Editorial

Editorial

Der Themenbereich „Sicherheit/Angst“ begleitet dérive seit der ersten Ausgabe. Zuletzt haben wir uns in Heft 12 ausführlich mit der „Politik der Angst“ beschäftigt, die nach wie vor zum Standardrepertoire populistischer PolitikerInnen gehört. Der Schwerpunkt dieser Ausgabe trägt den Titel Sicherheit: Ideologie und Ware und beginnt mit einem Artikel von Peter Marcuse, der darlegt, wie in den USA seit 9/11 mit der Manipulation der Bedrohung durch den Terror Politik gemacht wird. Es gelingt Marcuse, ohne tatsächliche Gefahren zu verharmlosen, detailliert – zum Beispiel anhand der Proteste gegen den Republikanischen Parteitag, der 2004 in New York stattgefunden hat – aufzuzeigen, wie klassische Bürgerrechte beschnitten und unterdrückt werden.

Es folgt ein Beitrag von Alexander Hamedinger, der die Redaktion dieses Schwerpunktes innehatte. Ausgehend von der Diskussion des Begriffs governance (siehe dazu auch Manfred Russos Artikel Governance durch Community im letzten Heft), der für Hamedinger „den Wandel der Staatlichkeit, weg vom keynesianischen Wohlfahrtsstaat hin zum aktivierenden Staat, beschreibt“, zeigt er die Strategien der Sicherheitsdienstleister, sich der demokratischen Kontrolle zu entziehen. Gleichzeitig betont er, dass sich der Staat als Akteur keineswegs verabschiedet, sondern mittels Re-Regulierungen versucht, den „erweiterten Staat“ zu stabilisieren. Volker Eick analysiert in seinem Beitrag die Sicherheitsbranche, die sich – wenig verwunderlich – in erster Linie für möglichst hohe Profite und nicht für Grundrechte interessiert. Besonders besorgniserregend ist, „dass kommerzielle Sicherheitsdienste heute auch an der (Re)Definition dessen beteiligt sind, was als ein sozialpolitisches und was als ein sicherheitspolitisches Problem zu diskutieren“ ist.

Günter Stummvoll setzt mit einem Artikel über den Wiener Karlsplatz zwischen Drogenszene, Schutzzone und Kunstplatz fort. Die am Karlsplatz erstmals in Österreich eingerichtete „Schutzzone“ untersagt Angehörigen der Drogenszene den Aufenthalt in einem genau definierten Bereich. Im anschließenden Interview mit Uwe Hincziza, dem Leiter des Wiener Sozialprojekts Streetwork, erfahren wir von den konkreten Auswirkungen dieser Maßnahme, dem alltäglichen Umgang damit und der Bedeutung des Karlsplatzes für die Drogenszene.

Den Abschluss des Schwerpunktes bestreitet Peter Jordan mit einem Text über Singapur, der jene subtilen Methoden aufzeigt, mit der es der regierenden People’s Action Party (PAP) ohne großes Aufsehen – jedoch mit drakonischen Strafen und umfassender sozialer Kontrolle – gelingt, die eigene Herrschaft zu garantieren und das Bild einer sicheren Stadt in die Welt zu transportieren.

Nach dem Insert von Klub Zwei schließt der diesmal besonders umfassende Magazinteil mit Beiträgen über Sofia, die South Central Farm in LA und Space Invader, mit einem Nachruf auf Jane Jacobs, einer Projektpräsentation von KEUK (in der ein drittes Mal in diesem Heft der Wiener Karlsplatz im Zentrum steht) und einer Kritik des neoliberalen Bildungsbegriffs von Anita Aigner an. Nicht fehlen darf natürlich eine neue Folge von Manfred Russos Serie zur Geschichte der Urbanität, diesmal: Der Flaneur. Aus Platzgründen konnten wir die Besprechung der Ausstellung Hala Elkoussy Peripheral (and other stories) von Patricia Deiser nicht mehr im Heft unterbringen. Sie ist auf unserer Website www.derive.at nachzulesen.

Zum Abschluss möchte ich mich bei den zahlreichen TeilnehmerInnen an unserer LeserInnenbefragung bedanken. Die Auswertung wird derzeit durchgeführt, die Preise versenden wir in den nächsten Tagen. dérive 25 erscheint Anfang Oktober mit dem Schwerpunktthema „Mobilität“.

Einen schönen Sommer wünscht

Christoph Laimer

Inhalt

Inhalt dérive 24

Schwerpunkt: Sicherheit – Ideologie und Ware
Manipulierte Unsicherheit: Die Bedrohung durch Terrorismus in den USA nach 9/11
Peter Marcuse
Governance: „Neue“ Technik des Regierens und die Herstellung von Sicherheit in Städten
Alexander Hamedinger
Feudaler Werkschutz: Das „Unternehmen Stadt“ und seine Filialisten
Volker Eick
Junkie-Jogging am Karlsplatz. Die Schutzzone und der verrechtlichte öffentliche Raum
Günter P. Stummvoll
„Es hat sich eingespielt“ oder „Die Schutzzone ist kein Thema mehr“
Günter P. Stummvoll und Christoph Gollner im Gespräch mit dem Leiter von Streetwork Uwe Hincziza
Die PAP passt schon auf …
Überwachung und soziale Kontrolle in Singapurs öffentlichem Wohnungsbau
Rolf Jordan

Künstlerinneninsert
Klub Zwei

Magazin
Der Konflikt um die South Central Farm.
Unternehmerische Stadtpolitik und städtische soziale Bewegungen in Los Angeles
Henrik Lebhuhn
Bildung und/oder Ausbildung?
Von der Notwendigkeit der Kritik am neoliberalen Bildungsbegriff
Anita Aigner
I Love Karlsplatz
Projektpräsentation von Conny Cossa, Martin Denk, Patrick Hammer und Pia Spiesberger
Space Invasion: Mit der Stadt und ihren BewohnerInnen spielen
Daniel Kalt

Serie: Geschichte der Urbanität – Teil 16
Transformationen der Öffentlichkeit, Teil III: Der Flaneur I – Stadtforscher avant le temps
Manfred Russo

Besprechungen
Der Kolosseum-Effekt
Manfred Russo über Stadion. Architektur, Politik, Ökonomie herausgegeben von Matthias Marschik, Rudolf Müllner,
Georg Spitaler und Michael Zinganel
Die Experimente, die Landschaft, die Theorie und ihre Stadt
Erik Meinharter über das Symposium landscape-X-periments
Von Dresden nach Ischgl
Christoph Laimer über das Buch Saison Opening: Kulturtransfer über ostdeutsch-tirolerische Migrationsrouten herausgegeben von Michael Zinganel, Hans-Hermann Albers, Michael Hieslmair, Marusa Sagadin
Erinnerungspolitiken
Anke Hagemann über die Ausstellung und den Katalog Geschichtsort Olympiagelände 1909 – 1936 – 2006

