Editorial
Editorial
Nach einer ganzen Reihe von Schwerpunktheften ist das vorliegende Heft zur Abwechslung wieder einmal eine Sampler-Ausgabe mit einem bunten Mix von Artikeln. Wobei es ja auch Schwerpunkte gibt, die nicht in einem Heft abgehandelt werden, sondern ganz unauffällig und manchmal auch unbeabsichtigt über mehrere Hefte verteilt zu solchen werden.
Einer von diesen heimlichen Schwerpunkten ist Sofia gewidmet. Er hat in Heft 24 mit Ivaylo Ditchevs Artikel Sofia, fluide Stadt begonnen und wird in dieser Ausgabe mit dem Beitrag Stadtlaboratorium Sofia – Beobachtungen zur postsozialistischen Stadtentwicklung von Dagmar Grimm-Pretner und Philipp Rode, der die aktuelle Situation und Problemlagen der postsozialistischen Stadtplanung in Sofia mit Bezug auf die Freiräume zum Thema hat, fortgesetzt. Zwei weitere Texte über Sofia folgen in den nächsten Heften.
Jens Becker und Jascha Keller informieren uns in ihrem Beitrag Netzwerkbasierte Stadtaußenpolitik über die Ausbreitung staatlich-privater Netzwerke auf nationaler und transnationaler Ebene als Folge der um sich greifenden Vernetzungs-, Kooperations- und Konkurrenzlogik der postfordistischen Regulationsweise. Anhand der Stadtaußenpolitiken von Berlin, Wien, Budapest und Warschau, des Städtenetzwerkes Eurocities und an Beispielen einer tendenziell transnationalen Beschäftigungspolitik illustrieren sie einen „Überbau-Hokuspokus“, der nur wenig zu realen Problemlösungswegen, etwa in der Beschäftigungspolitik, beiträgt.
Denis Duclos schildert in seinem Beitrag Stolz auf den Beton die Rebellion der französischen Vorstadtjugend als Teil einer dynamischen Kultur. Duclos verharmlost nicht das Bandenunwesen, das „unerträglich“ sein mag, sieht aber auch die Chance auf eine neue gesellschaftliche Solidarität, die jedoch eine „echte Integrationspolitik“ voraussetzt.
André Krammer wirft mit Jenseits der Stadt auf Maggie´s Farm einen neuen Blick auf Frank Lloyd Wrights Stadtvisionen. Sein besonderes Augenmerk gilt dem Konzept der Broadacre City, die dem europäischen Denken aufgrund des fehlenden Zentrums stets fremd geblieben ist.
In Sie nennen es Arbeit stellt uns Oliver Frey sein Konzept der amalgamen Stadt vor. Frey hat sich in den letzten Jahren intensiv mit den kreativen Milieus und den Konzepten der Creative Industries beschäftigt und sieht trotz der – auch in dérive geäußerten – Kritik an der Ökonomisierung der Kreativität, die damit meist einhergeht, die Chance, dass aus dem „Humus“ der kreativen urbanen Milieus eine „offene und tolerante Stadtgesellschaft erwachsen kann“.
Markus Miessen erörtert in seinem Beitrag Spatial Practices as a blueprint for Human Rights violations die Beziehung zwischen Raum und Macht. Er widmet sich der Frage, inwieweit räumliche Bedingungen die bewusste Verletzung von Menschenrechten beeinflusst haben. Als Beispiel hierfür dienen ihm in erster Linie die Gefängnisanlagen auf dem Militärstützpunkt Guantanamo auf Kuba, dessen Schließung trotz mehrfacher Ankündigung – auch von George W. Bush – nach wie vor nicht auf der Tagesordnung steht.
Im Mittelpunkt des Textes Reflexionen der phantastischen Stadt von Thomas Ballhausen stehen die „poetischen Lesebücher einer urbanen Mythologie“ des Schriftstellers Herbert J. Wimmer. Michel Butors Die Stadt als Text dient Ballhausen als Einstieg in das Universum der Romane Wimmers. Die in diesen beschriebenen Städte gleichen semiotischen Rätseln, nicht verwunderlich also, dass „zum detektivischen tendierende menschen“ für Wimmer die idealen LeserInnen sind.
Dass Kunst im wahrsten Sinne des Wortes Schmerzen verursachen kann und sogar gebrochene Zehen zurückbleiben können, zeigt Daniel Kalt in der neuen Folge seiner Serie über Street Art. Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden, was aber wahrscheinlich nichts nutzt, weil der Titel bereits den entscheidenden Hinweis gibt: Kunst ist kein Kinderspiel. Die Berliner Mediengruppe LM/LN und ihr Concrete Soccer. Manfred Russos Serie zur Geschichte der Urbanität geht in Runde 18 und widmet sich diesmal dem ennui: Das Leiden des Flaneurs. Erik Meinharter stellt uns das Projekt >> 4816 vor und damit eine sehr schöne neue Methode durch die Stadt zu schweifen.
Für die dérive Abo-Aktion gibt es diesmal zwei Bücher zur Auswahl:
Ein Buch bekommt, wer dérive für zwei Jahre abonniert. Bei Auslandsbestellungen müssen wir aufgrund des hohen Porto beim Buchversand, dieses extra berechnen. Alle Details gibt es auf der vorletzten Seite oder auf www.derive.at.
Die nächste Ausgabe von dérive erscheint Anfang April mit dem Schwerpunkt Stadt hören (Redaktion: Peter Payer).
dérive-AbonnentInnen können sich im April nicht nur auf das spannende Heft, sondern zusätzlich und kostenlos auch auf die beigelegte CD Sehen mit Ohren von Ulrich Troyer freuen, die sich akustisch der differenzierten Raumerfahrung blinder Menschen nähert.
Ich hoffe, Sie wissen, was Sie jetzt zu tun haben, wenn Sie noch kein Abonnement besitzen! Christoph Laimer
Inhalt
Editorial
Christoph Laimer
Netzwerkbasierte Stadtaußenpolitik | Jens Becker, Jascha Keller
Stadtlaboratorium Sofia | Dagmar Grimm-Pretner, Phillip Rode
Jenseits der Stadt auf Maggie‘s Farm. Zur Aktualität von Frank Lloyd Wrights Stadtvisionen | André Krammer
Stolz auf den Beton | Denis Duclos
Sie nennen es Arbeit.
Die „Planung der Nicht-Planung“ in der „amalgamen Stadt“ der kreativen Milieus | Oliver Frey
Reflexionen der phantastischen Stadt | Thomas Ballhausen
Kunstinsert:
CaravanCabin | AVPD
Spatial Practices as a Blueprint for Human Rights Violations | Markus Miessen
Kunst ist kein Kinderspiel. Die Berliner Mediengruppe LM/LN und ihr Concrete Soccer | Daniel Kalt
Stichprobe Stadt – Das Projekt >> 4816 | Erik Meinharter
Serie:
Geschichte der Urbanität: Transformationen der Öffentlichkeit, Teil III; Der Flaneur III – Der ennui. Die Leiden des Flaneurs | Manfred Russo
Besprechungen
Stadt- und wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968. Bernd Hüttner über Wo-Wo-Wonige! von Thomas Stahel | Bernd Hüttner
Temporäre Bauten. Robert Temel über Architektur auf Zeit. Baracken, Pavillons, Container herausgegeben von Axel Doßmann, Jan Wenzel und Kai Wenzel | Robert Temel
Rossi und die Stadt. André Krammer über Das Gedächtnis der Stadt. Von Boullée bis Rossi von Katharina Brichetti | André Krammer
Aufbruch aus dem Wintergarten. André Krammer über die Ausstellung Un jardin d’hiver präsentiert Bottom up. Bauen für eine bessere Welt. 9 Projekte in Johannesburg | André Krammer
Baukultur in Salzburg. Heinz Kaiser über Stadtbühne und Talschluss Baukultur in Stadt und Land Salzburg und LP architektur von Norbert Mayr | Heinz Kaiser
Archäologie und Kartografie. Robert Temel über 6|44 – 5|45 Ungarisch-Jüdische ZwangsarbeiterInnen. Ein topo|foto|grafisches Projekt von Maria Theresia Litschauer | Robert Temel
Immer wieder Henri Lefèbvre. Erik Meinharter über Rights to the City herausgegeben von Doris Wastl-Walter, Lynn A. Staeheli und Lorraine Dowler | Erik Meinharter
Sei nicht freundlich! Zu Keinem! Elke Rauth über Jugendgericht von Eva Schlegel und Eva Würdinger | Elke Rauth
Landschaftsurbanismus. Erik Meinharter über The Landscape Urbanism Reader herausgegeben von Charles Waldheim | Erik Meinharter
Same, but different. Erik Meinharter über die Landschaftsarchitektur-Zeitschriften ´scape und JoLa | Erik Meinharter
Den Glauben verlieren und Räume produzieren. Andreas Rumpfhuber über Did Someone Say Participate? An Atlas of Spatial Practice von Markus Miessen und Shumon Basar (Hgg.) | Andreas Rumpfhuber
Beispielsweise „Frank und frei“. Susanne Veit über Texte zur Architektur von Friedrich Kurrent | Susanne Veit
5 Codes – Farben der Angst. Christoph Laimer über 5 Codes – Architektur, Paranoia und Risiko in Zeiten des Terrors herausgegeben von IG Made | Christoph Laimer
Filmische Kartografien – Anlässlich der Viennale 2006 | Ursula Probst
Stichprobe Stadt
(SUBTITLE) Das Projekt >> 4816
4816 ist Wien. Die Stadt hat im Global Positioning System die Lage 48° nördlich des Äquators, und 16° östlich von Greenwich, daher beginnen alle GPS-Koordinaten in Wien mit N48° E16°.
