Editorial

Grün auf Zeit

In Berlin ist der Abriss des Palastes der Republik in vollem Gange und soll bis Ostern 2007 abgeschlossen sein. Was wird dann mit dem freien Platz? Für den sofortigen Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses (siehe auch tec21 37/2005) fehlt noch das Geld, eine leere Brache wäre aber inmitten der Stadt ein Schandfleck. Ein ausgeschriebener Wettbewerb stellte Landschaftsarchitekten deshalb die Aufgabe, einen temporären Park zu gestalten. Der Entwurf der beiden Büros relais und momentum3 wurde Ende Oktober prämiert und sieht eine mit Holzsteg-Passagen gestaltete Wiese vor. Das städtebauliche Niemandsland kann mit diesem «Zwischengrün» so lange am Leben erhalten werden, bis die Befürworter des Stadtschloss-Wiederaufbaus die nötigen Gelder zusammen haben.

Der Begriff «Zwischengrün» wird in letzter Zeit oft genannt und meint Grünräume, die für einen bestimmten Zeitraum in der städtebaulichen Planung bewusst an Stelle von Bauten angelegt werden oder als Restflächen nach Planungen übrig bleiben. Diese Grünanlagen entstehen aus verschiedenen Gründen: Einmal hat sich der Bedarf an Bauland verringert, ein anderes Mal wird ein Park als schnelle Lösung auf ein ungenutztes Areal geplant, Zwischengrün entsteht aber auch auf kleinen, unbeachtete Inseln in der Stadt.

Zwischengrün ist in manch einer schrumpfenden Stadt in Ostdeutschland eine Überbrückungslösung für verfallende Areale. Nach dem Abriss von Plattenbausiedlungen am Stadtrand und gründerzeitlicher Bebauung in den Stadtteilen bleiben oft Brachflächen, für die es keine Nachfrage gibt. Die Flächen können nach Absprache mit den Grundstücks-eigentümern begrünt werden und erhalten so eine temporäre Nutzung. Eine regelrechte Abrisseuphorie entbrannte 2002, als mit dem 2.5 Mrd. starken Programm «Stadtumbau Ost» der Abriss dank Fördergeldern auch finanziell attraktiv wurde. Sicherlich werden die Innenstädte aufgewertet und der Wohnungsmarkt auf diese Weise stabilisiert. Schwierig bleibt die Abgrenzung, wann der Abriss gerechtfertigt ist, denn letztlich gehen dadurch gebaute Zeitzeugen verloren. Leipzig entwickelte Projekte zum langsamen Umbau der Stadt. Einige der Ideen und umgesetzten Entwürfe werden im ersten Artikel in diesem Heft vorgestellt. Eine ganz andere Art von Zwischengrün wird im zweiten Artikel behandelt. Die Autorin fand die wenig beachteten Grünflächen überall dort in der Stadt, wo sich Restflächen ergeben und diese begrünt werden. Diese Grünflächen werden nicht genutzt, haben aber als Raumtrenner und Gestaltungselemente eine Funktion.

Ob als Park, Grundstücksbegrünung oder Abstandsgrün – Grünflächen beleben das Stadtbild und geben positive Impulse an ihr Umfeld. Klimatologen sehen im Schrumpfen vieler Kommunen sogar eine Chance, das Wohnen angenehmer zu machen. Mit dem grossflächigem Abriss können Parks als Ventilationsschneisen entstehen, die das Stadtklima verbessern und das Wohnumfeld bereichern. Katinka Corts

Inhalt

Schrumpfende Stadt, wachsende Park
Katinka Corts
Brach liegende Grundstücke in Leipzig werden zu temporären Parks umgestaltet. Besonders im Leipziger Osten sind viele öffentliche Freiräume entstanden, die langfristig die Standortqualität verbessern sollen.

Zwischen Stuhl und Bank
Michèle Novak
Es wird Verkehrsgrün, Restfläche oder Abstandsgrün genannt. Das «Zwischengrün» wird geplant, gestaltet und gepflegt, genutzt und verwaltet und bleibt doch nebensächlich.

