Editorial

›Die Alltagsökonomie als Fundament zukunftsfähiger Stadtentwicklung‹ ist der Titel eines Artikels, den Autor:innen rund um das Kompetenzzentrum Alltagsökonomie für den dérive-Schwerpunkt ›Pandemie‹ vor vier Jahren geschrieben haben. Damals zeigte sich nachdrücklich, wie wichtig öffentliche Infrastrukturen, Daseinsvorsorge und Nahversorgung in Zeiten einer Krise sind. Eine funktionierende Alltagsökonomie ist die Grundlage und Voraussetzung dafür, dass wir uns in jeder Situation – ob krisenhaft oder nicht – auf die Versorgung mit lebensnotwen­digen, leistbaren Gütern und Dienstleistungen sowie auf die Funktionstüchtigkeit wichtiger Infrastrukturen verlassen können. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass der liberalisierte Markt dazu nicht in der Lage ist. Preise stiegen ins Unermessliche und die Versorgung stand auf Messers Schneide. Selbst 
die österreichische Regierung unter der Führung der ÖVP, die Markteingriffe als ›falsches Signal‹ wertete, führte spät aber doch eine Stromkostenbremse ein.

Es ist dringend geboten, öffentliche Infrastrukturen und die Daseinsvorsorge auszubauen und dauerhaft zu sichern, um die Voraussetzung dafür zu schaffen, allen Menschen ein gutes, menschenwürdiges Leben zu garantieren. Gleichzeitig gilt es, ökologische Aspekte zu berücksichtigen und angesichts der Klimakrise vor allem die Dekarbonisierung zu forcieren. Damit sind die beiden Aspekte umrissen, die den Energie-Schwerpunkt dieses Heftes ausmachen.

»Rekommunalisierung, Energiegenossenschaften und Bürgerbegehren stehen für verschiedene Wege hin zu Energiedemokratie und Energiegerechtigkeit« schreiben Sören Becker und Matthias Naumann in ihrem Beitrag, der den Schwerpunkt eröffnet. Darin geht es sowohl um Konzepte als auch Projekte, für die die beiden Schlagwörter stehen. Die Vergesellschaftung von Energieunternehmen als Schritt zur Energiedemokratie ist auch für Attac Österreich eine zentrale Forderung. Max Hollweg von Attac spricht im Interview mit dérive darüber und über Vorschläge, wie Energiearmut strukturell verhindert werden kann.

Um Klimaneutralität zu erreichen, sind erneuerbare Energien einer der wichtigsten Hebel. Die Europäische Kommission wollte wissen, wie weit Europas Städte dabei sind, die Energiewende umzusetzen und hat dazu eine große Umfrage gemacht. Giulia Ulpiani et al. haben die Antworten dieser Umfrage ausgewertet und geben als Beitrag zum Schwerpunkt einen Einblick in die Ergebnisse.

Ein interessanter Aspekt bei der Planung und Umsetzung von ›intelligenten‹ lokalen Energiesystemen wie beispielsweise Energiegemeinschaften ist, dass über den eigentlichen Zweck hinaus zusätzliche positive soziale, ökonomische und ökologische Effekte entstehen können. Rachel Bray et al. haben sich diese Effekte in einer Metastudie detailliert angesehen. Ein Auszug aus einem Bericht über die Studie ist ebenfalls Teil des Schwerpunkts.

Zum Abschluss haben wir uns die aktuelle Situation im Hinblick auf die Energiewende in Wien angesehen, und mit Petra Schöfmann, Expertin für erneuerbare und urbane Energiesysteme, darüber gesprochen. Zukunftsweisende Wohnbauten und Sanierungsprojekte wie das MGG22 (2019) oder der Smart-Block-Geblergasse (2019, Zeininger Architekten) haben in den letzten Jahren für Wien gezeigt, was mit Engagement, Durchsetzungskraft und viel Know-how auch gegen Widerstände möglich ist. Architek:innen wie das Architekturbüro Reinberg, Treberspurg & Partner Architekten und viele andere beweisen schon seit langem, was mit guter Architektur möglich ist, wenn das Thema Energiewende ernst genommen wird.

