Editorial

Dass der Bildung des Begriffs «Prothese» im 19. Jahrhundert eine Verwechslung der griechischen Wörter «prosthesis» (das Hinzufügen) und «prothesis» (das Voransetzen, der Vorsatz) zugrunde liegt, wirkt bis heute nach: Die englische Sprache (prosthesis) orientiert sich am materiellen Hinzufügen, die deutsche am linguistischen «Vorsatz» (Prothese analog zu Hypothese, Synthese).

In diesem Sinn findet der Begriff ursprünglich in der Architektur Eingang in den byzantinischen Sakralbau. Die «prothesis» bezeichnet den Raum für die Vorbereitung des Abendmahls und ist Teil des Bema, das aus dem Diakonikon, dem Presbytherion mit dem Altar und eben der Prothesis besteht. Als «prosthesis» ist sie ein Phänomen der architektonischen Moderne, was sich in «Phantomschmerz» niederschlägt, wie ihn der gleichnamige Artikel beschreibt.

Der Mensch ist ein «Mängelwesen». Ihm fehlen spezialisierte Organe. Er ist ein «infinito». Seine mangelhafte Morphologie zwingt ihn, die biologischen Mankos durch Prothesen zu kompensieren: Sprache, Technik, Kunst.

Den aufrechten Gang kompensieren wir mit dem Auto. Computer beschleunigen das Rechnen und die Kommunikation. Und weil unsere Behausung nicht, wie bei der Schnecke, Teil unserer Anatomie ist, bauen wir Häuser. Der Text «Künstliche Glieder» handelt von prothetischer Architektur.

Die Prothese verweist gleichermassen auf einen Mangel, eine Versehrtheit wie auf die Sehnsucht, diese Unvollständigkeit zu kaschieren und wieder ein Ganzes zu sein. Gerade dadurch aber betont sie das Manko auch, macht die Versehrtheit erst sichtbar. Diese Dialektik berühren die Architekten Meixner Schlüter Wendt mit dem Haus Wohlfahrt-Laymann, das unter dem Titel «Sehhilfe» thematisiert wird.
Rahel Hartmann Schweizer

Inhalt

WETTBEWERBE
Neue Ausschreibungen und Preise / Klare Strukturen in Olten / Ökonomie und Willkür in Zug / Alt und Jung in Zürich

MAGAZIN
Erst Kreditentscheid, dann Wettbewerb / Erneuerung des Wohnungsbestandes / Grösstes Urwaldschutzgebiet geschaffen / Kanton Zürich revidiert Richtplan / Asbestklage: verjährt / Kanton Bern fördert Wohnbauprojekte

KÜNSTLICHE GLIEDER
Rahel Hartmann Schweizer
Prothesen hat sich der Mensch immer schon geschaffen. Was der Antike das Mischwesen, ist dem 21. Jahrhundert der Cyborg.

SEHHILFE
Christian Holl
In dem von Meixner Schlüter Wendt umgebauten Haus Wohlfahrt-Laymann stehen das Alte und das Neue zueinander in einer prothetischen Beziehung.

PHANTOMSCHMERZ
Philip Ursprung
Die Auflösung von Raum und dessen Evokation als Fetisch, Bild oder Prothese ist ein mit der räumlichen Logik der Moderne verbundenes Phänomen.

GEISTIGE LEISTUNGEN UND PATENTE
Daniel Kündig
Das Unter-Schutz-Stellen von Architekturkonzepten unter das Immaterialgüterrecht gibt Anlass zur Diskussion der Patentwürdigkeit architektonischer Leistungen.

SIA
Recht: Garantie auf Garantiearbeit / SIA an der Swissbau 07: umsichtige Nachhaltigkeit

PRODUKTE

IMPRESSUM

VERANSTALTUNGEN

Künstliche Glieder

Künstliche Glieder hat sich der Mensch immer schon geschaffen – zur Kompensation seiner anatomischen Primitivität. Doch was als Befreiung vom morphologischen Korsett ins Werk gesetzt wurde, erweist sich als Regression.

