Editorial

Städte sind hoch verdichtete räumliche Strukturen und Netzwerke. Aus dem Zusammenspiel von bebauter Fläche und Freiflächen ergeben sich ihre jeweils spezifischen Erscheinungsbilder. Anders als freie Flächen sind Lücken in diesen Netzwerken eher Störelemente – ähnlich einer fehlenden Stelle in einem Gewebe. Diese zu schließen, das Netzwerk wiederherzustellen und Strukturen zu komplettieren, sind Herausforderungen, die eine klare Stellung-nahme verlangen. Die behutsame Annäherung an den Bestand oder der gezielte Kontrast zur Umgebung sind dabei die Extreme, zwischen denen sich solche Baulückenschließungen bewegen. Unabhängig davon, für welchen Ansatz man sich entscheidet, stellt diese sensible Bauaufgabe in ästhetischer, sozialer und städtebaulicher Hinsicht besondere Anforderungen an Architekten und Bauherren. elp

Technik

Während wir uns heute um die richtige Bauweise, das effizienteste Lüftungssystem, die dauerhaftesten Klebeverbindungen und die strategisch sinnvollste Vermeidung von Schimmel streiten, gibt es »Baumeister«, die diese Diskussionen wohl kaum verstehen würden. Die Rede ist von Termiten, etwa jenen in Australien, die es schaffen, bis zu zehn Meter hohe Turmstrukturen aus Lehm und Speichel beziehungsweise Ton zu bauen, die eine derart hohe Festigkeit besitzen, dass sie Jahrzehnte überdauern. Dabei richten die »Kompasstermiten« ihren Wohnsitz so aus, dass er sich dem äußeren Klima anpasst: Wenn nach einer kalten Nacht die wärmende Sonne aufgeht, wird sogleich eine große Fläche der »Fassade« angenehm bestrahlt. Steht dann mittags die Sonne nahezu senkrecht, bietet das Gebilde eine minimale Oberfläche. Gegen Abend wiederum kann für die anstehende Nacht nochmal viel Wärme getankt werden. Öffnungen an der Basis sowie an der Spitze des Baus werden durch die Bewohner je nach Bedarf reguliert: Bei starker Hitze bleiben sie offen, Hitzestau wird durch thermischen Auftrieb vermieden. Bei Abkühlung werden sie verschlossen, die Luft in den Kammern dient dann als Wärmespeicher. So herrscht im Inneren eine nahezu konstante Temperatur, in der Regel zwischen 25 und 30 Grad bei neunzig Prozent Luftfeuchte, ein regelrechter Brutkasten für die Nester.
Wer natürlich komfortabler leben will, helle, offene, ja lichtdurchflutete Räume dunklen Gängen und Schächten vorzieht, dem seien die nachfolgenden Seiten und die kritische Auseinandersetzung mit der im Bauwesen ständig wachsenden Zahl neuer Anforderungen und immer komplexeren Regelwerken empfohlen. cf

Inhalt

Magazin
03 Kommentar | Ira Mazzoni
08 Kaleidoskop
16 Neu in ...
… Edinburgh, Gallspach, Manching

18 Ausstellungen
- Leuchtende Bauten: Architektur der Nacht, Stuttgart | Elisabeth Plessen
- Karl Friedrich Schinkel in Potsdam | Ralf Wollheim
- Swiss Shapes in Berlin | Ralf Wollheim

20 Bücher

22 Studenten-Werk
Erdbebensichere Lehmkonstruktionen für Kabul | Christoph Klemmt

Lücken in der Stadt
24 Zu diesem Heft  / elp 
25 Büro- und Geschäftshaus in Hamburg, KBNK Architekten | Claas Gefroi
30 Büro- und Geschäftshaus in Hamburg, André Poitiers | Ansgar Steinhausen
38 Wohn- und Geschäftshaus in Berlin, abcarius + burns architecture design | Falk Jaeger
46 Wohn- und Atelierhaus in Tübingen, Rüdiger Krisch | Christoph Gunßer
51 Wohn- und Bürohaus in Basel, Diener & Diener Architekten | Hans-Jürgen Breuning
56 … in die Jahre gekommen
Rischarts Backhaus in München Kiessler + Partner | Ira Mazzoni

Technik
62 Zu den Themen   / cf
63 Luftdichtes Bauen | Friedemann Zeitler
68 Schwachstellen: Elementwandbauweisen für weiße Wannen | Rainer Oswald
76 EDV: Desktop Sharing | Marian Behaneck
82 Produkte: Heizung, Lüftung, Klimatechnik
90 Schaufenster: Beläge im Außenbereich | Rolf Mauer

Wohn- und Bürohaus in Basel

Eine Baulücke mit einem dahinter liegenden bauhistorischen Kleinod war die Herausforderung, vor die sich die Architekten gestellt sahen. Sie verbanden Neubau und Bestand zu einem harmonischen Ganzen und gaben diesem zur Straßenseite ein neues eigenständiges Gesicht – mit Respekt vor der Substanz.