Governance: „Neue“ Technik des Regierens und die Herstellung von Sicherheit in Städten

Governance ist in den letzten Jahren zu einem Modebegriff geworden, der sich gleichermaßen in der breit gestreuten wissenschaftlichen Debatte sowie in der Rhetorik politischer EntscheidungsträgerInnen großer Beliebtheit erfreut. Zumeist wird dieser unscharfe Begriff verwendet, um gegenwärtig stattfindende Prozesse der Re-Strukturierung der Staatlichkeit zu bezeichnen, oder/und um einen Maßstab für die Bewertung von Regierungshandeln (etwa im Sinne der good governance) einzuführen. Was dabei governance genau ist, soll Verhandlungssache sein und entscheidet sich erst in der konkreten Anwendung „vor Ort“ und in einem konkreten politischen Feld.

Auch im Bereich der Sicherheitspolitik wird inzwischen von governance gesprochen, wenn es darum geht, Sicherheit, Sauberkeit und Ordnung auf städtischer und Nachbarschaftsebene herzustellen, und damit – so der offizielle Sprachgebrauch - einen Beitrag zur Stabilisierung oder gar Verbesserung „sozialer Kohäsion“ zu leisten. Die Verknüpfung zwischen sicherheits-, sozial- und beschäftigungspolitischen Strategien gibt es inzwischen in einer Vielzahl von Programmen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Situation von „benachteiligten Stadtteilen“ zu verbessern (etwa im Programm „Soziale Stadt“ in Deutschland oder im Programm „New Deal for Communities“ in Großbritannien). Dabei scheinen allerdings Sicherheitsstrategien in vielen Städten die offiziellen Vorstellungen sozialer Integration zu bestimmen und das Diktum der „sozialen Kohäsion“ ein Deckmantel für Maßnahmen zu sein, die soziale Ausgrenzung befördern können. Und in der Tat, in den letzten Jahren hat die Zahl der Bettler- oder Gefahrenabwehrverordnungen, der Erlässe, die Obdachlose aus den öffentlichen Räumen verschwinden lassen sollen, und der Einsätze von Sondergruppen, die vehement gegen Jugendgruppen oder gegen die Drogenszene vorgehen sollen, allerorten zugenommen. „In zahlreichen Städten ist Sicherheit zum neuen Dispositiv eines Konsenses der städtischen Mittelschicht geworden: Frankfurt, Düsseldorf, Wiesbaden, Darmstadt, Freiburg, München und viele andere mehr.“ (Noller 1999: 164)

In dem vorliegenden Beitrag werden diese Phänomene jedoch nur knapp beschrieben (vgl. dazu u.a. Dangschat 1995, Eick 1998, Keil & Ronneberger 1995). Das Aufkommen von städtischen Sicherheitsstrategien wird in diesem Beitrag einerseits als Motor, andererseits als spezifische Erscheinungsform eines forcierten Modernisierungsprozesses angesehen. Der restrukturierte innerstädtische Raum wird ebenso wie der Diskurs über den „Sicherheitsstaat“ und die „bedrohte innere Sicherheit“ als eine interessengeleitete soziale Konstruktion verstanden, die wiederum auf eine spezifische, im Wandel befindliche Gesellschaftsformation zurückzuführen ist. Governance ist in dieser Sichtweise ein Begriff, der den Wandel der Staatlichkeit, weg vom keynesianischen Wohlfahrtsstaat hin zum aktivierenden Staat, beschreibt. Governance verweist weniger auf die Veränderung politischer Inhalte und Programme im Zusammenhang mit der Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik, als vielmehr auf das veränderte „Wie“ des Zustandekommens politischer Programme, auf den Wandel der „Prozesse“ der Entstehung, der Entscheidungsfindung und der Umsetzung dieser Programme. Mit anderen Worten: In Anlehnung an eine Interpretation des Foucault’schen Begriffs der „Gouvernementalität“ kann governance als veränderte Technik des Regierens definiert werden, in welcher neue Sicherheitsstrategien angewandt werden um unterschiedliche Risiken (soziale, politische, ökonomische, ökologische etc.), die wiederum sozial konstruiert sind, zu minimieren. (Dieser Zusammenhang wurde schon vielfach angesprochen, vgl. z.B. Beste 2000, Legnaro 1998.) Es wird hier die Vorstellung geteilt, dass „Risiken also nicht unmittelbar aus der industriell-gesellschaftlichen Realität (folgen), sondern ... eine Form des Denkens der Realität repräsentieren – mit dem Ziel, sie „regierbar“ zu machen“ (Bröckling et al. 2000: 22). Weiterhin ist governance in einer regulationstheoretischen Sichtweise als neue Technik des Regierens zu betrachten, deren Erscheinungsform in Zusammenhang mit der Veränderung von politisch-ökonomischen Verhältnissen steht.

Fordismus und Postfordismus – von government zu governance

Das „goldene Zeitalter des Fordismus“, das durch eine tayloristisch organisierte Massenproduktion und eine über die Sicherungen des Wohlfahrtsstaates abgestützte Massenkonsumtion gekennzeichnet war, ist schon lange Zeit einem grundlegenden Wandel unterworfen (vgl. Amin 1994, Brand & Raza 2003). Der Fordismus war eine räumlich und zeitlich in spezifischer Weise geprägte Gesellschaftsformation, der ein bestimmtes makroökonomisches Design und eine dieser entsprechenden Form der Integration der StaatsbürgerInnen in die Gesellschaft und lokale Gemeinschaft zugrunde lag. Diese umfasst vor allem bestimmte kollektiv geteilte Werte, Normen und Institutionen (vgl. Lipietz 1998). Über die zentrale Regulierungsinstanz „Staat“ und ihre Apparate wurden einerseits das Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat, das Verhältnis von Öffentlichkeit zu Privatheit, und andererseits auftretende soziale Konflikte und politische Opposition über den sozialen Konsens geregelt (beispielsweise die Einbindung der Arbeiterschaft in die Sozialpartnerschaft). Der Staat war sowohl Sicherungsstaat (als Überwachungsstaat) mit einer ausufernden Bürokratie, als auch Wohlfahrtsstaat, der die Vermeidung sozialer Risiken zu einem öffentlichen Anliegen machte (Hirsch 1996).