Wettbewerbe
Neue Ausschreibungen und Preise / Jugendliche einschliessen in Uitikon / Zu knappes Budget in Neuheim / Sammeln und löschen in Volketswil

Magazin
Publikationen / Neues Schwerverkehrszentrum / Widerstand gegen Colani-Bad / In Kürze / Nicht genug Rückenwind für die deutsche Offshore-Windkraft? / Wasserliegeplätze in Kreuzlingen / Betrieb und Unterhalt am Gotthard / Mit Holz bauen, heizen und kochen / Design-Award für «Leaf caravan» / Prix-toffol für «Stadtdetails»

Aus dem SIA
Kommission zum Immaterialgüterrecht / Recht: Rück- stellungen ¬ Polster für Streitfälle / Bauvernetzungstreffen / Vernehmlassung SIA 500

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Schrumpfende Stadt, wachsende Parks

Leipzig steht über 15 Jahre nach der Wende noch immer im Umbruch und kämpft mit Wachstum und Schrumpfung auf dem Stadtgebiet. Mit den baulichen Strukturen bröckeln auch die sozialen. Die Stadtverwaltung setzt besonders im Osten der Stadt auf ein neues Konzept, mit dem brachliegende private Flächen zeitlich befristet als öffentlicher Freiraum genutzt werden dürfen. Grund­eigentümer haben der Stadt bereits mehr als 150 Flächen «geliehen». Leipzig wird attraktiver.

Leipzig ist mit seinem Grünflächenanteil von etwa 50% und einem Waldanteil von 7% eine der grünsten Städte Deutschlands. Früher war Leipzig eine der kompak­-t­esten Grossstädte, erst seit den Eingemeindungen bis 1999 ist es eine der flächengrössten Städte. Seit 2000 nimmt der Grünanteil stetig zu, da viele unbebaute und brachliegende Flächen zu Grün- und Freiflächen umgenutzt werden. Ziel ist es, sowohl die Standort- als auch die Lebensqualität und die Wettbewerbsfähigkeit der Stadt zu verbessern. Nach 1945 verlor Leipzig in der sowjetisch besetzten Zone an wirtschaftlicher Bedeutung. Die Wohngenossenschaften bauten neue Siedlungen am Stadtrand, die Altbauten der Gründerzeit im Zentrum verfielen.
Bei der Wende 1989 war die Infrastruktur Leipzigs vollständig sanierungsbedürftig. Die ökologische Situation war durch den Braunkohleabbau im Süden und die verschlissenen Industrieanlagen im Allgemeinen katastrophal. Bis Ende der 1980er-Jahre verliessen 200000 Bewohner die Stadt, nach 1990 waren es weitere 80000 in nur acht Jahren. Etwa 50000 Arbeitsplätze im ­verarbeitenden Gewerbe wurden mit den politischen und den wirtschaftlichen Veränderungen abgeschafft. 1300 ha der physischen Baustruktur in den Wohn- und Arbeitsbereichen blieben als Brachlandschaft zurück.
Wegen ihrer Funktion als Handels- und Messestadt in der Vorkriegszeit wurde Leipzig nach der Wende mit
7 Mrd. DM pro Jahr im privaten Sektor der zentrale Investitionsschwerpunkt in Ostdeutschland. Die Bundespolitik förderte den Neubau von Bürohäusern. Dabei waren 1990 mehr als 75% der 260000 Wohnungen – darunter fast alle des gründerzeitlichen Bestands – sanierungsbedürftig. Diese hätten in vielen Fällen für eine gemischte Nutzung umgebaut werden können. Die Neubauten hingegen führten zu einem problematischen Überangebot an Büroflächen. In Westdeutschland erprobte Planungsinstrumente wurden dabei unverändert auf das ostdeutsche Leipzig übertragen. Das wachstumsorientierte Modell eignete sich aber nur bedingt für eine Stadt in Transformation, in der Schrumpfen und Wachsen gleichzeitig verlaufen. So entstanden viele staatlich subventionierte Neubauvorhaben auf der grünen Wiese. Auch gewerbliche Nutzflächen wurden neu geschaffen, obwohl an den bisherigen innerstädtischen Industriestandorten mehr als genug Möglichkeiten und Fläche vorhanden waren. Das schwächte die Position der Innenstadt im Wettbewerb sehr. 1991, 1993 und 1999 entwickelte die Stadt als Reaktion auf diese Entwicklungen ein Einzelhandels- und Stadtteilzentrenkonzept sowie einen «Stadtentwicklungsplan Zentren». Das Stadtzentrum sollte fortan wieder gestärkt werden und einen Gegenpol zu den äusseren Zentren bilden. Neue Einzelhandelseinrichtungen waren prinzipiell möglich, durften aber funk­tionierende Stadtteile nicht gefährden.
Für den Stadtumbau waren angepasste Instrumentarien notwendig, um die Dualität von Wachstum und Schrumpfung in den verschiedenen Stadtteilen mittel- bis langfristig zu organisieren. Neben den Zielen mussten aber auch eine klare Wegbeschreibung geleistet und Instrumente geplant werden. Die Stadt investierte intensiv in drei Bereiche, so genannte neue «Stadtbausteine»: in das wirtschaftliche «Aktivband» im Norden, in die Umstrukturierung der urbanen Kerne mit den Gründerzeitbauten sowie in ein attraktives Gewässernetz in den ehemaligen Braunkohlegruben im Süden der Stadt (siehe tec21 3-4/2006).