Prothesen ersetzen Körperteile oder dehnen deren natürliche Funktionen aus: ob eine antike Zehprothese als Ersatz für den Verlust und zum Bewahren der Fähigkeit zur Fortbewegung (Bild 1) oder geschliffene Berylle zur Schärfung der Sehkraft im Mittelalter. Wo ihre Handfertigkeit nicht mehr ausreichte, haben sich die Menschen Mischgestalten aus Mensch und Tier ersonnen:
«vogelköpfige Menschen, Menschen mit Flügelpaaren, Vogel- und Fischmenschen (...), stirnäugige Riesen» [1].Hugo Härings Aufzählung wären Kentaur, Minotaurus, Sphinx hinzuzufügen (Bild 2).
Mit der Technisierung werden diese Mischwesen obsolet: «Der Sinn aller Technik ist das Werkzeug, die Prothese (...). Die Prothese (...), das ist das ablegbare Gliedorgan, das dem Menschen in der Entwicklung seiner anatomischen Gestalt die endgültige Befreiung brachte von der Notwendigkeit der Ausbildung körpereigener Organe zur Steigerung seiner Kampfkraft und seiner Leistungen im Laufen, Schwimmen, Fliegen, im Sehen und Hören. Die Prothese gestattete dem Menschen in anatomischer Primitivität zu verharren (oder zu anatomischer Primitivität sich zurückzubilden?), sich der Spezialisierung zu entziehen (...). Der Mensch (...) erreicht durch Prothesen Mannigfaltigkeit und Vielfalt der Leistungen und ein Ausmass derselben, das er bei der Ausbildung körpereigener Organe nie hätte erreichen können.»[2]

Dass sich der Mensch Prothesen anschnallt, ist ein Thema des 20. Jahrhunderts – Le Corbusier ist ihr bekanntester Verfechter: «Wir brauchen alle Mittel, um unsere natürlichen Fähigkeiten zu ergänzen (...); wir sind nackt geboren mit ungenügenden Waffen. (...) Das Fass des Diogenes, bereits eine Verbesserung unserer natürlichen schützenden Organe (Haut und Haar), gab uns die ursprüngliche Zelle des Hauses. (...) Unser Interesse gilt den mechanischen Systemen, die uns umgeben, die nichts anderes sind als eine Erweiterung unserer Gliedmassen, ihre Elemente, künstliche Glieder.»[3]

Architektur – ausgedrückt in «Haut-und-Knochen-Struktur» – wird zum Ersatz-Körper. Eine illustrative Beschreibung dieser Körperhaftigkeit liest sich bei Wolfgang Meisenheimer: «In einer Fassade wird die Bekrönung, das Dach als Kopf ‹gelesen›, der Sockel als Fuss. Gesimse sind wichtige ‹Körper-Horizonte› und markieren die Gliederhaftigkeit im Oben- und Unten-Verhältnis, das das Stehen auf der Erde ordnet.» Auch in den Details ortet Meisenheimer Körpermerkmale: Eingang und Ausgang, innerer Kern und äussere Haut, Schwellen, Filter und Schleusen, tragendes Gerüst und eingebettete Weichteile. Und er plädiert für eine Architektur, die bestimmte Bauteile wie Organe und Oberflächen wie Haut ausbildet, die altert: «Architektur zum Sehen, Hören, Tasten, Riechen.»[4]

Aber die Entwicklung geht weit darüber hinaus. Die Technik ahmt die Natur nicht mehr nur nach, wie es die organische Architektur anstrebte. Sie versucht mit ihr zu verschmelzen, die Grenzen zwischen natürlich und künstlich aufzuheben. Jacques Herzog und Pierre de Meuron wollen Architektur lebendig machen: «Wir glauben, dass Architektur mit dem Leben verschmelzen sollte, das Künstliche mit dem Natürlichen, das Mechanische mit dem Biologischen.»[5]
Die Gebäudehülle wird zum Organ, das nicht nur Kühlung, Atmung, Wasserabstossung (Lotuseffekt) gewährleistet, sondern von Nervensträngen und Blutbahnen durchzogen ist, wie in Werner Sobeks und Markus Holzbauers Projekt aus textilen Membranen «Paul» [6].

Der Traum aber ist, auch geistige Funktionen des Körpers in Architektur überzuführen, das Gebäude als kommunizierendes Wesen zu etablieren, als interaktives Beziehungsobjekt des Menschen.