»Wenn dein Haus gute Nachbarn hat, bist du zu gleicher Güte verpflichtet, sind sie aber schlecht und aufgeblasen, so kann es nur durch Vornehmheit, die immer in schlichter Größe liegt, gegen jene bestehen.«[1] Diesen wichtigen Hinweis für eine gute Nachbarschaft gab Paul Schmitthenner schon vor mehr als siebzig Jahren. Doch was ist zu tun, wenn sich vor einem historischen Altbauensemble eine äußerst schmale Baulücke auftut? Sollte man auch diese Fuge mit schlichter Größe schließen, um gegen die Nachbarn zu bestehen? Mitten in Basels Altstadt, gegenüber dem Gerichtshof, standen Diener & Diener Architekten genau vor dieser Frage: Ein Haus, dessen lange Geschichte mehr als 700 Jahre zurückreicht, sollte mit zeitgemäßen Mitteln umgebaut und erweitert werden. Die hochaufragenden Brandwände der betagten Nachbarn gaben jedoch nur noch eine knapp acht Meter breite Lücke frei – dazwischen musste mit dem Bestand des historischen Gebäudes ein modernes Wohn- und Bürohaus entstehen. Und die konzeptionelle Herausforderung begann gleich vorne an der Schauseite zur Straße: Das zurückgesetzte Haus wurde dort kaum mehr wahrgenommen, weil ein zweigeschossiger Vorbau aus dem 19. Jahrhundert die Straßenflucht säumte und die schmale Lücke wenig elegant vernähte. Vorne eine große Vitrine, dahinter versteckt die gotische Fassade des Altbaus. Diese merkwürdige Fügung machte schon auf den ersten Blick neugierig: Es schien ein Haus zu sein, das noch mehr Überraschungen bereithielt und immer noch -hält. Heute fällt schon beim Näherkommen in der Bäumleingasse auf, mit welchem Selbstverständnis sich die Architekten dieser diffizilen Bauaufgabe stellten. Eine plastisch gefügte Konstruktion aus braunem, durchgefärbtem Beton bildet den ruhigen homogenen Rahmen der neuen Fassade und schließt den Straßenraum bündig ab. Die farbliche Analogie zu den dunklen Sandsteinbauten der Altstadt trägt mit dazu bei, dass sich der Neubau wie selbstverständlich einfügt. Raumhohe Verglasungen, die den leichten Knick der Bäumleingasse nachempfinden, machen gleichwohl deutlich, dass es sich hier um ein modernes Haus handelt. Der neue, schlichte Baukörper stellt sich vor den 1461 errichteten, mittelalterlichen Teil des Hauses. Erst dahinter liegt der »Nukleus«, ein einst dreigeschossiger Wohnturm aus dem 13. Jahrhundert.

Beim Betreten des Gebäudes treten immer wieder Spuren aus dem Hoch- und Spätmittelalter hervor – auch eine barocke Treppe kann man noch entdecken. Patinierter Kalkputz, Holzdielenboden und Deckenbalken aus Tannenholz dominieren die warme Materialität der Innenräume. Ein schmaler Flur führt durch den historischen Kern des Hauses. Ihm folgt ein kleiner, nur vier Meter breiter Erschließungsbau, der die neue Treppe und den Fahrstuhl aufnimmt und Platz für einen Patio lässt. Dahinter fügten die Architekten einen Baukörper, dessen raumhohe Verglasungen mit dem Vorbau an der Bäumleingasse korrespondieren, passgenau in die Baulücke ein. Während sich im Erdgeschoss an der Straßenseite ein Laden befindet, sind alle weiteren Räume von Büros und zwei großzügig geschnittenen Wohnungen genutzt. Trotz der stets klar begrenzten Raumkanten hat man jedoch nie das Gefühl, dass hier der Denkmalschutz das Alte zwanghaft vor dem Abbruch bewahrt hat, dass ein dunkles, kaum nutzbares Haus entstanden ist. Im Gegenteil, das Miteinander von Alt und Neu wirkt erstaunlich großzügig.