Brennpunkt: der Leipziger Osten

Leipzig hat sehr grosse zusammenhängende Wohnquartiere aus der Gründerzeit. Zu DDR-Zeiten waren aber die moderneren Arbeiterquartiere ausserhalb des Zent­rums entstanden. Die unsanierten Gründerzeitblöcke, die zwar den Krieg überstanden hatten, aber keine zeitgemässen Installationen aufwiesen, standen bald leer – und Ende der 1980er-Jahre vor dem flächenhaften Abriss. Besonders die östlichen Stadtteile, die traditionell dicht bebaut und gemischt genutzt wurden, waren nach der Wende baulich und sozial in schlechtem Zustand. Der hohe Leerstand verhinderte eine positive Entwicklung der Quartiere. Im Bund-Länder-Programm «Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt» begleitete das Deutsche Institut für Urbanistik den Leipziger Osten als sächsisches Modellgebiet in der ersten Phase. Im Stadtentwicklungsplan Wohnbau und Stadterneuerung (STEP W S) wurden die Stadtteile Neustadt-Neuschönefeld, Volkmarsdorf, Reud­nitz und Anger-Crottendorf als Hauptaufgabenfelder bestimmt. Für den Leipziger Osten gab es keine einheitliche Gesamtlösung, dafür waren zu unterschiedliche Strukturen vorhanden. Einige Bauten waren zwar nach 1990 schnell saniert worden, standen aber häufig neben verfallenen Häusern, für die Alteigentümer noch Restitu­tionsansprüche geltend machen wollten oder deren Eigentumsverhältnisse noch nicht klar waren. Im Jahr 2002 konkretisierte das Stadtplanungsamt mit dem konzeptionellen Stadtteilplan (KSP) «Leipziger Osten» den STEP W S. Die Stadt schuf damit ein langfristiges Leitbild zur Verbesserung der öffentlichen Räume. Stadträumlich unverzichtbare Gebäudezeilen wurden definiert, aber auch Bereiche bestimmt, die durch ihre Struktur und Lage für Investoren nicht sehr attraktiv waren. Letztere wurden als Umstrukturierungsgebiete gekennzeichnet, in denen auf verschiedene Arten und unter Beachtung des baulichen und des sozialen Umfeldes mit Umnutzung und Abriss umgegangen ­werden sollte (Bild 5). Die Bauten sollten nicht mehr nur sich selbst überlassen werden. Leipzig wollte wie­-der attraktive und zentrumsnahe Stadtteile schaffen und die Abwanderung der Bürger an den Stadtrand ein­dämmen.

