Inhalt

WOCHENSCHAU
02 Guggenheim-Architektur in Bonn | Uta Winterhager
03 Neugestaltung des Jungfernstiegs in Hamburg | Heinrich Wähning
04 Tagung zum Humboldtforum in Berlin | Peter Rumpf
04 Wanderausstellung Holzbau der Moderne | Silke Reifenberg
06 Braunschweiger Architekturnetzwerke | Bettina Maria Brosowsky
06 SANAA-Werkschau im Bauhaus-Archiv | Urte Schmidt

BETRIFFT
10 10. Architekturbiennale Venedig | Martina Düttmann

WETTBEWERBE
16 Temporäre Gestaltung des Schlossareals in Berlin | Doris Kleilein
18 Auslobungen

THEMA
20 Haus Krohmer in Mauren | Brigitte Schultz
26 Baumhaus in Ludwigsburg
30 Penthouse in Neumünster
32 Haus Blick in Düsseldorf
36 Haus G. bei München

RUBRIKEN
07 wer wo was wann
40 Kalender
45 Anzeigen

Stadt, Treppe, Alster

(SUBTITLE) Neugestaltung des Hamburger Jungfernstiegs

Gier und Hybris waren die Geburtshelfer eines der schönsten Stadträume Europas: Im 13. Jahrhundert zweimal in Folge zum Betrieb von Getreidemühlen gestaut, überflutete das Wasser der Alster weit mehr von Hamburg, als man berechnet hatte. Ein halbes Jahrtausend später kam der südliche Staudamm zu seiner vornehmen Bestimmung, nach Heinrich Heine: sitzen, nichts denken, Jungfern auf dem Stieg nachschauen. Wurden die auch bald seltener, blieb ein großartiges Panorama; nur war durch die zumeist ver­kehrstechnisch bedingten Überformungen des Jungfernstiegs in der jüngsten Vergangenheit die Einheit von Hausfront, Straße und Uferzone mit dem Großraum der Alster kaum noch erlebbar. So ist es ein Glücksfall, dass beim internationalen Wettbewerb vor vier Jahren (Heft 29/02) die Arbeit der Ham­burger Landschaftsplaner WES & Partner und des Architekten André Poitiers prämiert wurde, deren zentrale Absicht – und Erfolg – es war, Stadt und Wasser wieder zusammenzubringen. Dabei sind alle Einzelmaßnahmen bis zu Details der Nachtbeleuchtung immer auf die großräumige Einbindung bedacht.

Die zuvor unklar konturierte Uferkante wurde um fast acht Meter zurückgesetzt, wovon auch der so ans Wasser gerückte Alsterpavillon profitiert. Der zum Wasser leicht abfallende neue Platz ist nahezu auf ganzer Länge abgetreppt: ein lineares Amphitheater. Sein östliches Ende wird durch eine Bastion gehalten, die Weiteres leistet; im Inneren findet die Verwaltung der Alstertouristik Platz, und oberirdisch erhalten die Alsterarkaden ein Pendant, das die bedeutsame Raumfolge zum Rathausplatz stärkt.

Auf der Stadtseite wurde der Gehsteig verbreitert und wie der Platz am Wasser mit sandfarbenem Betonwerkstein belegt, was noch im Herbstlicht dem Ganzen ein freundlich-südländisches Gepräge verleiht, vor allem aber beide Seiten wirkungsvoll zusammenfasst. Dem dient auch die wohl mutigste Entscheidung: die zu Beginn der 70er Jahre vor der Häuserfront und auf den Mittelstreifen gepflanzten Bäume wieder zu entfernen. Neue Silberlinden gegen­über komplettieren nun den freigeräumten Jungfernstieg zum Boulevard. Von Ost nach West schließen sie als dreireihige Allee zur lindenbestandenen Ringpromenade um die Alster an; durch den gedoppelten Pflanzabstand in Längsrichtung bleibt der Blick aufs Wasser ungehindert.