Die Komposition der Räume auf der schmalen Parzelle ist konsequent und schlüssig. Sie lebt von der Dialektik der historischen Schichten des Ensembles. Das Neue geht nicht auf Distanz zur Geschichte, es arbeitet nicht mit Trennungsfugen, die das additive Fügen betonen. Die Architekten bauen vielmehr im Dialog mit dem Alten, ohne dabei einem Historismus zu verfallen. Mit ihrer klaren reduzierten Sprache formulieren sie einen spannungsreichen Kontrast zur Kleinteiligkeit und Detailverliebtheit des Alten: Hier die solide Lochfassade mit den tiefen Fensterlaibungen, die florale Motivik der historischen Stuckdecken und die freigelegten, bemalten Deckenbalken – dort die filigrane Glasfassade, der gefärbte Hartbetonbelag und die homogen verputzten Oberflächen. Dies alles ohne Berührungsängste miteinander verbunden und die Durchgänge nur dort verändert, wo es erforderlich war.

Kein Zweifel, neben der privilegierten Lage in der Stadt verfügt das Haus auch über hohe gestalterische Qualitäten. Kritisch könnte man allenfalls das komplette Verpacken des historischen Kerns betrachten, da dessen Fassade nur noch vom Patio erlebbar wird. Doch beim Blick aus dem Straßenraum blieb der über Jahre leer stehende und marode gewordene Altbau ohnehin schon lange versteckt. Die entscheidende Frage, wie man mit alter Bausubstanz umgeht, wie man diese weiterbaut, ohne mit der Vergangenheit zu kokettieren, wurde überzeugend umgesetzt. Wenngleich die Nachbarn weder schlecht noch aufgeblasen sind, besticht dieses Gebäude durch »schlichte Größe«: Die Schauseite wirkt unprätentiös und zurückhaltend und lässt die Passanten nur erahnen, dass es sich hier um ein ganz besonderes Haus handelt.

db, Mi., 2006.09.06

[1] Schmitthenner, Paul: Vom Einfügen des Hauses, in: Baugestaltung; Das deutsche Wohnhaus (1932); 3. Auflage, Konrad Wittwer Verlag, Stuttgart 1950, S. 26

06. September 2006 Hans-Jürgen Breuning



verknüpfte Bauwerke
Wohn- und Bürohaus in Basel

Wohn- und Geschäftshaus in Berlin-Mitte

Die schlechte Auftragslage junger Architekten in Berlin hat Jean-Marc Abcarius und Christopher Burns auf die Idee gebracht, ihre Vorstellungen vom Wohnen in der Stadt auf eigene Kosten zu realisieren und zu vermarkten. Das Konzept „Urban living“ beinhaltet anspruchsvoll ausgestattete Wohnhäuser in städtischer Dichte mit flexiblen Grundrissen und attraktivem Außenraum. Das Gebäude in der Mulackstraße ist bereits das zweite realisierte Projekt dieser Art.

Bürgerliche Wohnkultur korrelierte ursprünglich mit einem entsprechenden sozialen Bezugsfeld. Die Privatheit der Wohnung war ergänzt durch die sozialen Kontakte in überschaubaren Szenarien beim Kolonialwarenhändler, in der zunftmäßig organisierten Arbeitswelt, in Rathaus, Kirche und Wirtshaus.

Die Kontakte sind anonymer geworden, die Gesellschaft offener, vier Fenster mit Gardinen und Klappläden als Demarkation zur Straße hin entsprechen nicht mehr dem Kommunikationsmuster des neuen Städters. „Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von wo etwas sein Wesen beginnt“, lautet ein oft in Anspruch genommenes Zitat von Martin Heidegger. Es ist das Wesen des Städters, das sich auch durch die Grenzlinie zwischen Privatheit und Öffentlichkeit manifestiert, und die gilt es zu überdenken. Seltsam nur, dass die innerstädtische Wohnarchitektur so hartnäckig in den alten Konventionen verharrt, da werden Ausnahmen gern zur Kenntnis genommen. Die Mulackstraße in Berlin Mitte, fünf Minuten vom allbekannten Hackeschen Markt entfernt, ist eine schmale Nebenstraße und verläuft etwa in Ost-West-Richtung. Sie war im Krieg zur Hälfte zerstört worden, doch der Wiederaufbau ließ bis zum neuen Jahrtausend auf sich warten. Jetzt schließen sich die Baulücken nach und nach. Viel Szenerummel wie in der benachbarten August-, der Gips- oder Sophienstraße wird in naher Zukunft nicht zu erwarten sein. Wenn auch vereinzelt in die Erdgeschosse eine Galerie, Boutique oder Restauration einzieht, man wohnt hier ganz angenehm in ruhigem Ambiente.

