Inhalt

WOCHENSCHAU
02 Neue Hülle für das Würzburger Heizkraftwerk | Enrico Santifaller
03 Ideal City – Invisible Cities | Michael Zajonz
04 Sauerbruch-Hutton-Werkschau | Jochen Paul
04 Design und Architektur für die Luftfahrt | Gudrun Escher
06 Aspekte des ungarischen Historismus | Oliver Hell
06 Haus im Haus | Ursula Baus

BETRIFFT
10 Theaterschaden in Potsdam | Michael Kasiske

WETTBEWERBE
14 Sternbrauerei-Areal in Salzburg | Doris Kleilein
16 Entscheidungen
18 Auslobungen

THEMA
20 Das Mehllager | Gabriel Sandwert
26 Normale Sup’ | Sebastian Redecke
32 Das Atrium in Jussieu | Sebastian Redecke

REZENSIONEN
42 Bürogebäude mit Zukunft | Karl J. Habermann
42 haus plus. Innovative Ideen für Anbau, Aufstockung und Erweiterung | Frank F. Drewes
42 db detailbuch. Band 3 | Karl J. Habermann
43 Harry Rosenthal. Architekt und Designer | Jürgen Tietz
43 Paul Zucker. Der vergessene Architekt | Jan Gympel

RUBRIKEN
08 wer wo was wann
40 Kalender
44 Anzeigen

Seine neue Hülle lässt das Würzburger Kraftwerk zu einem Stück Stadt werden

Obwohl Würzburg vom Main ganz lieblich in zwei Kurven und mit gebremstem Schaum umflossen wird, wendet die Stadt traditionell dem Fluss ihren Rücken zu. Zwar hatte schon Balthasar Neumann das Anliegen, den Main ins städtische Leben zu integrieren, auch schuf sein Sohn Franz Ignaz ein noch heute eindrucksvolles Schiffshebewerk, doch die Würzburger versagten ihren Baumeistern, so groß sie auch waren, notorisch die Gefolgschaft. Und als im März 1945 ganz Würzburg in Flammen aufging, bauten seine Bewohner nach Kriegsende nicht nur ihre Stadt wieder auf, sondern verbauten auch gleich das Mainufer mit einer zweispurigen Straße, einer Straßenbahn und Hunderten von Parkplätzen. Erst seit dem Amtsantritt von Christian Baumgart als Stadt­bau­rat im Jahre 1994 steht die Reurbanisierung des Ufers auf dem Programm. Ziel ist, die rechtsmaini­sche Flanke zum Erlebnisraum zu machen und dazu von jenem Zwickel im Nordwesten Würzburgs, in dem das Ufer in die Abhänge des Steinbergs übergeht, bis zur Ludwigsbrücke am südwestlichen Rand der Innenstadt eine durchgängige Fußgängerpromenade am und teilweise sogar über dem Wasser anzulegen. Tiefkai, Schiffsanlegestelle, Gartencafés, Grünanlage und Baumalleen sowie eine Eventmeile mit Museum und Kino sollen Industriebrachen, Verkehr und par­ken­des Blech ersetzen. Zahlreiche konkurrierende Ver­fahren wurden dazu ausgelobt und – wie schon in Miltenberg und noch viel mehr in Wörth am Main (Heft 31/04) – Landesmittel für den technischen Hoch­wasserschutz eingesetzt, um eine städtebauli­che Qualität mit ästhetischem Anspruch zu erzielen.
Bis vor kurzem allerdings scheiterten alle Anstrengungen am städtischen Heizkraftwerk unmittelbar südlich vom Alten Hafen und vom Kulturspeicher: Der in seine Dimensionen von 160x40x20 Metern beängstigende Klotz stillt zwar nahezu den gesamten Strom- und Wärmebedarf der Innenstadt, doch stand er bisher jeder Uferrevitalisierung buchstäblich im Wege. Norman Forster hatte in einer Studie Ende der 90er Jahre einen öffentlichen Weg durch das 1954 errichtete, in den folgenden Dekaden mehrmals erweiterte Gebäude vorgeschlagen. Doch wegen Sicherheitsbedenken verschwand der Plan in der Schublade. Einige Jahre später konnte Baumgart die Idee erneut aufgreifen und die Betreiber überzeugen, im Zuge einer abermaligen Erweiterung ein konkurrie­rendes Verfahren auszuloben, wobei freilich der technische Inhalt von der architektonischen Form strikt getrennt wurde. Dass das Heizkraftwerk – vorher von der Lokalpresse als Schandfleck geschmäht, nun zum „Hingucker“ gekürt –, trotzdem schon vor der offiziellen Eröffnung Anfang Oktober einen kaum wegzudenkenden Bestandteil des städtischen Lebens darstellt, ist vor allem dem Entwurf des Büros Brückner & Brückner, Tirschenreuth/Würzburg, geschuldet, der sich in einem VOF-Verfahren durchsetzen konnte. Während die Konkurrenz nur den Erweiterungsbau gestaltete, nutzten die Brüder Brückner den beim Bau des Kulturspeichers (Heft 14/02) gewonnenen Heimvorteil und überformten das gesamte Heizkraftwerk.

