinderbetreuung resultieren. Die viel beschworene Ganzheitlichkeit liegt in dem Versprechen, die Überforderung durch die Zerrissenheiten des urbanen Lebens abwaschen, abspannen und harmonisieren zu können, zwei Stunden oder auch mal ein Wochenende lang. Vor allem aber ist Wellness eines: ein Lifestyle, eine Designanforderung der »Healthstyle«-Zielgruppe an den Markenauftritt der Produzenten. Wer da mitgeht, hat Wellness in der Kasse. Als diffuser (Mehr-)Wert in Form eines präzisen Designstils sickert der Wellnessfaktor in den Alltag ein. Immer mehr hölzerne Gebrauchsdinge lädt er auf mit magischer Bedeutung. Mit Wellnessdesign erglänzt das Holz im Schein der neuen Werte.

zuschnitt, Do., 2010.09.16



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29. September 2009Wolfgang Pauser
ARCH+

Wir sind dem Holz egal

„Den Wald“, so schrieb der Philosoph Günter Anders, „kümmert unser Philosophiern nicht. Wenn er von uns erführe, würde er uns verlachen.“ So traurig das sein mag, dem Holz sind wir Menschen egal. Doch wie verhält es sich umgekehrt? Als Holzenthusiasten träumen wir gerne von einer holzbegeisterten Menschheit, aber ich behaupte: Nicht nur wir sind dem Holz egal, auch das Holz ist uns ganz egal. Diese These mag aufs Erste verwundern. Doch die Egalität des Holzes ist die Bedingung dafür, dass wir Menschen ein besonderes Interesse an Holz entwickeln können.

„Den Wald“, so schrieb der Philosoph Günter Anders, „kümmert unser Philosophiern nicht. Wenn er von uns erführe, würde er uns verlachen.“ So traurig das sein mag, dem Holz sind wir Menschen egal. Doch wie verhält es sich umgekehrt? Als Holzenthusiasten träumen wir gerne von einer holzbegeisterten Menschheit, aber ich behaupte: Nicht nur wir sind dem Holz egal, auch das Holz ist uns ganz egal. Diese These mag aufs Erste verwundern. Doch die Egalität des Holzes ist die Bedingung dafür, dass wir Menschen ein besonderes Interesse an Holz entwickeln können.

Holz kann man für alles gebrauchen, daher bedeutet Holz selbst gar nichts. Zwei Einwände könnten sich nun erheben. Der erste lautet: Das ist selbstverständlich. Es gibt nichts, was seine Bedeutung in sich hätte, alle Dinge erhalten ihre Bedeutungen erst im Rahmen ihrer kulturellen Kontexte. Ja, das ist so, dennoch halte ich es für notwendig, es noch einmal zu betonen. Und zwar deshalb, weil Einwand Nummer zwei die Beliebigkeit der Holzbedeutung bestreitet.

Er lautet: Die moderne Welt ist voller Beliebigkeiten, das Holz hingegen ist die Ausnahme in dieser denaturierten und entfremdeten Welt. Jedes Kind weiß heute, dass Holz das Echte ist. Holz ist daher ein gleichsam natürliches Bollwerk gegen die Verfremdungen der technischen Moderne. Wer sich mit Holz umgibt, der ist nahe am Echten, nahe am Ursprünglichen, der ist gleichsam beheimatet in der warmen Hütte des Seins. Das Besondere an diesem Mythos ist, dass er heute in allen Köpfen wohnt. Und wenn man einmal eine Chiffre des Echten und Urwüchsigen in Händen zu halten glaubt, will man sich davon gar nicht gerne wieder trennen.

Aber betrachten wir als Beispiel das Auto: Für den Karosseriebau spielte Holz nur bei einigen wenigen Autos der ehemaligen Ostblockstaaten eine Rolle und gilt da als Zeichen der Ärmlichkeit, während es im Wageninneren zur Markierung der oberen Preisklasse verwendet wird. Diese bis heute bestehende Tradition fügt beim ansonsten um Modernität bemühten Auto ein kontrastreich traditionelles Element ein. Die Tradition nahm ihren Ausgang in den Anfangstagen der Automobilgeschichte, als Kutschenbauer beauftragt wurden, zu einem Motor einen individuellen Raum zu gestalten. Die Idee der Handarbeit hat sich bei Rolls Royce am längsten gehalten, wurde von Jaguar industrialisiert und strahlt auf andere Marken aus. So sehr wurde Holz im Cockpit zu einer allgemeinen und abstrakten Chiffre für Luxus, dass eine bedeutende Fälschungsindustrie entstehen konnte, und so definieren sich soziale Unterschiede heute in einer feinen Abstufung zwischen dem echten Holz, den billigeren und den ganz billigen Imitaten. Neben dem Holz und dem Holzfurnier entstand das Holzdekor: der so genannte Edelholzlook, Kunststoffholz und gemaserte Klebefolie. Die unterste Stufe der Selbsterhöhung ist das Holz-Effekt-Set, bestehend aus Lacken und Pinseln zum Betupfen des Armaturenbretts mit brauner Farbe.

Die mannigfaltigen Produkte, die Holz ins Auto bringen, verschieben die Anmutung des gesamten Designs von der sportlichen hin zur wohnlichen Atmosphäre. Vielleicht entspringt diese Verschiebung der Zunahme von Staus: Wenn man mehr steht als fährt, muss auch die Innenraumgestaltung wohnlicher werden. Der Architekturtheoretiker Dietmar Steiner nannte das Auto einmal ein „Zimmer mit Motor, die eigentliche Form der Eigentumswohnung, ein offenes luftiges Zimmer, das stehend die Stadträume füllt“. Als die Autos noch den Kutschen näher waren, war der Innenraum intimer gestaltet, heute lässt man sich ins Auto gern hereinschauen. Wie sehr das Cockpit als Zuhause empfunden wird, erkennt man daran, dass Nasenbohren an der Kreuzung den wenigsten peinlich ist. Um solche Intimität vor aller Augen herzustellen, sind große Mengen Holz vonnöten.

Im Bereich der Lenkräder hat der Einsatz von Holz eher eine sportliche Note, bezogen aus der Welt der Rennsportnostalgie. Die Gefahr des Splitterns bei einem Unfall wird gern in Kauf genommen, damit man das Leistungsprinzip des Sports aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückverschiebt. Vergangene Sportlichkeit ist weniger anstrengend als die Leistungsimperative von heute. Das nostalgische Holzlenkrad signalisiert daher den paradoxen Wunsch nach langsamen Rennfahrten und einer gemächlichen Sorte von Sportlichkeit.

Daneben gibt es freilich auch Wünsche nach dem Abenteuerlichen, und auch für diesen Wunsch braucht man Holz als Medium. So hat etwa das Product-Placement eines neuen Mercedes-Geländewagens im Dinosaurier-Film das Auto mit der Idee des Urwalds aufgeladen. Vergleichsweise billig dagegen ist es, wenn ein Geländewagenfahrer, der keine Zeit hat, mit seinem Auto in den Wald zu fahren, sich mit der Camouflage-Matte jene Spuren, die Stollenreifen im Waldboden hinterlassen würden, unter die Füße legt. Das ist ganz sicher auch der sauberste Weg, Auto und Wald miteinander in eine imaginäre Berührung treten zu lassen.

Am Beispiel des Autos sieht man also, dass Holz in vielen verschiedenen Weisen von Medialität darin vorkommt. Der Wunderbaum besteht aus zu Pappe verarbeitetem Holz und verweist auch als Zeichen auf den Wald und dessen natürlichen Duft. Der Auto-Weihnachtsbaum ist nicht aus Holz, er will uns auch nichts über die Themen Wald und Holz erzählen. Die Dekorationsplättchen fürs Cockpit sind manchmal aus Holz, manchmal nicht, das ist an sich egal, denn auch das echte Holz ist hier nur Medium für zwei Aussagen: Wohnlichkeit und Prestige. Mit echtem Holz gelingt dies besser, mit aufgemaltem Holz gerät man in Gefahr, dass der Schwindel auffliegt, mit einer täuschend echten Imitation wird man wohl am besten fahren. Holz meint mitunter sich selbst, oftmals meint es etwas anderes, und manchmal wird es von etwas anderem gemeint. Für die Holzindustrie schließe ich daraus, dass sie dann eine Zukunft hat, wenn sie sich von der Festlegung des Holzes auf ein Medium der Rückwärtsgewandtheit lösen kann. Dem Holz selbst stehen alle Möglichkeiten offen, weil es egalitär offen ist für jeden beliebigen mythologischen Sinn.

ARCH+, Di., 2009.09.29



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15. Dezember 2007Wolfgang Pauser
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Weiße Blätter vom Baum der Erkenntnis

Sie haben vor einer halben Sekunde begonnen, einen Text zu lesen, der in schwarzen Lettern auf weißem Papier gedruckt vor Ihren Augen liegt und sich anschickt,...

Sie haben vor einer halben Sekunde begonnen, einen Text zu lesen, der in schwarzen Lettern auf weißem Papier gedruckt vor Ihren Augen liegt und sich anschickt,...

Sie haben vor einer halben Sekunde begonnen, einen Text zu lesen, der in schwarzen Lettern auf weißem Papier gedruckt vor Ihren Augen liegt und sich anschickt, das gewohnte Verhältnis von Text und Papier auf den Kopf zu stellen. Denn Papier ist dafür gemacht, den Text zu tragen, ihn erscheinen zu lassen, hervortreten zu lassen und den Augen ebenso wie dem Verständnis zu präsentieren. Dieser Text aber will das Papier hervorheben, seinen eigenen Träger zum Getragenen machen, den Präsentator ins Präsentierte verwandeln.

Sie sind eingeladen, sich in die engste mögliche Reflexionsschleife einzuklinken, in das Bedenken des Papiers von seiner Beschriftung her. Das Weiße soll zwischen den Buchstaben hervorleuchten als das vom Text Transportierte. Von seinem Medium erzählt diese Botschaft.

Das ist eine Art Sklavenaufstand, wenn auch ein harmloser. Die Erhebung des dienenden Materials zum herrschenden Sinn ereignet sich nur in diesem Textpapier und nur zwischen Druckerschwärze und weißem Untergrund. Jeder ist für fünfzehn Minuten berühmt, sagte Warhol. Lassen wir heute dem Papier den Hervortritt. Damit auf dieser Welt wenigstens einmal das Lichte das Dunkle besiegt. Lese ich das Wort »Papier«, kommt mir als erstes das Bild eines weißen, rechteckigen, äußerst flachen Gegenstands vor Augen, dessen bevorzugte Bestimmung es ist, schwarze Buchstaben zu tragen, manchmal zusätzlich auch Bilder. Diese meine Vorstellung vom »klassischen« Fall eines Papiers hält jedoch einer Überprüfung an der Realität des Alltags nicht stand. Die erweiterten Möglichkeiten von Computergrafik und digitalen Drucktechniken haben zwischen Schwarz und Weiß allerlei Tönungen und Schattierungen etabliert, die oft ununterscheidbar machen, was an der Oberfläche des Papiers Untergrund und was Aufdruck ist.

