Inhalt

WOCHENSCHAU
02 Possibilités – das Erbe André Lurçats in Maubeuge | Anne Kockelkorn
03 Lernen von Ungers | Ulrich Brinkmann
04 Traversinersteig II | Jochen Paul

BETRIFFT
06 1882 bis 2036 – ein Zwischenbericht von der ältesten Baustelle in Europa | Ingo Schrader

WETTBEWERBE
08 Ehemalige Synagoge/Michelsberg in Wiesbaden | Doris Kleilein
10 Entscheidungen
11 Auslobungen

THEMA
12 Annäherung an den japanischen Raum |Nils Ballhausen
14 Zylinderpaket | Jan Geipel
20 Transluzenter Mehrzeller | Nicolai Ouroussoff
26 Zwischen Erde und Luft: Aomori Art Museum | Nils Ballhausen

REZENSIONEN
34 Orhan Pamuk. Istanbul | Olaf Bartels
34 Architecture in the Netherlands 2005/06 | Wilhelm Klauser
35 Bauhaus-Tradition und DDR-Moderne. Der Architekt Richard Paulick | Eva-Maria Froschauer
35 Neues Leben, neues Bauen. Die Moderne in der SBZ/DDR 1945 bis 1951 | Susann Buttolo

RUBRIKEN
05 Leserbriefe
05 wer wo was wann
32 Kalender
36 Anzeigen

Zylinderpaket

Vier Zugstunden nordwestlich von Tokio entfernt entfalten sich die dramatischen Schluchten von Gunma. Imposante, jahrhundertealte Zypressen und dichter Bambus mischen sich vor steilen, weitgehend unbebauten Bergstaffelungen. Besonders im Herbst bildet die Gegend, farblich akzentuiert durch feuerroten Ahorn, ein üppiges Repertoire an Bildmotiven. In diese Landschaft hinein wurde 1946 der Künstler Hoshino Tomihiro geboren. Früh zeigt sich ein künstlerisches Auge für die umliegende Landschaft, bereits aus der Hand des Neunjährigen entstehen Bilder von erstaunlicher Reife. Sein Hauptinteresse jedoch gilt dem Sport, nach dem Schulabschluss wird er Turnlehrer. Ein Unterrichtsunfall bringt ihn zurück zur Kunst. Vom Hals an abwärts gelähmt, lernt er während eines neunjährigen Hospitalaufenthalts den Pinsel allein mit den Lippen zu führen.
Tomihiro genießt heute in Japan immense Popularität. Semi-naturalistische Impressionen verwebt er harmonisch mit kurzen Begleitversen, hinter deren naiver Poesie beiläufig philosophische Reflexionen aufblitzen. Eine leicht zugängliche Kombination und besonders als Postkarte ein Bestseller. Im Jahr 1991 wurde in Tomihiros Heimatstadt Azuma in einem umgebauten Altersheim ein Museum für seine Werke eröffnet. Als dieses den immensen Besucherströmen nicht mehr gewachsen war, entschied man sich 2002 für seinen Abriss und einen Neubau an gleicher Stelle.
Der Entwurf des jungen Tokioter Architekten Makoto Yokomizo ging als Sieger aus einem offenen internationalen Wett­bewerb mit über 1200 Architekten aus 53 Ländern hervor. Den Juryvorsitz hatte Toyo Ito inne, bei dem Yokomizo bis zur eigenen Bürogründung angestellt und dort vor allem an der Media­thek von Sendai maßgeblich beteiligt war (Heft 13/2001).

Die formale Konzeption des Museums ist verblüffend einfach und stringent: Durch Addition kreisförmiger Räume wird der Grundriss zusammengesetzt, der zu einem präzisen Quadrat von 50 mal 50 Meter Kantenlänge zugeschnitten ist. Die Zweit- und Drittplatzierten des Wettbewerbs, ebenfalls aus Japan, wählten weniger abstrakte Ansätze und instrumentalisier­ten das über vierzig Meter steil zu einem Stausee abfallende Gelände, um den Museumsbesuchern den Wechsel von realer Natur und künstlerischer Interpretation zu veranschaulichen.