Äußerst hilfreich für die redaktionelle Arbeit am Schwerpunkt waren die Expertise und die vielen Kontakte von Christoph Gollner, ehemaliger dérive-Redakteur und heute u. a. Experte für Positive Energy Districts – vielen Dank dafür.

Im Magazinteil sind diesmal ein Beitrag über die Situation in Buenos Aires nach der Machübernahme von Javier Milei, ein Nachruf auf den portugiesisch-mosambikanischen Architekten José Forjaz und ein Interview mit Daniel Bürkner, Leiter von Public Art München zu lesen.

Das Kunstinsert für diese Ausgabe stammt von Christina Werner. Es basiert auf einem, für das Bauhaus Dessau entwickelten, performativen Foto- und Videoprojekt, für das Werner Recherchen zur Arbeiter:innen-Bewegung mit ihrem Interesse an zeitgenössischen Protestbewegungen verknüpft hat. Zusätzlich gibt es diesmal ein zweites Insert: ›TAKE PART – Is There Room For San Francisco In San Francisco?‹ vom niederländischen Künstler:innenduo Bik Van der Pol.

Bik Van der Pol haben wir nicht nur das Insert zu verdanken. Sie sind dieses Jahr auf Einladung des urbanize!-Festivals (8. bis 13. Oktober) auch in Wien und bieten vier Exkursionen unter dem Titel ›School of Walking‹ an. Die Spaziergänge mit Expert:innen in Kooperation mit KÖR – Kunst im öffentlichen Raum Wien und KEX – Kunsthalle Exnergasse verhandeln Fragen von zivilgesellschaftlichem Engagement, von Demokratie und Recht in Zeiten der Klimakrise.

Wie diese Schwerpunktausgabe dreht sich auch das urbanize!-Festival um das Thema ›Energie‹. Wie immer gibt es aufschlussreiche Diskussionen, spannende Exkursionen, sensationelle künstlerische Beiträge, schlaue Workshops, eine sehenswerte Ausstellung und tolle Veranstaltungsorte (ehemaliges Wasserbaulabor der TU Wien, ehemalige Tankstelle und jetzige Außenstelle des Museums Nordwestbahnhof, Westbahnpark, Filmcasino …) Das komplette Programm ist im Detail wie immer auf urbanize.at nachzulesen. Für alle, die nicht in Wien wohnen und keine Zeit haben, zum Festival zu kommen, gibt es die Möglichkeit, etliche Veranstaltungen per Livestream zu verfolgen.

Noch mehr urbanize! gibt es seit kurzem auf video.derive.at. Das stetig anwachsende Videoarchiv umfasst Vorträge, Good-Practice-Präsentationen, Diskussionsbeiträge und Einblicke in Laboratoire-dérive-Forschungsreisen. Tune in! Christoph Laimer

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer

04—08
Energiedemokratie und Energiegerechtigkeit
Ansätze für die städtische Energiewende
Sören Becker, Matthias Naumann

10—16
Zusatznutzen und Risiken intelligenter lokaler Energiesysteme
Rachel Bray, Rebecca Ford, Madeleine Morris, Jeff Hardy, 
Luke Gooding

Kunstinsert
17—20
TAKE PART – Is There Room For San Francisco In San Francisco? 2018–2020
Bik Van der Pol

21—24
Energiearmut strukturell bekämpfen
Christoph Laimer und Elke Rauth im Gespräch mit Max Hollweg

25—30
Let’s hear it from the cities – Die Rolle der erneuerbaren Energien bei der Erreichung der Klimaneutralität in den europäischen Städten
Giulia Ulpiani, Nadja Vetters, Drilona Shtjefni, Georgia Kakoulaki, Nigel Taylor

31—35
Wie gelingt die Energiewende in Wien?
Christoph Laimer im Gespräch mit Petra Schöfmann

Kunstinsert
36—40
Christina Werner – Rhythm is a Dancer
Barbara Holub, Paul Rajakovics