Das Projekt >>4816 von Evamaria Trischak in Kooperation mit Nina Achathaller (Konzept), Oswald Berthold und sansculotte (Datenbank) vermisst die Stadt neu. Es wendet GPS-Minutenschnittpunkte1 – also Punkte, die sich als vierstelliger Code lesen lassen – als Raster auf die Stadt an, um mit Hilfe freiwilliger TeilnehmerInnen eine neue Form der Stadtbeschreibung zu vollziehen. Alle DokumentarInnen sind aufgefordert diese Orte aufzusuchen und mittels Fotos in die vier Haupthimmelsrichtungen und einem kurzen Kommentar festzuhalten. Diese Dokumentationen werden dann in eine Datenbank übernommen und online abrufbar zur Verfügung gestellt. Der fortlaufende Prozess der Kartierung wird dadurch auf der Website direkt ablesbar.
Im gesamten Stadtgebiet gibt es 185 dieser Kreuzungspunkte. Auf Grund der Gleichwertigkeit aller Punkte findet ein „Aufheben der Differenz von Peripherie und Zentrum“* statt. Die teilnehmenden Personen erweitern gleichzeitig mittels ihrer „Erkundungsfahrten“* zu den Minutenschnittpunkten ihre Sichtweisen auf die Stadt. Diese Orte können sich, aufgrund der Rückprojektion eines mathematischen Rasters in den Raum, auch als schwer zugänglich erweisen.
Der methodische Ansatz hat einerseits Ähnlichkeiten mit einer naturwissenschaftlichen Untersuchung, die beispielsweise um Pflanzengesellschaften zu beschreiben die statistische Repräsentativität von zufälligen Punktverteilungen auf das zu untersuchende Areal anwendet2, ihr fehlt jedoch jeglicher Objektivierungsanspruch hinsichtlich einer statistischen Repräsentativität. Anders als bei den künstlerischen Konzepten des Figurenfahrens der Situationistischen Internationale wird keine Figur in die Stadt eingeschrieben, sondern die Stichprobe als singuläre Repräsentation der Stadt aufgefasst.3
Über die Dokumentation der Aufnahmen wird deutlich, wie die Stadtform als Konstruktion wahrgenommen wird, abhängig davon unter welchem System man sie betrachtet. Das Projekt >>4816 streicht damit sowohl die Abhängigkeit der Stadtbeschreibung von ihren gewählten Mitteln hervor, wie es auch die TeilnehmerInnen auf Reisen zu unbekannten Punkten der Stadt schickt, und generiert aufgrund der Möglichkeiten neuer Stadterfahrungen neue individuelle Stadtbeschreibungen. Anders als bei einer spielerischen Form des „Geocoaching“4 findet die Person keinen Gegenstand, sondern einen unbekannten Ort der Stadt als seinen „Schatz“. Diese dokumentierten Reisen finden sich im Forum der TeilnehmerInnen dann wieder. Dort werden beim Aufsuchen der Punkte erlebte Erfahrungen ausgetauscht. Schwierigkeiten und Problempunkte, wie aber auch konkrete Erlebnisse werden dokumentiert, ein „Schatz“ an Erzählungen zur Stadt versammelt. Die Gemeinschaft derer, die diese spezifischen Orte ansteuern, verstärkt sich im Online-Forum. Die Gruppe der >>4816-DokumentaristInnen bildet wie die der rasterförmige Stadtbeschreibung über die Vernetzung der Einzelpersonen im Online-Forum einen virtuellen „öffentlichen“ Raum.
Damit wird mit dem Projekt nicht nur die Abstraktion eines scheinbar exakten, mathematischen netzförmigen Prinzips von Knotenpunkten auf die Stadt angewandt, sondern auch auf die räumlich fragmentierte Gemeinschaft der Punktsuchenden selbst. Im Netzwerk der Erfahrungen wird dann gemeinsam die Hoffnung ausgesprochen, dass ein baldiges Zufrieren des „Schwanensees“, doch noch die Erreichbarkeit eines Punktes ermöglicht. Um so die „Stichprobe Stadt“ zu vervollständigen.
[ Erik Meinharter ist Redakteur von dérive, Mitarbeiter eines Planungsbüros und Lektor an der Universität für Bodenkultur. ]
Alle mit (*) gekennzeichneten Zitate sind der Website entnommen.
dérive, Sa., 2007.02.03
[1] Exakte Schnittpunkte sind in der Vermessungstechnik und damit auch in der Anwendung eines Global Positioning Systems (GPS) nur Annäherungen. Dabei ist anzumerken, dass das Konzept sich einer Stadt mittels einer Maschine der Approximationswissenschaft anzunähern durchaus poetische Kraft besitzt.
[2] Zum Beispiel wird bei der Vegetationsaufnahme nach Braun-Blanquet der Ansatz verfolgt, über eine möglichst repräsentative Verteilung der Stichproben (Aufnahmefelder)
Vegetationsgemeinschaften in räumlicher Verteilung in Kategorien einteilen zu können.
[3] Das Figurenfahren mit Hilfe von GPS findet sich zum Beispiel beim auf der Website dieses Projektes verlinkten Global Positioning System Drawing Project. www.gpsdrawing.com
[4] Neben dem Zweig des Geocoaching, bei dem sich eine Gemeinschaft der Schatzsuchenden in spielerischer Form über das Werkzeug GPS versammelt (z.B. www.geocoaching.de), existiert auch ein aufsteigender Geschäftszweig, der digitale Informationen von Routen im GPS-Format anbietet, die dann als Rad-, Wander- oder Kulturrouten fungieren können (z.B. www.gps-tour.info, www.kompass.at/gps-touren.htm, www.geo-coaching.net)
03. Februar 2007 Erik Meinharter
Netzwerkbasierte Stadtaußenpolitik
In der Europäischen Union hat sich, basierend auf einer netzwerktheoretischen Governance-Konzeption (Castells 2003), ein politisches Mehrebenensystem herausgebildet (Hugert 2002), welches die „Funktionsweise und die Ergebnisse von Prozessen der Produktion und Erfahrung, Macht und Kultur wesentlich“ verändert (Castells 2001, S. 527 f.). Ein Ergebnis der um sich greifenden Vernetzungs-, Kooperations- und Konkurrenzlogik, der postfordistischen Regulationsweise, ist die Ausbreitung staatlich-privater Netzwerke auf nationaler und transnationaler Ebene. Darin einbezogen sind auch Metropolen oder Metropolregionen, die wichtige Akteurinnen in der politischen Arena der EU geworden sind (Heeg 2001). Anhand der Stadtaußenpolitiken von Berlin, Wien, Budapest und Warschau, des Städtenetzwerkes Eurocities und an Beispielen einer tendenziell transnationalen Beschäftigungspolitik wird im folgenden Artikel ein Überbau-Hokuspokus illustriert, der wenig zu realen Problemlösungswegen, etwa in der Beschäftigungspolitik, beiträgt. Zum Untersuchungsgegenstand gehören Interaktions- und Ideologiefacetten, die sich in verschiedenen erhobenen ExpertInneninterviews wieder finden.[1]
Die unternehmerische Stadt
Bereits 1989 hat David Harvey auf die Transformation des urbanen Regierens im Spätkapitalismus hingewiesen und den dafür adäquaten Begriff der unternehmerischen Stadt eingeführt. Er nimmt Bezug auf städtische Eliten, deren Selbstverständnis nach eine Stadt wie ein „Konzern“ zu führen ist. Die Wirkmächtigkeit dieser „Erzählung“[2] zeigt sich am Umbau der städtischen Verwaltungen zu kundenorientierten „Dienstleistungsunternehmen“, der Einführung betriebswirtschaftlicher Controlling- und Buchhaltungsverfahren und der Kostenberechnung von städtischen Leistungen. Ähnlich wie im privaten Sektor zählen für eine unternehmerische Stadtpolitik Risikobereitschaft, Einfallsreichtum, Marketing und Gewinnorientierung. Etabliert hat sich somit ein neues akademisches Vokabular[3] über Städte als Wachstumsmaschinen, mit Stadtwerbung als Standortmarketing sowie Sanierung als Revitalisierung: „Der Mangel an Konkurrenzfähigkeit ist ein nationales Problem – aber noch ein größeres urbanes Problem: (…) das große Bild ist klar. Viele Städte bleiben hinter ihren Mitbewerbern zurück, was das Bruttoinlandsprodukt, die Innovationsebene, die Bildungsebene, die Anschlussfähigkeit, den sozialen Zusammenhang, die Lebensqualität, die politische Leistungsfähigkeit und Anbindung an das ,Umland‘ betrifft. Entscheidend ist, dass diese Städte in den Augen von internationalen Investoren hinterher hinken. Dies wird durch die Tatsache verschlimmert, dass europäische Städte allgemein nicht gut abschneiden“ (Parkinson/Simmie/Clark/Verdonk 2004, S. 5). So gerät die durch Globalisierungssachzwänge „nodalisierte Stadt“ (Altvater/Mahnkopf 2002, S. 103 ff.) in den Sog einer Wettbewerbsfähigkeits- bzw. Standortideologie, von der sie sich nicht mehr lösen kann. Offenbar können Städte nicht mehr als historisch gewachsene „Integrationsmaschinen“ verstanden werden, sondern nur noch nach ihrer Funktion im globalisierten Netzwerk (Altvater/Mahnkopf 2002, S. 104).
Das Metropolennetzwerk
Das Projekt Eurocities, in dem Berlin, Budapest, Warschau und Wien mitarbeiten, kann als strategisches, politikorientiertes Metropolen- oder Entscheidungsnetzwerk definiert werden. Vorgesehen ist, dass nur Städte mit einer Mindesteinwohnerzahl von 250.000 Mitglied werden können.
Eurocities fungiert als wichtiger Gesprächspartner der europäischen Institutionen im Zusammenhang mit stadtpolitischen Angelegenheiten.