Mit insgesamt sechs mächtigen Horizontalprofilen, die sich um die vier Flanken des Gebäudes wickeln, und vertikalen, bis zu 6,60 Meter hohen Winkeln aus gekantetem Aluminium schufen die Architekten ein ebenso komplexes wie atemberaubend dynamisch anmutendes Gebilde aus ineinander gefügten, sich überlagernden und durchdringenden Volumina. Durch die unterschiedlichen Farben der vertikalen Winkelreihen – die silbernen Südschenkel wurden pulverbeschichtet, die nördlichen Schenkel mit einem Kupferlack gestrichen –, durch die Verwendung von verschieden großen Winkeln, die von sehr spitz bis relativ stumpf variieren, und durch wechselnde Abstände zwischen den Winkeln scheint das Gebäude vor Kraft zu vibrieren. Und nachts, wenn es aus Sicherheitsgründen beleuchtet ist, erweckt es den Eindruck, als glühte es in seiner gesammelten Energie. Darüber hinaus bietet eine einfache, die Höhe des Kulturspeichers aufnehmende Auskragung an der Nordfassade in Kombination mit einer breiten Freitreppe in den Main Raum für neues städtisches Leben am Flussufer: Anfang August fand un­ter diesem Bürzel ein Avantgarde-Tanzfestival statt, Ende August konnte man dort Open-Air-Kino genießen. Für Modefotografen ist das Kraftwerk am Main inzwischen zu einer der angesagtesten Locations der Stadt geworden. Und der sonntägliche Spaziergänger kann das Kraftwerk nun auf zwei Wegen umrunden: auf der Wasserseite oder auf der Anlieferflanke, die einige kalkulierte Einblicke in das Innenleben der Energieproduktion gewährt. Der Umbau des Kraftwerks und die 34 Stufen der Freitreppe haben, will man der Lokalpresse glauben, Würzburg bereits jetzt verändert. Weil das Kraftwerksschiff nach 50 Jahren sowohl städtebaulich als auch architektonisch in der Stadt, die es versorgt, nun endlich angekommen ist, besteht an dieser Aussage überhaupt kein Zweifel.

Bauwelt, Fr., 2006.10.06

06. Oktober 2006 Enrico Santifaller

Sternbrauerei-Areal in Salzburg

Das Grundstück der ehemaligen Sternbrauerei im Salzburger Westen böte sich an für ein Wohnhochhaus der besonderen Art – die massive Felswand des Rainbergs im Rücken, den Blick frei auf die Stadt. Die Jury diskutierte lange über die zahlreichen spektakulären Entwürfe für „hohe Häuser“ und entschied sich dann für den eher zurückhaltenden, städtebaulich sinnfälligen Entwurf der New Yorker Architektinnen Gisue und Mojgan Hariri.

Es sei einer der am besten vorbereiteten Wettbewerbe gewesen, die es in der Stadt Salzburg je gegeben habe, versicherten Bürgermeister Heinz Schaden und Planungsstadtrat Johann Padutsch bei der Vorstellung der Preisträger im August. 18 internationale Bü­ros hatte der Investor, die österreichische Immobiliengesellschaft Asset One, Anfang des Jahres nach Bürovisiten von Oslo bis Osaka ausgewählt und dazu eingeladen, Entwürfe für das Areal der ehemaligen Sternbrauerei zu entwickeln. Das Programm ist ambitioniert: 100 Wohnungen in drei Kategorien (Luxuswohnen, „bürgerliche Stadtwohnungen“ und kleine, günstigere Atelierwohnungen) sind auf dem westlichen Teil des Grundstücks geplant, ebenso eine behutsame Revitalisierung des denkmalgeschützten Gebäudes der Sternbrauerei. Das „Haus der Architektur“ soll nach Grazer Vorbild ein eigenes Domizil auf dem Areal finden. Ein besondere Aufgabe bestand zudem darin, das steil aufragende Felsmassiv des Rainbergs für die Öffentlichkeit erlebbar zu machen. Das frü­here Brauereigasthaus, das derzeit verschlossen an der Straße steht, soll auch wieder eröffnen, und zwar als bodenständiges Wirtshaus – und nicht als Luxusrestaurant.