42—47
Viva Buenos Aires, Carajo! 
Wie Javier Mileis Politik Einfluss auf die Stadtentwicklung von Buenos Aires ausübt
Natalia Dopazo, Markus Vogl

48—50
Lehm und Edelstahl
Nikolai Brandes

51—55
Räume für soziale Interaktionen öffnen
Ursula Maria Probst 
im Gespräch mit Daniel Bürkner, Public Art München

Besprechungen
Per Anhalter durch die Galaxien: Walter Pichler trifft Friedrich Kiesler S.56
Wie mit NS-kontaminierten Gebäuden umgehen? S.57
Graz aus stadtökologischer Perspektive S.58
Alles Einsteigen S.59
Mitmachen – Mitregieren! Die Wiener Festwochen als kommunale Aktionsplattform S.60
Der Prater als Mikrokosmos der Stadtgesellschaft S.61
Durch Tanzen Gemeinschaften bilden! S.62
Hoffnung und Verzweiflung in Marseille nach der Flucht aus Nazi-Deutschland S.63
Wiens steinerner Zoo S.65

72
Impressum

Wie mit NS-kontaminierten Gebäuden umgehen?

Im nächsten Jahr wird vielerorts wieder verstärkt an das Ende der nationalsozialistischen Terrorherrschaft erinnert werden, die vor 80 Jahren zu Ende ging. Damit wird auch der Blick auf die baulichen Zeugnisse dieser Zeit abermals intensiviert werden und der Umgang mit diesem belasteten Erbe in den Fokus rücken. Der unlängst erschienene Sammelband ›Ver/störende Orte. Zum Umgang mit NS-kontaminierten Gebäuden‹ tut dies schon heute. Er ist die Dokumentation einer zweiteiligen Tagung, die im Herbst 2021 in Innsbruck und Linz stattgefunden hat, veranstaltet von der Universität Innsbruck, der Kunstuniversität Linz sowie dem Haus der Geschichte Österreich. Anlass waren die dort befindlichen Gebäude, die bereits die Bandbreite der Fragestellungen aufzeigen: das als Gauhaus für Tirol und Vorarlberg errichtete heutige Tiroler Landhaus, die jetzt von der Kunstuniversität Linz genutzten ehemaligen Linzer Brückenkopfgebäude, sowie der Altan der Neuen Burg in Wien, der als ›Hitlerbalkon‹ zu einem ikonografischen Bild der NS-Zeit in Österreich wurde. Es geht in den zahlreichen Beiträgen also sowohl um Gebäude, die in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft errichtet wurden als auch um jene, die vom NS-Regime intensiv und bildprägend vereinnahmt und damit – aus heutiger Sicht – ›kontaminiert‹ wurden.

Der Fokus der versammelten Texte liegt auf der Frage, wie ein angemessener Umgang mit diesem baulichen Erbe heute aussehen kann, wobei die Dokumentation der jeweiligen Bau- und Nutzungsgeschichten nicht zu kurz kommt. Dabei wird deutlich, dass die oftmals als Täterorte wahrgenommenen Gebäude zumeist auch eine Opfergeschichte haben, denn ihre Errichtung erfolgte vielfach durch Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangene, zudem kamen oftmals auch Materialien zum Einsatz, die etwa in Konzentrationslagern abgebaut wurden.

Erkenntnisreich sind die Darstellungen der jeweiligen Nutzungsgeschichten, die sich auffallend ähneln: in den unmittelbaren Nachkriegsjahren dominierte ein pragmatischer Zugang, bei dem die Gebäude der NS-Zeit häufig für öffentliche Zwecke genutzt wurden. Dies geschah zumeist ohne große Veränderungen bzw. lediglich der Entfernung von dezidierter NS-Symbolik. Auf den Kontext ihrer Errichtung wurde nicht verwiesen. Erst spät, ab den 1990er Jahren, stellten sich Fragen nach der Erinnerungskultur sowie dem adäquaten Denkmalschutz. Man würde denken (oder hoffen), dass Verweise auf die Er-
richtungs- bzw. Nutzungsverhältnisse – sei es in Form von erklärenden Texten oder künstlerischen Interventionen – eine Selbstverständlichkeit wären. Dass dies jedoch bis heute keineswegs der Fall ist, verdeutlichet der Sammelband sowohl anhand der Bauten in Linz und Innsbruck als auch des Rathauses in Dornbirn (dem früheren Kreisleitungsgebäude der NSDAP), Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn oder der NS-Bauten in Weimar.