Es ist, so formulierte ein Berliner Strategiepapier, „der gegebene Partner für einen politisch nachhaltigen Transport eigener Anliegen“. Zu seinen wichtigsten Funktionen zählen Netzwerk-, Lobbying- und Kampagnenarbeit. Der Anspruch des Netzwerkes ist klar formuliert, korreliert mit dem horizontalen, das heißt dezentralen Politikansatz (Huget 2002) der EU und veranschaulicht die Philosophie einer modernen transnational ausgerichteten Stadtaußenpolitik: „Städte können voneinander lernen, indem sie ihr Wissen teilen, Erfahrungen austauschen, unterschiedliche Zugänge vergleichen, innovative Lösungen ausprobieren und die besten Praktiken (best practices) analysieren.“[4]
Neben den turnusmäßigen Jahrestreffen sind es vor allem Komitees, etwa das für die folgenden Überlegungen relevante Komitee Economic Development and Urban Regeneration (EDURC), in denen wichtige themenspezifische Informationen zusammenfließen. Im EDURC wurde beispielsweise diskutiert: „wie organisieren sich Städte, um Unternehmer zu unterstützen?“ (Hve). In diesem Sinne setzten die Studien von Parkinson (2002, 2004) besondere Akzente, welche die Wettbewerbsfähigkeit der Städte im Zeitalter der Globalisierung in den Vordergrund stellen.
Die befragten ExpertInnen stimmten der These zu, dass EDURC auf die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Städte im Sinne der Lissabon-Strategie, die u. a. auch auf eine Steigerung der Beschäftigung und Beschäftigungsfähigkeit (employability) abzielt, hinarbeite. Sie teilten die Vorstellung, Städte seien auf Wettbewerbsprinzipien basierende Wachstumsmaschinen, die sich auch im Eurocities-Memorandum European cities as engines of job creation (1996) wieder findet.
Zur Erreichung dieser Ziele sind informelle Kontakte auf ExpertInnenebene am Rande von Konferenzen, via Email oder Telefon von großer Bedeutung. Wichtig erscheint dabei die Intensität der Kontakte, Vertrauen und Verlässlichkeit, das heißt die persönliche Ebene innerhalb von Eurocities, für mögliche Projektvorhaben oder für Informationen von Projekten, an denen man nicht selbst teilnehmen kann.[5] Dabei geht es nicht nur um den Austausch von primären Erfahrungen, von Projektinhalten, sondern auch um den von sekundären Erfahrungen: Wie initiiert man erfolgreich ein vom Europäischen Sozialfonds (ESF) gefördertes Projekt? Wie stellt man einen erfolgreichen Antrag? Wie hat die Lobbyarbeit dafür zu erfolgen?
Metropolenpolitik in Eurocities
In Berlin vollzog sich in den 1990er Jahren der Umbruch von einer fordistischen zu einer postfordistischen Stadtpolitik. Die auch durch die „Wiedervereinigung“ verursachte Massenarbeitslosigkeit stieg rapide an und betrug im Durchschnitt 17 bis 19 Prozent – 2005/2006 liegt sie bei etwa 16 bis 17 Prozent. Mit Bundes- oder Landesmitteln und den tradierten Methoden der Arbeitsmarktpolitik konnte sie nicht signifikant bekämpft werden. Aus der Sicht der Berliner Senatsverwaltung avancierte daher Netzwerkpolitik, etwa in Eurocities, zum Bestandteil erweiterter beschäftigungspolitischer Handlungsmöglichkeiten im Rahmen der EBS, die für Metropolen wie Berlin eine wichtige Komplementärfunktion zur bundes- und landespolitischen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik erlangen sollen. Eine städtische Expertin charakterisierte das Städtenetzwerk als ein vom „intensiven Austausch“ Geprägtes (Kre). Im EDURC wurden Best-Practices-Erfahrungen ausgetauscht und über Strategien urbaner Beschäftigungspolitik diskutiert.
Mittlerweile hat der Elan, mit dem die Berliner AkteurInnen Arbeitsmarktpolitik im Rahmen von Eurocities umsetzen wollten, nachgelassen. Wichtige MitarbeiterInnen wurden versetzt, die fünfzehnköpfige Eurocities-Arbeitsgruppe Employment“ hat keine/n Berliner Vertreter/in. Die einstige EDURC-Koordinatorin und ihr Team haben andere Aufgaben bekommen. Der Verweis auf den „relativ hohen Mitgliedsbeitrag bei Eurocities“, den man erst mal reinspielen müsse, deutet die Gewichtsverlagerung an (Hsa). Nunmehr bevorzugt Berlin eine ertragsorientierte und weniger eine strategische Eurocities-Mitgliedschaft, die weniger einer inhaltlichen, sondern vielmehr einer funktionalistischen Perspektive folgt: „Eine wichtige Funktion von Eurocities ist das Lobbying für städtische Belange in Brüssel. Was machen die mit dem Geld, was wir denen überweisen, ohne das Berlin weiter was tut?“ (Hsa).
Angesichts einer in den neunziger Jahren stetig steigenden Arbeitslosigkeit – zwischen 1990 und 2004 stieg in Wien die Arbeitslosigkeit von 5,8 auf 9,9 Prozent – erkannte die Wiener Stadtpolitik die Begrenztheit klassischer Arbeitsmarktpolitik (Arbeitsbeschaffung, Alimentierung verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit etc.), öffnete sich neuen Politikformen, begann mit einer Redefinition relevanter Zielgruppen und reorganisierte die Wiener Arbeitsverwaltung. Entdeckt wurden unter anderem Jugendliche, Frauen und MigrantInnen. Diese Zielgruppen passen zur EU-Förderpolitik. Transnationale Kooperation gilt seither als strategischer Erfolgsfaktor der Wiener Stadtaußenpolitik, die Arbeitsmarktpolitik als einen ihrer Eckpfeiler ansieht. Im EDURC diskutierte Wien Ende der 1990er Jahre die Umsetzung des Konzepts der unternehmerischen Stadt und lobbyierte zusammen mit anderen Metropolen für eine Aufwertung der europäischen Metropolen im institutionellen Gefüge der EU. Metropolen sollten als de-facto-autonome Verhandlungspartner von den europäischen AkteurInnen anerkannt werden.
Das Engagement in Eurocities half Wien, mit ESF-unterstützten Projekten seine arbeitsmarktpolitischen Institutionen und Programme zu optimieren, auch im Sinne einer „Optimierung“ des lokalen Arbeitsmarktes. Das passt zu den Schlagwörtern workfare und employability der europäischen Beschäftigungsstrategie. In Wien drückt sich diese als „bedarfsgerechte Qualifizierung“, als „vorausschauende Arbeitsmarktpolitik“ aus (Strategieplan Wien 2004, S. 60ff.).
Ähnlich wie Wien hat Budapest ziemlich schnell einen aktiven Part bei Eurocities übernommen und ist in mehreren Komitees, so auch im EDURC, und in diversen Arbeitsgruppen vertreten. Der EDURC generiert aus Budapester Perspektive Innovationen des „lokalen Ansatzes“ in (ESF-geförderten) Projekten. Der Bedarf nach Finanzmitteln wurde von den GesprächspartnerInnen klar signalisiert, obwohl sich Budapest mit einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von knapp 3,0 Prozent im Vergleich zu den anderen untersuchten Städten in einer komfortablen Situation befindet. Insbesondere für strukturschwache Regionen oder Stadtteile und arbeitsmarktpolitische Problemgruppen – zu nennen wären etwa die tendenziell marginalisierten Roma, die auch im ungarischen Realsozialismus staatlichen Schikanen ausgesetzt waren – sind EU-Gelder willkommen: „Aber der Zugang zu dem europäischen Sozialfonds läuft über die regionale Ebene. Ich glaube, es wird unsere Aufgabe für die kommenden Jahre sein, solche Programme und Maßnahmen für die regionale Ebene auch auszuarbeiten und zu starten.“(Kpi).
Anders als Budapest verhielt sich Warschau vor dem EU-Beitritt Polens zurückhaltend. Zwar lag die Arbeitslosenquote in Warschau mit 6-8 Prozent weit unter dem Landesdurchschnitt (2005: rund 18 Prozent) und ist somit relativ niedrig. Doch fehlte es insbesondere den für Arbeitsmarktpolitik zuständigen Kreisarbeitsämtern an finanziellen Mitteln, da sie von der Stadtadministration nur wenig Unterstützung erwarten konnten. Trotz PHARE- und anderen EU-Programmen, die in den 1990er Jahren auch in Polen implementiert wurden, überwog zumindest bei vielen der befragten Warschauer AkteurInnen eine gewisse Selbstreferentialität. So war der Nutzen einer Eurocities-Mitgliedschaft innerhalb der Stadtverwaltung umstritten. Die Organisation erschien zu groß, mit zu vielen Mitgliedern: „It’s a kind of disappearance in this network.“(Pbm) Warschau konnte zu diesem Zeitpunkt mit der Eurocities-spezifischen Verkehrsform, in Komitees und Arbeitsgruppen zu agieren und Interessenpolitik zu betreiben, wenig anfangen (Pbm). Netzwerkarbeit musste erlernt werden. Inzwischen hat man auf Seiten der Kommunalverwaltung die Zeichen der Zeit und die Bedeutung der EU-Fördermittel im Rahmen der EBS[6] erkannt und ist Eurocities und dem EDURC beigetreten.
Stadtaußenpolitik I:
Lobbying und Lukrierung
Die Brüsseler Vertretungen von Berlin, Budapest, Warschau und Wien leisten Lobbying –Vernetzungs- und Verhandlungsarbeit, wobei hinsichtlich des Mitgliedsstatus eine Hierarchie bei den vier genannten Metropolen festzustellen ist. Berlin und Wien gelten als etabliert, Budapest als semietabliert, Warschau löst sich so langsam aus seiner introvertierten Late-Comer-Rolle. Die Metropolen handeln in der europäischen Hauptstadt als politische Unternehmerinnen für ihre Eigeninteressen und gehen dazu Zweckbündnisse mit anderen Metropolen ein (Kooperation). Sie betreiben eine aktive Stadtaußenpolitik, in der Lobbying, von der Forschung längst als politisch legitimes Instrument wahrgenommen ( Kleinfeld 2003), auf der europäischen Ebene eine wichtige Funktion übernommen hat:
„Lobbying – was immer noch anrüchig nach Erpressung im Nobelrestaurant klingt, ist in Wahrheit nichts anderes, als züchtig in einem der typischen, kleinen Büros eines EU-Kommissionsbeamten um Formulierungen, statistische Daten, Übergangsfristen und ähnlich Spannendes zu streiten. „Bewaffnet“ mit Zahlen und Unterlagen, die Argumente der eigenen Stadt oder Region darzustellen, und zwar zu einem Zeitpunkt, da die Kommission selbst noch in einem Stadium der Überlegungen ist.“ (Perspektiven 8/9/2000, S. 99f.)