Yokomizo leitet die Variation der Kreisdurchmesser pragmatisch und programmatisch aus der jedem Raum zugrunde liegenden Funktion ab. Die kreisförmigen Volumina selbst sind aus neun Millimeter dicken Stahlplatten mit schmalen, stabilisierenden Spanten ausgeführt. Mit Ausnahme des halbrunden Eingangsbereichs und einer Handvoll kleiner bogenförmiger Fassadeneinschnitte verrät die vertikale Außenhülle kaum etwas von dem darin verborgenen Organismus.
Die Dachaufsicht jedoch wird zur wichtigen fünften Fassade. Sie zeigt das abwechslungsreiche Spiel mit den zirkelförmigen Zellen in seiner Vollständigkeit und liest sich wie ein mikroskopisch vergrößerter Ausschnitt der natürlichen Umgebung. Jeder Zylinder ist in einem anderen Grauton gedeckt. Die Dachflächen sind als vorgespannte selbsttragende Stahlkappen aufgesetzt, wodurch man ohne weitere Stützen im Innenbereich auskommt.

Die Eingangslobby, als Verteiler zu allen anderen Bereichen, empfängt den Besucher in gleißendem Neonlicht mit großformatigen, direkt auf die Wandrundung applizierten Artefakten. Eine Mischung aus zittrigen Zeichenfolgen und suchenden, im Vergleich zu den sonstigen Exponaten seltsam abstrakten, oft sarkastischen Skizzen transportiert Tomihiros geistigen Kraftakt aus der körperlichen Behinderung auf die geblendete Netzhaut des Betrachters. Die eigentliche Ausstellung nimmt anschließend weniger als ein Viertel der Gesamtfläche ein und erstreckt sich über acht Zylinder, wobei die geometrischen Berührungspunkte als raumverbindende Öffnungen dienen. Durch die vielfältigen Erschließungen ohne ab­soluten Wegeverlauf entsteht mit minimalem Aufwand eine ungewohnte Komplexität an Raumbezügen. Bei gleicher Raumhöhe und unterschiedlicher Diameter entsteht ein reizvolles Wechselspiel zwischen Enge und Weite. Das Verhältnis zwischen Raum und Bild scheint indessen in den kleineren Räumen am gelungensten. Die dreischenkligen Restflächen zwischen den Zylindern bleiben weitestgehend unbespielt. Vereinzelte, in Kniehöhe eingelassene Glaslinsen erlauben einen periskopischen Ausblick in die bepflanzten Zwischenbereiche.

Fußböden und Deckenuntersichten sind geringfügig dunkler gehalten und rahmen damit die helleren, beleuchteten Wandflächen zu einem fortlaufenden Kontinuum, das durch die bleistiftdünnen Laibungen der Raumverbindungen visuell kaum unterbrochen wird. Von den zentral platzierten Sitzarrangements lassen sich die Bildfolgen wie eine Banderole betrachten, die in den angrenzenden Räumen mäanderförmig fortzulaufen scheint. Auch wenn sich beim Gang durch die Ausstellung gelegentlich die Übersicht verliert, die Qualität des fließenden Raumes durch zeitgleichen Einblick in unterschiedliche Räume und Abläufe fasziniert.

Die Lounge mit ihren sparsam aufgestellten Fauteuils ist – wie das Café – einer der wenigen Publikumsräume mit direktem Außenbezug. Ihr mit Spiegelflächen verkleidetes Halbrund hüllt den Besucher in ein abstrahiertes Vexierbild der spektakulären Außenkulisse. Warum der von der Ausrichtung des Gebäudes wohl attraktivste Bereich nach Süd-Osten mit Blick auf die eindrucksvolle Bergkulisse den Technikräumen vorbehalten ist, bleibt unverständlich. Auch scheint das von außen mit rosafarbenem Marmor kaschierte Zwangskonstrukt des Halbkreises denkbar schlecht geeignet für die Unterbringung der Haustechnik; das Gleiche gilt für das in einer anderen Ecke des Museums untergebrachte Bildarchiv. An den gut besuchten Wochenenden, wenn im steten Zufluss Busse aus den Täler quellen, erweist sich die runde Form gelegentlich als wah­rer Schalltrichter, der den akustischen Grundpegel auf un­angenehme Stärke anhebt. Die Ausstellungsräume selbst oszillieren in antiquierten Pastelltönen und korrespondieren damit weder mit Tomihiros leuchtender Farbskala noch mit der formalen Hülle der Räume.

Ungeachtet dieser Schwächen bietet das Museum als Gesamtkonzept einen Gegenentwurf zur klassischen Konzeption sequentieller Raumfolgen. Man darf anzweifeln, ob die Museumsdirektion die von herkömmlichen Raumhierarchien befreite Konzeption und das darin schlummernde Potential wirklich begriffen hat. Bei der Besichtigung jedenfalls waren die vom Wettbewerbsentwurf übrig gebliebenen, frei wählbaren Raumverknüpfungen für den Besucher unterbunden. Der wird nunmehr – ganz im Sinne der in Japan allgegenwärtigen Tendenz zur Überreglementierung – auf einer strikt vorgegebenen Bahn geleitet. Versuche, daraus auszubrechen und auf den Pfaden der ursprünglichen Konzeption zu wandeln, werden vom Museumspersonal freundlich, aber nachdrücklich mit Verbotshinweisen beschieden. Formal zeigt sich Japan experimentierfreudig, konzeptionell scheinen die tradierten gesellschaftlichen Zwänge und Vorstellungen jedoch schwer überwindbar. Insofern sagt dieses Museum einiges aus über die gesellschaftliche Befindlichkeit des modernen Japans.