Auch bei der Architektur hat man sich um Integration bemüht. Im Osten vorgesehen war die Neuordnung der U-Bahn-Eingänge und vor allem der Ersatz des klobigen Hapag-Lloyd-Pavillons durch ei­nen kleineren für ein Reisebüro und eine Gaststätte. Den funktional unterschiedenen Bauten wurde ein gemein­sames gestalterisches Motiv unterlegt – am Ende unterlagen sie diesem, zum Teil wenigstens. War unter den bedruckten Glaswänden der U-Bahn-Eingangsbauten nur technische Infrastruktur unterzubringen, wirkt die fleckig geätzte Glasfassade des Pavillons über die Maßen von formalen Ansprüchen bedingt – man muss nur mal die Kellner fragen, die unter Preisgabe ihrer würdevollen Haltung spontan demon­strieren, welch skurrile Verrenkung ein Alsterblick verlangt. Freilich kann man dem Architekten kaum verdenken, dass er es nach vielen verlangten Überarbeitungen dabei belassen hat, zumal sich Eigner und Bau­behörde letztlich auf die Einrichtung eines „diskret wirkenden Restaurants“ einigten. Der ursprünglich als luftige Halle geplante Pavillon wurde bis zum Bersten gefüllt, u.a. mit auch olfaktorisch dis­kreter Küchentechnik – im Dach stecken meterhohe Kohlefilter. Doch nimmt ihm dies kaum die leichte Anmutung, wie man auch den U-Bahn-Bauten zubilligen muss, dass ihre etwas wuchtige Bedachung eine ganze Reihe geforderter Bushaltestellen ersparte. Letztlich aber geben die wenigen Schönheitsfehler eher Anlass zum Staunen, dass dem Großprojekt nicht mehr Unheil widerfuhr. Bis zur Eröffnung zumindest. Denn nachdem die Regeneration der Guten Stube Hamburgs vor allem aus privaten Mitteln bestritten wurde, wachsen die Begehrlichkeiten; bisher ist die Kette der Großveranstaltungen nicht abgerissen, und seit der Fußball-WM flaniert man hier an einer beständig sich erneuernden Wand aus Bierzelten.

Bauwelt, Fr., 2006.10.13

13. Oktober 2006 Heinrich Wähning



verknüpfte Bauwerke
Neugestaltung Jungfernstieg Hamburg

10. Architekturbiennale Venedig

Gerade ist Halbzeit bei der 10. Mostra Internazionale di Architettura, die sich in diesem Jahr an dem Thema „Città. Architettura e società“ versucht. Viele Veranstaltungen folgen noch, der Sieger unter den Länderpavillons wird erst am Schluss der Ausstellung gekürt. Letzter Tag ist der 19. November. Wer wissen will, ob es vorangeht mit Architektur und Stadtplanung oder ob wir gerade daran verzweifeln, sollte nach Venedig reisen.

Die Architekturbiennale in Venedig macht süchtig. Wenn man nach vier Tagen die Stadt wieder verlässt, wünscht man, September 2008 stände schon vor der Tür. Es ist die einzigartige Mischung aus einer konzeptionellen Sicht auf die Welt, die in den Raumfolgen des Arsenale präsentiert wird, und der regionalen Sicht auf sich selbst, die in den Länderpavillons der Giardini stattfindet. Außerdem kann man sich darauf verlassen, fast jeden zu treffen, den man in dem beschränkten Universum Architektur kennt, und dass derjenige wieder einen neben sich hat, dem man noch nicht begegnet ist und mit dem man ein Treffen in Bordeaux oder Paris oder Austin oder Moskau oder sonstwo verabreden kann.

Nicht zu vergessen Venedig, nicht zu vergessen die Sonne. In Berlin hat um diese Zeit der Frühherbst schon begonnen.

Nur dies alles: „Cities. Architecture and Society“

Das Thema im Arsenale war gewaltig: „Städte. Architektur und Gesellschaft.“ Da geht nichts drüber. Eine Ausstellung der Feststellungen, die ihre Dramatik allein aus dem Thema bestreitet. Die Aussagen stecken in Styroporstelen, Satellitenbildern, Statistiken, Schwarzplänen, Diagrammen. Wie oft passt der Stadtgrundriss von Venedig in eine der Megastädte? Die Aussteller haben ganz einfach Material über Städte gesammelt und die Computer ihr Bestes tun lassen, um das Material zu visualisieren. Hätte man sie anders programmiert, sagt sich der Besucher, wären andere Bilder entstanden, und geht auf Distanz. Die Zufälligkeit der Aufbereitung, die Zufälligkeit dessen, was man über die einzelnen Städte erfährt, die Zufälligkeit, mit der einige der genialen Fotos von Gabriele Basilico aus Turin und Berlin in der Randleiste platziert wurden – glaubte man wirklich, das Dilemma der großen Städte dadurch begreiflicher zu machen? Oder soll der Besucher aus dem Wildwuchs der Präsentation auf die Hilflosigkeit der Gegenwart gegenüber dem Phänomen Stadt schließen?