Einer, der diese Dimension à fonds auslotet, ist Lars Spuybroek (NOX). Er entwirft Bauten, deren Geometrie sich in Abhängigkeit «äusserer» Einflüsse generiert, wie etwa der Wasserpavillon H2Oexpo in Neeltje Jans (NL, 1993–1997). Er installiert, wie im Projekt «The Future» für die Expo 02, Licht-, Temperatur-, Drucksensoren, die auf die Menschen, die sie bevölkern, reagieren, die registrieren, wo sie sich befinden, wohin ihre Blicke schweifen. Sie steuern den Zugriff auf eine Datenbank mit Bildern, die sie auf die Brillen (erneut Prothesen) projizieren, mit denen die Besucher ausgestattet sind (Bild 4). Die Prothese steuert die Prothese. Sie ist nicht künstliches Glied, die eine Schwäche der Sehkraft korrigiert oder ihren Verlust ersetzt, sondern sie manipuliert die Wahrnehmung selbst. Die Prothese, die der Mensch dank seiner Hirnleistung ersann, substituiert nun auch diese.

Und: Die Technik hat die Mischwesen (Bild 5) mitnichten in den archäologischen Reliquienschrein verbannt – im Gegenteil: Sie erfahren ein Revival als Cyborgs.

TEC21, Mo., 2007.02.19

19. Februar 2007

Sehhilfe

Man kann das von Meixner Schlüter Wendt umgebaute und erweiterte Haus Wohlfahrt-Laymann in der Kleinstadt Oberursel im Norden von Frankfurt als ein System aufeinander bezogener Sehhilfen verstehen: Das Neue macht Qualitäten des Alten sichtbar und umgekehrt, beide müssen freilich dafür ihre Autonomie aufgeben. Das Alte und das Neue stehen zueinander in einer prothetischen Beziehung.

Das englische Sprichwort «You can’t have your cake and eat it, too» bezeichnet einen Sachverhalt, der sich in vielen Zusammenhängen nachvollziehen lässt: Der Gebrauch einer Sache zerstört seine Existenz, aber rechtfertigt eben auch erst diese Existenz.
Das lässt sich auf die Architektur beziehen: Der Gebrauch des Hauses verändert es, es wird nie das bleiben können, was es nach seiner Fertigstellung gewesen ist. Deutlich wird dies vor allem dann, wenn ein Gebäude nicht mehr den Anforderungen entspricht, die an es gestellt werden. Ein Haus zu erweitern, umzubauen, umzunutzen, ist nur um den Preis des Verlustes der Qualitäten zu haben, die es ursprünglich ausgezeichnet haben.

Wer einen Umbau konzipiert, kann das Alte aber trotzdem nutzen, ohne gleich des Eskapismus bezichtigt werden zu müssen. Man kann dem Bestehenden etwas hinzufügen, das in einer neuen Sprache spricht, durch den Kontrast das Neue wie das Alte zu seinem Recht kommen lässt und damit ausdrückt, dass das Bestehende das Entstehende beeinflusst. Oft wird dabei der Weg gewählt, das Neue in der alten Hülle zu entwickeln und nur in einzelnen Elementen aussen abzubilden; ebenso populär ist die Variante, Neues und Altes nebeneinanderzustellen.

Ein dritter Weg

Die Frankfurter Architekten Meixner Schlüter Wendt haben keine dieser beiden gängigen Strategien gewählt, sondern eine dritte entwickelt. Die Aufgabe stellte sich in einem Einfamilienhaus­gebiet in Oberursel nördlich von Frankfurt. Ein auf einem Natursteinsockel stehendes Holzhaus aus den 1930er-Jahren sollte abgerissen werden, weil es für ein zeitgemässes Einfamilienhaus zu klein und seine Bausubstanz ungenügend war. Doch die Architekten reizte das traditionelle Haus als Ausgangspunkt einer architektonischen Auseinandersetzung, die nicht nur die Spuren der Veränderung nachvollziehbar machen sollte. Auch die Qualität der Räume mit ihrer eigenen Atmosphäre lockte, zumal sich Raumanordnung und Zuschnitt als geeignet erwiesen, die gewünschten Nutzungen aufzunehmen.