Die Computerisierung lässt somit nicht das Papier als Material verschwinden, im Gegenteil. Nur seine Oberfläche ist immer seltener die hintergründige Kontrastfolie der bedruckten Zonen. Zusätzlich zu den Schriftzeichen und Bildern legen sich »Layer« der Layout-Grafik flächendeckend über das Blatt. Diese drei blattfüllenden Instanzen bringen all jene wahrnehmbaren Differenzen, in denen die Bedeutung verankert ist, untereinander hervor, ohne länger das reine Papier dafür als kontrastierenden Hintergrund und Leerraum in Verwendung zu nehmen. Die Menge des Papiers wächst, seine materiale Sichtbarkeit an der Oberfläche jedoch schwindet. Die vom Bleisatz geprägte Ästhetik des Schwarz-Weiß ist nur noch ein formales Zitat aus der Ära der »Gutenberg-Galaxis«. Noch lebt sie fort in jenen Laserdruckern unserer Büros, die nur schwarzweiß drucken können.

Ist das rechteckige weiße Blatt Papier eine vom Aussterben bedrohte Spezies? Auch wenn es technisch bald schon von »e-ink« überholt sein mag, könnte es sich dennoch als eine prinzipiell unüberbietbare Erfindung mit Ewigkeitswert herausstellen. Wenn nicht aus praktischen, so aus metaphorischen Gründen. Das Wort »Begreifen« erinnert uns daran, dass das Gehirn nicht isoliert arbeitet, sondern seine Leistungen gemeinsam mit Organen, Werkzeugen und den Erinnerungsspuren der Außenwelt erbringt. Beschriebenes Papier ist die stabilisierte und zugleich minimierte Form, Gedanken in Dingform bringen, in die Hand nehmen, ablegen und jemandem geben zu können. Worin Papier jedes elektronische Medium unersetzbar überbietet, ist seine Kompetenz für die meta- phorische Geste der Veräußerlichung, des Vor-sich-Bringens, der Objektwerdung und Verkörperung des »Geistes«. Denn egal, wie dünn, weich, groß, leicht und hochauflösend das elektronische Papier werden wird, die darauf erscheinenden Zeichen bleiben in jenem Status des Möglichen, der sie dem bloß Gedachten sinnbildlich ähneln lässt. So ist es auch nicht bloß der ehemaligen Technik des Bleisatzes und ihren Traditionen zu verdanken, dass wir noch immer schwarze Buchstaben auf weißes Papier schreiben, obwohl dem Auge mildere Kontraste angenehmer sind. Es ist vielmehr die Abstraktion, das Auseinanderziehen, scharfe Trennen und Polarisieren, das der Versprachlichung der Welt, ja ihrer klaren geistigen Erfassung, formal entgegenzukommen scheint. Schwarz-Weiß ist Sinnbild jener Bilderlosigkeit, in der sich der Gedanke als rein sprachlicher vor sich bringen und zum Gegenstand machen möchte. Das weiße, rechteckige Blatt Papier kommt diesem Begehren bestens entgegen. Hat es doch in sich alle Spuren seiner Entstehung abgestreift, um spurlos rein sich ganz dem Gedächtnis neuer Spuren und Zeichen anzudienen. Es gibt kein zweites Holzprodukt, das so versessen wäre aufs Vergessen seiner Herkunft, dem es mehr um die Verabsolutierung des Künstlichen geht.

Die Summe aller Farben ist Weiß, doch diese Summierung endet in der Negation von Farbe überhaupt. Nur aus reinem Licht und dessen regelhafter Unterbrechung durch sein Gegenteil, das lichtschluckende Schwarz, soll eine Textseite bestehen, damit der Geist sich darin spiegeln kann. Den Kult, Buchstaben schwarz auf weißes Papier zu drucken, verstehen wir besser, seit Malewitsch sein Schwarzes Quadrat gemalt hat. Das Abstraktionsvermögen des Menschen wird in geometrischer Form und durch Ausblenden alles Sinnlichen, aller Farben und alles Abbildenden zur Ikone. Ein weißes Blatt Papier ist gleichsam die Umkehr- oder auch Negativform des Schwarzen Quadrats. Der Möglichkeitsraum einer »reinen« Repräsentation der Welt, die nur aus Licht und dessen strukturierter Unterbrechung besteht. Papier ist ein Gegenstand, der sich in seiner geometrisierten Helle als ein Nichts gebärdet, um den Anschein zu erwecken, die Zeichenketten der Sätze schwebten im leeren Raum.

Es ist programmatisch dünn, fast »immateriell«, um zwischen Gedanken und Realem Brücke und Übergangsobjekt zu sein.

Ein Medium ist es als diese Mitte, die am Möglichen gleich viel Anteil hat wie am Wirklichen.

zuschnitt, Sa., 2007.12.15



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24. Juli 2005Wolfgang Pauser
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Essay Hellhörigkeit

Meine beste Tat vollbrachte ich im Dunklen. Auch wenn es keine gute Tat im Sinne des Christentums war, das ja den guten Willen zum Guten für eine solche...

Meine beste Tat vollbrachte ich im Dunklen. Auch wenn es keine gute Tat im Sinne des Christentums war, das ja den guten Willen zum Guten für eine solche...

Meine beste Tat vollbrachte ich im Dunklen. Auch wenn es keine gute Tat im Sinne des Christentums war, das ja den guten Willen zum Guten für eine solche verlangt, war die beste Tat, die ich in meinem Leben vollbrachte, ganz auf sündiges Tun gegründet und auf Eigennutz zielend. Erst ihre Wirkung erwies sie, wie ich später merkte, als dem Heil meiner Nächsten dienlich: Ich habe die Ehe meiner Nachbarn gerettet!

Diesen durchaus christlichen Effekt konnten meine nächtlichen Schandtaten freilich nicht allein bewerkstelligen. Nicht einmal im Verein mit meiner leidenschaftlich lauten Geliebten hätte ich dies Wunder der Nachbarschaftshilfe vollbringen können, wäre da nicht die hellhörigste aller Wände so dazwischen gestanden, dass eine unsichtbare Verbindung entstand, die den Funken übertrug und das „Eheleben“ drüben erneut entflammte. Und erst im Rückblick, als es diesseits der Wand leise und jenseits laut wurde, ging mir auf, was bisher nie von drüben hörbar gewesen war und wie es um die Beziehung der mir nächst wohnenden Menschen gestanden hatte. Etwas hatte gefehlt. Alles Unerhörte war verstummt gewesen. Doch nun, da es gefunkt hatte, brach eine neue Ära der Nachbarschaft an. Stumm wurden die Beschwerden über meine nächtlichen Ruhestörungen und aller Zwist im Hause ist eingeschlafen, seit harmonische Lautheit die Wände erzittern lässt.

Trennwände verbinden auf eine ganz besondere Art: Dem Licht sperren sie den Weg, Schall aber leiten sie (wenn auch verzerrt, gedämpft, gefiltert). Im Kopf des Menschen wirkt jede äußere Wand wie eine Mauer zwischen Aug und Ohr. Der Kopf will sich das nicht so recht gefallen lassen. Er reagiert auf die Entkoppelung seiner beiden wesentlichsten Sinnesorgane, aus deren Reizen er sich normalerweise die sogenannte „Welt“ zusammenkonstruiert, durch Ergänzung: er denkt sich sein Teil und phantasiert den fehlenden Rest hinzu.

Die beste Zeit der Hellhörigkeit ist die Dunkelheit. Nie sind einem die Ohren wacher, als wenn man den Schlaf sucht. Erfreulich und erotisch ist das nur selten, am ehesten noch im Hotel. In der Fremde ist man ohnehin neugierig auf Fremdes eingestellt. Langeweile hebt die Toleranz, während der vorübergehende Charakter der Störung den Ärger beschwichtigt. Vor allem im Urlaub vermögen auch noch die unschuldigsten Geräusche nebenan erfreuliche Bilder vor Augen zu zaubern.

Doch Urlaub ist selten. Viel häufiger machen einem nächtliche Geräusche „einen schlechten Film“. Kaum schließt man die Augen, fährt der Tonmeister den Regler hoch, die Projektion kann beginnen. Knauern, Knacken, ein Knistern im Gebälk, schon haben wir den schönsten Soundtrack für den inneren Horrorfilm. Pan, der unsichtbare Gott der Ohren, kennt weder Raum noch Richtung, sondern durchdringt und umfängt uns ganz und gar. Der Schrecken, den er verbreitet, ist vom lieblichen Laut seiner lockenden Flöte nicht zu trennen. In der griechischen Mythologie wird er laut in der Mittagshitze, wenn Hirt und Herde ruhen und es still wird, ganz still.

Gegen die von der Klangwelt provozierten Trugbilder wehrt man sich, indem man Licht macht, die Augen öffnet, selbst Lärm macht oder den Geräuschpegel der Umgebung anhebt. Die Einseitigkeit des Sehsinns rückt die Dinge an ihren rechten Ort, stellt die Welt wieder übersichtlich und gerahmt vor uns, bringt Licht in undurchsichtige Verhältnisse und vertreibt erfolgreich alle bösen Geister. Die Grenze zwischen Ich und Welt wird vom wachsamen Auge gesichert, während das ganzheitliche Ohr sie allzu gern verschwimmen lässt. Vor unsern Augen eröffnet sich ein kontrollierbarer Raum mit klar begrenzten Gegenständen, so wird es uns leicht, das zu vergessen, was wir im Rücken haben. Und im Rücken haben unsere Augen nicht nur das, wo wir gerade nicht hinsehen, sondern auch das eigene Gehirn. Dort wohnt jenes Gedächtnis, das jede Leere, Dunkelheit und Stille mit Ungewolltem füllt.

Das Ohr hingegen hört rundum, man muss es nicht von einem Gegenstand zum anderen bewegen. Man kann es nicht schließen wie das Auge. Weghören geht nicht, wehren kann man sich nur durch noch mehr Lärm, damit sich die Wahrnehmungsschwelle wieder hebt. Weil Klang aus allen Richtungen kommt und einen in sein Zentrum stellt, kann man in eine Hörwelt eintauchen, wie man nie ins Sehfeld eintauchen könnte. Störgeräusche sind so unangenehm, weil nicht nur das Ohr, sondern auch und vor allem die Ichgrenze der totalitären Grenzenlosigkeit des Klangs und dessen Durchdringungs-Potential ausgeliefert ist.