Wie begegnet man nun der viel zitierten Enge in der Stadt? Die Frage scheint die Architekten des Neubaus mit der Hausnummer 12 von Beginn ihrer Arbeit an umgetrieben zu haben. Jean-Marc Abcarius und Christopher Burns waren 1990 nach Berlin gekommen, weil sie im wiedervereinigten Deutschland am großen Aufbruch teilhaben wollten. Sie eröffneten ein gemeinsames Büro und - bekamen keine Aufträge. Selbst die fünf Projekte, mit denen sie beim Senat vorstellig wurden, blieben ohne Erfolg. Schließlich gründeten sie eine GbR und starteten auf eigene Rechnung das Projekt „Urban living“, ein Wohnhaus in der Joachimstraße (siehe db 8/2002). Das Haus mit seinen loftartigen, offenen Räumen machte Furore und bewies eines: Für ungewöhnliche, intelligente Wohnungen gibt es einen Markt, auch bei hoffnungslos übersättigtem Angebot.

„Urban living 2“ in der Mulackstraße war die logische Folge; es war schon vor Baubeginn verkauft. Die Bauherren ließen ihnen „fast zu viele Freiheiten“, was für das Entwerfen nicht nicht gerade förderlich sei. Jedenfalls ging es ihnen wieder darum, möglichst wenig determinierte Räume zu schaffen und in der Enge der innerstädtischen Situation möglichst viel Offenheit zu erreichen. Sie dachten sich eine Fassade aus, „die fast nicht da ist“, gänzlich verglast, mit Lamellenpaneelen versehen, die sich beiseiteschieben lassen, um den Raum zu öffnen - Innenraum und Stadtraum können nach Wunsch und bei angenehmem Wetter eins werden. Knappe Vor- und Rücksprünge bilden eine Art Erker in der nach Süden gelegenen Fassade und schaffen strukturelle Korrespondenzen zu den historistischen Nachbarfassaden, schließlich baut man in vorgeprägter Umgebung. Die Dachzone staffelt sich unter Ausnutzung der planungsrechtlichen Möglichkeiten zurück und ist selbstredend als Freilufterweiterung der Maisonettewohnung im Obergeschoss ausgebildet. Die Hofseite ist eine einzige Kaskade an Balkonen und Terrassen bis hinab zum Gartenparterre.

Schon im Erdgeschoss gibt es den Durchblick vom Schaufenster bis in den Hinterhof, eine einladende Geste an die Passanten. Eine Kunstgalerie nutzt den Einraum, der sich aus dem Hauskörper in den Garten hinausschiebt. Vor der Glaswand zum Hof fällt Tageslicht durch den gläsernen Fußboden in das Untergeschossatelier. Eine formal aufs Äußerste reduzierte Treppe aus Kragstufen führt an der Längswand hinab.

Draußen lockt ein Zen-Garten, mit einem prächtigen Götterbaum, mit Bambusbüschen und Brunnen, mit Bangkirai-Podest und einer das Zenitlicht reflektierenden Bodenschüttung aus Nordseemuscheln. Gras oder Unkraut ist nicht erwünscht. Die hohe, unverputzte Ziegelbrandwand der denkmalgeschützten Franz-Mett-Sporthalle bildet den reizvoll-schroffen Hintergrund zur minimalistischen Gartenidylle.

Die Farbe Weiß beherrscht das Haus, die Galerie, die hellen und transparenten Wohnungen darüber, schafft eine eigene, fast transzendente Wirklichkeit und entgrenzt den Raum, der sich von der Beengtheit der Straße und des Hofes lösen kann. Die tragenden Wände verlaufen in Längsrichtung, um das einfallende Tageslicht so wenig wie möglich abzuschirmen. Räumliche Trennung geschieht, wenn unbedingt notwendig, durch Einbauelemente. Das Behaustsein in abgeschlossenen Zimmern wird nicht mehr angestrebt, die Bewohner sollen ihre Wohnsituation selbst inszenieren. Sogar die Badewanne gehorcht der Leitidee des fließenden Raumes. Sie lagert auf Rollen und lässt sich an verschiedenen Stellen flexibel anschließen, auf Wunsch auch auf der Terrasse.