Mit der Krise des Fordismus, die in vielen Ländern Anfang der 1970er Jahre einsetzte, sind Veränderungen auf und zwischen allen staatlichen Ebenen (lokal, regional, national) festzustellen, wobei allerdings vor allem der nationale Wohlfahrtsstaat als früherer Garant für Sicherheit in Richtung eines „nationalen Wettbewerbsstaates“ restrukturiert wird. Eine neue Qualität von Staatlichkeit, die vor allem eine aktive Umsetzung von Standortpolitik zum Ziel hat, setzt sich hierbei durch. Bestehende Ordnungsvorstellungen und die Wahrnehmung der Entwicklung von Gesellschaft, die in der (fordistischen) Regulationsweise subsumiert wurden, wurden immer fragwürdiger. „Der Übergang vom fordistischen Sicherheits- zum nationalen Wettbewerbsstaat, vom Modell Deutschland zur Deutschland GmbH, vollzieht sich in einem komplexen Verhältnis von Kontinuitäten und Brüchen.“ (Hirsch 1996: 116)

Die Restrukturierung des Staates, die sich auch in einem politisch inszenierten Sicherheitsdiskurs, in der Konstruktion von Feindbildern und der Verdrängung von Marginalisierten als Elementen einer sich verändernden Regulationsweise sozialer Probleme zeigt, setzt Mittel zur Kontrolle sozialer Konflikte voraus, die zunehmend autoritär und ausgrenzend sind und neue ideologische Werte produzieren, um so den Zusammenhalt der Konsum- und letztendlich Kontrollgesellschaft zu sichern. Der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit, Marginalisierung und Kriminalität wird dabei ideologisch benutzt.

Vor allem der momentan vielfach diskutierte Begriff governance beinhaltet eine grundlegende Veränderung des Staatsverständnisses. Die Debatte, die ihren Ursprung in der wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung (insbesondere bei Ronald Coase und, später, in der Institutionenökonomie) hat, dreht sich im Kern um die Frage, wie in komplexen Systemen Interaktionen zwischen unterschiedlichen AkteurInnen und Institutionen reguliert werden können. Dabei können unterschiedliche Regelsysteme zur Anwendung kommen (z.B. Markt, Hierarchie), die das Steuern und Koordinieren erleichtern sollen. Obgleich der Begriff governance in verschiedenen Wissensdisziplinen (etwa in der Ökonomie, Politikwissenschaft und Soziologie), in verschiedenen theoretischen Zugängen (etwa in der Regulationstheorie oder der neoklassischen Institutionenökonomie) und in der Anwendung in verschiedenen politischen Feldern und Institutionen (etwa in der EU in der Regionalpolitik oder Beschäftigungspolitik, in welcher von good governance gesprochen wird) unterschiedlich interpretiert wird, kann dennoch behauptet werden, dass in allen Kontexten governance zumeist eine Gesamtheit von Prozessen, Strukturen, Regeln, Normen und Werten, durch welche kollektive Aktivitäten gesteuert und koordiniert werden sollen, bezeichnet.

In der These vom Übergang von government zu governance, welcher in diesem Beitrag gefolgt wird, wird zumeist deutlich gemacht, dass sich die Form der Steuerung und Koordinierung gesellschaftlicher Handlungsfelder sowie die Art der Lösung kollektiver Probleme im Zeitablauf verändert haben. Es wird davon ausgegangen, dass sich die Grenzen zwischen zentralen Institutionen (Staat, Markt und Gesellschaft) zusehends auflösen und dass eine Mischung von unterschiedlichen Regelsystemen (Markt, Hierarchie, Verhandlungsregel, etc.) zu Steuerungszwecken Anwendung finden („Mix of Politics“). „Prozesse des Steuerns bzw. des Koordinierens sowie Interaktionsmuster, die der governance-Begriff erfassen will, überschreiten in aller Regel Organisationsgrenzen, insbesondere aber auch die Grenzen von Staat und Gesellschaft, die in der politischen Praxis fließend geworden sind. Politik in diesem Sinne findet normalerweise im Zusammenwirken staatlicher und nicht-staatlicher Akteure (oder von Akteuren innerhalb und außerhalb von Organisationen) statt.“ (Benz 2004: 25) Während sich government vor allem auf das Bild des fordistischen, keynesianischen Wohlfahrtsstaates bezieht, der primär diese Steuerungs- und Koordinierungsfunktionen ausübt und sich auf einen zentralistisch und hierarchisch organisierten Verwaltungsapparat sowie auf die Einbeziehung korporatistischer AkteurInnen in die politische Entscheidungsfindung stützt, verweist der Begriff governance auf eine Ausweitung des Akteursspektrums, auf die Modernisierung von Verwaltungsabläufen sowie auf die Institutionalisierung neuer Formen von Kooperationen. Zentrale Elemente von governance als neuer Technik des Regierens sind (Benz 2004, Pierre 2000):

- die Bildung von neuen formellen und informellen Netzwerken, Koalitionen und Partnerschaften zwischen unterschiedlichen AkteurInnen und Institutionen aus der privaten und öffentlichen Sphäre (z.B. public-private-partnerships).
- die Öffnung der politisch-administrativen Systeme für die Interessen und Meinungen von BürgerInnen in der Entwicklung, Planung, Entscheidungsfindung und Umsetzung von politischen Programmen und Projekten und damit eine Erhöhung der Anzahl von AkteurInnen in der politischen Entscheidungsfindung (Partizipationsverfahren).
- die Aufteilung und Delegation von politischen Aufgaben an unterschiedliche staatliche und nicht-staatliche AkteurInnen sowie Institutionen (z.B. durch Dezentralisierungsmaßnahmen, Privatisierungen)
- eine Veränderung der Rolle des Staates in der Steuerung gesellschaftlicher und räumlicher Entwicklung, weg vom keynesianischen Wohlfahrtsstaat hin zum angebotsorientierten und rahmenschaffenden kooperativen Staat (z.B. durch De-regulierungsmaßnahmen).
- die Lösung von politischen Konflikten und Problemen durch Verhandlungen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen AkteurInnen, in welchen nicht nur eine Instanz Entscheidungen trifft, sondern das Ziel der Einigung und der Konsensfindung zwischen den Beteiligten im Mittelpunkt steht.
- Entscheidungsfindung nicht nur aufgrund formeller Regelungen (z.B. Gesetze), sondern auch durch informelle Regelungen in verschiedenen Verhandlungsforen.

Zu beachten ist, dass das government, verstanden als das politisch-administrative System, innerhalb von governance nach wie vor eine entscheidende Rolle spielt, aber Kompetenzen und Ressourcen an andere, nicht-staatliche AkteurInnen abgibt. Somit wird das politisch-administrative System ein institutioneller Akteur unter anderen.

