Die Architektur der Sowjetunion aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ein weisser Fleck der Architekturgeschichte. Dies gilt besonders für alles, was ausserhalb der russischen Kernrepublik geschah. Das vorliegende Buch beleuchtet nun erstmals umfassend das vielgestaltige und teils spektakuläre architektonische Schaffen in allen 14 nicht-russischen ehemaligen Sowjetrepubliken: im Baltikum, im Kaukasus, in Osteuropa und Zentralasien.

Dieses üppig illustrierte Buch basiert auf Recherchen einer Forschungsgruppe des Architekturzentrums Wien Az W, die in den vergangenen Jahren in Zusammenarbeit mit lokalen Experten das Schaffen dieser Sowjetmoderne kartografiert und analysiert hat. Es zeigt einen «zweiten Kontinent des architektonischen Modernismus» und ergänzt die traditionelle westliche Moderne um sensationelle Einblicke. Noch leben viele der Protagonisten – Architekten, Stadtplaner und Zeitzeugen –, deren Geschichten bisher nicht geschrieben und deren Werke noch nicht kontextualisiert wurden. Das vorliegende ist daher ein Meilenstein der Architektur-Geschichtsschreibung.

Herausgegeben vom Architekturzentrum Wien Az W. Zusammengestellt von Katharina Ritter, Ekaterina Shapiro-Obermair und Alexandra Wachter. Vorwort von Dietmar Steiner.

ISBN
978-3-906027-13-5
Beiträge von
Rasim Äliyev, Ruben Arewschatjan, Wladimir Belogolowski, Elke Beyer, Gamal Bokonbaev, Boris Chukhovich, Marija Dremaite, Anatolie Gordeev, Mart Kalm, Andreas Kappeler, Philipp Meuser, Rusudan Mirzikashwili, Rustam Mukimow, Ruslan Muradow, Feliks Nowikow, Vaidas Petrulis, Oleksiy Radynski, Katharina Ritter, Maija Rudovska, Ekaterina Shapiro-Obermair, Yuliya Sorokina, Iliana Veinberga, Alexandra Wachter und Dimitrij Zadorin
Publikationsdatum
2012
Umfang
360 Seiten, 634 farbige und 384 sw Abbildungen
Format
Softcover, 24.5 x 29 cm

Presseschau
31. Dezember 2012Andres Herzog
TagesAnzeiger

Mehr als Plattenbauten

Das Buch «Sowjetmoderne» versammelt Architekturperlen der ehemaligen UdSSR, die das Vorurteil kommunistischer Massenbauten widerlegen.

Monotonie, industriell vorgefertigte Einöde, Plattenbautristesse: Das Bild der Baukunst in der ehemaligen Sowjetunion beschränkt sich in unseren Köpfen meist auf Massenwohnungsbauten. Dem Vorurteil, dass hinter dem Eisernen Vorhang alle Gebäude in serieller Anonymität abgefertigt wurden, tritt das Buch «Sowjetmoderne» vehement entgegen.

Auf 300 bebilderten Seiten erzählt es die «unbekannten Geschichten» der sowjetischen Architektur zwischen 1955 und 1991. Die Breite des Archivs ist erstaunlich. Das Architekturzentrum Wien hat Gebäude aus allen 14 ehemaligen Sowjetrepubliken zusammengetragen, von Armenien bis Weissrussland.

Anders als der Titel suggeriert, bleibt Russland selber allerdings aussen vor. Die Autoren wollen die regionalen Besonderheiten an den Rändern des Sowjetimperiums beleuchten. Sie haben Dutzende von Perlen abseits der trostlosen Wohnsiedlungen aufgespürt: Museen, Verwaltungsbauten, Denkmäler oder Sportpaläste. In vier Kapiteln arbeiten sie sich vom Baltikum bis nach Zentralasien vor. Die Texte sind dabei so unterschiedlich wie die Bauten. Sie variieren zwischen akribischen, mit Verweisen gespickten Abhandlungen und heiter kritischen Kommentaren.