Aus der Sicht eines Metropolenvertreters beruht Lobbying auf drei Prämissen: Es komme darauf an, das eigene Interesse klar zu formulieren, den richtigen Adressaten zu finden und den richtigen Zeitpunkt zu wählen (Weninger 2004, S. 35). Diese Prämissen für erfolgreiche Finanzlukrierung haben insbesondere die Berliner und Wiener StadtaußenpolitikerInnen verinnerlicht. Gerade Berlin ist aufgrund seiner prekären Haushaltslage zunehmend von externen Fördermitteln abhängig. Im Zeitraum 2000-2006 betrugen die Zahlungen des Europäischen Strukturfonds für Berlin 1,3 Mrd. Euro (Punkt 6/2005, S. 2), allein aus dem ESF standen 532 Mio. Euro für arbeitsmarktpolitische Projekte zur Verfügung. Gleichwohl sind die EU-Mittel nicht unbegrenzt verfügbar, ihr Zufluss ist exklusiv. „Man darf nicht dem Irrglauben erliegen, dass man nur mit der Schubkarre nach Brüssel laufen muss, um sich dann das Geld dort reinzuschaufeln. So einfach ist es nicht. Es gibt im Übrigen auch so was wie Länderproporze oder Mitgliedsstaatsproporze, die es schlicht und ergreifend dazu bringen, dass, so gut Ihre Anträge auch sein mögen, irgendwann gesagt wird, tut uns Leid, aber da sind jetzt zu viele Deutsche oder zu viele Berliner Anträge auf dem Tisch oder in der Vergangenheit schon gefördert worden. Wir müssen jetzt auch mal an die Griechen oder Portugiesen oder Franzosen denken.“ (Hlö)
Stadtaußenpolitik II:
Die Wiener Avantgarde
Markanter als die anderen untersuchten Städte betreibt Wien eine aufwändige, höchst professionelle Standortwerbung. Die Marke Wien gerinnt zum Imagefaktor. Wiens Stadtaußenpolitik erscheint hochilluminiert. Gleichwohl werden die politischen und ökonomischen Zusammenhänge des globalen Wettbewerbs – und die Reaktion der Wiener Stadtpolitik darauf – klar benannt. Europa wachse zusammen, konstatiert eine von der Stadtverwaltung herausgegebene Broschüre Wien auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, „die „Globalisierung“ wird – je nach Position – als Chance oder als Bedrohung gesehen. Städte und Regionen befinden sich in einer immer schärfer werdenden (Standort-)Konkurrenz. Wien setzt auf seine traditionell guten internationalen Beziehungen und baut diese bewusst und gezielt aus.“ Hauptaufgabenstellung der Wiener Stadtaußenpolitik sei daher die Standortbewerbung, die Positionierung Wiens als Ost-West-Schaltstelle, als Kongressstadt usw.
Dafür hat die Stadtverwaltung die infrastrukturellen Voraussetzungen geschaffen: eine Dienststelle für internationale Beziehungen, die in enger Zusammenarbeit mit dem Auslandsdienst des Presse- und Informationsdienstes der Stadt Wien sowie dem Wiener Wirtschaftsförderungsfonds (WWFF) und dem Wiener Tourismusverband (WTV) Strategien und deren Umsetzung für die internationale Positionierung Wiens entwickelt und koordiniert, sowie in Brüssel das Wien-Haus als Interessenvertretung, ferner Repräsentanzen in Hongkong und Tokio unterhält. Des weiteren wurden in Belgrad, Bratislava, Budapest, Ljubljana, Prag und Sarajevo PR-Büros beauftragt.
Ebenfalls in einer Hochglanzbroschüre sprechen MitarbeiterInnen des Wiener ArbeiternehmerInnen-Förderungsfonds (waff)[7] die Bedeutung des heimischen Arbeitsmarkes im Zeitalter der Standortverlagerungen direkt an: „Die Dynamik des Arbeitsmarktes, das rasante Tempo etwa im Bereich der Technologieentwicklung hat zur Folge, dass die ArbeitnehmerInnen insgesamt heute stärker denn je gefordert werden. (...) Eine immer größer werdende Zahl ist nicht oder noch nicht in der Lage, Schritt zu halten. Der waff sieht es daher als seine zentrale Aufgabe an, Beschäftigte wie auch Arbeitssuchende für diesen Arbeitsmarkt „fit“ zu machen oder zu halten“ (Meißl/Hess 2004, S. 58).
Wo andere Stadtverwaltungen tendenziell in den düsteren Niederungen der alltäglichen Arbeitslosigkeit verharren (Berlin, Warschau) oder sorglos dem anhaltenden Boom vertrauen (Budapest), blickt Wien in die nahe Zukunft, denn bis 2007 prognostiziert die Stadt einen Bedarf von 20.000 Arbeitskräften, der wachsen werde (ebd., S. 60).
Begrenzte Innovationserfolge durch „Best Practice“- Diffusion
Inzwischen ist auf europäischer Ebene durch Gremienarbeit, Aktionspläne, Rückkopplung auf Konferenzen, bilateralen und multilateralen Austausch ein EBS-Lernsystem entstanden, das permanent in der Schleife Vorschlag-Umsetzung-Bewertung prozessiert und die EBS diffundieren lässt. Diffusionsprozesse der EBS auf europäischer Ebene werden durch die Empfehlungen der EU an die einzelnen Nationalstaaten lanciert, deren Aussprechung schon einen diffundierenden Vorlauf hat.
Der Europäische Sozialfonds (ESF) und die Gemeinschaftsinitiative Equal bilden zudem eine finanzielle Anreizstruktur. Die Städte und ihre Netzwerke sind in ihrer Projektarbeit, die durch ESF-Gelder gefördert wird, in dieses Lernsystem fest eingebunden. In diesem Zusammenhang muss auch die Bedeutung von Städtenetzwerken als Orten der ideologischen Diffusion und theoretisch angeleiteter Praxis, durch die Wissenschaft rückwirkt, hervorgehoben werden. Das gilt insbesondere für den vorgestellten Ausschuss EDURC im Städtenetzwerk Eurocities. Hier werden best practices unter dem theoretischen Einfluss von „competitiveness“ (Parkinson) erarbeitet. Auch die EU-Beitrittskandidaten sind in das EBS-Lernsystem involviert.
Sowohl die Europäische Beschäftigungsstrategie als auch Netzwerke wie Eurocities setzen auf permanente Innovation durch Lernen voneinander. Gerade dieser Innovationshabitus der EuroakteurInnen ist inzwischen fragwürdig geworden. Durch so genannte Territorial Employment Pacts (TEPs) hat man beispielsweise Ende der 1990er begonnen, Runde Tische mit lokalen AkteurInnen (Lernnetzwerken) zu implementieren. Diverse Fördertöpfe von Stadt und Land, ESF oder anderen Strukturfonds, sollten helfen, durch „Aktionen“ endogene Potenziale auf Stadtteilebene zu erschließen. Projektiert von einer Entwicklungsgesellschaft galt es, in Problemvierteln Zeichen zu setzen.[8] Was nach aufwändigen Anschub- und Evaluierungskampagnen dauerhaft bleibt, neue Arbeitsplätze, Stadtteilsanierung, Jugend- oder Frauenprojekte, ist allerdings schwer zu messen (TEP-Abschlussbericht Berlin-Neukölln 2001). Dementsprechend beurteilt ein NGO-Projektkoordinator das innovative Potenzial der TEPs skeptisch: „Das heißt, die Beschäftigungsbündnisse sind immer unter dem Motto angetreten, wir arbeiten auf der regionalen Ebene besser zusammen, wir fördern damit Qualifizierung, Beschäftigung, Infrastruktur usw. Das ganze Thema ist seit anderthalb bis zwei Jahren (2002, JB) in der Diskussion. Und wenn Sie mir ein Projekt nennen, das tatsächlich neu über diese Geschichte entstanden ist, gibt es ein Glas Sekt von mir.“ (Pur).
Ein anderes scheinbar innovatives Netzwerkbeispiel sind die aus Skandinavien kommenden Job Points. Wien hat durch Networking direkt von Berlin gelernt, indem in Berlin der Job Point angeschaut wurde, um diesen zu adaptieren. Im Job Point sollen BesucherInnen Stellenangebote und Ausbildungsangebote finden, die in PCs und an Schautafeln präsentiert werden. Natürlich stehen ihnen auch kompetente BeraterInnen zu Verfügung. Diese Frühform der Renovierung tradierter Arbeitsmarktverwaltung durch die Betonung der Eigeninitiative gilt als exportierfähiges Modellprojekt, das inzwischen auch in Polen ausprobiert worden ist. Dieser Modellversuch ist inzwischen in Vergessenheit geraten.
Was bleibt? Es bleiben Koordinationsaufgaben, Koordination von Interessen mit einem nicht zu übersehenden materiellen Kern, der in Lobbyarbeit mündet, und/oder gemeinsame arbeitsmarktpolitische Projekte, auch wenn in diesen Gleiches unter anderem Namen wiederkehrt. Auch das ein Grund, warum in den Interviews so wenig Innovatives konkret ausgeführt worden ist. Natürlich besteht immer wieder die Möglichkeit, sich gegenseitig mit Innovationen zu überraschen, die wesentlich keine sind. Insbesondere dann, wenn Innovation von Nöten ist, um „gute Anträge“ zu stellen oder um Prestige zu erlangen. Ein Berliner Projektmanager sagt dazu: „Also, da bin ich vorsichtig, und weil Sie nach dem Zauberbegriff „Netzwerk“ fragen: Da muss man, glaube ich, heute noch sehr genau hinschauen in der Arbeitsmarktpolitik, warum treffen sich die Partner, teilweise natürlich auch nur, um Fördergelder zu bekommen. Das ist einfach Existenznot oder ein Existenzinteresse dahinter und gar nicht das, was vielleicht einmal ursprünglich damit gedacht war, nämlich Synergien oder horizontale Effekte zu erzielen.“ (Dsi).