Zwischengrün

Diskussionen zur Stadtentwicklung fanden auch im «Forum Leipziger Osten» statt, wo sich Vertreter von Verwaltung, Wirtschaft und Institutionen mit den Bewohnern der Quartiere trafen. Im kooperativen Gutachterverfahren «Visionen für den Leipziger Osten» präsentierten die Berliner Landschaftsarchitekten BGMR ihren Entwurf für das «Rietzschkeband» (Bild 6). In diesem Projekt sollte der Stadtraum mit einem Grundgerüst aus öffentlichen Räumen neu gegliedert werden. Baukomplexe, die für die städtebauliche Wirkung wichtig sind, wurden benannt und gleichzeitig andere Stadtbereiche für grosse Freiflächen freigegeben. Damit wurden Interimsbegrünungen zum Thema. Die Stadt hatte bis dahin noch keine Möglichkeiten zur Aktivierung von Brachflächen geprüft und trat nun in Verhandlung mit den Grundstückseigentümern. Da viele aufgrund der schlechten Wohnungsmarktsituation auf bessere Bedingungen für Verkauf oder Sanierung ihrer Objekte warteten, lagen ihre Grundstücke brach. Das belastete das Wohnumfeld, was wiederum Investoren abschreckte – ein Teufelskreis. Um diesen aufzubrechen, beschloss Leipzig, das Instrument der Gestattungsvereinbarungen einzuführen (siehe Kasten). Damit konnte die temporäre öffentliche Nutzung von privaten Grundstücken geregelt werden. Mit der Aktivierung von Brachflächen sollte mehr Grün, weniger Dichte und mehr Vielfalt in den Wohnquartieren entstehen. Die öffentliche Nutzung ist dabei auf eine bestimmte Zeit begrenzt, der Eigentümer behält sein Baurecht.

Die so geschaffenen kleinen Freiräume ergänzen bestehende Parks, sind Spielbereiche, Gärten oder Parkplätze. Durch die Einbindung privater Grundstücke kann die Vernetzung von Freiräumen im Quartier verbessert werden. Sie öffnen Wege abseits der Hauptverkehrsstrassen oder schaffen eine ökologische Nische mit Durchgang zu einem grösseren Park.

Doch auch grössere Freiflächen können mit Hilfe von Gestattungsvereinbarungen entstehen. Die Treuhand­liegenschaftsgesellschaft (TLG) übergab der Stadt ein brachliegendes Fabrikgelände am Gerichtsweg. Auf rund 10000 m² entsiegelte die Stadt den Boden, der vollständig mit Werkshallen und Lagern überbaut war. Das Gelände wurde mit Bäumen und Wiese begrünt und mit einem Wegnetz erschlossen. Der Vandalismus ging zurück, und das Wohnumfeld profitierte von der grünen Oase im dicht bebauten Quartier.
Seit Oktober 2002 entsteht entlang der stark befahrenen Wurzener Strasse, basierend auf dem KSP «Leipziger Osten» und der Planung von BGMR Landschaftsarchitekten, eine zusammenhängende Grünfläche. Die Ruinen entlang der Strasse wurden entfernt. Auf den Privatgrundstücken konnten Wege und Pflanzbereiche ent­­stehen und mit Bäumen eine neue stadträumliche Kante definiert werden. Der recht dichte «Dunkle Wald» konnte in den letzten Jahren entsprechend der baulichen Entwicklung erweitert werden. Der anschliessende «Lichte Hain» schafft einen grünen Übergang zum Kleingartenpark Südost. Die temporären Grünflächen können nach einer Frist von 5 bis 10 Jahren wieder entfernt werden, wenn sich ein Investor für das Grundstück interessiert und der Eigentümer bauen möchte.