Bauwelt, Fr., 2006.11.17

17. November 2006 Jan Dominik Geipel



verknüpfte Bauwerke
Tomihiro Art Museum

Possibilités – das Erbe André Lurçats in Maubeuge

Beim Namen Maubeuge denken die meisten Franzosen an eine verregnete Industriestadt, und die 34.000 Maubeuger verwechseln den städtebaulichen Entwurf des Architekten André Lurçat von 1947 nicht selten mit ihren Hochhaussiedlungen der 60er Jahre. Das ist schade, denn es handelt sich bei diesem Projekt um eines der seltenen Beispiele partizipativer Stadtplanung der Nachkriegszeit, das zudem eine ganz eigene Architektursprache spricht – leiser und zurückhaltender als die Entwürfe von Perret für Le Havre (Heft 45/2005) oder von Le Corbusier für La Rochelle.

Als Militärbastion an der belgischen Grenze und Sitz der Stahlindustrie war die Stadt bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirtschaftlich und strategisch wichtig. 1940 brannte die deutsche Wehrmacht den Stadtkern im Innern der Befestigungsanlagen nieder, kurze Zeit später ließ die Vichy-Regierung die Ruinen beseitigen und mit dem Abraum Teile des Befestigungsgrabens auffüllen – das historische „Material“ der Stadt wurde ausradiert.
Nach dem Abzug der Front wurde Lurçat als Stadtplaner des Wiederaufbaus nach Maubeuge geschickt, unter anderem auch, weil er als ehemaliges Mitglied der Résistance die lokalpolitischen Unruhen dämpfen sollte. Lurçat bewies Verhandlungsgeschick, artikulierte durch ein Stadtplanungskomitee die Bedürfnisse der Bevölkerung und erarbeitete mit den Eigentümern ein neues Grundbuch. Der mittel­alterli­che, zu 80% bebaute Stadtgrundriss wurde zu einer modernen Stadt mit kollektiven Wohnhäusern; der Wert von Grundstücken und Eigentum war vorher durch Volksentscheide festgelegt worden. Auf formaler Ebene führte Lurçat die Prinzipien der Moderne mit Anklängen der Beaux-Arts-Tradition zusammen: Er stellte die Reste der Festung von Vauban un­ter Denkmalschutz, ließ aber das Erdreich weiter nivellieren; er fasste die Bausubstanz in Wohnblöcken zusammen und richtete sie an zwei orthogonalen Achsen aus; er erhielt die Mischung von Wohnen und Einkaufen, staffelte aber die Wohnungsbauten hinter den flachen Boutiquen zurück; er öffnete die Stadt mit einer Promenade zum Fluss und behielt die Anlegestellen der Industrie-Lastkähne. Schließlich entwarf er auch industrielle Prototypen, vom Fensterrahmen bis zum Türgriff, mit denen die Architekten in seiner Sprache weiter entwerfen sollten.

Doch leider hatte Lurçat bereits 1946 die Stadtregierung nicht mehr auf seiner Seite. Den Sozialdemokraten war er nicht nur als Kommunist unbequem, sondern vor allem deshalb, weil er direkt mit den Eigentümern verhandelte. Lurçats majestätische Achse zwischen Bahnhof und Theater läuft daher bis heute an beiden Endpunkten ins Leere. In den 50er Jahren begann zudem der Niedergang der Stahlindustrie. Maubeuge geriet ins infrastrukturelle Abseits von Lille und Valenciennes, und während die Elite flüchtete, zogen Immigranten aus dem Maghreb nach. In den 90er Jahren starteten verschiedene Initiativen, um das Kulturleben zu reanimieren, unter anderem eine Organisation zur Förderung visueller Kunst, die Residenzstipendien vergibt – im letzten Jahr an die Berliner Grafikerin Dorothée Billard und den Architekten Clemens Helmke (monobloque).