„Im Vergleich zu anderen Sinnesbereichen ist der Gehörsinn von Halluzinationen am häufigsten betroffen“ (Lexikon der Psychiatrie). Wo nicht das Haus, sondern der Mensch „hellhörig“ ist im pathologischen Sinne, wird heute das vermeintlich Vernommene nicht mehr Dämonen, sondern Antennen zugeschrieben. In seiner Studie über „Das Unheimliche“ hat Sigmund Freud dessen Entstehung aus dem Heimlichen des Heimeligen, aus dem Verdrängten des einst allzu Nahen hergeleitet.

Daran sollte man denken, wenn einem die Welt zu laut ist. Wenn bei den lieben Nachbarn wieder einmal Autorennen und Baby überbrüllt werden müssen, um den Streit weiterführen zu können. Es gibt etwas noch Schlimmeres als höllischen Lärm: die Totenstille. Ihr ist es vorbehalten, alle Dämonen der Hölle gleichzeitig zu uns ans Bett zu rufen. Dann wehe Dir!

zuschnitt, So., 2005.07.24



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16. Dezember 2002Wolfgang Pauser
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Wir sind dem Holz egal

»Den Wald«, so schrieb der Philosoph Günter Anders, »kümmert unser Philosophieren nicht. Wenn er von uns erführe, würde er uns verlachen.« So traurig das...

»Den Wald«, so schrieb der Philosoph Günter Anders, »kümmert unser Philosophieren nicht. Wenn er von uns erführe, würde er uns verlachen.« So traurig das...

»Den Wald«, so schrieb der Philosoph Günter Anders, »kümmert unser Philosophieren nicht. Wenn er von uns erführe, würde er uns verlachen.« So traurig das sein mag, dem Holz sind wir Menschen egal. Doch wie verhält es sich umgekehrt? Als Holzenthusiasten träumen wir gerne von einer holzbegeisterten Menschheit, aber ich behaupte: Nicht nur wir sind dem Holz egal, auch das Holz ist uns ganz egal. Diese These mag aufs Erste verwundern. Doch die Egalität des Holzes ist die Bedingung dafür, dass wir Menschen ein besonderes Interesse an Holz entwickeln können. Holz kann man für alles gebrauchen, daher bedeutet Holz selbst gar nichts. Zwei Einwände könnten sich nun erheben. Der erste lautet: Das ist selbstverständlich. Es gibt nichts, was seine Bedeutung in sich hätte, alle Dinge erhalten ihre Bedeutungen erst im Rahmen ihrer kulturellen Kontexte. Ja, das ist so, dennoch halte ich es für notwendig, es noch einmal zu betonen. Und zwar deshalb, weil Einwand Nummer zwei die Beliebigkeit der Holzbedeutung bestreitet. Er lautet: Die moderne Welt ist voller Beliebigkeiten, das Holz hingegen ist die Ausnahme in dieser denaturierten und entfremdeten Welt. Jedes Kind weiß heute, dass Holz das Echte ist. Holz ist daher ein gleichsam natürliches Bollwerk gegen die Verfremdungen der technischen Moderne. Wer sich mit Holz umgibt, der ist nahe am Echten, nahe am Ursprünglichen, der ist gleichsam beheimatet in der warmen Hütte des Seins. Das Besondere an diesem Mythos ist, dass er heute in allen Köpfen wohnt. Und wenn man einmal eine Chiffre des Echten und Urwüchsigen in Händen zu halten glaubt, will man sich davon gar nicht gerne wieder trennen.

Aber betrachten wir als Beispiel das Auto: Für den Karosseriebau spielte Holz nur bei einigen wenigen Autos der ehemaligen Ostblockstaaten eine Rolle und gilt da als Zeichen der Ärmlichkeit, während es im Wageninneren zur Markierung der oberen Preisklasse verwendet wird. Diese bis heute bestehende Tradition fügt beim ansonsten um Modernität bemühten Auto ein kontrastreich traditionelles Element ein. Die Tradition nahm ihren Ausgang in den Anfangstagen der Automobilgeschichte, als Kutschenbauer beauftragt wurden, zu einem Motor einen individuellen Raum zu gestalten. Die Idee der Handarbeit hat sich bei Rolls Royce am längsten gehalten, wurde von Jaguar industrialisiert und strahlt auf andere Marken aus. So sehr wurde Holz im Cockpit zu einer allgemeinen und abstrakten Chiffre für Luxus, dass eine bedeutende Fälschungsindustrie entstehen konnte, und so definieren sich soziale Unterschiede heute in einer feinen Abstufung zwischen dem echten Holz, den billigeren und den ganz billigen Imitaten. Neben dem Holz und dem Holzfurnier entstand das Holzdekor: der so genannte Edelholzlook, Kunststoffholz und gemaserte Klebefolie. Die unterste Stufe der Selbsterhöhung ist das Holz-Effekt-Set, bestehend aus Lacken und Pinseln zum Betupfen des Armaturenbretts mit brauner Farbe.

Die mannigfaltigen Produkte, die Holz ins Auto bringen, verschieben die Anmutung des gesamten Designs von der sportlichen hin zur wohnlichen Atmosphäre. Vielleicht entspringt diese Verschiebung der Zunahme von Staus: Wenn man mehr steht als fährt, muss auch die Innenraumgestaltung wohnlicher werden. Der Architekturtheoretiker Dietmar Steiner nannte das Auto einmal ein »Zimmer mit Motor, die eigentliche Form der Eigentumswohnung, ein offenes luftiges Zimmer, das stehend die Stadträume füllt«. Als die Autos noch den Kutschen näher waren, war der Innenraum intimer gestaltet, heute lässt man sich ins Auto gern hereinschauen. Wie sehr das Cockpit als Zuhause empfunden wird, erkennt man daran, dass Nasenbohren an der Kreuzung den wenigsten peinlich ist. Um solche Intimität vor aller Augen herzustellen, sind große Mengen Holz vonnöten.

Im Bereich der Lenkräder hat der Einsatz von Holz eher eine sportliche Note, bezogen aus der Welt der Rennsportnostalgie. Die Gefahr des Splitterns bei einem Unfall wird gern in Kauf genommen, damit man das Leistungsprinzip des Sports aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückverschiebt. Vergangene Sportlichkeit ist weniger anstrengend als die Leistungsimperative von heute. Das nostalgische Holzlenkrad signalisiert daher den paradoxen Wunsch nach langsamen Rennfahrten und einer gemächlichen Sorte von Sportlichkeit.

Daneben gibt es freilich auch Wünsche nach dem Abenteuerlichen, und auch für diesen Wunsch braucht man Holz als Medium. So hat etwa das Product-Placement eines neuen Mercedes-Geländewagens im Dinosaurier-Film das Auto mit der Idee des Urwalds aufgeladen. Vergleichsweise billig dagegen ist es, wenn ein Geländewagenfahrer, der keine Zeit hat, mit seinem Auto in den Wald zu fahren, sich mit der Camouflage-Matte jene Spuren, die Stollenreifen im Waldboden hinterlassen würden, unter die Füße legt. Das ist ganz sicher auch der sauberste Weg, Auto und Wald miteinander in eine imaginäre Berührung treten zu lassen.

Am Beispiel des Autos sieht man also, dass Holz in vielen verschiedenen Weisen von Medialität darin vorkommt. Der Wunderbaum besteht aus zu Pappe verarbeitetem Holz und verweist auch als Zeichen auf den Wald und dessen natürlichen Duft. Der Auto-Weihnachtsbaum ist nicht aus Holz, er will uns auch nichts über die Themen Wald und Holz erzählen. Die Dekorationsplättchen fürs Cockpit sind manchmal aus Holz, manchmal nicht, das ist an sich egal, denn auch das echte Holz ist hier nur Medium für zwei Aussagen: Wohnlichkeit und Prestige. Mit echtem Holz gelingt dies besser, mit aufgemaltem Holz gerät man in Gefahr, dass der Schwindel auffliegt, mit einer täuschend echten Imitation wird man wohl am besten fahren. Holz meint mitunter sich selbst, oftmals meint es etwas anderes, und manchmal wird es von etwas anderem gemeint. Für die Holzindustrie schließe ich daraus, dass sie dann eine Zukunft hat, wenn sie sich von der Festlegung des Holzes auf ein Medium der Rückwärtsgewandtheit lösen kann. Dem Holz selbst stehen alle Möglichkeiten offen, weil es egalitär offen ist für jeden beliebigen mythologischen Sinn.

zuschnitt, Mo., 2002.12.16



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Artikel 12

26. Oktober 2008Walter Zschokke
Spectrum

Stringenz und Eleganz

Man sieht den Kräfteverlauf, spürt den Lasten nach, staunt über die Eleganz der Unterseiten: die Brücken des Bauingenieurs Alfred Pauser.

Man sieht den Kräfteverlauf, spürt den Lasten nach, staunt über die Eleganz der Unterseiten: die Brücken des Bauingenieurs Alfred Pauser.

Was haben die Brücken am Knoten Nussdorf, die Gürtelbrücke, die U6-Brücke, der Siemens-Nixdorf-Steg, die Rossauerbrücke, die Salztorbrücke, der Erdberger Steg, die Erdberger Brücke, die Schrägseilbrücke, alle über den Donaukanal, gemeinsam? Sie sind Entwürfe des Bauingenieurs Alfred Pauser; der erste noch im Ingenieurbüro Dr. Wycital, die späteren in eigener Verantwortung. Es sind Brücken mit unterschiedlichen Tragwerken, alle in ihrer Art durchaus elegant und formschön. Zahlreiche weitere Brücken aus dem Büro Pauser befinden sich auf Wiener Stadtgebiet, weitere über ganz Österreich verteilt. Sie belegen die Kompetenz ihres Entwerfers und seiner Büropartner.

Es mag zwar mittlerweile nicht mehr allgemein verbreiteter Irrglaube sein, dass der Bauingenieur nur genau zu rechnen brauche und sich die Form des Bauwerks quasi automatisch ergebe. Nicht zuletzt Le Corbusier verbreitete in seinem „Vers une achitecture“ diesen Unsinn. Nein, der Bauingenieur entwirft auf der Basis seiner Kompetenz und seiner Erfahrung ein Brückentragwerk, ein Silo, einen Turm, die er dann exakt berechnet. Denn ins Leere lässt sich nicht rechnen. Das heißt nichts anderes, als dass die Arbeit des Bauingenieurs sehr wohl kreativ ist, auch wenn das Feld möglicher Lösungen nicht unbegrenzt ist. Allerdings ist die Ästhetik von Ingenieurbauwerken nicht nur eine optische, sondern die innere Struktur, das Tragkonzept spielen eine ebenso wichtige Rolle. Die ästhetischen Vorstellungen unterscheiden sich daher von jenen, wie sie in der Architektur verbreitet sind.

Glücklicherweise verfügte Alfred Pauser, abgesehen von seiner enormen Schaffenskraft, über gestalterische Fähigkeiten, die er dank seiner konstruktiven Kenntnisse und Erfahrungen optimal einsetzen konnte. Seine Brücken weisen plastische Qualitäten auf und sind von unten sowohl interessant anzuschauen als auch konstruktiv nachvollziehbar und ordentlich aufgeräumt. Einbauten und Leitungen werden nicht dem Zufall überlassen. Dies lässt sie besonders im urbanen Raum als Teile der Stadtlandschaft nicht bloß für die Benützer, sondern ebenso für Flaneure attraktiv werden.