Die Installierung von governance-Strukturen auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen ist zumeist Teil von neoliberalen Strategien, die zum Ziel haben, den Markt als zentrales Regelungssystem in vielen gesellschaftlichen Sub-Systemen durchzusetzen, damit die größtmögliche Freiheit der Individuen vor Staatseingriffen herzustellen und gleichzeitig die Eigenverantwortlichkeit der Individuen in allen gesellschaftlichen Belangen zu fördern. Diese „neoliberale Freiheit“ braucht gleichzeitig Sicherheitsstrategien, die gewährleisten sollen, dass sich keine Gefährdungen für die Kollektivität ergeben. Auf den Zusammenhang zwischen dem Aufkommen einer liberalen Gouvernementalität und Sicherheitsmechanismen im 18. Jahrhundert hat Michel Foucault in seinen diesbezüglichen Vorlesungen im Jahre 1978 bereits hingewiesen. Die neuen Sicherheitsstrategien folgen heute dabei der Logik und den Organisationsvorstellungen von governance, indem beispielsweise:

- Sicherheitspartnerschaften zwischen öffentlichen und nicht-öffentlichen AkteurInnen (als public-private-partnerships) oder informelle Sicherheitsnetzwerke zwischen AkteurInnen aus der Wirtschaft und der Verwaltung in vielen Städten eingerichtet werden,
- Instrumente, die im Zusammenhang mit der Öffnung des politisch-administrativen Systems stehen, wie etwa das Quartiersmanagement, verwendet werden, um auf Stadtteilebene bestimmte sicherheits- und ordnungspolitische Vorstellungen durchzusetzen und „unerwünschte“ soziale Gruppierungen zu verdrängen (wie – von Volker Eick (2005) herausgearbeitet – im Falle des Quartiersmanagements Berlin-Helmholtzplatz; er bezeichnet diese Strategie des Quartiersmanagements als „ausgrenzende Einbeziehung“; siehe auch Hornbostel 1998),
- Aufgaben der Gewährleistung von Sicherheit in der Stadt in zunehmendem Maße an private Sicherheitsdienstleister abgegeben werden, und
- bestimmte öffentliche Räume, deren Qualitäten für die Stadt als weiche Standortfaktoren im europäischen und teilweise auch internationalen Städtewettbewerb wichtiger geworden sind, sowie auch andere soziale Räume stärkeren Kontrollstrategien unterzogen werden (weg von der Kontrolle einzelner Individuen hin zur Raumkontrolle; vgl. u.a Legnaro 1997, Simon 2001, Weichert 1998).

Governance erzeugt Unsicherheiten

Die neuen Techniken des Regierens, die hier mit dem Begriff governance umschrieben wurden, erzeugen ihrerseits weitere Unsicherheiten, für deren Bekämpfung wiederum neue Sicherheitsstrategien zur Anwendung kommen müssen. Folgende Verunsicherungen können dabei entstehen:

Beim Übergang vom government zu governance handelt es sich in vielen Fällen nicht um eine stärkere breite Öffnung der politisch-administrativen Systeme im Sinne der Herstellung von mehr Öffentlichkeit im politischen und planerischen Entscheidungsprozess, sondern governance-Strategien dienen in vielen Fällen der Durchsetzung der Interessen einer lokalen Wachstumskoalition. Die Reproduktion lokaler Machtkoalitionen hat sich als Tatsache nicht verändert, sie funktioniert jetzt allerdings wesentlich subtiler über die konsensuale Einbeziehung der vormaligen Elemente der Zivilgesellschaft (beispielsweise von NGOs oder intermediären Organisationen in der Stadtplanung).

Die Auslagerung und Delegation von Aufgaben des Staates und die damit verbundene Privatisierung von öffentlichen Gütern ist als Ent-Demokratisierung zu betrachten. In der Tat haben sich die privaten Sicherheitsdienstleister oder etwa auch die als public-private-partnerships organisierten Stadtentwicklungsunternehmen nicht der Öffentlichkeit und dem Gebot der „Transparenz“ zu stellen. Von demokratischer Kontrolle kann keine Rede sein. Der „lokale Staat“ zieht sich dabei allerdings nur auf den ersten Blick zurück, denn er bleibt der entscheidende Akteur in der Kooperation mit seinen neuen privaten AkteurInnen in der Stadt. Obgleich es so scheint, als ob durch vielfältige Privatisierungsstrategien das staatliche Gewaltmonopol (vor allem im Sicherheitsbereich) ausgehöhlt wird, erfolgen staatlich initiierte Re-Regulierungen mit dem Ziel den „erweiterten Staat“ zu stabilisieren.

Im Sinne dieser Machtsicherungsstrategien ist der seit etwa fünfzehn Jahren initiierte und inszenierte (Verun-)Sicherheitsdiskurs zu sehen (Cremer-Schäfer 1999, Diemer 1999, Kreissl 1998). Darin geht es auch nicht um die Analyse und Bekämpfung der Ursachen von Kriminalität in den Städten, sondern um die Möglichkeit, Kontrollmechanismen im Namen der Unrechtsbekämpfung auszuweiten (etwa im Zusammenhang mit dem teilweisen Verbot von Demonstrationen in New York; vgl. Marcuse in diesem Heft). „Vielmehr bestimmen politisch perzipierte Kontrollerfordernisse, die durch wachsende Spannungen zwischen sozialen, ökonomischen, ethnischen Gruppen in der Stadt entstehen, die Wahl der sicherheitspolitischen Maßnahmen. Kriminalitätskontrolle ist folglich ein Mittel, um Unzufriedenheit und Widerstand zu unterdrücken“ (Nissen 2003: 11).