Fazit
Mehr denn je steht der urbane Standortwettbewerb im Vordergrund mit dem Ziel, möglichst viele transnationale Unternehmen von der Attraktivität des eigenen Standortes zu überzeugen und den Wünschen dieser global player zu entsprechen. Mit dem Konzept der unternehmerischen Stadt wollen die Metropolen einer bereits im EU-Europa existierenden „Geographie von Zentralität und Marginalität“ (Sassen 1995, S. 170) entgegenwirken. Dabei gibt es „bisher keinen Nachweis, dass eine Reformulierung städtischer Politik und ein angebotsorientierter Umbau der Infrastruktur Standortentscheidungen von Unternehmen nachdrücklich beeinflussen“ (Heeg 2004, S., 189f.). Es sei nicht die Realität von standörtlich ungebundenen Unternehmen, welche eine unternehmerische Stadtpolitik beeinflusse, „sondern die Möglichkeit bzw. Plausibilität der Argumentation von standortunabhängigen Unternehmen“ (ebd.).
Überdies begünstigen leere Kassen, die hohe Arbeitslosigkeit und Profilierungsversuche lokaler Eliten den angebotsorientierten Umbau der Stadtpolitik. Vor diesem Hintergrund erweisen sich Stadtaußenpolitik, Lernen und Lobbying im europäischen „multi-level-Governance-System“ (Weninger 2004, S. 35) wirklich als Verblendungszusammenhang, dessen materieller Kern alles andere als dem Allgemeinwohl nützlich ist. Dargestellt wurde der Nexus zwischen Regulation und Ideologie am Beispiel von Metropolen- und Netzwerkpolitiken. Beide Begriffe erweisen sich als zwei wesentliche Vergesellschaftungsparameter transnationaler Vernetzung. Pointiert man die Funktion von Städtenetzwerken wie Eurocities, so findet dadurch eine Ideologiediffusion statt. Der Ideenhaushalt wird reguliert, die EU-Finanzströme oder das internationale Kapital werden zum Fetisch einer netzwerkbasierten Stadt(außen)politik. Es gilt, sich im europäischen Städtesystem – auch mittels EU-Fördermitteln – zu behaupten. Networking ist aber längst Standard geworden, der daraus resultierenden Vorteil Illusion.dérive, Sa., 2007.02.03
[1] Der Artikel basiert auf dem Forschungsprojekt Europäische Metropolen im Zeitalter der Globalisierung – Berlin, Budapest, Warschau und Wien im Vergleich. Von 2002 bis 2004 wurden ExpertInneninterviews durchgeführt, die als empirische Grundlage dienen. Der Abschlussbericht wird im Winter 2006 publiziert. Bei den befragten ExpertInnen handelt es sich um MitarbeiterInnen der städtischen Verwaltungen, aber auch um Ministeriums- oder ArbeitsamtmitarbeiterInnen oder NGO-VertreterInnen. Die anonymisierten Interviewsegmente werden durch entsprechende Namenskürzel am Ende des jeweiligen Zitats ersichtlich.
[2] Jessop (1997) verweist auf die Hegemonie ökonomischer Begründungszusammenhänge in stadtpolitischen und wissenschaftlichen Diskursen.
[3] Kontrovers bleibt die Frage, wie grundlegend diese Kursänderung zum Unternehmertum ist (Hall und Hubbard 1996, S. 153).
[4] http://www.eurocities.org/glob_activities-activities.php, 12. 9. 2005.
[5] Vergleichbare Kriterien zur Austauschlogik von Netzwerken haben Straßheim/Oppen (2006, S. 19) aufgestellt.
[6] EBS steht für Europäische Beschäftigungsstrategie
[7] Der waff, 1995 gegründet, erscheint als die Wiener Antwort auf bürokratische Strukturen herkömmlicher Arbeitsmarktverwaltung. Die einstige Behörde versteht sich als moderne Dienstleistungsagentur und unterhält vielfältige Kontakte zu den unterschiedlichsten arbeitsmarkpolitischen AkteurInnen auf nationaler und transnationaler Ebene.
[8] In Berlin war z. B. die Gesellschaft für soziale Unternehmensberatung (GSUB) tätig. Als Tep-Modellprojekt galt Neukölln, das von späteren TEP-Initiierungen in Europa zum Vorbild genommen wurde.
Literatur
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03. Februar 2007 Jens Becker, Jascha Keller
Spatial Practices as a blueprint for Human Rights violations
Die Vereinigten Staaten engagierten sich in zwei unterschiedlichen Konflikten, Operation Enduring Freedom (OEF) in Afghanistan und Operation Iraqi Freedom (OIF) im Irak. Die Rigorosität, mit der der Präsident dabei zu Werke ging, hatte zur Folge, dass Taliban- und Al-Qaida-Kämpfern der Schutz durch die Genfer Konventionen verwehrt wurde.[1] Schlesinger Report
Eine Anwendung des Völkerrechts als strengste Methode der Architekturkritik ist noch nie dringlicher gewesen als heute.
Auf Computermonitoren und an Zeichentischen ausgeheckte Verbrechen hinsichtlich der Gestaltung der gebauten Umwelt machen es zum ersten Mal in der Geschichte erforderlich, dass Architekten/Planer auf die Anklagebank eines internationalen Gerichtshofes gesetzt werden.[2] Eyal Weizman
Der folgende Essay erörtert die Beziehung zwischen Raum und Macht. Er widmet sich der Frage, inwieweit räumliche Bedingungen die bewusste Verletzung von Menschenrechten beeinflusst haben und weiterhin beeinflussen. Nur wenige Jahre nach Anbruch des 21. Jahrhunderts hat ein Schwinden des öffentlichen Vertrauens in die politischen Entscheidungsprozesse und die daraus resultierende Politik einer anmaßenden universellen Ethik aus abgedroschenen Platitüden den Weg bereitet. Insbesondere nach 9/11 kann man bei PolitikerInnen in zunehmendem Maße die Bereitschaft erkennen, die Inszenierung und die Werkzeuge der Raumplanung zu verändern, um Mikroklimata zu erschaffen, die nicht an Recht und Gesetz gebunden sind. Es gibt Beweise dafür, dass die Raumplanung als ein Mechanismus benutzt wird, mittels dessen Raum in eine strategische Waffe zur physischen Bestrafung umfunktioniert wird. Gleichzeitig kann man eine Rückbesinnung auf Themen wie Repräsentation und psychologische Rahmenbedingungen sowie eine zunehmend monotheistisch geprägte Politik beobachten.
Im Jahre 2004 interpretierte der italienische Philosoph Giorgio Agamben den von den USA geführten Krieg gegen das Böse neu und charakterisierte diesen als eine symbolische Geste mit dem Ziel einer grundlegenden Veränderung der politischen Landschaft. Zwei Monate nach den Anschlägen vom September 2001 autorisierte die Bush-Regierung – inmitten einer von ihr als nationaler Notstand empfundenen Situation – die uneingeschränkte Verhaftung von AusländerInnen, die terroristischer Aktivitäten verdächtigt wurden. Diese Politik muss laut Agamben als „Ausnahmezustand“[3] verstanden werden, als eine machtvolle Strategie, die es ermöglicht, eine neuzeitliche Demokratie in eine zivile Diktatur umzuwandeln. Agamben vertritt die These, der eigentlich nur als vorübergehende Maßnahme gedachte Ausnahmezustand sei nunmehr zu einem festen Bestandteil des amerikanischen Alltags geworden.
Als Präsident George W. Bush seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin eine TV-Botschaft zukommen ließ[4], in der er betonte, wie wichtig es sei, auch in Kriegszeiten die Grundprinzipien der Demokratie zu beherzigen, da schien Bush darüber besorgt, dass Putin nach dem Massaker von Beslan[5] eine Intensivierung und Stärkung der „Vertikalität der Macht“[6] angekündigt hatte. Seither hat der amerikanische Präsident jedoch immer wieder hervorgehoben, dass die alten Regeln und internationalen Rechte in Kriegzeiten – die seinem derzeitigen Verständnis nach weiterhin herrschen – nicht mehr anwendbar seien und deshalb vorübergehend außer Kraft gesetzt werden könnten.
Diese Entwicklung bereitet zweifellos nicht nur den Boden für einen Krieg, der keinerlei auf bewiesenen Fakten gründender Rechtfertigung bedarf, sondern auch für eine gegen den Terrorismus gerichtete Politik, die sich nicht um dessen mögliche Ursachen beziehungsweise dessen Verhinderung kümmert. Statt dessen verstärkt sie eine Politik, die bereits in Kraft gewesen war, bevor die Zwillingstürme einstürzten: „Der Krieg gegen den Terrorismus muss stets in Anführungszeichen gesetzt werden, denn es handelt sich dabei nicht um einen Krieg im herkömmlichen Sinn – es gibt keinen nationalen Feind, keine Truppen, keine territorialen Ziele als solche.“[7] Statt die Ursachen zu bekämpfen, hatte die US-Regierung eine darauf abzielende multilaterale Politik schon viel zu lange blockiert. Diese Politik der Vereinigten Staaten erwies sich schließlich als Bumerang und verleitete – angeheizt von irrationalen Motiven, die auf die Überrumpelung durch den Feind zurückzuführen waren – zu übereilten Schlussfolgerungen. Schon 1992 hatte die CIA-Zentrale zahllose Überseetelegramme aus Afghanistan und Pakistan empfangen. Der Verbindungsmann der CIA-Außenstelle in Islamabad hatte seine Vorgesetzten darüber informiert, dass Afghanistan ein Zentrum des internationalen Terrorismus zu werden drohte.[8] Doch 1992 hatten diese Informationen keinerlei Reaktionen zur Folge.