Beginnen wir mit der Rossauer Brücke, 1981–83. Die ingenieurmäßige Beschreibung liest sich, trotz der engen Randbedingungen, wie wenn es so sein müsste. Aber auf diese Stringenz muss man als entwerfender Bauingenieur zuerst kommen. Ein Rahmenträger von Kai zu Kai besteht in den Randfeldern aus massiven Tischen, die je auf vierfach gespreizten Streben auflagern, die ihrerseits in ein kräftiges Punktlager münden. Das Mittelfeld aus vorgefertigten Spannbetonträgern ist biegesteif in den Rahmen integriert. Für Einbauten und Leitungen ist in der Mittelachse eine entsprechende Aussparung vorgesehen. Das Tragwerk ist logisch, gewiss ökonomisch, aber es weist für den technisch kaum gebildeten Betrachter ebenso optische Qualitäten auf. Man sieht den Kräfteverlauf, spürt den Lasten nach, staunt über die Eleganz der Streben und die Größe der Punktlager. Insbesondere die Unterseite zeugt von plastischer Kraft, welche die nächtliche Effektbeleuchtung durchaus rechtfertigt.

Die Brücken im Knoten Nussdorf, 1974–83, mussten auf sehr engem Raum unter den für Schnellstraßen strengeren Trassierungsrichtlinien geplant werden. Aus meiner Sicht weisen die weiten Räume unter der Hochstraße eine spezielle Qualität auf. Wenn man die Pfeiler und Brückenträger als Teil der Stadtlandschaft an dieser dichten Stelle der Peripherie zu sehen bereit ist, ergibt sich plötzlich eine neue, spannungsvolle Raumstimmung. Auch hier ist der eigentlichen Sichtseite, der Unterseite, einiges an Sorgfalt beigemessen. Man merkt, es handelt sich nicht nur um einen beliebigen Zweckbau, vielmehr war von Anfang an die Ahnung da, dass der Raum unter der Brücke den Menschen als Weg und sogar dem Aufenthalt dienen würde. Gewiss sind diese Räume offen und fließend, aber das zeichnet die Moderne aus. Und ihre Aneignung kann durchaus kultivierter erfolgen als durch Hinterlassung individueller Markierungen.

Ein Bauwerk, das wegen der zunehmenden Verkehrsdichte bereits ersetzt werden musste, ist die erste Praterhochstraße von 1970. Die eleganten X-Stützen und auch die Fahrbahnkonstruktion bestanden sämtlich aus vorgefertigten Betonelementen. In der Auenlandschaft fügte sich die Brücke mit ihrer Leichtigkeit gut ein und fiel dem sensiblen Auge immer wieder positiv auf.

Eine Besonderheit ist die Erdberger Brücke im Zuge der A 23, 1969–71. Diese in ihrer Form erstmalige Schalenkonstruktion bildet im Stadtgefüge einen Akzent, der den Rang des Verkehrswegs als Autobahn und der Brückenstelle interpretiert. Als Bauwerk schafft die Brücke einen unverwechselbaren Ort in der Stadt, der nicht vordringlich den Benutzern, sondern Spaziergängern und Radfahrern als Merkpunkt dient.

Ein Kabinettstück der Vorspanntechnik ist der Franz-von-Sales-Steg, 1967–68, an der Osttangente. Die äußerst elegante Konstruktion stützt sich auf einen Pfeiler, um den sich der Wendel des Gehwegs herumschwingt. Das andere, höhere Widerlager wird vom ausgreifenden, kontinuierlich in der Stärke abnehmenden Brückenarm kaum mehr belastet. Es ist klar, dass derart anspruchsvolle Konstruktionen bei einem Fußgängersteg eher möglich sind. Dennoch zeigt sich an diesem Beispiel sowohl der kreative Freiraum, den sich der begabte Bauingenieur aufzuspannen vermag, als auch die plastische Kraft, die dem Objekt innewohnt.

Alfred Pauser stammt aus dem niederösterreichischen Gmünd, wo er 1930 geboren wurde; übrigens zeitgleich mit der Gruppe der Holzmeister-Schüler Wilhelm Holzbauer, Friedrich Kurrent und Friedrich Achleitner und anderen, die später Einfluss auf die Wiener Architektur nahmen. Mit Wilhelm Holzbauer hat Alfred Pauser oft zusammengearbeitet. Er studierte ab 1948 an der Technischen Hochschule Wien, war schon bald als Werkstudent im Ingenieurbüro von Dr. Wycital tätig und wurde 1962 Partner. Früh hatte er die Chance, mit dem großen Bauingenieur Fritz Leonhardt zusammenzuarbeiten, der mit dem Bau der Schwedenbrücke befasst war. Dies öffnete ihm nicht nur den internationalen fachlichen Austausch, sondern führte zu einer lebenslangen Freundschaft. 1964 gründete er sein eigenes Ingenieurbüro, das er ab 1979 mit den langjährigen Mitarbeitern Karl Beschorner, Peter Biberschick und Hans Klenovec in Partnerschaft führte. 1982 wurde er als Ordinarius für Hochbau an die Technische Universität Wien berufen, wo er sich nicht zuletzt für eine Verbesserung der Beziehung von Architektur- und Bauingenieurstudenten einsetzte. 1997 emeritiert, zog er sich 2002 auch aus dem Büroverbund zurück. Zahlreiche allgemein verständliche Publikationen zum Brückenbau zeugen von seinem breiten Wissen. Die erstmalige Verleihung des Wiener Ingenieurpreises ist neben den zahlreichen Auszeichnungen für sein Werk ein gewichtiger Impuls für den Ingenieurberuf ganz allgemein.

Presseschau 12

16. September 2010Wolfgang Pauser
zuschnitt

Essay - Ein alltägliches Material im Schein neuer Werte

Viele Dinge des Alltags sind aus Holz. Bei vielen von ihnen ist uns das Holz so alltäglich, dass es nicht weiter auffällt. Utensilien nannte man einst...

Viele Dinge des Alltags sind aus Holz. Bei vielen von ihnen ist uns das Holz so alltäglich, dass es nicht weiter auffällt. Utensilien nannte man einst...

Viele Dinge des Alltags sind aus Holz. Bei vielen von ihnen ist uns das Holz so alltäglich, dass es nicht weiter auffällt. Utensilien nannte man einst jene Gegenstände, bei denen der Gebrauch so stark im Vordergrund steht, dass wir den Unterschieden ihrer materiellen Beschaffenheit nicht allzu viel Aufmerksamkeit widmen. Zu Kleiderbügeln, Kochlöffeln und Bleistiften pflegt nur ein kleiner Teil der Menschen die intensivierte Beziehungsform des Gourmets oder Fetischisten. Woraus Zahnstocher, Eisstiele und Streichhölzer bestehen, ist schließlich allen egal. Doch es gibt sie: Stammkunden des Manufactum-Katalogs, Alphamänner, die auf hölzerne Schuhstrecker schwören, Kräuterfrauen, die fürchten, aus dem Kunststoffschneidbrett könnten böse Moleküle vergiftend ins Biogemüse eindringen. Vom Marketing nach Kräften angespornt, mehrt sich die Minderheit der Obsessiven langsam, aber stetig. In ihren wohlinformierten Augen wandelt sich Alltägliches zu Besonderem.

Gegenüber den praktisch Orientierten finden sich – am anderen Ende des Spektrums – die Holzbegeisterten. Nicht nur das Material ist ihnen nicht egal, auch auf feinste Nuancen der Oberflächen und Farbtönungen, kombiniert mit spezieller Formgebung des Gegenstands, legen sie großen Wert. Seit die Gesellschaft in immer mehr Kulturen zerfällt, die nebeneinander und auch gemischt koexistieren, hat auch das Holz seine möglichen Bedeutungen vervielfacht. Neue Moden, Trends, Ideologien und Marketingoffensiven vermehren kontinuierlich die Mythen und Zuschreibungen, mit denen hölzerne Dinge aufgeladen werden. Damit wird Holz zum Spiegel, in dem sich die jeweils aktuelle Gliederung der Gesellschaft in subkulturelle Milieus, Werte- und Glaubensgemeinschaften abbildet. Holz wird zum Medium und zur Sprache, die uns verschiedene Geschichten erzählt und erzählen lässt.

Zeige mir deinen Holz-Mix, und ich sage dir, wer du bist. Zwischen rustikalem Braun und Biedermeierfurnier tun sich kulturelle Abgründe auf. Fischgrät- oder Stabparkett, das ist die Frage, an der Liebe und Hass gegenüber der architektonischen Moderne sich scheiden. Eine hohe Zahl an Astlöchern in hellem Holz bemisst den Grad jener Bio-Gesinnung, die in den 1980er Jahren Verbreitung fand. Ebenfalls unlackiert, jedoch ohne Astlöcher und in graubraun stumpfen Tönungen kommen jene Produkte daher, die dem Wellnesskult seine hölzernen Formen der Anschaulichkeit geben.

Holz ist zum Wellnessbaustoff schlechthin geworden. Im Bezugssystem der Wellnessbewegung symbolisiert es »Natürlichkeit« und »Gesundheit«. Dank dieser doppelten Zuschreibung fungiert Holz als tragende Säule der Ideologie, da es die vermeintliche Einheit der beiden Begriffe verkörpert.

Für Wellnessjünger gilt nämlich Gesundheit als natürlich und die Natur als gesund. Die Hohepriester gehen so weit, im Holz an und für sich ein Heilmittel des Leibes, des Geistes und der Seele zu sehen.

Auch wenn Krankheit ein Naturphänomen ist, dessen Heilung teils durch die Regenerationsfähigkeit des Organismus, teils durch menschliche Eingriffe erfolgt, stört doch das Realitätswidrige der Gleichsetzung von Natur und Gesundheit die Wellnessgläubigen kaum. Schließlich ist es das Wesen jeder Heilslehre und Religion, Wunschvorstellungen den Vorrang gegenüber der Wirklichkeit einzuräumen. Und weil der Glaube Berge versetzt, wirkt schließlich auch der Holzglaube heilsam. Ist denn nicht alles wirklich, was wirkt?

Über jeden Zweifel erhaben ist die heilbringende Wirksamkeit des Wellnessfaktors auf die Holzmärkte. Das von der Lebensmittelindustrie für die Verbreitung der Naturgesundheitsesoterik eingesetzte Kapital kann nun mit wenig zusätzlichem Aufwand vom Holzmarketing lukriert werden. Der Imagetransfer gelingt umso besser, je genauer man versteht, wie der Wellnessgedanke funktioniert.