Die Räume der VerliererInnen der Umstrukturierungen werden mit spezifischen empowerment-Programmen bedacht – was zum Beispiel im Zentrum von Quartiersmanagement-Modellen steht (vgl. Eick 2005). Hier werden zumeist neue Strategien der Sozialpolitik und Sozialarbeit sowie der Stadterneuerung territorial zusammengeführt, zumindest, um die Lebensbedingungen „vor Ort“ für die im Arbeitsmarkt ausgegrenzten und/oder wegen ihres fehlenden kulturellen Kapitals Diskriminierten zu verbessern (Alisch & Dangschat 1998). Dass auch dies Bestandteil einer neuen Regierungskunst ist, mit der die soziale Bewegungen und AkteurInnen des kritischen und linken Flügels mittels Arbeit in intermediären Organisationen oder in Formen neuer Zivilgesellschaft in eine Strategie der Herstellung und Sicherung des sozialen Friedens eingebunden werden sollen, ist offensichtlich (Alisch 2001). Deshalb gehören auch die Schuldzuweisung gegenüber denen, die am meisten unter den Umstrukturierungen zu leiden haben, sowie eine breit angelegte Ideologisierung von Individualisierung und Privatisierung zum Programm. Die Beschreibung der Marginalisierten als „Gefahrenherd“ („sozialer Brennpunkt“) schafft die Legitimation dafür , auch für die vom Abstieg bedrohten KleinbürgerInnen Sondergesetze und Verordnungen sowie neue Formen der Zuständigkeiten zu erlassen und dennoch nicht die demokratische Legitimation zu verlieren. Schließlich haben, solange es Stadtteile gibt, in denen die bauliche und infrastrukturelle Versorgung ebenso am unteren Rand der Hierarchie liegt wie die soziale Stellung der BewohnerInnen, die in kommunalen Parlamenten kaum repräsentiert sind (weil die BürgerInnen kein Wahlrecht haben, dieser Art von Demokratie nicht vertrauen oder eine Partei wählen, die keinen Einfluss auf die Kommunalpolitik nehmen kann), die Kommunalpolitiker leichtes Spiel, soziale Ausgrenzung gerade über die Territorialität zu inszenieren.

Die neuen Techniken des Regierens basieren u.a. auf der Schaffung von informellen Netzwerken, Verhandlungs- und Diskussionsforen sowie auf die Einrichtung von Beteiligungsmöglichkeiten für eine Vielzahl von AkteurInnen und Institutionen. Damit öffnet sich das politisch-administrative System für unterschiedliche Vorstellungen von Sicherheit, Ordnung, Sauberkeit und Lebensführung, wobei zumeist die ungleiche Mobilisierung von Machtressourcen darüber entscheidet, welche sicherheits- und ordnungspolitischen Vorstellungen in einem „konsensualen“ Prozess durchgesetzt werden.

Governance, interpretiert als Veränderung institutioneller Strukturen, als neue Form des Regierens sowie vor allem als Veränderung der „Mentalitäten“ der Regierten und der Regierenden zielt auf den Wandel von lokalen politischen Kulturen. Damit diese neuen Techniken funktionieren müssen Individuen „geschaffen“ werden, die bereit sind, sich aktiv und kommunikativ in die neuen governance-Strukturen einzubringen (sowohl auf der Seite der BürgerInnen als auch auf der Seite der politisch-administrativen Systeme). „Im Rahmen neoliberaler Gouvernementalität signalisieren Selbstbestimmung, Verantwortung und Wahlfreiheit nicht die Grenzen des Regierungshandelns, sondern sind selbst ein Instrument und Vehikel, um das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst und zu den anderen zu verändern. Wer es an Initiative, Anpassungsfähigkeit und Dynamik, Mobilität und Flexibilität fehlen lässt, zeigt objektiv seine oder ihre Unfähigkeit, ein freies und rationales Subjekt zu sein“ (Bröckling et al. 2000: 30).

Daraus ergibt sich, dass durch die Etablierung von governance-Strukturen bestehende soziale Ungleichheiten sowie Prozesse der sozialen Ausgrenzung und der sozialen Verdrängung verstärkt werden können (eine Analyse des Zusammenhangs zwischen Sicherheitsstrategien und sozialer Ausgrenzung liefert Wehrheim 2006). Dies erzeugt weitere „soziale Verunsicherungen“ auf Seiten der ohnehin benachteiligten sozialen Gruppierungen und auf Seiten der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft, die sich mit einer stetig wachsenden Zahl von „unerwünschten“ sozialen Gruppierungen konfrontiert sieht.

dérive, Do., 2006.07.20

20. Juli 2006 Alexander Hamedinger

.-:i:-. Space Invasion: Mit der Stadt und ihren BewohnerInnen spielen .-:i:-.

Eher als um die unvermeidbare Frage, wem der (urbane) öffentliche Raum denn nun eigentlich gehöre, kümmert sich eine bestimmte Variante von Stadt-Kunst um jene, wie man ihn, ganz wörtlich, zu bespielen habe. Und findet damit eine Antwort, die – weil sie nicht so unglaublich ernst genommen werden will – umso eindrücklicher auftritt. Dass an den Stadt-Raum die eine oder andere Frage gestellt werden muss, liegt auf der Hand. Wo sich ein immer dichteres Menschengewimmel tummelt, ist sicherzustellen, dass die kollektiven Ortschaften nicht zur seelenlos durchquerten Transitzone verkommen und damit „gültige“ Öffentlichkeit verschwindet. Um das Fortbestehen eines politisch-operationellen öffentlichen Raumes zu gewährleisten, ist es von Nöten, das vielgestaltige menschliche Bezugsnetz der StadtnutzerInnen für eben diese erfahrbar zu machen, ihnen Distinktionspraktiken und zugleich Integrationsmodelle anzubieten, mit deren Hilfe das urbane Laboratorium nutzbar wird.

Denn die Realisierungspraktiken der Stadt resultieren unmittelbar aus den Interaktionsmodi der StadtbenutzerInnen, das Stadt-Leben hängt untrennbar mit dem gemeinsamen Agieren und Tätig-Werden zusammen. Jenseits eines Gefüges von baulicher Substanz, conditio sine qua non freilich, ist die Pluralität der Individuen, ihr bewusstes, aktives Miteinander in einem frei zugänglichen öffentlichen Raum als erste Voraussetzung von politischem Leben bedeutsam. Darum muss es als Herausforderung gesehen werden, Praktiken zu schaffen, die dieses intersubjektive Bezugsnetz von miteinander Handeln und Sprechen begreifbar machen.