Heute werden, gemäß dem neuen Verständnis von Geopolitik, Rechte dem Wunsch nach Sicherheit und umfassender Kontrolle untergeordnet. Vor diesem Hintergrund wird Terror kurzerhand mit Krieg gleichgesetzt – und Krieg rechtfertigt nun einmal die Aufhebung von Bürgerrechten.
Berücksichtigt man diese Entwicklung, so ist es nicht verwunderlich, dass die zahllosen in Camp X-Ray & Delta (Guantanamo Bay, Kuba), im Haftzentrum auf dem Flughafen von Bagram (Afghanistan), im Gefängnis von Abu Ghraib (Irak) sowie in Gefängnissen in diversen Drittländern inhaftierten Personen in Territorien verbracht worden sind, wo die Einhaltung der Menschenrechte nicht überwacht wird – entsprechend einer Direktive des Weißen Hauses, der zufolge Terrorverdächtige nicht den Schutz genießen, den Kriegsgefangene gemäß den Genfer Konventionen erwarten dürfen. Doch in den Allgemeinen Bestimmungen des „Genfer Abkommens über die Behandlung von Kriegsgefangenen“[9] wird ein völlig anderer Kodex umrissen. Dort heißt es klipp und klar, dass sich die Vertragsparteien verpflichten, das Abkommen „unter allen Umständen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen“[10], und es gibt dort auch eine unmissverständliche Definition des Begriffs Kriegsgefangener. Demnach sind Kriegsgefangene „in Feindeshand gefallene Personen“, zu denen auch „Mitglieder anderer Milizen und Freiwilligenkorps“ zählen, „einschließlich solcher von organisierten Widerstandsbewegungen, die (...) außerhalb oder innerhalb ihres eigenen Gebietes, auch wenn dieses besetzt ist, tätig sind.“[11] Um die Genfer Konventionen zu umgehen, konnte man die gefangenen Individuen und Gruppen daher in Territorien verbringen, die sich nicht an die Konventionen halten oder die nicht unter deren Jurisdiktion fallen. Und so begann die US-Regierung mit der Errichtung räumlicher Konstrukte, welche – ihrer Ansicht nach – keiner übergeordneten Autorität rechenschaftspflichtig sind.[12]
Zu dieser Methode der Erschaffung rechtsfreier Räume gehört auch eine als „außergewöhnliche Überstellungen“[13] bezeichnete Praxis. Im April 2005 veröffentlichte Human Rights Watch eine Zusammenfassung von Beweisen für die von US-Geheimdiensten und -Streitkräften praktizierte Misshandlung von Gefangenen im Irak, in Afghanistan und auf Kuba sowie für die Existenz weiterer, geheimer CIA-Gefängnisse.[14] Die US-Regierung gibt offen zu, dass sie „diplomatische Zusicherungen“ von Staaten anstrebt, in denen Folter gang und gäbe ist – eine Art Versprechen, mit dem ein Staat dem anderen zusichert, er werde im Falle eines bestimmten Individuums eine Ausnahme von der sonst allgemein üblichen Anwendung der Folter machen. Ein solches Vorgehen birgt zutiefst verstörende Implikationen. Der Vorschlag, derlei territoriale und rechtliche Schutzinseln zu erschaffen, veranschaulicht die unerlässliche Funktion, die dem Raum in dieser Gleichung zukommt, und läuft im Grunde auf eine bewusste Hinnahme des diese Inseln umgebenden Ozeans von Misshandlung und Folter hinaus.[15] Auch wenn ausländische Regierungen oder die Vereinten Nationen solche Folterpraktiken verurteilt haben, ist es erwiesen, dass die USA Häftlinge räumlich transferiert haben, während man gleichzeitig eine Flut von neuen rechtlichen Dokumenten veröffentlicht hat, die gewisse Verhaltensweisen innerhalb des Militärs und der CIA absegnen. Diese Technik ist jedoch weder neu noch wird sie allein von den USA praktiziert. Die britische Regierung soll laut Zeitungsberichten in Verhandlungen mit den Regierungen von Algerien und Marokko stehen – zwei Länder, in denen Misshandlung und Folter an der Tagesordnung sind –, da sie Terrorverdächtige dorthin transferieren möchte.[16] In den Augen der VerfasserInnen solcher rechtlichen Dokumente ist zum Beispiel ein Krieg gegen den Irak rechtmäßig, weil dieser einen Fall von Selbstverteidigung darstellt und, darüber hinaus, eine Maßnahme im Interesse der gesamten Menschheit.
Das Verbrechen und seine Vorgeschichte
Wie kann unsere Regierung glaubhaft vom Übel der Folter in Ländern wie Ägypten, Syrien und Usbekistan sprechen, wenn sie gleichzeitig wissentlich Vereinbarungen mit den schlimmsten Elementen jener Regime abschließt, um Menschen in genau die Kerker zu verfrachten, wo Gefangene gefoltert werden?[17] Tom Malinowski, Direktor der
Washingtoner Advokatur von Human Rights Watch
Als Giorgio Agamben sowohl vor wie nach 9/11 die Grundprinzipien der westlichen Gesellschaft erörterte,[18] malte er ein düsteres Bild, das seine Eindringlichkeit aus rechtlichen Dokumenten bezog, die bis in die Zeit des Römischen Imperiums zurückreichten. Beeinflusst von Hannah Arendts Werk über den Totalitarismus und die institutionelle Form von Rechten[19], versucht Agamben einen historischen Prozess nachzuzeichnen, der kein singuläres Phänomen darstellt, sondern eine Entwicklung in Richtung seiner Hauptthese, der zufolge es eine unvorhergesehene Übereinstimmung zwischen Demokratie und Totalitarismus gibt. Im römischen Rechtssystem wurde jemand, der die Republik bedrohte, als Staatsfeind behandelt: als ein homo sacer – ein Mensch ohne Rechte –, als eine bloße Kreatur, mit der man kurzen Prozess machen konnte.[20]
In jüngerer Zeit ist es der US-Regierung gemäß dem im Oktober 2001 in Kraft getretenen Patriot Act erlaubt, jedes Individuum in Gewahrsam zu nehmen, das im Verdacht steht, die nationale Sicherheit zu bedrohen. Doch George W. Bushs neue Militärordnung macht aus den Menschen, die in Camp X-Ray & Delta in Guantanamo inhaftiert sind, rechtlose Individuen, die angesichts ihres territorialen, das heißt räumlichen Status von jedem juristischen Beistand abgeschnitten sind. Wie so viele andere politische Gefangene im Verlauf der Geschichte haben diese Individuen ihre juristische Identität eingebüßt, nachdem man sie einer Reihe von politischen und räumlichen Maßnahmen unterworfen hatte. Im Verlauf der Geschichte haben Kulturen das, was sie als böse erachteten, stets jenseits der Grenzen ihres eigenen Territoriums angesiedelt. Sobald man erkennt, dass die Ursachen für so genannte böse Taten im Innern des eigenen Territoriums lokalisiert werden können, verweist man zur eigenen Rechtfertigung auf vorhandene grausame Bilder aus dem Ausland.
Im Falle von Abu Ghraib können wir das Bild vom kolonialen Herrenmenschen erkennen, doch der Raum selbst wird dabei austauschbar. Und das Gleiche gilt für seine historischen Bezugspunkte. Einer der Gründe für die überwältigende öffentliche Reaktion könnte neben anderen schlicht und einfach darin bestehen, dass man sich an bereits vorhandene Bilder erinnert fühlt. Statt einen Schock zu bewirken, der auf ihren spezifischen Inhalt zurückzuführen ist, könnten sich die aus Abu Ghraib stammenden Bilder mit bekannten Bildern aus dem 20. Jahrhundert überlappen. Vor diesem Hintergrund ist es leicht, auf die enzyklopädischen Register des Bösen zurückzugreifen, will man das Bild im eigenen Kopf unterbringen. Die Exzesse von bösen Taten würden immer zwei Dinge gemeinsam haben: Sie würden an ein spezifisches, klar umrissenes Territorium gebunden sein, an territoriale Enklaven, die ein Haus des Bösen darstellen, und sie würden Bilder der unterworfenen Subjekte präsentieren. In dieser Pornografie der Gewalt würde sich zwar die Bühne ändern, doch die Choreografie bleibt stets die gleiche.
Räumliche Enklaven und die Rückkehr radikaler Bestrafungen
Die Folterungen in Abu Ghraib[21] scheinen in einer engen Beziehung zu dem zu stehen, was Michel Foucault als das Zeremoniell der Strafe[22] beschrieben hat. In Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses veranschaulicht Foucault, inwieweit die physische Bestrafung zum verborgensten Teil der Strafpraxis geworden ist – „die Justiz“, so schreibt er, „übernimmt also nicht mehr öffentlich jene Gewaltsamkeit, die an ihre Vollstreckung geknüpft ist“.[23] Im Unterschied zu früheren historischen Epochen hat sich im 20. Jahrhundert, wie er meint, das Spektakel der Bestrafung auf den Gerichtsprozess verlagert. Doch wenn es keinen Prozess gibt, so gibt es auch nichts zu sehen. Das Verschwinden der öffentlichen Bestrafung geht einher mit einem Rückgang des Spektakels.
Foucaults Behandlung der Beziehung zwischen einer neuen Machtform und einer neuen Art von spezialisierten Strukturen betrachtete beides als Folge und Voraussetzung einer im 18. Jahrhundert beginnenden Herausbildung von Formen einer disziplinierenden Macht: „Macht gilt somit als eine prinzipiell negative, als eine durch Strafe definierte Beziehung zwischen dem dominanten und dem unterworfenen Subjekt.“[24] Diese auf Überwachung basierende, individualisierende und transformierende Macht wird definiert durch die Strafvollzugsanstalt mit ihren die Insassen räumlich voneinander isolierenden Zellen und mit einer zentralen Struktur der Beobachtung und Kontrolle.