Alles, was in der Sowjetunion gebaut wurde, mussten die Funktionäre in Moskau abnicken. In den zentralen Republiken nahm man die Resolution «Über die Beseitigung von Unmässigkeiten bei der Planung und im Bauwesen» wörtlich. Gefragt war nicht Baukunst, sondern Bauproduktion. In der Peripherie war mehr Spielraum für Eigenheiten. In Zentralasien etwa wurden Mosaikoberflächen, Spitzbögen oder Kuppeln gebaut. Speziell in der usbekischen Hauptstadt Taschkent, die nach einem Erdbeben 1966 wiederaufgebaut wurde, waren Experimente möglich. Die Stadt wird als architektonisches Labor beschrieben, das die Vorteile des sowjetischen Modells demonstrieren sollte.

Besonders markant sind die ornamentalen Sonnenschutzgitter, die die Fassade des Lenin-Museums oder des Hotels Usbekistan schmücken. Auch in anderen Gebieten in Zentralasien war islamische Ornamentik möglich, obwohl Nikita Chruschtschow aufwendig gestaltete Fassaden 1954 noch als «architektonische Perversion» bezeichnete. Die Serialität führt hier nicht in die monotone Sackgasse: Aus der Wiederholung desselben vorgefertigten Betonelements wird ein reiches Muster.

Rarität im Baltikum

Auch im Kaukasus durfte man anders bauen. Georgien erhielt eine Sondererlaubnis, um von den einheitlichen Baunormen abzuweichen. Das Transportministerium in Tiflis von 1974 zeigt, welche architektonischen Kühnheiten dies erlaubte: Der Bau besteht aus zweigeschossigen Balken, die in alle vier Himmelsrichtungen weit auskragen. Das Haus wird zur Skulptur, die die Grenzen der Tragkonstruktion ausreizt. Die Zukunft solcher Baudenkmäler ist allerdings ungewiss. Im Zuge der Entsowjetisierung räumt die Regierung mit der Vergangenheit auf. Viele Gebäude aus jener Zeit werden plump verglast, rücksichtslos verändert oder abgerissen.

Auf eine besondere Rarität trifft man im Baltikum, wo Einfamilienhäuser mit Gärten gebaut wurden. Die kleinbürgerliche Ideologie widersprach zwar den kommunistischen Idealen. Doch um die Wohnungsnot in der Nachkriegszeit zu lindern, durften die Bürger auf eigene Kosten Eigenheime errichten. Ihre Grösse war allerdings auf 90 Quadratmeter beschränkt.

Wahre Baukunst

Anders präsentierte sich die Situation in Weissrussland, der «sowjetischsten aller Sowjetrepubliken», wo kaum Platz für regionale Architektur war. Wenn sich ein Entwurf bewährte, wurde er kurzerhand geklont. Dies zeigt sich etwa am Gebäude des Stadtkomitees in Minsk, dessen Ähnlichkeit mit dem Kongresspalast des Kremls nicht von der Hand zu weisen ist. In einem wortstarken Aufsatz wettert der Architekt Dimitrij Zadorin über den «leeren Eklektizismus, so primitiv, dass von Architektur nicht mehr die Rede sein kann». Der Baukunst sei das Recht geraubt worden, etwas auszudrücken. Statt eines Architekten habe die «Laune der jeweiligen Parteilinie» über ihren Stil bestimmt.

Das Buch beeindruckt mit einer Fülle an historischen Fotos und sorgfältigen Analysen, die allerdings nur selten auf die herausragenden Bauten eingehen. Sie beleuchten stattdessen die grossen Zusammenhänge. Die Publikation zeigt einen wenig beachteten Teil der Sowjetarchitektur. Fernab von Moskau trotzen die Gebäude dem Wohnungsbau ab Stange und stehen für eine Baukunst, die diesen Namen verdient.

TagesAnzeiger, Mo., 2012.12.31

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