Spielerische Interaktion

Dass Kunst maßgeblich dazu beitragen kann, steht außer Frage. Dass es verschiedene Strategien mit unterschiedlichen Zielsetzungen gibt, Kunst im öffentlichen Raum anzusiedeln, auch. Eine besondere, nämlich im eigentlichen Sinn verspielte und das Spiel anregende Praxis eines in Paris ansässigen Künstlers soll nun näher vorgestellt werden. Um vorzuführen nämlich, wie neue Stimmlagen innerhalb der urbanen Polyphonie zu Gehör dringen können. Am ehesten als eine Möglichkeit, die StadtbewohnerInnen in ludischen Bezug zu ihrem urbanen Habitat zu setzen, lässt sich der „reality game“-Ansatz des Stadtkünstlers Space Invader zusammenfassen. Zwar dekorieren seine Mosaike den Stadtraum auch und sind als Kleckse farbiger Keramik durchaus schön anzusehen, sie erfüllen aber im Eigentlichen eine Funktion, welche durch erhöhte Interaktionsbereitschaft auf ein Erstarken des agonistischen Spielprinzips hinausläuft. Abgesehen von der Inauguration eines neuen Stadt-Erlebens birgt das groß angelegte Projekt die Option, das Gefühl eines, siehe oben, miteinander Handelns in den urbanen Beton einzugießen. Spiel ist ja, wie die Spieltheorie bedeutet, nicht nur Ornat und Dekorum, sondern unentbehrliche Stütze des Gemeinschaftssinnes, ohne welchen Gesellschaft nicht möglich ist. Mehr als um ein Sich-Messen geht es um die Veräußerlichung sozialer Gefüge, um das Verbriefen von Kulturwerten. Wenn öffentlich ausgetragen, involviert das Spiel die größtmögliche Zahl (unwillkürlicher) MitspielerInnen. Daraus ergibt sich im Falle von Space Invader ein besonders hübsches Modell von Stadtleben: die StädterInnen als eine riesige Truppe von miteinander Spielenden, die im Handeln und Sprechen aufeinander zugehen.

Space Invader, der, sein Name sagt alles, auf die extraterrestrischen Eindringlinge der ersten Videospielstunde als Gestaltungselemente zurückgreift, platziert seit gut sieben Jahren Mosaikunikate im öffentlichen Raum seiner Heimatstadt Paris, daneben aber auch in global cities wie London, New York, Los Angeles, Tokio und Hong Kong.(1) Diese rigoros durchnummerierten Elemente setzen sich aus monochromen Quadraten zusammen, welche den Pixeln der Computergrafik entsprechen und letztlich eine Armada aus Space Invaders bilden, die ausgezogen sind, den Stadtraum in Beschlag zu nehmen: urbane Invasion also, und zwar – weil diese Kunstpraxis äußerst transportabel und mobil ist – weltumspannend und damit dem Phänomen einer globalen Metropolenvernetzung entsprechend. Wenngleich Invader durchaus als street artist gelten könnte, besteht er doch darauf, ein Künstler tout court zu sein; einer, der sich aus Land Art und Situationismus inspiriert und nur a posteriori mit Sprayern und Taggern in Verbindung geriet. „Mein Leben ist eng mit Kunst verbunden, ich nehme es nur auf diese Art wahr, und das ist es, was mich zu den Space Invaders gebracht hat. Die Space Invaders ließen mich dann die Graffiti-Szene und –Kultur entdecken.“(2) Das Gebot zu bewahrender Anonymität freilich hat er mit letzterer gemeinsam, wenngleich er sich neben seinem unausgesetzten Monumentalprojekt der Space Invasion seit einer ersten Schau in der Pariser Galerie Magda Danysz 2003 auch zum Innenraumkünstler mausert, der allerdings sein primäres Wirkungsfeld unausgesetzt im kollektiv genutzten Außenraum sieht.(3) Indem er zusehends als Galeriekünstler auftritt, lässt sich aber wohl der Zeitpunkt absehen, an dem er seine Identität lüftet und das ihm schon seit Langem bereit gestellte konvertierbare symbolische Kapital wahrzunehmen beginnt. In Paris sind die Kunst und die Kunstfigur von Invader gern gesehen, ein Lieblingskind der hippen Kunst- und Stadtszene fast schon, und mit dem Aufheben des Anonymats hätte er keine repressiven Sanktionen zu befürchten.

Flanieren gegen die prozac city

Eine Stadtkunst wie die von Space Invader, welche auf langsam erwachende Neugierde setzt und sich nicht mit einem Mal zur Gänze erfassen lässt, sperrt sich gegen ein glossy Stadtkonzept der Postmoderne, welches auf die leicht verdauliche event city oder, in den Worten Giandomenico Amendolas, prozac city abzielt: „Die Stadt hat sich die Aufgabe aufgeladen, die Welt gemäß dem Kanon der zeitgenössischen medialen Kommunikation sichtbar zu machen; alles muss zugänglich, gleichzeitig, fesselnd sein. Die neue postmoderne Stadt bringt sich als Faktor und Spielwiese der Wiederverzauberung der postmodernen Gesellschaft ein.“(4) Dass allerdings hiermit die Gefahr eines drohenden Öffentlichkeitsverlustes einher geht, weil alles eben nur scheinbar zugänglich und kommunizierbar und publik ist, ist kein Geheimnis. Eine urbanistische und künstlerische Praxis wie die beschriebene veranlasst unweigerlich die Flanierenden, sich gegen das Unmittelbarkeitsprinzip aufzulehnen, die eigene Kuriosität wieder zu entdecken und ganz bewusst in jenen Raum hinaus zu treten, den sie mit den anderen teilen. Im Grunde ist es bloß eine Frage der Zeit, bis die/der mittelmäßig aufmerksame BewohnerIn einer „befallenen“ Stadt(5) auf die Idee gebracht wird, dass hier eine Einladung zu einem eigenwilligen Stadt-Parcours ausgesprochen wird. Es kann also losgezogen werden, mit Stadtplan und Stift in der Tasche womöglich, auf dass die ausfindig gemachten Koordinaten der Stadtinvasion als Anhaltspunkte eines flächendeckenden reality game minutiös verzeichnet werden mögen.

Invader selbst betont den kartografischen Impetus, der sich aus seiner Arbeit ergibt: Einerseits muss vor der Anbringung der einzelnen Mosaike die jeweilige Umgebung ausgekundschaftet und erfasst werden, andererseits hat er natürlich auch persönliches Interesse an der Dokumentation seines groß angelegten Projektes. „Die Karten erlauben mir, eine Verbindung zwischen dem unendlich Kleinen (das Pixel, der Space Invader) und dem unendlich Großen (die Stadt, der Planet) herzustellen. Sie repräsentieren auch die Idee des Umherirrens.“(6) Ganz dérive also. Auch für die BetrachterInnen seiner Kunst, die ähnlich SchatzsucherInnen den Stadtraum kreuz und quer abgrasen. Nicht nur das ästhetische Empfinden in der unmittelbaren Perzeption der Mosaike ist ausschlaggebend, sondern das Ausfindig-Machen und die Dekodierung im Umraum angesichts eines Balanceakts zwischen Sichtbarkeit und Unauffälligkeit.