Aus Studien, in denen sich die Architekten unabhängig von diesem Entwurf mit dem Verhältnis von innen und aussen, mit Form, Raum und Volumen beschäftigt hatten, die sich durch die Umkehrung und Reduktion gewöhnlicher Raumsituationen ergeben, hatten sie ein Gespür für das Potenzial entwickelt, das banal oder selbstverständlich wirkenden Anordnungen zu entlocken ist. Anstatt nun das bestehende Haus abzureissen, umhüllten sie es mit einem Kubus, der fast bis an den First des bestehenden Hauses reicht. Damit entledigten sie sich der Aufgabe, die einfache Konstruktion an aktuelle Ansprüche und Vorschriften für Schutz- und Dämmwirkungen anzupassen. Die neue Hülle übernimmt diese Aufgaben, die alte brauchte nur instand gesetzt zu werden. Das hiess auch, dass der neue Kubus konstruktiv nicht mit dem alten verbunden werden konnte; die zweigeschossigen Wände, eine Mischkonstruktion aus Mauerwerk und Stahlbeton, werden also nicht durch eine Geschossdecke ausgesteift, diese Rolle müssen Fundamente und das über die ganze Grundfläche spannende Dach übernehmen.

Raumgewinn

Aber auf diese Weise kann die alte Raumdisposition genutzt werden und musste nur leichten Änderungen unterworfen werden. Der alte Kellerabgang etwa wurde geschlossen und in den Raum zwischen alter und neuer Aussenwand gelegt. Das Raumangebot konnte erheblich erweitert werden, zunächst dadurch, dass durch die neue Kubatur sich die Bereiche nach oben öffnen lassen, die bislang durch die Dachschräge beeinträchtigt waren.

Ausserdem gewannen die Architekten Raum, indem sie die neuen Aussenwände in unterschiedlichem Abstand zu den alten setzten und Zwischenräume verschiedenen Charakters schufen. Zur nach Westen gerichteten Gartenseite ist ein neuer, über zwei Geschosse geöffneter Wohnraum mit verglaster Front entstanden, zwischen ihm und den Räumen das Altbaus vermittelt die alte Veranda als Übergangsraum. Der dunkle Holzboden des neuen Raums verbindet sich mit der vor der Glasfassade liegenden Terrasse zu einer Einheit, die lediglich durch die Glasfassade in einen inneren und einen äusseren Teil getrennt wird. Nach Süden hin ist der neu gewonnene Raum so breit, die neue Kellertreppe aufzunehmen, im Norden ist er schmaler und bietet einen Nischen- und Rückzugsraum. Nach Osten hin wurde der Raum zwischen alter und neuer Hülle für haustechnische Installationen genutzt. Die Räume werden in Schichten unterschiedlicher Privatheit zwischen innen und aussen zoniert. Auch in dieser Hinsicht ist der Schutzbedarf gestiegen, die Nachbarn sind näher gerückt, als es früher der Fall war.

Schnitte und Abstraktionen

Seine besondere Qualität bekommt das Entwurfskonzept aber erst durch die Idee, die Öffnungen des alten Hauses mit Stutzen bis zur neuen Hülle hin zu verlängern – und sie umgekehrt von dort, wo der Raum erweitert werden soll, wo mehr Licht notwendig ist, auf das Alte zu projizieren und es aufzuschneiden. Dies geschieht in vertikaler wie in horizontaler Richtung: in der Vertikalen, wo sich die Dachgeschosse zu einem neuen Luftraum öffnen, in der Horizontalen, etwa nach Westen, wo sich das Obergeschoss über einen in den Wohnraum hineinragenden Arbeitsraum erweitert, oder vom Essraum, von wo ein neuer Erker an die Aussenwand führt und in der Horizontalen und der Vertikalen räumliche Bezüge öffnet.
Man kann es auch anders herum lesen: Wie eine neue Schutzhülle wird die neue Kubatur um das Haus gelegt, spannt es ein und stützt es. Die Öffnungen in der neuen Hülle nehmen dieses Spiel auf, sie enthalten die Öffnungen der Erweiterungen, bilden aber auch die alten Fenster und die bisherige Gebäudeform ab und machen damit die Idee der Stutzen zu einem Thema der Fassade. Die Einschnitte in der tiefen Aussenwand geben den Blick auf den innen liegenden Kern frei.