Mit ihrem Projekt „Possibilités“ knüpfen die Künstler an die Methode Lurçats an, individuellen Ausdruck und serielle Fertigung zu verbinden, und bieten ein Spiel an: ein Stempelset, das die Gebäude Lurçats als Axonometrien abbildet, und eine Karte von Maubeuge zur Stunde null mit den Befestigungsanlagen und den Höhenlinien. Die Maubeuger haben nun in einem Ausstellungsraum im Zentrum ei­nen Mo­nat lang Gelegenheit, ihre eigene Variante der Stadt zu stempeln, unter Zuhilfenahme von Buntstiften und Kugelschreibern; ein Angebot, das die ungeliebten Gebäude der Nachkriegsmoderne zur Debatte stellt und unerwartete Begegnungen provoziert, etwa zwischen Kirche und Tankstelle oder zwischen Befestigungsgraben und Wohnhaus. Dabei stehen die unkontrollierbare Vervielfältigung von Gebäuden durch das Stempeln und die Gewalt der bürokratischen Geste in eigentümlichen Kontrast zur natürlichen Trägheit von stadtplanerischen Prozessen. Will man als Architekt mitspielen, sollte man sich vom Wunsch nach Sys­tematik und Verantwortung erst einmal verabschieden und auf die Dynamik des Spiels vertrauen.

Bauwelt, Fr., 2006.11.17

17. November 2006 Anne Kockelkorn

La Sagrada Familia 1882 – 2036

(SUBTITLE) Ein Zwischenbericht

In 60 Meter Höhe wird Beton gegossen. Im Untergeschoss entwerfen Architekten an Monitoren und an Gipsmodellen immer weiter hinauf. Circa 2036 soll der zentrale Turm 170 Meter erreicht haben. Erst dann wird La Sagrada Familia von Antoni Gaudí über den höchsten Kirchturm der Welt verfügen.

Chinesinnen verkaufen Regenschirme mit Burberry-Muster. Seit zwei Tagen regnet es in Strömen, doch aus den Bussen, die am Bauzaun parken, steigen immer noch mehr Besucher. 2004 waren es zwei Millionen.

Die Baustelle existiert seit 1882. So sind viele Bauleiter nacheinander aus Altersgründen ausgeschieden, der Architekt selbst geriet 1926 unter eine Straßenbahn und starb an den Folgen des Unfalls. Heute ist der 48-jährige Neuseeländer Mark Burry „Executive Architect and Researcher“ auf der Baustelle und zugleich „Professor of Innovation“ an der RMIT University in Melbourne. Er leitet an den Besuchermassen vorbei in den Rohbau. Auf dem Betonboden haben sich Pfützen gebildet. Arbeiter schauen uns aus dem tropfenden Halbdunkel des Innenraums neugierig nach, als wir zunächst im Kellergewölbe verschwinden. Hier liegt das Baubüro. Wir erreichen einen gro­ßen Raum mit Computerbildschirmen und etwa 20 jungen Architekten bei der Arbeit. Alles scheint ganz normal, lägen da nicht auf den Tischen Gipsmodelle von Säulenkapitellen und steinerne Blumenornamente neben bunten Inkjet-Ausdrucken und Detailmodellen aus dem 3D-Plotter. Die Monitore zeigen komplizierte Gewölbekonstruktionen. An den Wänden hängen neben CAD-Plots vergrößerte Schwarzweiß-Fotos historischer Baupläne einer immensen Kathedrale. Das Dröhnen der Presslufthämmer von der Baustelle ist so stark, dass wir unser Gespräch unterbrechen müssen. Der 82-jährige Jordi Bonet i Armengol kommt herein, sprühend vor Energie und Charme. Seit zwanzig Jahren steht er als Chefarchitekt in der Nachfolge Gaudís. Schon als Junge war er mit der Baustelle vertraut, da sein Vater den Architekten persönlich kannte.

Ein weiterer Raum beherbergt Stahlregale in engen Reihen. Diese sind bis an die Decke gefüllt mit Modellfragmenten aus Gips, Silikonformen, Originalstücken aus Stein. Es sind Kapitelle, Knotenpunkte, Ornamente, geometrische Skulpturen – ein kaum zu erfassender Schwall von dreidimensionalen Bildern und Ideen. Alles ist nummeriert, archiviert, geordnet.