Sechzehn Städte sind nacheinander aufgereiht, von São Paulo, Caracas, Bogotá über Kairo und Istanbul bis Mailand und Turin, Berlin und London, Tokio, Bombay, Shanghai. Manche dieser Städte wachsen unaufhörlich und belegen die These, dass in vierzig Jahren mehr als zwei Drittel der Menschen in Städten leben werden. Aber sie wachsen auf unterschiedliche Art, die einen informell, die anderen übersteuert. Manche Städte wachsen gar nicht, Berlin zum Beispiel. Die Ausstellung unterscheidet die einen nicht von den anderen. Sie fragt auch nicht, sind die Städte als Täter oder als Opfer zu lesen, sind sie den Entwicklungen ausgeliefert oder forcieren sie, weil im ständigen Wettbewerb, Entwicklungen, denen sie nicht gewachsen sind? Reagieren sie partiell, ganzheitlich, ignorant, vorausschauend? Welche tut was? Nichts wird gefragt, nichts wird beantwortet.
„Was eine Stadt ausmacht, ist nicht mehr klar. Neben den klassischen politischen Kräften und den Kräften des Marktes wirken Migration, Überalterung, Konsumverhalten und Tourismus auf die Städte ein. Und die Angst. Es ist ein unkontrollierbarer Kräftekomplex, der sichtbar und unsichtbar am Werke ist und der durch Theorie nicht mehr erfasst oder geläutert werden kann. Für Architekten hat diese Komplexität zu ei­nem Verlust ihres Engagements geführt, denn sie können die Stadt als kollektive Ganzheit nicht mehr begreifen.“ Dieser Text steht nicht in den Biennalekatalogen, sondern in einem Faltblatt, das dort auslag und die Architekturbiennale 2007 in Rotterdam ankündigt. Wenn die Ausstellung im Arsenale wenigstens diese Aussage gemacht hätte. Doch nichts dergleichen.

Was wir sahen: Pappkojen neben Pappkojen, mit denen die gewaltige Säulenkolonnade des Arsenale halbhoch zugestellt war, die Säulen von den Tafeln beidseitig angeschnitten. Einem, der noch nie auf der Biennale war, hatten wir einen in die Tiefe gehenden, archaischen Raum versprochen. Und da standen wir nun, in konventionellen Gefachen, die in jeder Tiefgarage Platz gefunden hätten. Was für eine Architekturausstellung, die zuerst einmal Raum zerstört. Vor sechs Jahren hatte Massimiliano Fuksas die Stadt, die nicht sein Thema war, im Hintergrund der Säulenkolonnaden in bewegten Bildern vorbeirauschen lassen, gewaltig, wortlos, wunderbar. Jetzt schrumpfen die Städte auf Diagramme zusammen, für deren Erläuterungen der Besucher kaum Zeit hat.
Während man von Koje zu Koje geht, muss man über ebene Tafeln schreiten, und auf die werden bewegte Luftbilder von den ausgestellten Städten projiziert. Die Bilder ziehen wie Wolken darüber hinweg. Die Tafeln liegen mitten auf dem Weg, man muss sie überqueren, und man tut es zögernd. Ei­nen Augenblick lang verliert man den festen Boden unter den Füßen und spürt die Gefährdung und die Verletzlichkeit der Städte. Hier ist etwas angedeutet, hier ist einmal das Thema der Ausstellung mit den Mitteln von Ausstellungen umgesetzt. Sonst nirgends. Kann, wenn die Botschaft groß ist, die Präsentation willenlos sein? Kann man bei der Darstellung eines an sich wahren Sachverhalts auf die Erfahrungswirklichkeit verzichten?

Die Konzeption lag in den Händen von Richard Burdett, Architekt und Stadtplaner aus London, der an der London School of Economics lehrt und einer der Berater des Mayor of London ist. Außerdem ein Freund von Richard Rogers, der rein zufällig in diesem Jahr den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk erhielt. Für das Ausstellungsdesign waren Cibic & Partners zusammen mit dem Grafikbüro Fragile verantwortlich.