Um ihr Konzept nicht zu plakativ werden zu lassen, um das alte Haus nicht zu einem Museumsstück, das mit Sentimentalität an alte Zeiten erinnert, zu degradieren, haben die Architekten es durch einen einheitlichen, elfenbeinfarbenen Farbanstrich verfremdet und abstrahiert. Erst so schafft die alte Form die Distanz zu seiner Geschichte, die es der neuen Aneignung öffnet. Die Volumen, die zwischen Alt und Neu verbinden, sind in einem Papyrusweiss gestrichen, das sich mit seiner leichten Grautönung vom warmen Weiss des Bestands und dem kalten der neuen Hülle absetzt. Die Aussenwand schliesslich ist in einem dunklen Grau gestrichen, das einen hohen Grünanteil enthält und sich der Vegetation der Umgebung, einem gewöhnlichen Einfamilienhausgebiet, einfügt. Die Einschnitte in diese Hülle machen den gelblichen Kern sichtbar, der durch den Farbkontrast weich und verletzlich wirkt und die neue Hülle als bewahrenden Schutzmantel erscheinen lässt. Letztlich braucht aber beides, das Alte wie das Neue, des jeweils anderen Hilfe, um seine Qualitäten entwickeln zu können.

Künstlerische Parallelen

Die Architekten weisen darauf hin, dass Analogien zwischen dem Haus Wohlfahrt-Laymann und Arbeiten von Künstlern wie Gordon Matta-Clark oder Gregor Schneider bestehen. Und in der Tat, so wie bei Schneider das Haus Ur durch Eingriffe in die selbstverständlich scheinende Struktur des Hauses, durch Aufbrechen seiner Oberflächlichkeit und Gewöhnlichkeit, neue Räume, ­Abbilder des Untergründigen und Unbewussten preisgibt, die in der Alltäglichkeit latent enthalten sind, so wie Gordon Matta-Clark Schnitte und Zerstörungen vornehmen muss, um die Tiefenstruktur eines Gebäudes sichtbar werden zu lassen, so wie beide das Vorhandene verändern und zerstören müssen, um etwas Verborgenes sichtbar zu machen, so haben auch die Architekten das alte Häuschen im traditionalistischen Gewand zu einem gewissen Grad zerstören müssen, um es zu einem Teil des Heute werden lassen zu können, das sich nicht dagegen sperrt, gebraucht zu werden, wie es eine Musealisierung bewirkt hätte. Es liesse sich auch die englische Künstlerin Raquel Whiteread in die Reihe der Referenzbeispiele einfügen, die den Abguss eines Londoner Allerweltshauses in Beton erstellen lassen konnte, weil es abgerissen werden sollte. Auch beim Haus, das Meixner Schlüter Wendt transformierten, stand am Anfang der Gedanke, das Haus abzureissen, bevor die Architekten dem Bauherrn ihre Strategie unterbreiteten und ihn überzeugten. Erst die Option des Abrisses eröffnete die Spielräume, ein bislang ungenutztes Potenzial des Hauses zu aktivieren – und auch das ging nur, weil das Alte in wesentlichen Elementen aufgegeben wurde. Das Haus Wohlfahrt-Laymann macht sichtbar, dass Bewahren und Nutzen weiter auseinander liegen, als es die Konzepte suggerieren, die die Veränderung verbergen.

Das Haus Wohlfahrt-Laymann ist auf mehreren Ebenen prothetisch. Zunächst einmal interagieren die beiden Baukörper konstruktiv nicht. Der Neue ist statisch unabhängig und tangiert den Alten auch in seiner Dämmwirkung nicht, der Neue übernimmt diese Funktion. Aber inhaltlich sind die beiden aufeinander bezogen: Die Stutzen bzw. Projektionen stärken und erweitern räumliche Qualitäten des Alten, indem sie sie in neue Raumgefüge überführen. Das Alte muss beschnitten werden, damit es mit dem Neuen wieder zu einem Ganzen wird. Das Neue «konserviert» die Geschichte des Alten, ohne es zu musealisieren, bewahrt es vor der Nutzlosigkeit, nur noch Torso zu sein, und ist mithin dessen Vehikel in die Zukunft.

TEC21, Mo., 2007.02.19

19. Februar 2007 Christian Holl

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