Ein neues Buch versammelt 100 Jahre Architekturtheorie und eine Zürcher Podiumsdiskussion fragte warum.
Architekturtheorie, wozu? lautete der Titel einer Veranstaltung am Mittwochabend. Anlässlich einer Buch-Neuerscheinung lud der Verlag Hatje Cantz und die Buchhandlung Orell Füssli Krauthammer in die Zürcher Semper-Sternwarte ein. Dem Thema geschuldet war die Besetzung des Podiums recht „theorielastig“, wie Moderator Benedikt Loderer bemerkte: Neben drei der vier Herausgeber des Buches sass dort lediglich der Basler Architekt Roger Diener als Vertreter der bauenden Praxis.
Der fühlte sich dann auch gleich zu Beginn nicht mehr wohl, als Herausgeber Wolfgang Sonne bemerkte, Architekturtheorie hätte seinen Sinn ausschliesslich in der Verbesserung der gebauten Wirklichkeit. Der Theoretiker als Zuarbeiter des Architekten? „Das will ich nicht!“ lehnte Diener vehement ab. Immerhin beeinflusse die Theorie auch seinen „motorischen Reflex des Entwerfens“, wie er sagte. Wie? - die Antwort blieb der Basler schuldig. Stattdessen packte er das gesamte theoretische Fundament Deutschschweizer Architekturschaffens in einen Satz: „Gebautes vermittelt sich immer zuerst über die Wahrnehmung.“
Einen Beitrag von Diener findet man übrigens ebenso wenig im Buch, wie den irgendeines anderen gewichtigen ETH-Professors. Zählt man den in New York lebenden und lehrenden Bernhard Tschumi nicht dazu, finden sich unter den 130 Texten, die chronologisch das 20. Jahrhundert durchmessen, lediglich zwei von Schweizer Zeitgenossen: Livio Vacchini bemisst in seinem Text den Wert eines Bauwerks darin, wie weit es die Regeln einhalte – Regeln, die sich – für einen Tessiner fast selbstverständlich – auf historische Vorbilder beziehen. Peter Zumthor, der zweite in der Anthologie vertretene Schweizer, kommt der Praxis und dem Denken eines Roger Diener näher. In einem Vortrag von 1996 formuliert er seinen bildhaft-atmosphärischen, ganz und gar „untheoretischen“ Entwurfsansatz – und könnte darüber genauso gut schweigen und seine Bauten sprechen lassen.
Der Kopf der vier Herausgeber, Vittorio Magnago Lampugnani, fasst den Zusammenhang zwischen Praxis und Theorie weiter. Beide seien untrennbar miteinander verbunden: „Es gibt keinen Architekten, der sich nicht zur Welt in Beziehung setzt, ob artikuliert oder bloss gedacht.“ Für den Mailänder Architekten, der in Zürich Stadtbaugeschichte lehrt, ist eine Theorie „ein System von Aussagen, die Gesetzmässigkeiten formulieren.“ Seine Sammlung zeige diese verschiedenen Systeme in der Architektur und setze sie untereinander und zum Gebauten in Beziehung. „Architektur die sich nicht erklären, lehren, weitergeben lässt, ist keine Architektur.“ Hier verläuft für den Italiener die Grenze zwischen Baukunst und blossem Bauen. Und wir haben eine Antwort auf die einleitende Frage.
Trotzdem: Die zahllosen Anthologien zur Architekturtheorie, die in den letzten Jahren den Büchermarkt überschwemmten, lässt manch Einen nach dem Sinn fragen, scheint doch die heutige Baupraxis fast schon imprägniert gegen jegliche Theorie. Ákos Moravánszky, ETH-Professor und selber Verfasser einer dieser Anthologien schlägt aus dem Publikum eine Antwort vor: Er differenziert zwischen einer Architekturtheorie verstanden als Sammlung von Äusserungen der Praktiker, die seit Jahrhunderten publiziert, gelesen und an Hochschulen gelehrt werden und einer Architekturtheorie verstanden als geisteswissenschaftliche Disziplin. Diese sei seit den 1960er Jahren beständig dabei, Begriffe zu klären, wie in der Philosophie: Was ist Raum, Funktion oder Stil?
Etwas, was das vorgestellte Buch weder leisten kann noch leisten will. Es versammelt ausdrücklich nur Texte ausgewiesener Architekten, meidet modische aber vielleicht auch aufschlussreiche Ausflüge ins Reich der Philosophie oder der Naturwissenschaften. „Man braucht kein Schuster zu sein, um sagen zu können, wo der Schuh drückt“ so die damalige Begründung Moravánszkys, warum er in seiner letztes Jahr erschienenen Textsammlung auch Äusserungen von Nicht-Architekten einen Platz eingeräumt hatte. Allerdings: Wenn es daran geht einen Schuh herzustellen, wissen Schuster dann eben doch besser bescheid.
TagesAnzeiger, Fr., 2004.11.05