Mehr Wirklichkeit bot ein Kreuzfahrtschiff mit Namen „Norwegian Jewel“, das gegenüber den Giardini drei Tage lang vor Anker lag und seine eigene Fassade in die Straßen Venedigs einschrieb, um einiges höher als die der gegenüberliegenden Häuser. Ein solches Schiff hat mehr Bewohner als zwei oder drei Stadtblocks in Berlin und beherbergt einen vollen Stadtblock an Personal. Die Bewohner des Schiffes sind mit allem versorgt. Angst ist ausgeklammert. Städte sind nicht mehr als Landausflüge. Überalterung ist ganz normal. Als Kleinststädte bewegen sich diese Schiffe rund um den Erdball. Man könnte sich vorstellen, dass sie nie mehr vor Anker gehen oder dass die Mitreisenden längst den Boden unter den Füßen verloren haben. Das überdimensionierte Schiff löst mehr Gedanken aus als die gesamte Ausstellung im Arsenale, die nicht viel mehr bietet als aufgeblähte Buchseiten, die man besser zu Hause liest. Auf den Seiten der Architectural Review, die zeitgleich mit der Eröffnung erschien, nimmt sich das unsystematisch gesammelte Material denn auch plausibler aus. Wir verlassen das Arsenale.

In den Giardini

Hier sind wir verpflichtet, zuerst nach dem deutschen Pavillon zu sehen. Das bedeutet, nach dem Eingang nach rechts abbiegen, vorbei an der Schweiz, Russland, Japan, Dänemark, der skandinavischen Dreiheit Norwegen, Schweden, Finnland. Der deutsche Pavillon liegt an einem kleinen Platz, den er mit den Pavillons von Großbritannien und Frankreich teilt. Die Buchstaben Germania sind schon länger verschwunden, ihre Abdrücke noch lesbar. Die unbeholfenen, quadratischen Säulen kann man leider nicht in Abdrücke verwandeln, auch die Symmetrieachse bleibt dominant. Weil das Thema diesmal aber Convertible City heißt, was die Aussteller ziemlich einfach durch Beispiele von Um- und Anbauten belegt haben, welche natürlich keine Antwort auf das Dilemma der Stadt geben können, wurde der Anspruch durch eine asymmetri­sche rote Treppe versinnbildlicht, mit der man die Symmetrieachse stört. Der Ausblick von oben ist, wie nicht anders zu erwarten, herrlich. Von der Treppe löst sich schon am Tag der Eröffnung der Belag (verantwortlich: die Berliner Architekten Armand Grüntuch und Almut Ernst).

Gegenüber die Franzosen. Auf Migration gibt es keine angemessenen Antworten sagte sich Patrick Bouchain, der verantwortliche Architekt, aber eines können wir: Gastfreundschaft inszenieren. Er hat sich mit seinem Konzept eines von unten bis hoch aufs Dach bewohnten Pavillons gegen die Gepflogenheiten der Biennale durchsetzen müssen. Lauter Gerüste, auf denen man schläft, neben denen man arbeitet, in die eine veritable Küche eingehängt ist, aus der es duftet, und eine Bar, wo jeder willkommen ist. Wenn Architekten, so die Botschaft, als Randgruppe in dem Mächtespiel um die Stadt nicht mehr gefragt sind (es sei denn als Auslage im Schaufenster, wie die Entwürfe von Renzo Piano, Zaha Hadid, Richard Rogers et al. belegen), dann greife man auf das zurück, was Architekten auch vermitteln können müssen, vor allem, wenn sie ein Einfamilienhaus bauen: die Lust zu leben.