Permanente Stadtteilparks

Zwei grosse Parkanlagen wurden hingegen als dauerhafte Parkanlagen in den Wohngebieten geplant. Auf dem Gelände des ehemaligen Eilenburger Bahnhofs wurde
im Juni 2004 der Lene-Voigt-Park eröffnet (Bilder 9, 10). Basierend auf einem internationalen Landschaftsarchitekturworkshop wurde 1998 ein Gutachterverfahren durchgeführt. Das Landschaftsarchitekturbüro Kiefer aus Berlin gewann mit einem Entwurf, bei dem auf der linearen Struktur des ehemaligen Bahnhofs ein Park mit vernetzten Wegen und klar abgetrennten Räumen entsteht. In Etappen kaufte die Stadt die Flächen seit 1999 an und konnte nach und nach den 800 m langen und 80–130 m breiten Stadtteilpark anlegen. In Hochbeeten, die von Steinkorbwänden gesäumt werden, wurden Birken gepflanzt. Die Landschaftsarchitekten legten verschiedene Bereiche für Spiel-, Sport- und Ruhezwecke an. Um den Pflegeaufwand seitens der Stadt zu reduzieren, wurden auch eini­ge Parzellen zur individuellen Nutzung angeboten. Im östlichen Teil des Parks schliesst sich die ehemalige Bahnschneise Anger-Crottendorf an, die in den nächs­ten Jahren auch zum Park werden wird. Ebenfalls vom Büro Kiefer werden hier bis 2010 Planungen für Rad- und Fusswege umgesetzt, die sich durch den vorhandenen, ökologisch wertvollen Baum- und Strauchbestand ziehen werden.
Der grosse Rabet-Park liegt an den zwei stark befahrenen Strassen, der Eisenbahn- und der Hermann-Liebmann-Strasse in Neuschönefeld (Bilder 11, 12). Auf der Grundlage eines Gutachterverfahrens schrieb die Stadt einen Wettbewerb zur Erweiterung und Neugestaltung des bestehenden Parks aus. Das Berliner Landschaftsarchitekturbüro Lützow 7 gewann diesen mit einem Entwurf für eine grosszügige Anlage mit Volksparkcharakter. Durch den ganzen Park, in dem besonders die Angebote für Jugendliche gestärkt wurden, zieht sich ein breites Wegband für Sportaktivitäten. Dazwischen liegen Wiesen, die äusseren Ränder der Anlage sind dicht begrünt. Der Park wird seit 2004 in mehreren Bauabschnitten umgestaltet, Ende 2006 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein.

Die Stadt Leipzig arbeitet seit Beginn der 1990er-Jahre, als die ersten Sanierungsgebiete und -planungen in Angriff genommen wurden, an der kontinuierlichen städtebaulichen Erneuerung. In den nächsten Jahren sollen die Lebensfähigkeit und die Konkurrenzstärke der einzelnen Stadtteile weiter gestärkt werden. Es leben heute noch immer weniger Menschen in den östlichen Stadtquartieren, als es möglich wäre. In den nächsten Jahren sollen die stadträumlich aufgelockerten gründerzeitlichen Quartiere entsprechend dem Projekt «Grünes Rietschkeband» durch Grünräume vernetzt und besser an die Innenstadt angeschlossen werden. Diese Strategie zeigt erste Erfolge. Der Bevölkerungsrückgang in den Gründerzeitquartieren hat sich stabilisiert, heute leben sogar 10% mehr Personen in den Stadtteilen als 1998. Sowohl die kleinen als auch die grossen Parkanlagen werden gut angenommen, besonders die Jugendlichen profitieren von den vielen neuen Freizeit- und Sportanlagen in den Quartieren.