Mit ihrer Freiheit, die Permeabilität der Grenze des Privatraumes durch Stores, Fenster, Lamellen und Lichtein- und -ausfall nach Belieben zu dosieren, was sich auch signalhaft am Außenbau ausdrückt, mit dieser größtmöglichen Bandbreite beim Wechsel zwischen Intimität und Öffentlichkeit, schafft die Architektur ein neues urbanes Lebensgefühl, das die Architekten mit Recht „urban living“ nennen.

Perfektion im formal reduzierten Detail und sparsamer Materialeinsatz mit der Beschränkung auf weiße Putzwände, lackierte Einbaumöbel, einzeln Akzent setzende Holzflächen und einen sehr hellen Kalkstein in großformatigen Platten als Bodenbelag charakterisieren die Innenräume, erzeugen eine edel-asketische Atmosphäre, geeignet nicht für Sammlernaturen, die sich von nichts trennen können, sondern für Menschen, die bewusst mit leichtem Gepäck durchs Leben gehen. Die technisch hochwertige Ausstattung arbeitet im Verborgenen, die Fußbodenheizung, die flächenbündigen Leuchtkörper, die Beschallung und die übrige Haustechnik sind elektronisch gesteuert. Geheizt und gekühlt wird überdies mit Erdwärme aus fünf Sonden, die 99 Meter tief in den Grund reichen.

„Urban living 2“ ist ein Lückenschluss in der Reihe historischer Nachbarhäuser, der nicht die Konfrontation hypermodern gegen altmodisch sucht und sich nicht mit formaler Unduldsamkeit Geltung verschafft, sondern der gelassen mit den Nachbarn ins Gespräch kommt, wenn er auch eine andere, neue Geschichte zu erzählen weiß. Das Haus ist ein innerstädtisches Refugium, das sich nicht in Privatheit der persönlichen vier Wände abschottet, sondern den Austausch mit der urbanen Situation annimmt und einen bestimmten Lebensstil determiniert. Es fördert ein intensives Dasein mit und in der Stadt, wie es sonst nur in südlichen Ländern üblich ist.

db, Mi., 2006.09.06

06. September 2006 Falk Jaeger



verknüpfte Bauwerke
Wohn- und Geschäftshaus in Berlin-Mitte

Büro- und Geschäftshaus in Hamburg

Über zehn Jahre lag das knapp 190 Quadratmeter umfassende Grundstück in den Große Bleichen 10 in Hamburg brach. Ein Feuer hatte den Vorgängerbau zerstört. Den teuren Mietpreisen entsprechend, musste das Raumvolumen des Neubaus optimal ausgenutzt werden. Zusätzlich gelang es dem Architekten, eine Besonderheit gegenüber den Nachbarbauten zu schaffen: durch einen seitlichen Gebäudeeinschnitt erschließt sich den Nutzern eine beneidenswerte Aussicht auf die Binnenalster.

Unter den Hamburger Einkaufsstraßen mit Glamourfaktor sind die Große Bleichen eine feste Größe. Die erste Liga internationaler Luxuslabels ist hier genauso vertreten wie am nahen Neuen Wall. Hinter repräsentativen Naturstein- und Klinkerfassaden fühlen sich aber auch Beratungsfirmen, Praxen und Kanzleien diskret geborgen. Maximale Wertschöpfung auf kostbarem knappem Citygrund hat hier Tradition. Die Konfrontation von historischer und zeitgenössischer Architektur aber auch. Nach Antonio Citterios viel beachtetem Hofhaus am Neuen Wall, das vor Jahren mit ungewohnt mediterraner Note das hanseatische Häusermeer aufmischte, sorgt nun André Poitiers mit einem kühn kristallinen Neubau an den Große Bleichen 10 für Furore. Zwischen rote Neorenaissancefassaden und einen indifferent historisierenden weißen Nachbarn schob der Architekt sein neungeschossiges Büro- und Geschäftshaus schubladenartig in eine der letzten Baulücken der Innenstadt. Ein weißer Rahmen hält zu den Seiten Distanz und betont die Eigenständigkeit des Neubaus, der die Rücksprünge seiner Umgebung in Traufhöhe unbeugsam ignoriert und mit forscher Selbstgewissheit die Nachbarn obendrein um merkliche Geschosshöhe überragt. Bis zum nahen Jungfernstieg signalisiert die Architektur allein damit den beträchtlichen Ehrgeiz, in der Heterogenität des Straßenbildes neue Akzente zu setzen.