Brodsky und Brodsky

Wir gehen den Weg Richtung Eingang zurück. Die Japaner, sonst immer Garantie für ein radikales Konzept, präsentieren sich diesmal barfüßig, barhäuptig, alternativ, bambusselig. Was Russland, gleich nebenan, betrifft, so haben die vorangegangenen Biennalen keine großen Erwartungen aufkommen lassen. Umso überraschender der Pavillon diesmal: Ein Architekt namens Alexander Brodsky inszenierte ein visuelles Gedicht über Moskau in vier Maßstäben: eine Siedlung aus Plattenbauten in der Vitrine, über die der Besucher den Schnee rieseln lassen kann, dämmernde Wohngebäude, geschichtet hintereinander, erleuchtete Wohnungen nebeneinander mit dem immer gleichen kleinen scherenschnitthaften Leben darin. Zu lesen wie eine Strophe von Joseph Brodsky. „Überall ist Nacht. In Winkeln, Augen, Wäsche, im Tisch, in den Papieren, in der fixen Rede, im Kruzifix, im Laken ... Alles schläft ein. Das Fenster. Und der Schnee im Fenster. Des Nachbardaches weiße Schräge. Wie ein Tischtuch. Sein First. Das ganze Viertel, tief im Schlaf, von Fensterrahmen tödlich kleingeschnitten...“ Doch hier, in der Ausstellung, legt Alexander Brodsky den Bildausschnitt des winzigen wirklichen Wandfensters so, dass der Blick auf den blau schimmernden Canale Grande fällt. Wieso der Architekt und der Dichter, der uns sofort dazu einfällt, den gleichen Namen tragen, ließ sich nicht entschlüsseln. „Inhabited Localities“ heißt die Inszenierung, die sich als künstliche Baustelle weiter durchs Treppenhaus zieht. Einige wenige Bauten von Alexander Brodsky (vielleicht hat er gar nicht mehr bauen dürfen?) werden am Ende der Treppe an die Wand geworfen: kleine Aufträge, subtile Umsetzung. Er ist ein Architekt, über den man gern mehr wüsste, doch er macht sich unsichtbar hinter dem Untertitel seiner Präsentation: „A Few Episodes in the Life of the Architect’s Favourite City, as Told by Himself.“

An der Hauptachse links liegt der kleine belgische Pavillon. Er hat vor zwei Jahren mit einer Dokumentation über Kinshasa den Preis der Biennale gewonnen. Diesmal schaut das Land auf sich selbst und zeigt „The Beauty of the Ordinary“. Ein Luftbild von Belgien deckt den Boden des zentralen weißen Raums, ringsherum fünf Projektionskojen, in denen Videobilder, von fest installierten Kameras aufgenommen, Situationen irgendwo im Lande zeigen. Ein Auto fährt an der Tankstelle vorbei, eine Frau geht eine helle Straßen hinunter, Kids sitzen auf dem Dach einer Sporthalle, einer kommt, zwei gehen. Kein Schnitt. Mit großer Kunst ist vermieden worden, die Orte interessant werden zu lassen, ist vermieden worden, dass sie durch den Blick der Kamera mehr werden, als sie sind. Festgehalten wurde lediglich ein fragiler Moment an einem bedeutungslosen Ort. Festgehalten wurde eine Hommage an das Gewöhnliche, und darin enthalten: eine Absage an die Ästhetisierung der Welt. Es geht um das Absonderliche im Alltäglichen, um das Unwahrscheinliche im Banalen, um die imaginierbare Geschichte einer Frau, von der man nur den Rücken sieht. Wir mögen es so, lautet die Botschaft der stillen Bilder, wir sind sicher, dass sich gerade diese banalen Orte weiterentwickeln lassen, ohne sie je zu Ende denken zu müssen. Städtebau als Weitererzählung. Der kleine Katalog zur Ausstellung im belgischen Pavillon ist schwarzweiß gedruckt. Dreizehn Autoren umkreisen das Thema Banalität, und es gelingt ihnen, Robert Venturi und der Überhöhung von Banalität auszuweichen.

Kurze letzte Anmerkung zum Thema Städte

In dem großen italienischen Pavillon am Ende der Hauptachse, der schon immer mit vielen Einzelausstellungen das Thema des Arsenale weitergeführt und Italien nur gestreift hat, gab es eine Arbeit von OMA, die sich mit den Städten entlang der arabischen Küste beschäftigt, vom Anfang der Straße von Hormus und wieder zurück: Dubai, Abu Dhabi, Katar, Manama, Bahrain, Doha, Kuweit City, Ra’s al-Chaima. Jede dieser Küstenstädte steht mit der anderen im Wettbewerb und entwirft ein jeweils besonderes Bild von sich selbst, alle importieren sie die westliche Moderne, übersetzen sie ins Größere, Outriertere, nie Dagewesene, um sie vielleicht irgendwann an den Westen zu re-exportieren. Der Tourismus nimmt zu, die vorauskalkulierten Zuwachsraten (auf die einige der Staaten setzen, weil ihnen die Ölvorräte ausgehen werden) sind enorm. Die Ausstellung über diese unbekannte Region, leicht verständlich, weil ohne jeden graphischen Überbau, liest sich wie der Vorspann zu einer größeren Studie. Im September 2008 werden wir es wissen.