Einige wesentliche Unterschiede zum Naturbezug der Ökobewegung zeichnen die Wellnesswelt aus: In den 1980er Jahren wollte man auf Konsum und Ästhetik verzichten, um die Natur zu retten – die Ökos waren Altruisten. Die Wellnessbewegten sind Egoisten, ihr eigenes Wohlbefinden soll umfassend und mittels Konsum teurerer Waren und Dienstleistungen gesteigert werden. Nicht Rohes und Ungeformtes, sondern höchste Ästhetisierung heben sie deutlich von allen Müslis und Schafzuchtträumern ab. Was man früher eine »Schönheitsfarm« nannte, wurde durch milde Beimischungen »fernöstlicher« Esoterik zum Wellnesstempel weiterentwickelt. Hier unterzieht man sich Ritualen der Salbung, Reinigung und besänftigenden Hautberührung, um jene Spannungen abzubauen, die aus der alltäglichen Unvereinbarkeit von Zielen wie Fitness, Geld, Fairtrade, Erfolg, Umweltschonung, Schönheit, Askese, Genuss, Luxuskonsum, gutem Gewissen, Arbeitsleistung, Design und Kinderbetreuung resultieren. Die viel beschworene Ganzheitlichkeit liegt in dem Versprechen, die Überforderung durch die Zerrissenheiten des urbanen Lebens abwaschen, abspannen und harmonisieren zu können, zwei Stunden oder auch mal ein Wochenende lang. Vor allem aber ist Wellness eines: ein Lifestyle, eine Designanforderung der »Healthstyle«-Zielgruppe an den Markenauftritt der Produzenten. Wer da mitgeht, hat Wellness in der Kasse. Als diffuser (Mehr-)Wert in Form eines präzisen Designstils sickert der Wellnessfaktor in den Alltag ein. Immer mehr hölzerne Gebrauchsdinge lädt er auf mit magischer Bedeutung. Mit Wellnessdesign erglänzt das Holz im Schein der neuen Werte.

zuschnitt, Do., 2010.09.16



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29. September 2009Wolfgang Pauser
ARCH+

Wir sind dem Holz egal

„Den Wald“, so schrieb der Philosoph Günter Anders, „kümmert unser Philosophiern nicht. Wenn er von uns erführe, würde er uns verlachen.“ So traurig das sein mag, dem Holz sind wir Menschen egal. Doch wie verhält es sich umgekehrt? Als Holzenthusiasten träumen wir gerne von einer holzbegeisterten Menschheit, aber ich behaupte: Nicht nur wir sind dem Holz egal, auch das Holz ist uns ganz egal. Diese These mag aufs Erste verwundern. Doch die Egalität des Holzes ist die Bedingung dafür, dass wir Menschen ein besonderes Interesse an Holz entwickeln können.

„Den Wald“, so schrieb der Philosoph Günter Anders, „kümmert unser Philosophiern nicht. Wenn er von uns erführe, würde er uns verlachen.“ So traurig das sein mag, dem Holz sind wir Menschen egal. Doch wie verhält es sich umgekehrt? Als Holzenthusiasten träumen wir gerne von einer holzbegeisterten Menschheit, aber ich behaupte: Nicht nur wir sind dem Holz egal, auch das Holz ist uns ganz egal. Diese These mag aufs Erste verwundern. Doch die Egalität des Holzes ist die Bedingung dafür, dass wir Menschen ein besonderes Interesse an Holz entwickeln können.

Holz kann man für alles gebrauchen, daher bedeutet Holz selbst gar nichts. Zwei Einwände könnten sich nun erheben. Der erste lautet: Das ist selbstverständlich. Es gibt nichts, was seine Bedeutung in sich hätte, alle Dinge erhalten ihre Bedeutungen erst im Rahmen ihrer kulturellen Kontexte. Ja, das ist so, dennoch halte ich es für notwendig, es noch einmal zu betonen. Und zwar deshalb, weil Einwand Nummer zwei die Beliebigkeit der Holzbedeutung bestreitet.

Er lautet: Die moderne Welt ist voller Beliebigkeiten, das Holz hingegen ist die Ausnahme in dieser denaturierten und entfremdeten Welt. Jedes Kind weiß heute, dass Holz das Echte ist. Holz ist daher ein gleichsam natürliches Bollwerk gegen die Verfremdungen der technischen Moderne. Wer sich mit Holz umgibt, der ist nahe am Echten, nahe am Ursprünglichen, der ist gleichsam beheimatet in der warmen Hütte des Seins. Das Besondere an diesem Mythos ist, dass er heute in allen Köpfen wohnt. Und wenn man einmal eine Chiffre des Echten und Urwüchsigen in Händen zu halten glaubt, will man sich davon gar nicht gerne wieder trennen.

Aber betrachten wir als Beispiel das Auto: Für den Karosseriebau spielte Holz nur bei einigen wenigen Autos der ehemaligen Ostblockstaaten eine Rolle und gilt da als Zeichen der Ärmlichkeit, während es im Wageninneren zur Markierung der oberen Preisklasse verwendet wird. Diese bis heute bestehende Tradition fügt beim ansonsten um Modernität bemühten Auto ein kontrastreich traditionelles Element ein. Die Tradition nahm ihren Ausgang in den Anfangstagen der Automobilgeschichte, als Kutschenbauer beauftragt wurden, zu einem Motor einen individuellen Raum zu gestalten. Die Idee der Handarbeit hat sich bei Rolls Royce am längsten gehalten, wurde von Jaguar industrialisiert und strahlt auf andere Marken aus. So sehr wurde Holz im Cockpit zu einer allgemeinen und abstrakten Chiffre für Luxus, dass eine bedeutende Fälschungsindustrie entstehen konnte, und so definieren sich soziale Unterschiede heute in einer feinen Abstufung zwischen dem echten Holz, den billigeren und den ganz billigen Imitaten. Neben dem Holz und dem Holzfurnier entstand das Holzdekor: der so genannte Edelholzlook, Kunststoffholz und gemaserte Klebefolie. Die unterste Stufe der Selbsterhöhung ist das Holz-Effekt-Set, bestehend aus Lacken und Pinseln zum Betupfen des Armaturenbretts mit brauner Farbe.

Die mannigfaltigen Produkte, die Holz ins Auto bringen, verschieben die Anmutung des gesamten Designs von der sportlichen hin zur wohnlichen Atmosphäre. Vielleicht entspringt diese Verschiebung der Zunahme von Staus: Wenn man mehr steht als fährt, muss auch die Innenraumgestaltung wohnlicher werden. Der Architekturtheoretiker Dietmar Steiner nannte das Auto einmal ein „Zimmer mit Motor, die eigentliche Form der Eigentumswohnung, ein offenes luftiges Zimmer, das stehend die Stadträume füllt“. Als die Autos noch den Kutschen näher waren, war der Innenraum intimer gestaltet, heute lässt man sich ins Auto gern hereinschauen. Wie sehr das Cockpit als Zuhause empfunden wird, erkennt man daran, dass Nasenbohren an der Kreuzung den wenigsten peinlich ist. Um solche Intimität vor aller Augen herzustellen, sind große Mengen Holz vonnöten.

Im Bereich der Lenkräder hat der Einsatz von Holz eher eine sportliche Note, bezogen aus der Welt der Rennsportnostalgie. Die Gefahr des Splitterns bei einem Unfall wird gern in Kauf genommen, damit man das Leistungsprinzip des Sports aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückverschiebt. Vergangene Sportlichkeit ist weniger anstrengend als die Leistungsimperative von heute. Das nostalgische Holzlenkrad signalisiert daher den paradoxen Wunsch nach langsamen Rennfahrten und einer gemächlichen Sorte von Sportlichkeit.

Daneben gibt es freilich auch Wünsche nach dem Abenteuerlichen, und auch für diesen Wunsch braucht man Holz als Medium. So hat etwa das Product-Placement eines neuen Mercedes-Geländewagens im Dinosaurier-Film das Auto mit der Idee des Urwalds aufgeladen. Vergleichsweise billig dagegen ist es, wenn ein Geländewagenfahrer, der keine Zeit hat, mit seinem Auto in den Wald zu fahren, sich mit der Camouflage-Matte jene Spuren, die Stollenreifen im Waldboden hinterlassen würden, unter die Füße legt. Das ist ganz sicher auch der sauberste Weg, Auto und Wald miteinander in eine imaginäre Berührung treten zu lassen.

Am Beispiel des Autos sieht man also, dass Holz in vielen verschiedenen Weisen von Medialität darin vorkommt. Der Wunderbaum besteht aus zu Pappe verarbeitetem Holz und verweist auch als Zeichen auf den Wald und dessen natürlichen Duft. Der Auto-Weihnachtsbaum ist nicht aus Holz, er will uns auch nichts über die Themen Wald und Holz erzählen. Die Dekorationsplättchen fürs Cockpit sind manchmal aus Holz, manchmal nicht, das ist an sich egal, denn auch das echte Holz ist hier nur Medium für zwei Aussagen: Wohnlichkeit und Prestige. Mit echtem Holz gelingt dies besser, mit aufgemaltem Holz gerät man in Gefahr, dass der Schwindel auffliegt, mit einer täuschend echten Imitation wird man wohl am besten fahren. Holz meint mitunter sich selbst, oftmals meint es etwas anderes, und manchmal wird es von etwas anderem gemeint. Für die Holzindustrie schließe ich daraus, dass sie dann eine Zukunft hat, wenn sie sich von der Festlegung des Holzes auf ein Medium der Rückwärtsgewandtheit lösen kann. Dem Holz selbst stehen alle Möglichkeiten offen, weil es egalitär offen ist für jeden beliebigen mythologischen Sinn.

ARCH+, Di., 2009.09.29



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15. Dezember 2007Wolfgang Pauser
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Weiße Blätter vom Baum der Erkenntnis

Sie haben vor einer halben Sekunde begonnen, einen Text zu lesen, der in schwarzen Lettern auf weißem Papier gedruckt vor Ihren Augen liegt und sich anschickt,...

Sie haben vor einer halben Sekunde begonnen, einen Text zu lesen, der in schwarzen Lettern auf weißem Papier gedruckt vor Ihren Augen liegt und sich anschickt,...

Sie haben vor einer halben Sekunde begonnen, einen Text zu lesen, der in schwarzen Lettern auf weißem Papier gedruckt vor Ihren Augen liegt und sich anschickt, das gewohnte Verhältnis von Text und Papier auf den Kopf zu stellen. Denn Papier ist dafür gemacht, den Text zu tragen, ihn erscheinen zu lassen, hervortreten zu lassen und den Augen ebenso wie dem Verständnis zu präsentieren. Dieser Text aber will das Papier hervorheben, seinen eigenen Träger zum Getragenen machen, den Präsentator ins Präsentierte verwandeln.