Über Jahrhunderte wurde am Rainberg Stein gebrochen und in der Altstadt verbaut. Die steile Felswand ist eines der Wahrzeichen der Stadt; das gut 13.000 m² große Grundstück am Fuß des Felsens wurde seit der Stilllegung der Sternbrauerei vor fast 50 Jahren allerdings nur noch sporadisch für Lager- und Gewerbezwecke genutzt. Die Siegerinnen des Wettbewerbs, die New Yorker Architektinnen Hariri & Hariri, erklimmen mit ihrem Entwurf nicht wie viele andere Beiträge die Felswand, sondern halten respektvoll Abstand: Sie benutzen die Analogie herabfallender Steinbrocken und arrangieren die Baukörper als vier- bis fünfgeschossige Ensembles vor der Wand. Der Übergang zwischen Bebauung und Felsen wird durch eine nach Osten hin in Kaskaden abfallende Wasserfläche betont, die als öffentlich zu­gängliches Felsenbad genutzt werden kann. Davor gruppieren sich vier Wohngebäude um einen grünen Hof. Die bestehenden Gewölbekeller der Brauerei werden für das Haus der Architektur genutzt, obenauf entsteht ein öffentlicher Platz mit Oberlichtern, gerahmt von zwei weiteren Wohnriegeln und dem Altbau der Brauerei, in dem eine Post-Graduate-School untergebracht ist. Der Entwurf bietet ein sensibles städtebauliches Konzept, mit dem die umliegende kleinteilige Struktur weitergebaut wird – große Widerstände vonseiten des Ensemble- und Naturschut­zes sind nicht zu erwarten.

Einstimmig empfahl die Jury das Projekt zur Realisierung. Bereits im nächsten Jahr soll mit der Umsetzung begonnen werden, 45 Millionen Euro Bausumme sind veranschlagt. Der Vorsitzende der Jury, Claude Vasconi aus Paris, drückt dennoch vorsichtig ein gewisses Bedauern darüber aus, dass die beiden anderen mit ersten Preisen ausgezeichneten Entwürfe von BRT und Christoph Langhof, die aufsehenerregend in die Höhe bauen, nicht umgesetzt werden. Die Vertikale stelle an diesem besonderen Bauplatz eine Chance dar, da es sich um ein Haus vor dem Felsen und nicht um ein städtisches Hochhaus handele – man habe die seltene Möglichkeit, nahe der Innenstadt ein Zeichen zu setzen, ohne negative Auswirkungen auf die Umgebung, etwa durch Beschattung, in Kauf nehmen zu müssen.

Bauwelt, Fr., 2006.10.06

06. Oktober 2006 Doris Kleilein

Das Mehllager

(SUBTITLE) Umbau zu einem Universitätsgebäude an der Rive Gauche: ANMA

Das umgenutzte Mehllager (Halle aux Farines) ist eines der ersten nahezu fertiggestellten Universitätsgebäude am neuen Standort „Paris Rive Gauche“ für das beginnende Hochschuljahr. Da es auf der komplexen Baustelle mehrere Verzögerungen gab, dauern innen die Arbeiten noch an. Außen zeigt sich das Gebäude aber schon wieder in seiner früheren Kompaktheit und Klarheit.

Integriert in das bedeutende Stadtentwicklungsgebiet, mit dem schon in den achtziger Jahren begonnen wurde (Hefte 20-21/1995 und 35/1999), soll der neue Universitätsstandort die dortige Mischnutzung aus Büro, Gewerbe und Wohnen in der Nähe der Französischen Nationalbibliothek ergänzen. Der Teilbereich des Entwicklungsgebiets nennt sich Masséna. Er ist im Norden begrenzt durch die Seine, im Süden durch die neue Avenue de France, die die Gleise der Gare d’Austerlitz überdeckt, im Osten durch den Boulevard Masséna und im Westen durch die Rue Neuve-Tolbiac. Christian de Portzamparc legte bereits 1995 den Rahmenplan für diesen Sektor fest. Das Mehllager, die Großen Mühlen, die Kühlhäuser, die ehemalige Fabrik zur Luftkompression SUDAC, allesamt Bauten auf einem der letzten Industrieareale in Paris, wurden in das neu zu bebauende Gebiet einbezogen und sollen sich in den zukünfti­gen Hochschulstandort einpassen. Dabei war es das Ziel, einen offenen Bereich der Studierenden in der Stadt zu schaffen und keinen in sich gekehrten Campus wie zum Beispiel in Jussieu, einer autarken Gitterstruktur der sechziger Jahre von Edouard Albert (Seite 32). Die Aufteilung des Raumprogramms in mehrere benachbarte Gebäude ganz unterschiedlicher Gestalt und Geschichte, die von öffentlichen Straßen durchzogen werden, wird zu dieser gewünschten Mischung im Viertel beitragen. Wäh­rend des Hochschulbetriebs werden sich hier bis zu 20.000 Studenten und 4000 Lehrkräfte einfinden. Neben dem Lager stehen die ehemaligen Großen Mühlen von Paris. Den Umbau dieses weit größeren Gebäudes für die Universitätsbibliothek hat der beauftragte Architekt Rudy Ricciotti bereits abgeschlossen.