Durch eine Glaswand sieht man in die hallenartige Modellbauwerkstatt, wo meterhohe Modelle aus Gips und anderen Materialien im Maßstab 1:20 bis 1:1 entstehen. Konzentrierte Arbeit an seltsamen Konstruktionen, die jedoch durch ihre präzise Geometrie und die oft an natürliche Formen erinnernde Gestalt eine eigentümliche Vertrautheit, beinahe Selbstverständlichkeit ausstrahlen. Während der 3D-Plotter ge­rade seine stoische 12-Stunden-Arbeit an einem circa 30 x 30 x 30 cm gro-ßen Modellstück aufnimmt, gehen wir wieder hinaus auf die Baustelle.
Das Innere der Kathedrale ist fast zur Hälfte mit einem 60 Meter hohen Stahlgerüst ausgefüllt, die andere Hälfte lässt überschlanke Stützen erkennen, die an der Basis aus dunklen, druckfesteren Steinen bestehen, nach oben immer heller und leichter werdend. Von Porphyr über Basalt und Granit zu Kalkstein. Von wulstigen Knotenpunkten aus gabeln sich die Stützen in dünnere Äste, die einmal das Dach tragen werden.

Ein laut scheppernder Baustellenaufzug bringt uns auf die Plattform über dem Stahlgerüst, etwa die Höhe des späteren Kirchengewölbes. Hier wird betoniert. Nach der Fertigstellung in circa 30 Jahren soll von hier aus der mittlere und größte Turm der Kirche bis auf insgesamt 170 Meter aufsteigen und den Bau damit zur höchsten Kirche der Welt machen. Alle Teile werden von kleineren Handwerksbetrieben ausgeführt, die ausschließlich für diese Baustelle tätig sind. Eine große Baufirma wäre nicht in der Lage, eine solche Aufgabe zu leisten, erklärt Mark Burry. Die Kosten werden seit Baubeginn allein durch Spenden finanziert.

Wir steigen weiter einen Gerüstturm hinauf. Unter uns liegt die Stadt, über uns die fünf großen Kräne, auf Augenhöhe ragen Stützen mit freiliegenden Anschlussbewehrungen aus der mit Brettern abgedeckten Plattform. Seitlich blickt man hinab in die mit Gerüsten zugestellte Apsis, in der sich Säulen mit unregelmäßig gezackten Kapitellen, Bewehrungseisen und Fiberglas- oder Stahlschalungen abzeichnen. Insgesamt ein verwirrendes Bild, komplex genug, um größten Respekt vor der Koordination dieser Baustelle zu haben.
Laut Mark Burry sind die Formen der Sagrada Familia geome­trisch bestimmt und nicht, wie bei früheren Bauten Antoni Gaudís, Freiformen. Indem heute die komplexe Geometrie mit CAD nachvollzogen wird, entdeckt man die Gesetzmäßigkei­ten der Formgebung und ist in der Lage, einmal entschlüsselte Detailpunkte auf andere, analoge Bereiche zu übertragen. Der Enthusiasmus des Teams und die Betriebsamkeit der Baustelle haben etwas Mitreißendes, gleichzeitig fragt man sich angesichts der gewaltigen Aufgabe der posthumen Realisierung die­ser seltsamen, so unzeitgemäßen Bauaufgabe, ob das mittlerweile über 100 Jahre alte Werk sich als verschrobenes Hirngespinst herausstellen könnte oder eher als eine geniale Verrücktheit. Schon in den fünfziger Jahren hatte Oriol Bohigas, katalanischer Architekt und späterer Stadtbaurat von Barcelona, eine große Zahl von Architekten gegen den Weiterbau der Votivkirche zu Ehren der Heiligen Familie mobilisiert, unter anderem Le Corbusier und Walter Gropius. Es sei unmöglich, Architektur nach einer Ästhetik und einer Technologie zu reproduzieren, die inzwischen vollständig überholt seien, argumentierte er. Diese Kontroverse flammte auch in den neunziger Jahren noch einmal auf.

Heute machen die unentwegte Unterstützung des Projekts durch Spenden aus aller Welt, vor allem aus Japan, und die Begeisterung der Menschen für diese Architektur stutzig. Die Kathedrale wird, ähnlich wie vielleicht im Mittelalter, zu einer kollektiven Angelegenheit, bei der sich das Werk von seinem Autor löst und ein Identifikationsobjekt der Gemeinschaft wird. Es ist verständlich, dass besonders die Architekten vor den Computern die mögliche Missachtung von Urheberrechten kritisieren und die Materialgerechtigkeit oder die Authentizität in Frage stellen. Doch überwiegt ihre Faszination, gleichzeitig bauhistorische Forschung, fast schon Archäologie zu betreiben und eine Großbaustelle zu managen, die mittelalterliche Steinmetzkunst, Goldmosaik, Lasertechnik, raffinierte Betonarbeiten, Bildhauerei und modernste Krantechnik miteinander verbindet. Um diese Erfahrung sind sie zu beneiden.

Bauwelt, Fr., 2006.11.17

17. November 2006 Ingo Schrader

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