Sie sind eingeladen, sich in die engste mögliche Reflexionsschleife einzuklinken, in das Bedenken des Papiers von seiner Beschriftung her. Das Weiße soll zwischen den Buchstaben hervorleuchten als das vom Text Transportierte. Von seinem Medium erzählt diese Botschaft.

Das ist eine Art Sklavenaufstand, wenn auch ein harmloser. Die Erhebung des dienenden Materials zum herrschenden Sinn ereignet sich nur in diesem Textpapier und nur zwischen Druckerschwärze und weißem Untergrund. Jeder ist für fünfzehn Minuten berühmt, sagte Warhol. Lassen wir heute dem Papier den Hervortritt. Damit auf dieser Welt wenigstens einmal das Lichte das Dunkle besiegt. Lese ich das Wort »Papier«, kommt mir als erstes das Bild eines weißen, rechteckigen, äußerst flachen Gegenstands vor Augen, dessen bevorzugte Bestimmung es ist, schwarze Buchstaben zu tragen, manchmal zusätzlich auch Bilder. Diese meine Vorstellung vom »klassischen« Fall eines Papiers hält jedoch einer Überprüfung an der Realität des Alltags nicht stand. Die erweiterten Möglichkeiten von Computergrafik und digitalen Drucktechniken haben zwischen Schwarz und Weiß allerlei Tönungen und Schattierungen etabliert, die oft ununterscheidbar machen, was an der Oberfläche des Papiers Untergrund und was Aufdruck ist.

Die Computerisierung lässt somit nicht das Papier als Material verschwinden, im Gegenteil. Nur seine Oberfläche ist immer seltener die hintergründige Kontrastfolie der bedruckten Zonen. Zusätzlich zu den Schriftzeichen und Bildern legen sich »Layer« der Layout-Grafik flächendeckend über das Blatt. Diese drei blattfüllenden Instanzen bringen all jene wahrnehmbaren Differenzen, in denen die Bedeutung verankert ist, untereinander hervor, ohne länger das reine Papier dafür als kontrastierenden Hintergrund und Leerraum in Verwendung zu nehmen. Die Menge des Papiers wächst, seine materiale Sichtbarkeit an der Oberfläche jedoch schwindet. Die vom Bleisatz geprägte Ästhetik des Schwarz-Weiß ist nur noch ein formales Zitat aus der Ära der »Gutenberg-Galaxis«. Noch lebt sie fort in jenen Laserdruckern unserer Büros, die nur schwarzweiß drucken können.

Ist das rechteckige weiße Blatt Papier eine vom Aussterben bedrohte Spezies? Auch wenn es technisch bald schon von »e-ink« überholt sein mag, könnte es sich dennoch als eine prinzipiell unüberbietbare Erfindung mit Ewigkeitswert herausstellen. Wenn nicht aus praktischen, so aus metaphorischen Gründen. Das Wort »Begreifen« erinnert uns daran, dass das Gehirn nicht isoliert arbeitet, sondern seine Leistungen gemeinsam mit Organen, Werkzeugen und den Erinnerungsspuren der Außenwelt erbringt. Beschriebenes Papier ist die stabilisierte und zugleich minimierte Form, Gedanken in Dingform bringen, in die Hand nehmen, ablegen und jemandem geben zu können. Worin Papier jedes elektronische Medium unersetzbar überbietet, ist seine Kompetenz für die meta- phorische Geste der Veräußerlichung, des Vor-sich-Bringens, der Objektwerdung und Verkörperung des »Geistes«. Denn egal, wie dünn, weich, groß, leicht und hochauflösend das elektronische Papier werden wird, die darauf erscheinenden Zeichen bleiben in jenem Status des Möglichen, der sie dem bloß Gedachten sinnbildlich ähneln lässt. So ist es auch nicht bloß der ehemaligen Technik des Bleisatzes und ihren Traditionen zu verdanken, dass wir noch immer schwarze Buchstaben auf weißes Papier schreiben, obwohl dem Auge mildere Kontraste angenehmer sind. Es ist vielmehr die Abstraktion, das Auseinanderziehen, scharfe Trennen und Polarisieren, das der Versprachlichung der Welt, ja ihrer klaren geistigen Erfassung, formal entgegenzukommen scheint. Schwarz-Weiß ist Sinnbild jener Bilderlosigkeit, in der sich der Gedanke als rein sprachlicher vor sich bringen und zum Gegenstand machen möchte. Das weiße, rechteckige Blatt Papier kommt diesem Begehren bestens entgegen. Hat es doch in sich alle Spuren seiner Entstehung abgestreift, um spurlos rein sich ganz dem Gedächtnis neuer Spuren und Zeichen anzudienen. Es gibt kein zweites Holzprodukt, das so versessen wäre aufs Vergessen seiner Herkunft, dem es mehr um die Verabsolutierung des Künstlichen geht.

Die Summe aller Farben ist Weiß, doch diese Summierung endet in der Negation von Farbe überhaupt. Nur aus reinem Licht und dessen regelhafter Unterbrechung durch sein Gegenteil, das lichtschluckende Schwarz, soll eine Textseite bestehen, damit der Geist sich darin spiegeln kann. Den Kult, Buchstaben schwarz auf weißes Papier zu drucken, verstehen wir besser, seit Malewitsch sein Schwarzes Quadrat gemalt hat. Das Abstraktionsvermögen des Menschen wird in geometrischer Form und durch Ausblenden alles Sinnlichen, aller Farben und alles Abbildenden zur Ikone. Ein weißes Blatt Papier ist gleichsam die Umkehr- oder auch Negativform des Schwarzen Quadrats. Der Möglichkeitsraum einer »reinen« Repräsentation der Welt, die nur aus Licht und dessen strukturierter Unterbrechung besteht. Papier ist ein Gegenstand, der sich in seiner geometrisierten Helle als ein Nichts gebärdet, um den Anschein zu erwecken, die Zeichenketten der Sätze schwebten im leeren Raum.

Es ist programmatisch dünn, fast »immateriell«, um zwischen Gedanken und Realem Brücke und Übergangsobjekt zu sein.

Ein Medium ist es als diese Mitte, die am Möglichen gleich viel Anteil hat wie am Wirklichen.

zuschnitt, Sa., 2007.12.15



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24. Juli 2005Wolfgang Pauser
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Essay Hellhörigkeit

Meine beste Tat vollbrachte ich im Dunklen. Auch wenn es keine gute Tat im Sinne des Christentums war, das ja den guten Willen zum Guten für eine solche...

Meine beste Tat vollbrachte ich im Dunklen. Auch wenn es keine gute Tat im Sinne des Christentums war, das ja den guten Willen zum Guten für eine solche...

Meine beste Tat vollbrachte ich im Dunklen. Auch wenn es keine gute Tat im Sinne des Christentums war, das ja den guten Willen zum Guten für eine solche verlangt, war die beste Tat, die ich in meinem Leben vollbrachte, ganz auf sündiges Tun gegründet und auf Eigennutz zielend. Erst ihre Wirkung erwies sie, wie ich später merkte, als dem Heil meiner Nächsten dienlich: Ich habe die Ehe meiner Nachbarn gerettet!

Diesen durchaus christlichen Effekt konnten meine nächtlichen Schandtaten freilich nicht allein bewerkstelligen. Nicht einmal im Verein mit meiner leidenschaftlich lauten Geliebten hätte ich dies Wunder der Nachbarschaftshilfe vollbringen können, wäre da nicht die hellhörigste aller Wände so dazwischen gestanden, dass eine unsichtbare Verbindung entstand, die den Funken übertrug und das „Eheleben“ drüben erneut entflammte. Und erst im Rückblick, als es diesseits der Wand leise und jenseits laut wurde, ging mir auf, was bisher nie von drüben hörbar gewesen war und wie es um die Beziehung der mir nächst wohnenden Menschen gestanden hatte. Etwas hatte gefehlt. Alles Unerhörte war verstummt gewesen. Doch nun, da es gefunkt hatte, brach eine neue Ära der Nachbarschaft an. Stumm wurden die Beschwerden über meine nächtlichen Ruhestörungen und aller Zwist im Hause ist eingeschlafen, seit harmonische Lautheit die Wände erzittern lässt.

Trennwände verbinden auf eine ganz besondere Art: Dem Licht sperren sie den Weg, Schall aber leiten sie (wenn auch verzerrt, gedämpft, gefiltert). Im Kopf des Menschen wirkt jede äußere Wand wie eine Mauer zwischen Aug und Ohr. Der Kopf will sich das nicht so recht gefallen lassen. Er reagiert auf die Entkoppelung seiner beiden wesentlichsten Sinnesorgane, aus deren Reizen er sich normalerweise die sogenannte „Welt“ zusammenkonstruiert, durch Ergänzung: er denkt sich sein Teil und phantasiert den fehlenden Rest hinzu.

Die beste Zeit der Hellhörigkeit ist die Dunkelheit. Nie sind einem die Ohren wacher, als wenn man den Schlaf sucht. Erfreulich und erotisch ist das nur selten, am ehesten noch im Hotel. In der Fremde ist man ohnehin neugierig auf Fremdes eingestellt. Langeweile hebt die Toleranz, während der vorübergehende Charakter der Störung den Ärger beschwichtigt. Vor allem im Urlaub vermögen auch noch die unschuldigsten Geräusche nebenan erfreuliche Bilder vor Augen zu zaubern.

Doch Urlaub ist selten. Viel häufiger machen einem nächtliche Geräusche „einen schlechten Film“. Kaum schließt man die Augen, fährt der Tonmeister den Regler hoch, die Projektion kann beginnen. Knauern, Knacken, ein Knistern im Gebälk, schon haben wir den schönsten Soundtrack für den inneren Horrorfilm. Pan, der unsichtbare Gott der Ohren, kennt weder Raum noch Richtung, sondern durchdringt und umfängt uns ganz und gar. Der Schrecken, den er verbreitet, ist vom lieblichen Laut seiner lockenden Flöte nicht zu trennen. In der griechischen Mythologie wird er laut in der Mittagshitze, wenn Hirt und Herde ruhen und es still wird, ganz still.

Gegen die von der Klangwelt provozierten Trugbilder wehrt man sich, indem man Licht macht, die Augen öffnet, selbst Lärm macht oder den Geräuschpegel der Umgebung anhebt. Die Einseitigkeit des Sehsinns rückt die Dinge an ihren rechten Ort, stellt die Welt wieder übersichtlich und gerahmt vor uns, bringt Licht in undurchsichtige Verhältnisse und vertreibt erfolgreich alle bösen Geister. Die Grenze zwischen Ich und Welt wird vom wachsamen Auge gesichert, während das ganzheitliche Ohr sie allzu gern verschwimmen lässt. Vor unsern Augen eröffnet sich ein kontrollierbarer Raum mit klar begrenzten Gegenständen, so wird es uns leicht, das zu vergessen, was wir im Rücken haben. Und im Rücken haben unsere Augen nicht nur das, wo wir gerade nicht hinsehen, sondern auch das eigene Gehirn. Dort wohnt jenes Gedächtnis, das jede Leere, Dunkelheit und Stille mit Ungewolltem füllt.