Was Hirst als die wesentlichen Charakteristika von Benthams Panoptikum – „eine Idee in der Architektur“[25] – beschreibt, also das Prinzip, dem zufolge viele von einigen wenigen beherrscht werden können, lässt sich bis zu den historischen Anfängen des Gefängnisbaus zurückverfolgen. Das beste Beispiel dafür dürfte der Liberty Tower von Abu Ghraib sein, eine zentrale, das gesamte Areal überblickende Überwachungseinrichtung: ein Raum, der nicht nur eine bestimmte korrelative Perspektive ermöglicht, sondern auch Machtverhältnisse versinnbildlicht. Obwohl Foucaults Betrachtungen zum Panoptikum aus den siebziger Jahren stammen, scheint sein Werk heute wichtiger denn je zuvor – er analysiert die Beziehung zwischen Raum und Macht. Darüber hinaus könnte das, was wir gegenwärtig erleben, als ein umgekehrtes Szenario dessen interpretiert werden, was Foucault als die im 19. Jahrhundert einsetzende und sich während der letzten zweihundert Jahre nach und nach vollziehende Humanisierung der Strafjustiz beschreibt – „weniger Grausamkeit, weniger Leiden, mehr Milde, mehr Respekt, mehr ›Menschlichkeit‹“.[26] „Das Richten“, so resümierte er, „bedeutete die Feststellung der Wahrheit eines Verbrechens, die Bestimmung seines Urhebers und die Verhängung einer gesetzlichen Sanktion.“[27] Und genau diese Verhängung einer gesetzlichen Sanktion ist derzeit aufgeschoben beziehungsweise ganz und gar eingestellt worden.
2004 wurde dem Magazin The New Yorker ein von Major General Antonio M. Tabuga verfasster Bericht zugespielt, der eigentlich nicht zur Veröffentlichung gedacht war.[28] Die darin beschriebenen räumlichen und institutionellen Verhältnisse in Abu Ghraib waren schockierend. Laut Tabuga kam es regelmäßig zu Fällen von „sadistischer, eklatanter und willkürlicher krimineller Misshandlung.“[29] Was Foucault einst, mittels Benthams Panoptikum, als eine subtile Form von Kontrolle im Mikroklima eines Gefängnisses erklärt hatte – die an den Prinzipien der Aufklärung orientierte Institution sperrt all diejenigen weg, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen –, hat sich in ein Szenario verwandelt, bei dem es weder die von ihm beschriebene Kontrolle auf der Mikroebene noch eine voll funktionsfähige rechtliche Struktur gibt, die möglicherweise in der Lage wäre, mit dieser parasitären Beziehung zwischen Politik und Raum umzugehen.
Um diese Wirkung von institutionalisiertem Raum und den ihm immanenten Machtverhältnissen zu veranschaulichen, führte Philip Zimbardo – ein emeritierter Psychologieprofessor der Stanford University – 1971 ein Experiment durch, mit dem er einer einfachen Frage auf den Grund gehen wollte: Was geschieht, wenn man gute Menschen in einen bösen Raum steckt? Im Rahmen dieses Experiments wurden studentische Freiwillige nach dem Zufallsprinzip dazu bestimmt, in einem simulierten Gefängnis entweder die Rolle von Wärtern oder die von Gefangenen zu übernehmen. Obwohl alle Teilnehmer vorher untersucht und für geistig gesund befunden worden waren, entwickelten sich die Wärter in kürzester Zeit zu Sadisten, während die Gefangenen starke Symptome einer Depression an den Tag legten. Nach sechs Tagen musste die Untersuchung abgebrochen werden, um schlimmere Misshandlungen zu verhindern. Das Experiment erhellte, wie die Macht sozialer Konstrukte persönliche Identitäten und Wertvorstellungen verändert, da die Studenten in ihren Rollen als Wärter und Gefangene situationsbedingte Identitäten annahmen. Als Zimbardo der Edge Foundation 2005 ein Interview gab, meinte er: „Um die Misshandlungen in diesem irakischen Gefängnis verstehen zu können, muss man als Erstes die situationellen und systematischen Kräfte untersuchen, die auf diese Soldaten eingewirkt haben, wenn sie während der Nachtschicht in diesem kleinen Horrorladen Dienst hatten.“[30] Laut Zimbardo veranschaulichte sein Experiment den Wettstreit zwischen den institutionellen Mächten auf der einen Seite und dem Widerstandswillen des Individuums auf der anderen. Sexuelle Erniedrigung war für die Wärter von Abu Ghraib offenbar ein probates Mittel, um Kontrolle über die Gefangenen auszuüben, und dies illustriert, dass die Beziehung zwischen Lust und Schmerz auf einem räumlich autonomen und seinen eigenen Regeln gehorchendem Territorium nicht mehr an die Gebote der Menschlichkeit gebunden ist: „Sobald ein Gefängnis von einem Schleier der Geheimhaltung umgeben ist – und dies trifft auf die meisten Gefängnisse zu –, ist dort buchstäblich alles möglich.“[31]
Räumliche Autonomie als die Blaupause des Bösen
Camp X-Ray ist eine Insel auf einer Insel auf einer Insel – eine abgeriegelte Zone innerhalb eines Areals, welches wiederum vom Rest der Insel Kuba abgeriegelt ist. Dies ist einer der Gründe dafür, dass die USA Terrorverdächtige vorzugsweise an diesen Ort schaffen: Es ist unmöglich, dorthin zu gelangen, außer man wird vom US-Militär eingeflogen.[32] BBC-Bericht, 2004
Die auf Kuba gelegene Marinebasis Guantanamo Bay ist im Wesentlichen ein Territorium, auf dem Gefangene unbegrenzt festgehalten werden können, ohne dass US-Gerichte eine wie auch immer geartete Interventionsmöglichkeit hätten. Manche dieser Gefangenen befinden sich dort bereits seit 2001. Da Guantanamo Bay nicht als amerikanisches Hoheitsgebiet gilt, hat keiner der dort Inhaftierten die Rechte, die jemandem zustehen würden, der auf amerikanischen Boden gebracht wird. Im Unterschied zu den auf amerikanischem Territorium gelegenen Militärbasen ist Guantanamo der perfekte Ort zur Durchsetzung der Strategie einer Verhinderung der juristischen Überprüfung des Rechtsstatus der Gefangenen. Auf dem amerikanischen Festland gelegene Einrichtungen kamen als Gefängnis nicht in Betracht, da sie unter die Jurisdiktion des 9th U. S. Circuit Court of Appeals gefallen wären.[33]
Amnesty International hat Guantanamo mit den unter dem Namen Gulag bekannt gewordenen sowjetischen Lagern verglichen, in denen Widerstand als ein rechtlicher Beweis für die Notwendigkeit der Behandlung angesehen wurde. George W. Bush behauptet, die Gefangenen in Guantanamo würden menschlich behandelt. Die US-Regierung gewährt den Insassen jedoch nicht den Status von Kriegsgefangenen, da sie laut US-Behörden nicht in Uniformen gekämpft und kein fest umrissenes, regiertes Territorium repräsentiert haben.[34]
Die räumliche Konstruktion von Camp Delta ist ein Labyrinth aus Zäunen, NATO-Draht und Wachttürmen. Die Mauern bestehen aus Maschendraht, und die Zellen werden von Wellblechplatten gegen die Unbilden des Wetters geschützt. Die Gefangenen verbringen die meiste Zeit in ihren Zellen, wo sie entweder auf dem Fußboden hocken oder auf Schaumstoffmatratzen liegen. Nachts wird das gesamte Areal taghell erleuchtet, damit die Wachen jede Bewegung ihrer Gefangenen verfolgen können. Die Einrichtung eines zusätzlichen, etwa acht Kilometer von Camp X-Ray entfernten Zellenkomplexes wurde Mitte April 2002 abgeschlossen und von Brown & Root Services (BRS) durchgeführt, einer Tochterfirma des Erdölkonzerns Halliburton. Jede dieser Zellen ist 2,5 Meter lang, knapp zwei Meter breit und 2,5 Meter hoch und besteht aus Maschendraht auf einem soliden Metallrahmen. Jeder Gefangene erhält eine Schaumstoffmatratze, eine Decke und eine etwa einen Zentimeter dicke Gebetsmatte.[35] Es handelt sich dabei um ganz bewusst geschaffene Bedingungen, die das Verhalten der Insassen ändern sollen und die bei ihnen Symptome wie chronische Depression, Selbstmordgedanken, zwischenmenschliche Aversion, psychische Störungen und Traumata hervorrufen. Man hat eine physische Umgebung geschaffen, die darauf angelegt ist, Geständnisse zu erzwingen. Es ist ein wesentliches Charakteristikum der Bedingungen in Guantanamo, dass räumliche Komponenten als Werkzeuge der Bestrafung und des Zwangs fungieren. Sobald das erwünschte Ziel erreicht ist – das heißt ein Geständnis des Gefangenen –, werden die räumlichen Bedingungen geändert. Geständige und kooperationswillige Gefangene haben die Chance, als Vorzugshäftling nach Camp Four verlegt zu werden, wo die Insassen in Gemeinschaftsunterkünften leben.
Die Implikationen dieser Art von Outsourcing der Folter und der exterritorialen Inhaftierung in Guantanamo sind immens. Der Raum besitzt dort eine Realität, die nicht nur physische Bedingungen etabliert, sondern auch eine Struktur, die deren Existenz erleichtert: Das Leiden jener Menschen besteht zu einem erheblichen Teil darin, dass sie sich in einem spezifischen Raum befinden, der zu heiß oder zu klein sein kann und der schwere Depressionen, Angstgefühle, Halluzinationen und den Verlust motorischer Fähigkeiten bewirkt.
Angesichts der heftigen Kritik an den räumlichen Bedingungen des Camps kündigte das Pentagon im März 2005 an, man werde Gefangene von Guantanamo in Gefängnisse in Saudi-Arabien, Afghanistan und im Yemen verlegen, ungeachtet der Befürchtungen, dass ihnen dort noch schlimmere Menschenrechtsverletzungen zugefügt werden könnten. Diese Verlegungen würden in etwa der viel kritisierten, als Überstellungen bekannten Praxis entsprechen, mit der die CIA bereits Gefangene nach Syrien und Ägypten transferiert hat.[36] Da den Insassen eine Verlegung in Länder bevorsteht, wo erwiesenermaßen gefoltert wird, hat das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) das Pentagon bereits 2002 darauf hingewiesen, dass die Gefangenen dort unter ähnlichen Haftbedingungen leiden müssten.