Gleichzeitig fügt sie sich auch ein und nimmt auf bauliche Traditionen durchaus Rücksicht. André Poitiers greift so die kräftigen Horizontalgesimse und vertikalen Fensterteilungen des linken Nachbarn auf und übersetzt sie in die kühl-elegante Architektursprache, die man von diesem Planer seit Längerem kennt und die Hamburg zunehmend prägt. Wie die Randbebauung bietet auch Haus Nummer 10 ein deutlich höheres Ladengeschoss mit einer lichten Raumhöhe von 4,25 Metern. Die oberen Ebenen müssen sich mit drei Meter lichter Höhe begnügen. Weil die schmale Straßenfront trotz transparenter Doppelfassade zu wenig Tageslicht in das recht tiefe Gebäude geleitet hätte, ließ der Architekt den Blockrand zum rechten Nachbarn mit schwungvoller Rundung zurückspringen und gewann eine Seitenfassade mit viel Glasfläche hinzu. Davon profitieren nicht nur der Laden mit einem größeren Schaufenster, sondern auch alle Geschosse durch ein Mehr an Licht und Hamburger Lokalkolorit. Denn von der prominenten „Erkernase“ geht der Blick von jeder Ebene aus ungehindert auf den Jungfernstieg und die Binnenalster - was nur die wenigsten Häuser an den Große Bleichen bislang von sich behaupten können. Außerdem definiert der Fassadenrücksprung klar und deutlich den Eingang zu den Büroetagen am rechten Rand der Parzelle. Das ist umso wichtiger, als eine solche Adresslage für Nutzer mit entsprechenden Erwartungen verknüpft ist. Erst recht, wenn eine aufstrebende Werbeagentur wie Kempertrautmann hier nicht nur interne Produktivkräfte befördern, sondern auch Kunden durch Architektur, Ambiente und Aussicht imponieren will.

Den hohen Ansprüchen wurde André Poitiers trotz kleinen Budgets gerecht. Seine Detailbesessenheit mag noch aus der Zeit im Londoner Büro seines Leitsterns Norman Foster herrühren. Sie ist hier mit einem wohltuenden Pragmatismus gepaart und führt überall im Haus zu überraschenden und überzeugenden Lösungen. Es beginnt bei den Briefkästen und Klingeltafeln, den Bedienelementen für den Lift und endet noch lange nicht bei den einfachen, aber markanten Edelstahlgeländern des Treppenhauses und den fast chirurgisch präzisen Fugenbildern der Fassade und der Innenräume. Magisch angezogen aber wird der Besucher immerzu von der Aussicht, die in diesem Bau schon in den unteren Ebenen bezwingend, in den oberen aber fast jede Miete wert ist. Im Dachgeschoss kommt der Blick über die Dächer der Innenstadt hinzu, auf all die ungenutzten Potenziale, die vielen Häuser in ähnlicher Lage, die nicht angemessen darauf reagieren.

Wenn das Panorama dann aber doch das Brainstorming bei der Kampagne für den neuen XXL-Audi oder für die Kalorienoffensiven der Süßwarenindustrie zu stören droht, können blitzschnell Aluminiumlamellen als vertikaler Sonnenschutz im Zwischenraum der Doppelfassade ausfahren. Ganz ist das Tageslicht damit noch nicht aus dem Raum gebannt. Denn André Poitiers hat an der Gebäude-rückseite einen nur einen Meter tiefen Lichthof geschaffen, der sich gerade in den oberen Geschossen erstaunlich bewährt. Der Schacht schafft eine zweite Fassade, die nicht nur mehr Helligkeit ins Innere lenkt, sondern jenseits der Straßenseite einen weiteren attraktiven Ausblick bietet. Schließlich fällt das Tageslicht nicht nur auf eine belanglose Brandwand, sondern auf unregelmäßig behauenen Granit, ein Relief von eigenem Reiz.

Mehr Komplexität und Raumqualität sind auf maximal ausgenutzten Cityarealen wie diesen kaum denkbar. André Poitiers hat das ehrwürdige Hamburger Kontorhaus an den Große Bleichen 10 nicht neu erfunden, aber er hat es für die Zukunft weiterentwickelt. Wie das historische Vorbild bietet sein Haus Repräsentativität und Diskretion zugleich und damit genau das, was an einer ersten Adresse gestern wie heute erwartet wird.

db, Mi., 2006.09.06

06. September 2006 Ansgar Steinhausen



verknüpfte Bauwerke
Büro- und Geschäftshaus in Hamburg

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