Symbolische Besetzung von Räumen

Dass street art immer möglichen Eingriffen oder gar Zerstörungsversuchen ausgesetzt ist, weil sie als unrechtmäßiger Eingriff in das von öffentlicher Hand gestaltete Stadtbild wahrgenommen werden mag, liegt in der Natur der Sache. Das Risiko potenzieller Entfernung ist allerdings Teil des Spielgedankens, der in street art insgesamt ausgemacht werden kann und das ganze Unterfangen recht aufregend gestaltet. Die Herausforderung besteht darin – und das gilt für jede invasionsähnlich funktionierende Stadtkunst –, diesseits der Sichtbarkeitsgrenze zu bleiben, ohne sich dabei allzu sehr zu exponieren. Solche Projekte weisen darüber hinaus das Charakteristikum auf, nicht punktuell wirken zu wollen, sondern erst bei Betrachtung ihres vollen – eingangs kaum vermuteten – Ausmaßes die angestrebte Wirkung zu erlangen.

Die Bedeutung einer solchen Unternehmung – bei der künstlerischen Praxis von Invader parallel zu neu inaugurierten innerstädtischen Wahrnehmungs- und Bewegungsmustern – liegt jedenfalls darin, den StadtbewohnerInnen eine Option anzubieten, mit ihrem Umraum und allen Menschen, die ihn besiedeln, in eine neue, qualitativ hochwertige Beziehung zu treten. Schließlich geht es, wie Regina Bittner völlig richtig heraus streicht, um „neue Modi der Integration in die Stadt mittels der symbolischen Besetzung von Räumen, einer Besetzung, die angesichts der zunehmenden Enträumlichung sozialer Beziehungen nur umso dringender geboten ist.“(7) Den StadtbenutzerInnen den öffentlichen Raum zurück geben als etwas bewusst Erfahrbares, Bestaunbares, Gangbares; ihnen einen Ort der Manifestation und Interaktion zur Verfügung stellen und eine Plattform, die die Pluralität der Individuen erfahrbar macht.

Im Falle der space invasion könnte dies so funktionieren, dass die Menschen in Staunen vor dem einen oder anderen Invader-Mosaik aneinander geraten, sie auf ihre unvollständigen Kartenfragmente verweisen und darob in einen Diskurs geraten, der im öffentlichen Raum neue Öffentlichkeit schafft und verdeutlicht, dass auch die Straßen der eigenen Stadt nicht nur forsch und hektischen Schrittes abgelaufen werden müssen, sondern dass abseits der breit getretenen Spurrinnen noch ein paar denkbare Realisierungen von urbaner Zusammenkunft möglich sind. Oder, im Sinne politischer Theorien: Eine Gewährleistung, dass weiterhin gehandelt und gesprochen werde im öffentlichen Raum, der damit Austragungsort eines zwischenmenschlichen Beziehungsnetzes bleibt und seine Relevanz als Politikum nicht verliert.

Es darf nämlich ruhig ein bisschen spielerisch zugehen auf den Straßen der Städte, um die überindividualistische Gesellschaft auszutricksen. So bietet sich der öffentliche Raum als Alternative zur Isolation der/s Einzelnen an und stellt sich damit letztlich als wahrhaft zwischen-menschlich heraus.


1 Vor kurzem ist im Übrigen auch die österreichische Kapitale zu so illustren invasorischen Ehren gelangt, da Invader einen Monat lang Artist in Residence im Wiener Museumsquartier war. Wie der Künstler im E-Mail-Interview ankündigt, werde es sich wohl um eine groß angelegte Intervention handeln, da der für eine Invasion ordentlichen Ausmaßes üblicherweise notwendige Zeitraum von etwa 14 Tagen sogar überschritten werde. street art und city hopping kann Invader darüber hinaus ohnehin nicht mehr voneinander trennen: „Das Eine ohne das Andere ist für mich nicht mehr denkbar“
2 Interview von 2004 mit Pierre-Évariste Douaire auf www.paris-art.com/interv_detail-1876.html (Übersetzung durch den Autor)
3 2005 folgten Einzelausstellungen in der renommiert Pariser Galerie Patricia Dorfmann sowie in der Galerie Sixspace in Los Angeles. In diesem Rahmen entwickelte er einen eigenen –ismus, den so genannten Rubikcubism nämlich, für den er das Quadrat in die dritte Dimension bringt und auf Rubic's Magic Cubes zurückgreift, die er zu Skulpturen auf-, an- und ineinander montiert
4 Giandomenico Amendola, La Ciudad Postmoderna. Magia y miedo de la metrópolis contemporánea. Madrid, Celeste, 2000, S. 136 (Übersetzung durch den Autor)
5 Paris – als die Heimatstadt des Künstlers und seine dauernde Spielwiese – bringt es auf beachtliche 519 Invaders (Stand Dezember 2005). Andere Städte weisen naturgemäß eine geringere Dichte auf, da Invader dort nur als Kunst- und Spiel-Tourist tätig werden kann. Immerhin: Los Angeles 123 Invaders. New York 85 Invaders. Tokio 75 Invaders. Bei den elf für Berlin ausgewiesenen „Störenfrieden“ muss man wohl ein wenig Glück haben, um auf sie zu stoßen. Vgl. für diese Information die sehenswerte und auch amüsante – weil ihrerseits keineswegs unverspielte – Seite www.space-invaders.com
6 Space Invader im zitierten Interview
7 Regina Bittner, Die Stadt als Event, in: dies. [Hg.], Die Stadt als Event, Frankfurt am Main – New York, Campus Verlag, 2002, S. 23

dérive, Do., 2006.07.20

20. Juli 2006 Daniel Kalt

Die Experimente, die Landschaft, die Theorie und ihre Stadt

Die Dichotomie zwischen Stadt und Land verschwimmt. Der öffentliche Raum gerät als Metapher für die aus dem Raum in die Medien verlagerte Öffentlichkeit in den Fokus. Die Stadtlandschaft (wie Sieverts seine Weiterführung der Zwischenstadt nennt) weitet die Schnittstellen der Städte mit der Landschaft aus. Dieser Trend der letzten Jahre führt auch zu einem interdisziplinären Verschwimmen von Professionen und Methoden. Das Interesse an der Landschaft und deren Bedeutung im kritischen Diskurs steigt, Landschaftsarchitektur steht nicht mehr im Gegensatz zum Urbanen und der Architektur. Die Landschaft rückt in das kritische Interesse anderer Disziplinen – Lili Licka spricht vom „Phänomen der Auflösung methodischer Grenzen“. In diesem Kontext sind die zahlreichen Symposien, Kongresse und Workshops, wie jene, die jüngst in Wien stattgefunden haben1, als Statements und Versuche der Positionierung der Disziplin zu werten.