Jenseits einer linearen Geschichte
Berücksichtigt man solche räumlichen Zustände und die daraus resultierenden Verhaltensmuster, so kann man nicht länger so einfache Fragen stellen wie: Warum ist so etwas möglich, wer ist dafür verantwortlich, was hat das Ganze zu bedeuten? Obgleich das erkannte Problem physischer Natur ist, würde eine Veränderung der räumlichen Komponenten nicht genügen, um die beschriebenen Übergriffe zu unterbinden.
Es stellt sich die Frage, was uns dazu bewegt, Gehorsam zu üben. Repräsentiert der Soldat sich selbst und kann er für seine Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden oder trägt er auch Verantwortung für andere – vielleicht sogar für das System selbst? Ist er bloßer Befehlsempfänger, der jede persönliche Schuld von sich weisen kann? Dies bedeutet den Verzicht auf die eigene Handlungsfähigkeit und verwandelt letztlich jeden grausamen Akt in eine Banalität. Wie entwickelt sich das individuelle Urteilssystem und was bedeutet es, sich einer „höheren Ordnung“ wie Religion unterzuordnen, die als Bezugsrahmen gilt und der man sich verantwortlich fühlt? Führt diese höhere Ordnung dazu, dass man als Individuum oder gar als Regierung Einrichtungen wie z. B. den Gerichtshof in Den Haag oder die Vereinten Nationen als unzuständig oder gar unzulässig einstufen und bezeichnen kann?
Um nicht immer wieder die selben Erzählungen, die mit Konflikträumen verknüpft scheinen, als Basis für das Sprechen über diese Räume und deren Beschreibung zu verwenden, weil sie neue Ansätze erschweren oder gar verhindern, sollte stattdessen eine Plattform für ein rationales, offenes, auf die Zukunft bezogenes Denken angestrebt werden. Als Beispiel für einen solchen Zugang liefert Udi Aloni, ein in New York lebender israelischer Künstler, der Local Angel drehte, einen Dokumentarfilm über die gegenwärtigen Widersprüche im palästinensisch-israelischen Konflikt.[37] Er bediente sich einer Technik, die den Zusammenhang zwischen konkretem politischen Kampf, örtlichen Verhandlungen und der Bedeutung räumlicher Überlappungen erhellte. Indem er spezifische ländliche und städtische Gegebenheiten näher heranzoomte, gelang es ihm, den Mythos vom Religionskrieg als der einzigen Form kulturellen Inhalts in der Region zu zerstören. Statt dessen zeigt er einen Raum, wo eine säkulare Menschlichkeit möglich ist, ein Mosaik von Fragmenten, deren Zusammenhalt sich dadurch ergibt, dass der Filmemacher die Geschichte außer Acht lässt, die sonst immer als die einzig wahre vorausgesetzt wird.
Auf vergleichbare Weise hat Eyal Weizman – ein in Tel Aviv und London lebender Architekt und Sozialforscher – für seine Publikation A Civilian Occupation: The Politics of Architecture[38] im Auftrag der Menschenrechtsorganisation B´tselem die planerischen Aspekte der israelischen Besetzung des Westjordanlandes untersucht. Ausgehend von seiner Theorie, wonach es uns an Vertikalität fehle, gelangt er zu dem Ergebnis, dass keiner von uns über eine zusammenhängende mentale Landkarte des israelisch-palästinensischen Konflikts verfügt: Von den Siedlungen bis zum Abwassersystem, von der Archäologie bis zum militärischen Flugverkehr bietet seine Interpretation eine rationale, durch und durch überzeugende Analyse davon, wie sich Ideen über Macht und Planung mit Politik überschneiden, um genau die Räume herauszubilden, in denen sich der israelisch-palästinensische Konflikt entwickelt. Diese präzise Untersuchung von Komponenten, die ein in sich geschlossenes Gewebe bilden, ist genau das, was bei der Beschreibung des Gefängnisraums – bislang – noch gefehlt hat.dérive, Sa., 2007.02.03
Anmerkungen:
[1] James R. Schlesinger: Final Report of the Independent Panel to Review DoD Detention Operations, Arlington (VA), August 2004, S. 79.
[2] Eyal Weizman: The Evil Architects Do, in: Rem Koolhaas (Hrsg.): Content, Taschen, Köln 2004, S. 60.
[3] Giorgio Agamben: Ausnahmezustand (Homo sacer II.I), Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004.
[4] Paul Lersch, „Demokratie im Ausnahmezustand – Die verhüllte Freiheitsstatue“, in Spiegel Online, 27. Oktober 2004.
[5] Am 1. September 2004 brachten TerroristInnen in einer Schule im südrussischen Beslan 1300 Geiseln in ihre Gewalt, ein Terrorakt, der sich in erster Linie gegen Kinder richtete. Hunderte von Kindern verbrachten 53 Stunden ohne Wasser und Nahrung in einer überfüllten, stickigen Turnhalle, in der überall Sprengsätze angebracht waren. Sie mussten miterleben, wie Familienmitglieder, Freunde und LehrerInnen misshandelt und ermordet wurden.
[6] Starke Präsidentschaft und Präsidialregierung; Ernennung der Oberhäupter der regionalen Regierungen durch den Präsidenten; Ernennung der Gouverneure; hierarchische Parteiorganisation; selektive Justiz; staatliche Kontrolle des Fernsehens.
[7] Peter Marcuse: The ,War on Terrorism‘ and Life in Cities after September 11, in: Stephen Graham (Hrsg.): Cities, War and Terrorism – Towards an Urban Geopolitics, Blackwell, Oxford 2004, S. 263.
[8] Steve Coll: Ghost Wars, Penguin, London2005, S. 235.
[9] Die Genfer Konventionen (auch: Genfer Abkommen, Genfer Übereinkommen) bestehen aus vier Dokumenten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz von zunächst 59 Regierungen unterzeichnet wurden. Sie bilden ein völkerrechtliches Vertragswerk, das bestimmte Verhaltensregeln im Kriegsfall bindend festlegt. Sie sind ein Eckpfeiler des humanitären Rechts und sollen die Menschen vor solchen Übergriffen schützen, wie sie sie im Kampf gegen den Nationalsozialismus erdulden mussten. Fast jedes Land hat alle vier Abkommen ratifiziert, darunter auch die Vereinigten Staaten von Amerika.
[10] Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über die Behandlung von Kriegsgefangenen, Allgemeine Bestimmungen, Artikel 1, hier zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Die Genfer Rotkreuz-Abkommen vom 12. August 1949, Schriften des Deutschen Roten Kreuzes, Bonn 1980, S. 137 (den vollständigen originalen Wortlaut findet man unter http://www.genevaconventions.org/).
[11] Artikel 4 (A. 2.), a. a. O., S. 138.
[12] Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Military_Commissions_Act
[13] Renditions and Diplomatic Assurances – Outsourcing Torture? (s. http://www.hrw.org/campaigns/torture/renditions.htm).
[14] Getting Away with Torture? Command Responsibility for the U. S. Abuse of Detainees, Vol. 17, No. 1 (G), April 2005 (s. http://hrw.org/reports/2005/us0405/).
[15] Yuval Ginbar, Rechtsberater von Amnesty International, zitiert in: The Tacit Acceptance of Torture (s. http://hrw.org/reports/2005/eca0405/4.htm#_Toc100558824).
[16] Diplomatic Assurances Allowing Torture – Growing Trend Defies International Law, 15. April 2005 (s. http://hrw.org/english/docs/2005/04/15/eu10479.htm).
[17] Tom Malinowski, U.S. State Department 2004 Human Rights Report – Testimony to U. S. House of Representatives, Human-Rights-Watch-Dokument, 18. März 2005 (s. http://hrw.org/english/docs/2005/03/18/usint10347.htm).
[18] In „Homo Sacer“ und „Ausnahmezustand“.
[19] Hannah Arendt: The Human Condition, University of Chicago Press, Chicago 1958.
[20] S. Giorgio Agamben: Homo sacer. Souveräne Macht und bloßes Leben, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2002.
[21] Seymour M. Hersh: Torture at Abu Ghraib, The New Yorker, 3. Mai 2004 (s. auch: http://www.newyorker.com/fact/content/?040510fa_fact).
[22] Michel Foucault: Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses [Paris 1975], Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1976 (aus dem Französischen von W. Seitter), S. 15.
[23] Michel Foucault, a. a. O., S. 16.
[24] Michel Foucault, a. a. O., S. 16.
[25] Paul Hirst, a. a. O., S. 167.
[26] Paul Hirst, a. a. O., S. 167.
[27] Michel Foucault, a. a. O., S. 28.
[28] S. M. Hersh: a. a. O.
[29] ibid.
[30] Philip Zimbardo: You Can´t Be a Sweet Cucumber in a Vinegar Barrel – A Talk with Philip Zimbardo, in: Edge, 19. Januar 2005.
[31] M. B. Stannard: Stanford Experiment Foretold Iraq Scandal – Inmates Got Abused in Psychology Study, in: San Francisco Chronicle, 8. Mai 2004.
[32] Richard Lister: Grim Life at Guantanamo, BBC, 7. Februar 2002.
[33] Siehe Guantanamo Bay – Camp Delta, in: www.globalsecurity.org/military/facility/guantanamo-bay_delta.htm
[34] Bush lässt Alternativen zu Guantanamo prüfen, in: Spiegel Online, 9. Juni 2005.
[35] Siehe: Guantanamo Bay – Camp Delta, a.a.O.
[36] Siehe S. Goldenberg, US Faces Cuban Prison Crisis, in: The Age, 13. März 2005.
[37] Udi Aloni: Local Angel, Theological Political Fragments, London: ICA, 2004.
[38] Eyal Weizman und Rafi Segal (Hgg.): A Civilian Occupation: The Politics of Architecture („The Banned Catalogue“), überarbeitete Auflage, Babel Publishers, Tel Aviv / Verso, London und New York, 2003.
03. Februar 2007 Markus Miessen