TEC21, Mo., 2006.12.04

04. Dezember 2006 Katinka Corts-Münzner

Zwischen Stuhl und Bank

Grüne Restflächen und Verkehrsgrün gelten als unspektakulär. Gewöhnlich werden sie übersehen, da sie nebensächlich sind. Doch das oft vernachlässigte «Zwischengrün» kann ästhetisch interessant sein. Zählt es zu den Gärten, Parks, Landschaften oder einfach nur zur Stadtnatur? Andere Bezeichnungen und Betrachtungsweisen sind nötig.

Im städtischen Alltag bewegen wir uns in einem Feld, das von unterschiedlichen Fachbereichen entworfen, gestaltet, beeinflusst und reflektiert wird. Viele Elemente befinden sich dabei zwischen den Disziplinen wie etwa das Stadtmobiliar, das nicht nur entworfen und gestaltet, sondern auch platziert, verwaltet, gewartet, genutzt und betrachtet wird. Dieser Facettenreichtum verlangt eine interdisziplinäre Betrachtung, die oft erst die Komplexität ersichtlich macht. Alltagsphänomene, die unter dem Blickwinkel verschiedener Disziplinen betrachtet werden können, fallen aber auch oft zwischen die einzelnen Interessen, werden nicht beachtet oder einfach übersehen. Solche Elemente streifen lediglich die Kompetenz einzelner Fachbereiche, werden von den Kernaufgaben verdrängt und damit nebensächlich.

Das Zwischengrün

Zwischen der Zuständigkeit von Städtebau, Architektur, Landschaftsarchitektur und Verkehrsplanung be­­findet sich das «Zwischengrün», unspektakuläre Grünflächen, die den Stadtraum durchsetzen und zwischen Gebäuden und Verkehrsflächen liegen. Der Stadtbewohnerin und dem Stadtbewohner begegnen sie immer wieder, da sie über die ganze Stadt verteilt sind und ihn auf eine selbstverständliche und unauffällige Art auf seinen Wegen begleiten. Meist werden diese kleinteiligen, grünen Flecken trotz ihrer Quantität kaum bemerkt, und doch würden sie wahrscheinlich fehlen, wären sie nicht vor unserem Hauseingang oder neben der Tramhaltestelle anzutreffen. Diese autorenlosen grünen Inseln werden geplant, gestaltet und gepflegt, genutzt und verwaltet und bleiben trotzdem nebensächlich.

Ein Wahrnehmungsproblem

Obwohl sich unterschiedliche Fachbereiche in der Praxis mit diesen Flächen beschäftigen, werden sie von den «urbanen Disziplinen» nicht thematisiert. Lediglich in der Verkehrsplanung werden sie als Restflächen besprochen, denn auf Stadtplänen ergeben sich zwischen geradlinigen Fassaden und gekrümmten Strassen oft Zwischenräume, die ohne Funktion und Bedeutung frei bleiben. Auch als Verkehrsgrün bezeichnet, interessieren sie nicht als eigenständige Flächen, ihre dienenden und beiläufigen Qualitäten stehen im Vordergrund. Das Zwischengrün kann sowohl in den technischen und planerischen wie auch in den ästhetischen Bereichen, die mit diesen Flächen arbeiten, als typische Nebensache bezeichnet werden.