landscape-X-periments (27.04.2006) war eine dieser Veranstaltungen. Der Schwerpunkt des vom Institut für Landschaftsarchitektur der Universität für Bodenkultur Wien in Kooperation mit der ÖGLA, der Österreichischen Gesellschaft für Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung, und dem Alumnidachverband der Universität für Bodenkultur organisierten eintägigen Symposiums fokussierte auf einen Theoriediskurs zur Idee und Strategie des Experiments. Experimente sind nach der Wende von der klassischen (Natur)Wissenschaft zur fundamentalen Unsicherheit auf drei Basisprinzipien aufgebaut: Unvorhersehbarkeit, Kontext und Prozess. Martin Prominski von der Universität Hannover liest diesen Paradigmenwechsel als zentral im Arbeiten mit und in der Landschaft und damit als Strategie der Landschaftsarchitektur. Die Hinwendung zu breiteren Untersuchungsformen beim Arbeiten an der Stadt kann auch als eine Ursache der Aktualisierung von Landschaft im urbanen Diskurs gesehen werden. Es zeigt sich eine Parallelität zwischen der Prozesshaftigkeit aller Maßnahmen und deren schwer vorhersehbaren Auswirkungen auf die Arbeitsstrategie in der Landschaftsarchitektur.

Einen Versuch diesem Phänomen der Unsicherheit mit experimentellen Strategien zu begegnen, stellt das Projekt Herhugowaard/Schuytgraaf des niederländischen Landschaftsarchitekturbüros Karres en Brands dar. Es zeigt einen fast spielerisch anmutenden Umgang mit Abhängigkeiten. In einem in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich (www.kaisersrot.com) entwickelten digitalen Modell einer Stadtentwicklungsmaßnahme wurde aus voneinander abhängigen Einzel-Faktoren ein Netzwerk gebildet, innerhalb dessen lokale planerische Eingriffe komplexe Verschiebungen nach sich ziehen. Die „unsichtbare Landschaft“ wird in die Entscheidungsfindung miteinbezogen. Die gestalterische Entscheidung behielten Karres en Brands – im Wissen um die Unvollständigkeit digitaler Simulationen – dann doch in ihren Händen.

Die bei solchen Algorithmen nicht erfassbaren sozialen Zusammenhänge wurden von Gareth Doherty von der Universität Harvard in der Einleitung seines Vortrags „Landscape as Urbanism“ als zentral auch für kleinstädtische Entwicklungen beschrieben. Doherty entwickelte mit CHORA eine experimentelle Strategie, mittels einer zufälligen Streuung von Aufnahmepunkten („Bean-Map“) aufschlussreiche Aufnahmen einer Region zu erhalten, und damit vom Landschaftlichen auf das Urbane schließen zu können. Um die Erkenntnisse in kleinen Projekten vor Ort umzusetzen, erwies sich diese „Zufalls-Methodik als wenig geeignet, da die sehr kleinteiligen, nicht aus sich selbst entwickelten Maßnahmen den Ansatz einer Initialzündung konterkarierten.

Hier stellten die von Stefan Bendiks von der Gruppe Artgineering vorgestellten so genannten non-physical interventions schon eher eine Form der gezielten experimentellen Intervention dar. Von Staustadt und Stauerleben bis zum Wohnen und Arbeiten an einer ehemaligen Schnellstraße wird Banalität und Informalität als Qualität definiert. Als Staubetreuer auf Motorrädern mit einem filekit (Stau-Versorgungspaket) ausgestattet, karikierten sie bei der Biennale in Rotterdam 2003 gemeinsam mit feld72 und D+.nl die mobile Gesellschaft. Die Untersuchung von Regionen, die durch Mobilität zuerst geformt und später verlassen werden, zeigen architektonische (Wohn)Formen des Informellen, deren Qualität erst entdeckt werden muss.

In den postsozialistischen Ländern ist diese Qualität zurzeit wegen des Bedeutungsverlusts des Öffentlichen kein Thema, wie die Projekte von ProstoRoz zeigten. Gezeigt wurden ästhetisch ansprechende, experimentelle Installationen, die versuchten, öffentliche Räume in Ljubljana positiv zu definieren. Problematisch dabei die mangelnde Auseinandersetzung mit den realen Gegebenheiten, lässt sich diese Form der Kunst im öffentlichen Raum doch allzu leicht für Aufwertungsprozesse instrumentalisieren, damit in der Folge lukrativer privatisiert oder in Bauland umgewidmet werden kann. Vorhandene Nutzungen, Aneignungen und das „verwahrloste“ Erscheinungsbild gelten als nicht erhaltenswert. Der Grund dafür liegt nicht alleine in der Notwendigkeit einer ökonomischen Nutzung öffentlicher Räume: Im Kontext des „Zurücklassens eines alten Systems“ wird Verwilderung als Teil einer überholten Wirtschaftsweise gelesen. Brachen, so Frank Lohrberg in seinem Vortrag, werden in Zeiten der Schrumpfung auch immer mit ökonomischem Niedergang assoziiert. Er plädierte – am Beispiel von Projekten im Ruhrgebiet – für eine aktive Beschäftigung mit dieser Verwilderung und einer einhergehenden Wertschätzung der verbliebenen Anwohner.
Die Grenze der experimentellen Zugänge schien insgesamt eher zwischen „Poesie und Treue“ (Lebalto) im Garten und kritischem Zugang zur Landschaft zu verlaufen. Die regen Diskussionen, die um die Projekte von ProstoRoz sowie über die Gärten von LeBalto geführt wurden, zeigten auf, dass durch den erweiterten Arbeitskontext, die Aktualisierung des Öffentlichen und die Auflösung methodischer Grenzen eine Abwendung vom romantischen Bild der Landschaftsarchitektur vollzogen ist und Landschaft nicht mehr das grüne heilsversprechende und natürliche Gegenstück der Stadt darstellt.


1 Der Kongress GROW! (31.03.-02.04.2006) deckte mittels Einzelvorträgen mehrere Themenfelder ab. Ein Themenblock war zum Beispiel scaping the urban. Zum Kongress ist eine Publikation in Planung. Das Seminar Urban Landscapes – Common Challenges Shared Strategies (19.05.2006) an der TU Wien organisiert vom Institut für Städtebau, Landschaftsarchitektur und Entwerfen orientierte sich im Rahmen des LE:NOTRE-Projekts als Startveranstaltung des EULP (European Urban Landscape Partnership) an der Form eines workshopartigen Informationsaustausches zwischen Städten.

dérive, Do., 2006.07.20

20. Juli 2006 Erik Meinharter

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