Bauwelt, Fr., 2006.10.13

13. Oktober 2006 Martina Düttmann

Haus Krohmer in Mauren

Mauren, ein kleiner Weiler in der schwäbischen Provinz, ist in der näheren Umgebung vor allem bekannt wegen eines ruhigen Ausflugslokals und eines Bauernhofs mit angeschlosse­nem „Lädle“. Die Geschichte des ehemaligen Adelsguts reicht zurück bis zu einer im Flusstal der Würm gelegenen mittelalterlichen Wasserburg, die 1320 erstmals schriftlich erwähnt wurde. Sie wurde Anfang des 17. Jahrhunderts abgerissen zugunsten eines von Heinrich Schickardt entworfenen Neubaus auf dem Hügel, da die feuchte Luft der Talaue für den Tod der Kinder des Ritters verantwortlich gemacht worden war. 1830 gelangte das Schlossgut mitsamt seiner großzügigen Parkanlage in den Besitz der Familie Löwis of Menar, deren Nachfahren es bis zur Bombenzerstörung 1943 bewohnten.

Durch den Brand auf seine Grundmauern reduziert, lagen die Reste des Schlosses danach jahrzehntelang unter einem Behelfsdach, während die ehemaligen Bewohner sich vorerst in der nahe gelegenen Remise einrichteten. Man arrangierte sich mit der denkmalgeschützten Ruine, die nun nur noch als Scheune und Werkstatt genutzt wurde. Ein Wiederaufbau des Familiensitzes in seiner historischen Gestalt, wie ihn das Denkmalamt anstrebte, stand für die Familie selbst nicht ernsthaft zur Diskussion. Dagegen sprach die Größe des Schlosses, die bei einer originalgetreuen Rekonstruktion zu 1500 Quadratmetern Wohnfläche geführt hätte, die man weder hätte bezahlen noch füllen können.

Obwohl die direkten Nachfahren, die Familie Krohmer, sich in den achtziger Jahren ein Wohnhaus im nahen Ehningen errichtet hatte, blieb der Wunsch, sich irgendwann wieder am angestammten Familiensitz niederzulassen. Nachdem der Sohn der Familie Ende der neunziger Jahre mit seiner Frau in die alte Remise zurückgekehrt war, konkretisierte sich der Plan, beide Generationen auf dem drei Hektar großen Grundstück in Mauren zusammenzuführen. Also suchte man nach einem geeigneten Architekten für einen Neubau, der den „toten Raum“ der Ruine wieder ins Familienleben integrieren sollte.

Was folgt, klingt wie der Traum von einer Bauherren-Architekten-Beziehung. Durch zwei Wohnhäuser in der Gegend wurde man auf den Architekten Ingo Bucher-Beholz aufmerksam und bat ihn um einen Entwurf. Dieser sollte in erster Linie finanzierbar und schnell zu realisieren sein sowie die Auflagen des Denkmalamts bezüglich Schutz und Instandhaltung der Ruine erfüllen. Eine Woche nach der Ortsbesichtigung präsentierte der Architekt den Bauherren das Modell zweier über der Ruine schwebender Baukörper, das spontan auf Begeisterung stieß, versprach es doch neben modernem Wohnraum auch den benötigten Wetterschutz für die Ruine. Nach einigen gemeinsamen Änderungen – die Familie wünschte sich statt der vorgeschlagenen Fassade aus Glas- und Holzelementen eine reine Glasfassade sowie eine direkte Verbindung der beiden Wohnebenen – wurde der Bauantrag eingereicht. Er betonte die „endgültige geschichtliche Zäsur“, die „nicht beschönigt, nicht kaschiert“ werden sollte – und wurde sowohl von der Gemeinde als auch vom Denkmalamt überraschend schnell genehmigt.

Schon ein Jahr nach der ersten Präsentation konnten die beiden Generationen Krohmer ihre spiegelsymmetrisch konzi­pierten Häuser beziehen, die mit Baukosten von 1200 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche den gegebenen finanziellen Rahmen exakt eingehalten haben. Die zwei orthogonalen Wohnboxen stehen in sechs Meter Höhe über der Ruine, zu der sie einen respektvollen Abstand wahren, um diese statisch – und optisch – nicht zu belasten. Getragen werden sie von je vier Stahlprofil-Stützen, die außerhalb der alten Mauern platziert sind, so dass der Raum darunter frei disponierbar bleibt. Er wird im Rahmen von Ausstellungen und Veranstaltungen der Öffentlichkeit regelmäßig zugänglich gemacht.