Dieser nebensächliche und beiläufige Status wird in der begrifflichen Annäherung ebenfalls deutlich. Begriffliche Klarheit ist nicht möglich, denn unterschiedliche Kategorien wie Verkehrsgrün, Abstandsgrün oder Restfläche bieten sich an, aber keine fasst das Zwischengrün befriedigend. Als eigenständiges Phänomen befindet es sich namenlos zwischen bestehenden Begriffen. Nicht nur fällt durch die unterschiedlichen, unscharfen Bezeichnungen jeder begriffliche Bestimmungsversuch unbefriedigend aus, sondern auch ein Definitionsversuch, der die Bedeutung und Funktion dieser Flächen einheitlich fasst, scheitert. Die einzelnen Fachinteressen bilden unterschiedliche Perspektiven und schreiben dem Zwischengrün, auch wenn es nur als Nebensache behandelt wird, eigene Bedeutungen und Funktionen zu. So wird es sowohl als Garten, repräsentatives Objekt im öffentlichen Raum, ökologische Ausgleichsfläche, Verkehrsgrün oder grüne Restfläche betrachtet. Formen, Funktionen und Bedeutungen bleiben uneindeutig. Die einzelnen Sichtweisen überzeugen nicht. Denn als Garten betrachtet, werden sie zu wenig gepflegt, der Abfall in ihnen stört den repräsentativen Anspruch, und ihre ökologische Qualität ist mit dem angepflanzten Immergrün zu gering. Jedem Bestimmungsversuch folgt ein «Aber», das die gegenläufigen Aspekte anfügt und das Phänomen dadurch in einem Dazwischen belässt. Die Schwierigkeit, diese Orte zu bestimmen, ist ein Wahrnehmungsproblem. Keine Sichtweise allein kann bestehen, da der Umgang mit den Widersprüchen, der ein wesentliche Merkmal des Zwischengrüns ist, nicht gelingt.

Unauffällig gestaltet das Zwischengrün den städtischen öffentlichen Raum mit und löst, sobald es die Aufmerksamkeit auf sich zieht, Fragen aus. Welche Funktionen und Bedeutungen können ihm zugeschrieben werden und erscheinen sinnvoll? Welche Betrachtungsweise und Lesart führt zu einem Verständnis dieser ­Flächen?

«Aisthetis»

Obwohl das Zwischengrün auf den ersten Blick kaum ästhetisches Interesse weckt und diese Flächen weder gezielt aufgesucht noch ausgiebig betrachtet werden, ist es der ästhetische Zugang, der zu einem Verständnis dieser Flächen führt, ihre Bedeutung und Qualitäten sichtbar macht. In der ästhetischen Betrachtung können die wahrgenommenen Ambivalenzen sichtbar und behandelbar gemacht werden. Kunstwerke, Bauten oder Design werden oft auf unterschiedlichsten Ebenen besprochen und die einbezogenen Felder zueinander ins Verhältnis gesetzt. Kontraste, Widersprüche und Ambivalenzen treten dabei oft als Qualitäten hervor.

Der traditionelle ästhetische Zugang eignet sich aber nur bedingt für eine Betrachtung des Zwischengrüns. Denn vor dem Hintergrund von Landschaftsmalerei, Gartenkunst oder Parkgestaltung, die in der Kunstgeschichte tief verankert sind, erscheinen diese kleinen Flächen als mangelhafte Beispiele. Die hier vorgeschlagene ästhetische Betrachtung widmet sich nicht der Schönheit dieser Flächen. Sie erweitert die Tradition des Schönen, in dem sie sich vielmehr der «Aisthesis» verschreibt, der Wahrnehmung als sinnlichem Zugang zu Phänomenen.1 Der Fokus auf die Wahrnehmung schliesst das Feld der alltäglichen Begegnungen mit dem Zwischengrün ein. Diese Alltagswahrnehmung ist in der städtischen Umgebung durch Aufmerksamkeit und Orientierung wie auch durch Unaufmerksamkeit, Gleichgültigkeit und Zerstreuung geprägt. Die Konzentration auf das Ziel und den eigenen Weg überlagert die detaillierte Betrachtung einzelner Elemente. Das Naheliegende, das uns umgibt und als vertraut und bekannt gilt, wird dadurch beinahe unsichtbar. Unser Blick streift das Zwischengrün nur und belässt es im Hintergrund der Stadtlandschaft. Dieser beiläufige ästhetische Blick verhält sich konträr zur traditionellen Kunstbetrachtung, denn genauer studiert werden diese Flächen in den seltensten Fällen.
Die Aisthetik hat sich gegenüber der jahrhundertealten Ästhetik (noch) nicht durchgesetzt. Das Bild des Schönen, das gegenüber dem Ambivalenten und Selbstverständlichen einen Mehrwert besitzt, hält sich hartnäckig. Alltagsphänomene und deren Wahrnehmung fin­den in der herkömmlichen Betrachtungsweise nicht ohne Weiteres ihren Platz im ästhetischen Feld. Fehlt eine erkennbare Absicht des Gestalters, wie es beim Zwischengrün der Fall ist, so drängt sich keine ästhetische Betrachtung auf. Auch fehlen gesellschaftliche Konventionen, die das Zwischengrün als ästhetisches Phänomen lesbar machen. Da man pragmatisch mit diesen Flächen umgeht, laufen sie immer auch Gefahr, nicht beachtet und jeweils nur beiläufig als funktionales Element gelesen zu werden, das uns selbstverständlich umgibt. Das ästhetische Vokabular der «hohen Künste» und der «schönen Dinge» lässt sich daher nicht auf diese alltäglichen Grünflächen anwenden. Beschäftigt sich die traditionelle Ästhetik hauptsächlich mit Fragen der Wahrnehmung des Schönen, so wird dieses jeweils an das Besondere gekoppelt und enthebt sich dadurch der gewöhnlichen, alltäglichen Welt. Wird das Selbstverständliche mit dem traditionell Schönen verglichen, so erscheint es immer weniger schön und wertvoll.