Für den Umbau des Mehllagers war 2001 das Architekturbüro Nicolas Michelin & Associés – ANMA, damals noch unter dem Namen LABFAC tätig, als Sieger eines eingelade­nen Wettbewerbs hervorgegangen. Um das Programm der Lehrräume der Universität Paris VII – 13 Hörsäle, 60 Seminar­säle, eine Mensa, Verwaltungsräume – in dieser aus Stahlbeton im Jahr 1950 erbauten Halle unterzubringen, musste man mas­sive Umstrukturierungen vornehmen. Trotz der geforderten Flächen von 17800 Quadratmetern und der geringen finanziellen Mittel haben die Architekten vehement dafür plädiert, das Volumen der Halle so weit wie möglich zu erhalten, da gerade die Struktur, aber auch die Gastalt der Längsfassaden die Qualität des 25 Meter hohen, 15 Meter breiten und 140 Meter langen Gebäudes ausmachen. Der Bau wurde mit einem Minimum an Material verwirklicht. Alle Teile, die Stützen- und Trägerquerschnitte sowie die Zuganker und Decken sind knapp bemessen worden. Denis Honegger (1907-1981) – Schüler und später Mitarbeiter von Auguste Perret – entwarf das Mehllager Ende der vierziger Jahre mit einer perfekten Beherrschung der Stahlbetonbauweise von Perret (Heft 45/2005). Honegger übernahm auch dessen Vokabular. Dies ist besonders bei den licht- und luftdurchlässigen Betongittern und anderen vorgefertigten Fassadenelementen zu erkennen.

Wie ein Schiff in der Flasche

Damit das Programm in das vorhandene Tragwerk eingefügt werden konnte, waren umfangreiche Studien erforderlich. Im Verlauf der Ausführungsplanung und später auch auf der Baustelle kam es mehrmals zu Veränderungen, damit alle Teil­bereiche sinnvoll in der Halle Platz fanden. Nichtsdestotrotz blieb das Gebäude mit seinen großen Deckenhöhen, seinem flachen Dachgewölbe aus filigranen Bögen und seinen Fassaden mit Füllelementen aus vorgefertigtem Beton als Ganzes erhalten. Einzig das Mittelschiff wurde komplett entkernt, um dort die Hörsäle frei von jeglichen Zwischenstützen unterbringen zu können. In das Existierende hin­eingeschoben wie ein Schiff in die Flasche bildet diese an­einander gebaute Folge an Volumen eine lineare, autonome Form zwischen den beiden Seitenschiffen. Die „Füllung“ ergab zudem eine offene Raumzone unterhalb des Gewölbes, in der Computerarbeitsplätze des SCRIPT (Service Commun de Ressources Informatiques Pédagogiques et Techniques) eingerichtet wurden. Nach der Fertigstellung werden die Arbeitsplätze durch Boxen aus leichten pflaumenfarbigen Wänden voneinander abgetrennt sein.

Die Verkehrswege sind so organisiert, dass sie die Bewegungsströme im Gebäude trennen. Die Seminarsäle in den Seitenschiffen werden über Flure auf den Ebenen der existierenden Decken erreicht; in die Hörsäle im zentralen Bereich gelangt man über Treppenhäuser in neu eingefügten Zwi­schen­ebenen. Einige Seminarsäle verfügen über eine doppelte Raumhöhe. Eingebaute Glasbausteine im oberen Bereich dieser Säle bewirken eine indirekte Belichtung der Flure. Die Mensa und die Abteilung CROUS (Centre régional des œuvres universitaires et scolaires) funktionieren unabhängig vom Uni­versitätsbetrieb. Die Küche ist im Bereich des bestehenden Gebäudes angesiedelt, während sich das Restaurant, eine bescheidene Leichtmetallkonstruktion mit Fensterfronten und drei großen Lichtkegeln auf dem Dach, in einem Flachbau an der nördlichen Schmalseite mit Blick auf den neu gestalteten Quai und die Seine befindet.