Die Formulierung der Herausgeber:innen im Vorwort, dass »Unsichtbarmachung und Nichtkommentierung« heute keine Optionen mehr sind und es darum geht »die Geschichte der Bauten sowie ihre Bedeutung für das NS-Gewalt- und Terrorsystem multiperspektivisch wahrnehmbar« zu machen, ist daher wohl weniger als Tatsache, denn als Appell zu verstehen.
Besonders einprägsam sind jene Texte, die sich mit dem denkmalpflegerischen Umgang mit den ungeliebten Gebäuden beschäftigen. Sie zeigen das Spannungsverhältnis von Bewahren/Erhalten und Transformieren/Umgestalten. Insbesondere die zwei Gespräche mit Paul Mahringer (Leiter der Abteilung für Denkmalforschung des Bundesdenkmalamts) sowie mit Walter Hauser (von 2014 bis 2023 Landeskonservator in Tirol) verdeutlichen sowohl die aktuellen Herausforderungen und die Komplexität der Aufgabenstellung als auch die Veränderungen im Denkmalbegriff (siehe dazu Philipp Oswalt: Über die Notwendigkeit symbolischer Eingriffe in schwierige Denkmale in dérive 96, S. 13–18).

Denn mit zunehmendem Abstand zur Entstehungszeit werden die Forderungen nach einer möglichst originalgetreuen Sicherung des Gebäudebestandes lauter und speziell bei den Gebäuden der NS-Zeit ist der Grat zwischen einer damit möglichen ›Überhöhung‹ und der Dokumentation und Sichtbarmachung der intendierten Propagandawirkung und Machtdemonstration besonders schmal.

Speziell nachvollziehbar wird dieses Spannungsfeld anhand der monumentalen Baulichkeiten für die Reichsparteitage in Nürnberg, welches Martina Christmeier (wissenschaftliche Mitarbeiterin des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände in Nürnberg) in ihrem Aufsatz aufzeigt. Sie zeichnet die Entstehungsgeschichte des Projekts von Günther Domenig nach, der sich 1998 mit seiner radikalen Intervention, die die Macht der rechten Winkel und Achsen durchbricht, im geladenen Architekturwettbewerb durchsetzen konnte. Aktuell wird das Dokumentationszentrum einer sowohl inhaltlichen als auch baulichen Neugestaltung unterzogen und an die heutigen Erfordernisse angepasst, die etwa eine größere Niederschwelligkeit als auch die Einbeziehung breiterer Kreise von Nutzer:innen ermöglichen sollen. Neben Nürnberg und Weimar weiten auch Beiträge über die faschistischen Baurelikte in Bozen sowie dem Tal der Gefallenen nahe Madrid – dem zentralen Herrschaftssymbol der Franco-Diktatur – den Blick über die Grenzen, der durchaus etwas ausführlicher ausfallen hätte können.

Die insgesamt sehr differenzierten und vielschichtigen Analysen öffnen die Augen für ein Themenfeld, dem bisher eher geringe Aufmerksamkeit zuteilwurde. Die Herausgeber:innen hoffen, dass in Zukunft »den steinernen Zeugen der 
NS-Terrorherrschaft in Österreich und Deutschland eine deutlich aktivere Rolle bei der Aufklärung und Vermittlung über die NS-Verbrechen« zukommen wird und die öffentliche Hand mit wegweisenden Projekten vorangeht.


Ingrid Böhler, Karin Harrasser, Dirk Rupnow, Monika Sommer, Hilde Strobl (Hg.)
Ver/störende Orte. Zum Umgang mit NS-kontiminierten Gebäuden
Wien, Berlin: Mandelbaum Verlag, 2024
25 Euro, 260 Seiten

dérive, Fr., 2024.10.18

18. Oktober 2024 Barbara Feller

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