Ambivalenz als ästhetisches Potenzial

Grüne Restflächen sind viel eher Phänomene, die in einer Ästhetik des Nebensächlichen und Selbstverständlichen besprochen werden müssen. Denn in der Ambivalenz, in der Mittelmässigkeit und der Beiläufigkeit zeigen sich ebenfalls Qualitäten, die sicht- und diskutierbar sind. Werden sie auf der einen Seite als städtische Realität betrachtet, drängt sich eine funktionalistische Sichtweise auf, in der sie als Rest abgewertet werden. Erst über die Wahrnehmung gewinnen diese Flächen Kontur – nicht nur technische, sondern ästhetische Kriterien werden relevant. Über das Ästhetische wird aus der nebensächlichen und bedeutungslosen Restfläche ein eigenständiges Phänomen. Im Gegensatz zur planerischen Auffassung als Rest werden sie in dieser Betrachtung aufgewertet, es entsteht ein «Überschuss». Präsenz, Eigenständigkeit und Bedeutung waren nicht einge-plant. In diesem Überschuss liegt ein ästhetisches Potenzial, das mit den Grünflächen nicht nur auf die Grenzen der Planung verweist, sondern die entstandenen Lücken und Brüche mit neuen Bedeutungen füllt, die dadurch, dass sie in der Planung unbekannt waren, immer auch mehrdeutig sind. Mehrere Bedeutungen bieten sich dem Betrachter je nach Sichtweise an. Ambivalenzen, Offenheiten und Mehrdeutigkeiten machen einen wesentlichen Bestandteil des Charakters dieser Flächen aus und generieren gleichzeitig das ästhetische Poten-zial, das im «Sowohl-als-Auch» liegt. Sie wirken gleichzeitig als luxuriöse Verschwendung von teuerstem Raum und als funktionslose Restflächen, als Zeichen für Sparmassnahmen im Bereich der Grünflächenpflege und als Verweis auf «Wildnis» im Sinne einer ursprünglichen, paradiesischen Natur, aus welcher der Mensch ausgeschlossen wurde und die er nun mit sehnsuchtsvollem Blick betrachtet. Sie bilden einen Antipol zur gebauten Umwelt, vermögen als Versatzstücke von Gärten auf Arkadien zu verweisen und werden gleichzeitig Verkehrsgrün genannt. Vor dem Hintergrund von Garten, Park, Landschaft und Natur hat das Zwischengrün ein Potenzial als Projektionsfläche für neue Zukunftswelten, die sich jedem Betrachter anbieten und es ästhetisch interessant macht.

TEC21, Mo., 2006.12.04

04. Dezember 2006 Michèle Novak

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