Die von der Straße gut einsehbare Nordseite macht durch ihre klare, mit Aluminium-Pigment-Farbe beschichtete Holzschalung einen geschlossenen und massiven Eindruck. Die gut sichtbar vor den Schlossmauern verlaufenden Installationsstränge verdeutlichen, dass es sich im Verständnis der Bewohner um die Rückseite des Gebäudes handelt. Zu den übrigen Seiten öffnet es sich mit einer raumhohen Glasfassade in Richtung des anschließenden Schlossgartens. Nach Süden erweitern sich die Räume zu einem um vier Meter auskragenden „Freisitz“, der einen weiten Blick über die denkmalgeschützte terrassierte Parkanlage bietet. Die jeweils 200 Quadratmeter großen Bauten werden über den „Patio“ der Ruine erschlossen, von dem aus eine schlicht verzinkte Stahltreppe auf den Verbindungssteg zwischen den beiden Häusern führt, der von den Bewohnern als zusätzliche Sonnenterrasse genutzt wird.

Im Innenraum, der auf der Seite der Eltern mit Originalstücken aus dem Schloss möbliert wurde, ist die Struktur des Gebäudes durch die offen liegende Stahlkonstruktion jederzeit spürbar. Für den Architekten lag die oberste Priorität in der konsequenten Umsetzung der statischen Anforderungen in eine klare Konstruktion, die seiner festen Überzeugung nach zwangsläufig zu qualitätvoller Architektur führt. Da die sechzehn Meter breite Ruine ohne Zwischenstützen überspannt werden musste, um das alte Gewölbe nicht punktuell zu belasten, bediente er sich des Prinzips des Vierendeel-Trägers – eine Rahmenbinder-Konstruktion, die üblicherweise im Industrie- und Brückenbau zur Anwendung kommt.

Decke und Boden des Gebäudes lagern auf zwei 22 Meter langen Stahlrahmen, deren Ober- und Untergurte im Abstand von vier Metern durch senkrechte Stiele biegesteif verbunden sind. So blieben dem Wohnraum hinderliche diagonale Aussteifungen erspart. Die dadurch allerdings 36 Zentimeter breiten Stützen im Innenraum werden in keinster Weise kaschiert: Mit der gleichen Metallglimmer-Farbe beschichtet wie die übrige Konstruktion, durchbrechen sie im nördlichen Bereich des Gebäudes mittig die weißen Trennwände der vier Zimmer, während sie im südlichen Teil frei im offenen Wohnraum stehen.

Da die Empfindlichkeit der Gewölbe und Mauern der Ruine den Einsatz von Gerüsten oder festen Kränen ausschloss, stellte die schnelle und einfache Montage eine weitere Herausforderung dar. Deshalb wurden alle Teile der Häuser vorgefertigt und an je einem Tag vor Ort zusammengesetzt. Auf die Stützen wurden zuerst die an einem Stück gelieferten Rahmen verschraubt, in die anschließend die vier mal zehn Meter messenden Holzkastenelemente eingelegt wurden. Danach hängte man die sechzehn Meter langen Leimholzprofile der Fassade ein, deren Scheiben zuletzt eingesetzt wurden. Das Gewicht des Gebäudes wird über die Stützen und über schnörkellose Betonfundamente in die Außenbereiche des historischen Gewölbes eingeleitet, das dadurch sein verlorengegangenes Auflager wieder erhält.

Die geschlossenen Seiten der Wohnboxen sind mit einer 30 Zentimeter starken Wärmedämmung versehen, die zu den Rändern hin allerdings auf die Hälfte reduziert wurde. Dies verleiht den Fassaden eine Filigranität, die den leichten Gesamteindruck der „schwebenden Kiste“ auch bei näherer Betrachtung erhält. Auf außenliegenden Sonnenschutz wurde aus ästhetischen Gründen verzichtet. Die erste sommerliche Bewährungsprobe haben die neuen Schlossherren dennoch gut überstanden, verfügt das Haus doch neben einem klimatisch günstigen Gründach in seiner luftigen Höhe auch über eine optimale natürliche Durchlüftung.

Bauwelt, Fr., 2006.10.13

13. Oktober 2006 Brigitte Schultz



verknüpfte Bauwerke
Haus Krohmer

4 | 3 | 2 | 1