Das Ohr hingegen hört rundum, man muss es nicht von einem Gegenstand zum anderen bewegen. Man kann es nicht schließen wie das Auge. Weghören geht nicht, wehren kann man sich nur durch noch mehr Lärm, damit sich die Wahrnehmungsschwelle wieder hebt. Weil Klang aus allen Richtungen kommt und einen in sein Zentrum stellt, kann man in eine Hörwelt eintauchen, wie man nie ins Sehfeld eintauchen könnte. Störgeräusche sind so unangenehm, weil nicht nur das Ohr, sondern auch und vor allem die Ichgrenze der totalitären Grenzenlosigkeit des Klangs und dessen Durchdringungs-Potential ausgeliefert ist.

„Im Vergleich zu anderen Sinnesbereichen ist der Gehörsinn von Halluzinationen am häufigsten betroffen“ (Lexikon der Psychiatrie). Wo nicht das Haus, sondern der Mensch „hellhörig“ ist im pathologischen Sinne, wird heute das vermeintlich Vernommene nicht mehr Dämonen, sondern Antennen zugeschrieben. In seiner Studie über „Das Unheimliche“ hat Sigmund Freud dessen Entstehung aus dem Heimlichen des Heimeligen, aus dem Verdrängten des einst allzu Nahen hergeleitet.

Daran sollte man denken, wenn einem die Welt zu laut ist. Wenn bei den lieben Nachbarn wieder einmal Autorennen und Baby überbrüllt werden müssen, um den Streit weiterführen zu können. Es gibt etwas noch Schlimmeres als höllischen Lärm: die Totenstille. Ihr ist es vorbehalten, alle Dämonen der Hölle gleichzeitig zu uns ans Bett zu rufen. Dann wehe Dir!

zuschnitt, So., 2005.07.24



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16. Dezember 2002Wolfgang Pauser
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Wir sind dem Holz egal

»Den Wald«, so schrieb der Philosoph Günter Anders, »kümmert unser Philosophieren nicht. Wenn er von uns erführe, würde er uns verlachen.« So traurig das...

»Den Wald«, so schrieb der Philosoph Günter Anders, »kümmert unser Philosophieren nicht. Wenn er von uns erführe, würde er uns verlachen.« So traurig das...

»Den Wald«, so schrieb der Philosoph Günter Anders, »kümmert unser Philosophieren nicht. Wenn er von uns erführe, würde er uns verlachen.« So traurig das sein mag, dem Holz sind wir Menschen egal. Doch wie verhält es sich umgekehrt? Als Holzenthusiasten träumen wir gerne von einer holzbegeisterten Menschheit, aber ich behaupte: Nicht nur wir sind dem Holz egal, auch das Holz ist uns ganz egal. Diese These mag aufs Erste verwundern. Doch die Egalität des Holzes ist die Bedingung dafür, dass wir Menschen ein besonderes Interesse an Holz entwickeln können. Holz kann man für alles gebrauchen, daher bedeutet Holz selbst gar nichts. Zwei Einwände könnten sich nun erheben. Der erste lautet: Das ist selbstverständlich. Es gibt nichts, was seine Bedeutung in sich hätte, alle Dinge erhalten ihre Bedeutungen erst im Rahmen ihrer kulturellen Kontexte. Ja, das ist so, dennoch halte ich es für notwendig, es noch einmal zu betonen. Und zwar deshalb, weil Einwand Nummer zwei die Beliebigkeit der Holzbedeutung bestreitet. Er lautet: Die moderne Welt ist voller Beliebigkeiten, das Holz hingegen ist die Ausnahme in dieser denaturierten und entfremdeten Welt. Jedes Kind weiß heute, dass Holz das Echte ist. Holz ist daher ein gleichsam natürliches Bollwerk gegen die Verfremdungen der technischen Moderne. Wer sich mit Holz umgibt, der ist nahe am Echten, nahe am Ursprünglichen, der ist gleichsam beheimatet in der warmen Hütte des Seins. Das Besondere an diesem Mythos ist, dass er heute in allen Köpfen wohnt. Und wenn man einmal eine Chiffre des Echten und Urwüchsigen in Händen zu halten glaubt, will man sich davon gar nicht gerne wieder trennen.

Aber betrachten wir als Beispiel das Auto: Für den Karosseriebau spielte Holz nur bei einigen wenigen Autos der ehemaligen Ostblockstaaten eine Rolle und gilt da als Zeichen der Ärmlichkeit, während es im Wageninneren zur Markierung der oberen Preisklasse verwendet wird. Diese bis heute bestehende Tradition fügt beim ansonsten um Modernität bemühten Auto ein kontrastreich traditionelles Element ein. Die Tradition nahm ihren Ausgang in den Anfangstagen der Automobilgeschichte, als Kutschenbauer beauftragt wurden, zu einem Motor einen individuellen Raum zu gestalten. Die Idee der Handarbeit hat sich bei Rolls Royce am längsten gehalten, wurde von Jaguar industrialisiert und strahlt auf andere Marken aus. So sehr wurde Holz im Cockpit zu einer allgemeinen und abstrakten Chiffre für Luxus, dass eine bedeutende Fälschungsindustrie entstehen konnte, und so definieren sich soziale Unterschiede heute in einer feinen Abstufung zwischen dem echten Holz, den billigeren und den ganz billigen Imitaten. Neben dem Holz und dem Holzfurnier entstand das Holzdekor: der so genannte Edelholzlook, Kunststoffholz und gemaserte Klebefolie. Die unterste Stufe der Selbsterhöhung ist das Holz-Effekt-Set, bestehend aus Lacken und Pinseln zum Betupfen des Armaturenbretts mit brauner Farbe.

Die mannigfaltigen Produkte, die Holz ins Auto bringen, verschieben die Anmutung des gesamten Designs von der sportlichen hin zur wohnlichen Atmosphäre. Vielleicht entspringt diese Verschiebung der Zunahme von Staus: Wenn man mehr steht als fährt, muss auch die Innenraumgestaltung wohnlicher werden. Der Architekturtheoretiker Dietmar Steiner nannte das Auto einmal ein »Zimmer mit Motor, die eigentliche Form der Eigentumswohnung, ein offenes luftiges Zimmer, das stehend die Stadträume füllt«. Als die Autos noch den Kutschen näher waren, war der Innenraum intimer gestaltet, heute lässt man sich ins Auto gern hereinschauen. Wie sehr das Cockpit als Zuhause empfunden wird, erkennt man daran, dass Nasenbohren an der Kreuzung den wenigsten peinlich ist. Um solche Intimität vor aller Augen herzustellen, sind große Mengen Holz vonnöten.

Im Bereich der Lenkräder hat der Einsatz von Holz eher eine sportliche Note, bezogen aus der Welt der Rennsportnostalgie. Die Gefahr des Splitterns bei einem Unfall wird gern in Kauf genommen, damit man das Leistungsprinzip des Sports aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückverschiebt. Vergangene Sportlichkeit ist weniger anstrengend als die Leistungsimperative von heute. Das nostalgische Holzlenkrad signalisiert daher den paradoxen Wunsch nach langsamen Rennfahrten und einer gemächlichen Sorte von Sportlichkeit.

Daneben gibt es freilich auch Wünsche nach dem Abenteuerlichen, und auch für diesen Wunsch braucht man Holz als Medium. So hat etwa das Product-Placement eines neuen Mercedes-Geländewagens im Dinosaurier-Film das Auto mit der Idee des Urwalds aufgeladen. Vergleichsweise billig dagegen ist es, wenn ein Geländewagenfahrer, der keine Zeit hat, mit seinem Auto in den Wald zu fahren, sich mit der Camouflage-Matte jene Spuren, die Stollenreifen im Waldboden hinterlassen würden, unter die Füße legt. Das ist ganz sicher auch der sauberste Weg, Auto und Wald miteinander in eine imaginäre Berührung treten zu lassen.

Am Beispiel des Autos sieht man also, dass Holz in vielen verschiedenen Weisen von Medialität darin vorkommt. Der Wunderbaum besteht aus zu Pappe verarbeitetem Holz und verweist auch als Zeichen auf den Wald und dessen natürlichen Duft. Der Auto-Weihnachtsbaum ist nicht aus Holz, er will uns auch nichts über die Themen Wald und Holz erzählen. Die Dekorationsplättchen fürs Cockpit sind manchmal aus Holz, manchmal nicht, das ist an sich egal, denn auch das echte Holz ist hier nur Medium für zwei Aussagen: Wohnlichkeit und Prestige. Mit echtem Holz gelingt dies besser, mit aufgemaltem Holz gerät man in Gefahr, dass der Schwindel auffliegt, mit einer täuschend echten Imitation wird man wohl am besten fahren. Holz meint mitunter sich selbst, oftmals meint es etwas anderes, und manchmal wird es von etwas anderem gemeint. Für die Holzindustrie schließe ich daraus, dass sie dann eine Zukunft hat, wenn sie sich von der Festlegung des Holzes auf ein Medium der Rückwärtsgewandtheit lösen kann. Dem Holz selbst stehen alle Möglichkeiten offen, weil es egalitär offen ist für jeden beliebigen mythologischen Sinn.

zuschnitt, Mo., 2002.12.16



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Profil

Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und Rechtswissenschaft, Dr. jur., Absolvent des Postgraduate-Studiums „Museums- und Ausstellungskurator“ an der Donauuni Krems. 1 Semester Kunstsoziologie in Berkeley.
War Kunstkritiker für die Tageszeitung „Der Standard“, Kurator von Ausstellungen und Verfasser zahlreicher Ausstellungskataloge. Seit 1986 freiberuflicher Essayist mit den Themenschwerpunkten Konsum- und Alltagskultur sowie bildende Kunst, Design, Architektur. 1993 - 2003 Kolumnist und Essayist für DIE ZEIT.
Seit 1995 Entwicklung der Kul­turwissenschaftlichen Produktanalyse. Seither für Unternehmen und Agenturen tätig in den Bereichen Markenberatung, Konzeption und Text.