Brückenkräne

Da es sich bei dem Umbau um eine Verdichtung ausschließlich im Inneren des Gebäudes handelte, wurde die Baustelle auf ungewöhnliche Weise eingerichtet. Nach dem Abriss der Ebenen im Mittelschiff und der provisorischen Stabilisierung der zwei Seitenschiffe, die nur noch durch das Dachgewölbe und die Streifenfundamente miteinander verbunden waren, wurden zwei Brückenkräne für die Versorgung der Baustelle eingesetzt. Sie dienten dazu, die vorgefertigten Betonelemente, die Träger der Hörsäle, die Verschalungen und Bewehrungen für die vor Ort gegossenen Betonwände der Hörsäle und die vorgespannten Hohlbetonplatten für die seitlichen Gänge zu transportieren. Nach Beendigung der Bauarbeiten wurden die Brückenkräne wieder abgebaut und durch neu geschaffene Öffnungen im Dach herausgehoben. Diese Dachöffnungen erhielten anschließend eine Verglasung, die eine natürliche Belichtung der Ebene mit den Computer-Arbeitsplätzen unter dem Gewölbe sichert. An den Wänden der Hörsäle soll das Kunst-Projekt „Lebende Oberfläche“ von Bertrand Segers installiert werden. Bis heute ist allerdings davon noch nichts zu sehen.

Unbearbeitete Materialien

Die Ausstattung der Innenräume ist bewusst nüchtern, sogar rudimentär gehalten. Dies ist nicht nur dem niedrigen Budget geschuldet; man wollte vor allem den industriellen Charakter des ursprünglichen Gebäudes bewahren. Die Materialien blieben weitgehend unbearbeitet. Alle Kabel und auch manche Lei­tungskanäle sind sichtbar. Bei den Trennwänden der Seminarsäle wurden Blocksteine verwendet. Die Volumen der Hör­säle sind vor Ort aus glattem Beton gegossen worden. Ihre Bodenplatten sind dicker als bautechnisch notwendig, um den Lärm von außen zu dämmen. Die hintere Wand der Hörsäle ist mit einer Schicht aus Mineralwolle, verdeckt durch lackierte Holzplatten, verkleidet. An den seitlichen Wänden wurden ge­presste Naturfaserplatten angebracht.

Zwei Passagen

Neue Treppenhäuser bedienen die sechs Ebenen. Sie liegen an zwei Querpassagen im Erdgeschoss, die auch als Durchgänge genutzt werden können. Die Passagen leiten zur begrünten Esplanade zwischen dem Mehllager und den Großen Mühlen über. Im Westen ist ein Park geplant, im Osten zwei Neubau­ten der Universität. Die Passagen sind mit Gittertoren zu schließen. Damit bleibt der Durchblick erhalten und die nächtliche Sicherheit gewährleistet. Um eine unabhängige Nutzung zu erlauben, verfügen die größeren Hörsäle mit 300 Plätzen über einen eigenen Zugang.

Die Originalfassaden mit ihren markanten Balkonen sind in ihrem eigentlichen Zustand erhalten. Im oberen Teil sind die Glasbausteine durch Fenster ersetzt worden. Darunter wurden einige der reliefartigen Fassadenelemente durch Glasfenster mit Sonnenschutz aus Leichtbeton-Lamellen ersetzt, die den linienhaften Rhythmus des gesamten Baukörpers nochmals unterstreichen.

Palazzo della Ragione

Der rationell strukturierte „Bildungsapparat“ ist gelungen, nicht nur, weil mit viel Hingabe die Architektur aus den fünf­ziger Jahren bewahrt wurde, sondern auch, weil man dem Gebäude einen städtischen Charakter gegeben hat, offen für die Bewohner und Besucher des Quartiers. Die zwei Passagen sichern die direkte Anbindung. Das neue Mehllager zeigt für mich hier eine gewisse funktionale Verwandtschaft mit dem Palazzo della Ragione in Padua, ebenfalls ein Durchgangsgebäude, errichtet zwischen zwei Plätzen. Aufgrund der Esplanade und des geplanten Parks steht zu erwarten, dass mit diesem südlichen Teil von „Seine Rive Gauche“ auch ein Ort für unterschiedliche kulturelle Aktivitäten entstehen wird. Und die umgebauten Industriebauten werden in jedem Fall treibende Elemente des Universitätslebens sein.

Bauwelt, Fr., 2006.10.06

06. Oktober 2006 Gabriel Sandwert

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