Lehrtätigkeit

Universität für angewandte Kunst Wien,
Institut für Hochbau der Technische Universität Wien
Institut für Wohnbau und Entwerfen der Technischen Universität Wien

Publikationen

Zierschlacht. Zur Ästhetik des Krieges.
Schriftenreihe der Universität für angewandte Kunst Wien 1994

Die Fährnisse des menschlichen Vorstellungsvermögens als System: Kunst. Mit H.C. Artmann und Kurt Ryslavy.
Verlag Turia & Kant, Wien 1994

Werbebewußtsein - Texte zur Ästhetik des Konsums
Verlag Christian Brandstätter, Wien 1995

Schönheit des Körpers
Ein theoretischer Streit um Bodybuilding, Diät und Schönheitschirurgie
(Koautor Otto Penz), Rhombus Verlag, Wien 1995

Dr. Pausers Autozubehör
Hanser Verlag/Sanssouci München 1999

Max Dudler Schulbau
Gebrüder Mann Verlag, Berlin 1999

Ästhetik der Vitrine: Vom Museum zum Erlebniskaufhaus. In: The Unit: superdiscounit. CI-Architektur. Dortmunder Vertrieb für Bau- und Planungsliteratur, Dortmund 2003
Herzschlag in der Achterbahn. In: Hugo Dittberner (Hgg.): Kunst ist Übertreibung. Wallstein Verlag Göttingen 2003
Cyber-Sex. In: Konrad Paul Liessmann (Hsg.): Der listige Gott. Über die Zukunft des Eros. Philosophicum Lech. Paul Zsolnay Verlag Wien 2002
Werbebilder. Kommentare. In: Rejected. Die beste unveröffentlichte Werbung. Hintergründe zur Ablehnung von Werbekampagnen. Verlag H. Schmidt, Mainz 1997
Der Retro Kult: remix-remake-remodel. In: Hubertus Butin (Hsg.) DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. DuMont Verlag Köln 2002
Durch Abstraktion zur Allgemeinheit. Modernisierungs-Strategien des Werbeplakats. In: Peter Noever (Hg.): Joseph Binder Wien – New York. MAK Studies, Museum für Angewandte Kunst Wien 2001
Essen und Reisen. In: Hasso Spode (Hg.): Voyage. Jahrbuch für Tourismusforschung. DuMont Verlag Köln 2001
Das Bonbon: Ein Genussmittel als Medium der Vereinzelung. In: Aleida Assmann, Jan Assmann (Hg.): Einsamkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation IV, Wilhelm Fink Verlag München 2000
Scheintechniken. Die phantastischen Funktionen der neuen Geräte. In: Dagmar Steffen (Hg.): Welche Dinge braucht der Mensch? Hintergründe, Folgen und Perspektiven der heutigen Alltagskultur. Deutscher Werkbund Hessen, Anabas Verlag Frankfurt/Main 1995
Grenzästhetik. Über Lifestyle-Philosophie, Cultural Surfing und die Polyphonie der Dinge. In: Paolo Bianchi (Hg.): Lebenskunst als Real Life. Kunstforum International Bd. 143, Köln 1999
Von der Not zur Tugend. Die Tiefkühlfleischknödel der Marke Hausmannskost. In: A. Hürlimann u. A. Reininghaus: Mäßig und Gefräßig. Skira Verlag Wien 1996
Dinge sind ganze Teile. Zur Philosophie der Unvollständigkeit. In: Jörg Adam u.a. (Hg.): Helfershelfer – Türbremse, Tropfenfänger und andere obligate Symbionten. Edition Solitude Stuttgart 2000
Telefonkonsum. Zur Sexualität des Handy. In: Gerburg Treusch-Dieter (Hg.): Telekult. Ästhetik und Kommunikation 90. Elefanten Press Berlin 1995
Ich-Kristall. Des Geistes kristalliner Leib. In: Christina v. Braun, Thomas Macho, Elisabeth v. Samsonow (Hg.): Schneewittchen. Über den Mythos kalter Schönheit. Konkursbuch Verlag Tübingen 1999
„Soll ich mich operieren lassen?“ In: Gerburg Treusch-Dieter, Thomas Macho (Hg.): Medium Gesicht. Die faciale Gesellschaft. Ästhetik und Kommunikation 94, Elefanten Press Berlin 1996
Scharfe Krallen. Im Nail-Design-Studio empfängt der rohe Mensch die feine würze der Kultur am eigenen Leibe. In: Matthias Götz (Hg.): Der Tabasco-Effekt. Wirkung der Form, Formen der Wirkung. Beiträge zum Design des Designs. Schriftenreihe der Hochschule für Kunst und Design Halle. Schwabe & Co. Verlag Basel 1999
Der „amerikanische“ Körper – oder: Die narzisstische Mobilmachung des Erdenrests. In: Roman Horak, Otto Penz (Hg.): Sport, Kult und Kommerz. Verlag für Gesellschaftskritik Wien 1992
Wer will schon fertig sein? Verkürzung und Verlängerung von Produktionsumwegen als Genuss-Strategien. In: Eva Maria Stadler, Thomas Trummer (Hg.): Selfmade. Grazer Kunstverein 1995
Macht des Genusses – Genuss der Macht. In: Roman Sandgruber, H. Kühnel (Hg.): Genuss und Kunst. Landesausstellung Niederösterreichisches Landesmuseum, Innsbruck 1994
Wunschobjekt Kristall. In: Psyche-Körper-Material. Analysen von Menschen und Gegenständen. Herausgegeben vom Institut für Gegenwartskunst, Wien und der Neuen Wiener Gruppe/Lacan-Schule. Passagen Verlag Wien 1997
Der Saugfüßler als interpassiver Beifahrer. In: Robert Pfaller (Hg.): Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen. Springer Verlag Wien New York 2000
Amor in der Konditorei: Ein mythologisches Phantasma. In: Christoph Wagner (Hg.) Österreich für Feinschmecker, Deuticke Verlag Wien 1995
Deutsches Wesen – wieder genesen! In: Deutsch-Österreichischer Mist – eine kulturelle Müllabfuhr. Rhombus Verlag Wien 1995
Identitätsbegriffe in der Geschichte. In: Ulrike Davy et al. (Hg.): Nationalsozialismus und Recht. Orac Verlag Wien 1990
Die Verortung des Begehrens. In: Attersee – Die gemalte Reise. Hirmer Verlag München 1990
Hermes, Apollo und der Ingenieur. Zur Sichtbarkeit eines unhörbaren Klangs. In: Walter Kaitna. Kräftesysteme. Herausg. vom Kunstraum Buchberg, Wien 1994
Identität im Werden. Die Selbsterzeugung des Subjekts im Werk. In: Gustav Peichl (Hg.): Jugendwerke. Schriftenreihe der Akademie der Bildenden Künste Wien 1988
Die Natur des Selbst und das Selbst der Natur. In: Otmar Rychlik (Hg.): Raineriana. Aufsätze zum Werk von Arnulf Rainer. Böhlau Verlag Wien 1994
Die Quelle. Ursprung, Passage und Ziel. In: Ruth Aspöck (Hg.): Ein Buch von Flüssen. Edition Die Donau Wien 1994
Jenseits von Mittel und Zweck. In: Thomas Trummer (Hg.): Objekte. Skulptur in Österreich nach 1945. Österreichische Galerie Belvedere Wien 2001
Die Zukunft der Frauen. In: E. Vavra (Hg.): Aufmüpfig und Angepasst. Frauenleben in Österreich. Böhlau Verlag Wien 1998
Psychophysik zwischen Gall und Freud. In: Jean Clair, Wolfgang Pircher, Cathrin Pichler (Hg.): Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele. Löcker Verlag Wien 1998
Auflösungs-Erscheinungen. Über das Analytische im Bild des Krieges. In: August Ruhs, Walter Seitter (Hg.): Auflösen, Untersuchen, Aufwecken. Psychoanalyse und andere Analysen. Passagen Verlag Wien 1995
Transparenz als Realität und Metapher. Ein Beitrag zur Geschichte und Wirkung von sprechender Architektur. In: Thorsten Scheer (Hsg.): Die Volkswagen-Architektur. Identität und Flexibilität als Konzept. Hatje Cantz 2001
Körpertheater im Fitnessstudio. In: Ingo Peyker, Andrea Paletta (Hsg): Sportkörper – Kunstkörper. Afra Verlag, Butzbach 2004
Fluchtraum der Selbstaneignung. Die sportliche Eroberung der Alpen. In: Tulga Beyerle / Karin Hirschberger (Hsg.): Designlandschaft Österreich. Birkhäuser, Basel 2006
Gestaltung als Glücksversprechen – Emotional Design. In: Gerhard Seltmann / Werner Lippert (Hsg.): Entry Paradise. Neue Welten des Designs. Birkhäuser, Basel 2006
Wunschobjekt Kristall, eine Symptomstudie. In: Vitus Weh (Hsg.): Glanz und Verderben. Die unheimliche Konjunktur des Kristallinen. Folio Verlag Wien 2009
Mobilisierte Immobilie. In: Delugan Meissl: Porsche Museum. Springer Verlag 2010
Retro und Vintage. Geschichtszeichen im Turbo-Recycling. In: Michael Kröger u.a. (Hsg.): Jetzt. Zeitempfinden und Gegenwartsdesign. Kerber Verlag, Marta Herford 2011
Concepts of Reason. In: Arkan Zeytinoglu: Geometry of Light. Springer Wien New York 2011
„ValYou Corporation. Wie fühlt sich Ihr Wert an?“, über das gleichnamige, temporäre Kunst-im-öffentlichen-Raum-Projekt, 2009, schuda/schmeiser, in Kooperation mit Christa Ziegler, the english Lovers; Autor/innen: Irini Athanassakis, Wolfgang Pauser, Publisher: Divus (CZ), 2012

Texte über bildende Künstler (Auswahl):

Bruno Gironcoli
Arnulf Rainer
Franz Xaver Ölzant
Christian Ludwig Attersee
Clemens Fürtler
Thomas Reinhold
Walter Eckert
Grete Yppen
Jakob Gasteiger
Michael Pisk
Ferdinand Penker
Sylvia Kummer
Jürgen Messensee
Christoph Kasperkovitz
Wolfgang Pavlik
Titanilla Eisenhart
Josef Trattner
Christian Stock
Günther Pedrotti
Kurt Ryslavy
Hans Nevidal
Sergius Pauser
Fritz Grosz
Prinzgau & Podgorschek
Wolfgang Temmel
Hannah Stippl
Franziska Maderthaner
Walter Kaitna
Hannes Glaser
Edelbert Köb
Gerhard Kaiser
Joep v. Lieshout
Erwin Bohatsch
Joseph Binder
Djawid Borower
Klaus Stattmann

Texte über Architekten und Designer:

Adolf Krischanitz
Hans Hollein
Johannes Spalt
Delugan Meissl
Max Dudler
Arkan Zeytinoglu
Franz Maurer
Michael Wagner
Adam & Harborth
X Architekten

Veranstaltungen

EINBILD, Wiener Secession (kuratiert)

Wunderblock, Geschichte der Modernen Seele (Wiener Festwochen), Kuratierung des Bereichs Kriminalanthropologie

Lange Nacht der Forschung (Kuratierung der Ausstellung der OMV, Schwechat)

Auszeichnungen

Literaturpreis für Essayistik der Stiftung Niedersachsen
Joseph Roth Preis für internationale Publizistik, Klagenfurt (Nominierung)
Goldene Venus des CCA Austria

Wettbewerbe

Joseph-Roth-Preis für Internationale Publizistik (Klagenfurt)

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