Editorial

Im Dezember laden wir bereits zum 15. Mal zu einer Entdeckungsreise zu den Lieblingsprojekten der db-Redakteurinnen und Redakteure ein. Die Reise führt uns u. a. nach Berlin, München, Basel und Reutlingen. Auf dem Programm stehen Neubauten sowie Bestandsbauten aus dem Kultur-, Bildungs- und Wohnungsbereich.

Isarphilharmonie in München

Eine Philharmonie in Modulbauweise, einfach gebaut, rückbaubar und nach höchsten Ansprüchen der Akustik entworfen – geht das? Der Interimsbau der Isarphilharmonie samt denkmalgeschützter Halle könnte eine neue Ära der Konzertbauten einläuten. Nicht protzen, sondern bescheiden und kreislaufgerecht bauen.

Wie nähert man sich einem Konzerthaus, das man sich als Redaktionsliebling ausgesucht hat? Ich möchte mich zunächst von der Akustik der Münchner Isarphilharmonie überzeugen lassen und besuche daher ein Konzert. Als musikalische Begleiter dienen mir Elektra von Richard Strauss, ein Violinkonzert des Komponisten Erich Wolfgang Korngold und die Uraufführung »Balmung« von Ramos Triano. Es spielen die Münchner Philharmoniker unter der Leitung von Manfred Honeck mit der Violinistin María Dueñas. Der glasklare Klang ihrer hohen Streichertöne kommt besonders gut zur Geltung. Von den sanften Harfen bis zum großen Paukenschlag sind alle Instrumente präzise zu hören. Als ich nach der Pause Platz nehme, höre ich neben mir jemanden sagen, »…der Gasteig wird doch saniert, das hier ist der Übergangsbau.« Die Zwischennutzung scheint hier neben all der Musik ebenfalls ein Gesprächsthema zu sein.

Die im Oktober 2021 eröffnete Isarphilharmonie wurde in einer Bauzeit von lediglich 1,5 Jahren und mit einer Bausumme von nur 42 Mio. Euro errichtet. Der temporäre Bau ist Teil eines Ensembles, das sich Gasteig HP8 nennt (nach der Hans-Preissinger-Straße 8) und die denkmalgeschützte
Halle E sowie drei weitere Modulbauten umfasst: Saal X für Veranstaltungen, Haus K mit Restaurant und VHS-Räumen und Haus G mit der Hochschule für Musik und Theater München. Auf dem gesamten Gelände befindet sich ein Bestand aus Verwaltungs-, Gewerbe- und Werkstattbauten, in die sich auch Künstlerateliers eingemietet haben. Die Interimsbauten sollten eigentlich nur während der fünfjährigen Sanierungszeit des Gasteigs bestehen – eigentlich. Denn mittlerweile verzögert sich die Sanierung und das Publikum hat den Gasteig HP8 schon ins Herz geschlossen. Selbst Münchens OB Dieter Reiter ließ in seiner Eröffnungsrede anklingen, dass eine dauerhafte Lösung vorstellbar wäre. Der Neubau dient aktuell den Münchner Philharmonikern wie auch dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunkorchesters als Spielstätte. Das Rundfunkorchester soll später einmal in ein neues Konzerthaus ins Werksviertel ziehen, dessen Planungen nach längerem Stocken nun langsam wieder an Fahrt aufnehmen.

1. Satz: Die Trafohalle

Die öffentliche Verkehrsanbindung zum Gasteig HP8 ist nicht ganz optimal. Gute zehn Gehminuten benötigt man von der U-Bahn. Für Konzertbesucher stehen Shuttle-Busse bereit. Ich nähere mich von Norden her, vom stark befahrenen Mittleren Ring aus, in Richtung Vorplatz; im Rücken die mächtigen Schlote des Heizkraftwerks Süd der Stadtwerke München, der Eigentümerin des HP8-Geländes. Der Vorplatz trägt den Namen »Am Kulturkraftwerk«, wo »Kultur und Industrie« aufeinandertreffen. Im Westen schließt eine Blockrandbebauung ab und südlich geht das Areal in Gewerbe, Grünanlagen und Wohnen über. Von Osten her bildet der Isar-Werkkanal mit den Flaucheranlagen eine natürliche Barriere. Von hier aus sind die Gebäude besser zu erfassen: mit dem Duett aus Neu- und Altbau, dass sich wie ein Zwillingspaar sanft aneinanderschmiegt und nur durch eine gläserne Fuge verbunden ist. Dazu gesellen sich die drei kleineren Modulbauten und ergeben zusammen das Quintett. Die akustische Prüfung hat in meinen Ohren bestanden. Nun möchte ich mir tagsüber ein Bild vom HP8 machen. Ich treffe mich im Foyer der Halle E mit Christian Hellmund, gemeinsam mit Stephan Schütz verantwortlicher Architekt und Partner im Büro gmp, und Detlef Jessen-Klingenberg, Head of Communications. Für mittwochs 9:30 Uhr ist hier erstaunlich viel los. Eine Generalprobe kündigt sich an und erwartungsgemäß ist das Publikum über 60 Jahre. Doch es mischen sich viele junge Menschen darunter, denn die ehemalige Trafohalle vereint vielerlei Funktionen unter einem Dach, und das ist das erklärte Ziel, so Christian Hellmund. Denn man wolle bewusst die Nutzungen durchmischen, um die Halle sowohl tagsüber als auch abends zu bespielen. Die Halle E ist ein offener, großzügiger Atriumraum mit drei Galerieebenen. Das EG dient als Eingangs- und Pausenbereich mit Gastronomie, wird aber auch für Veranstaltungen, wie z. B. Lesungen, genutzt. In den oberen beiden Ebenen sind die Stadtbibliothek untergebracht, die ebenfalls aus dem Gasteig ausziehen musste, sowie Tonstudios, Werkstätten, Seminarräume und offene Lese- und Lernplätze. Die oberste Ebene ist für interne Büroarbeitsplätze und Besprechungen reserviert. Auch während meines Konzertbesuchs am Samstagabend (!) wurde die Bibliothek vom jungen Publikum überraschend gut angenommen.

Einst wurden in der 1929 errichteten Halle E Transformatoren gelagert. Im Krieg zerstört, stammt viel Bausubstanz aus der Nachkriegszeit und durfte aufgrund des Denkmalschutzes nicht verändert werden. Alle neuen Einbauten wie Sitztribüne, Bar, Geländer oder Leuchten sind reversibel, die Bücherregale aus hochwertigen Pappmöbeln. Der separate Filmvorführungssaal »Projektor« im EG, die Tonstudios und Werkstätten sind mit einer demontierbaren Pfosten-Riegel-Konstruktion schalldicht ausgeführt. Die originalen Fenster wurden restauriert und an der Westfassade aus Gründen des sommerlichen Wärmeschutzes mit großen, theatralisch anmutenden Vorhängen verkleidet. Farbig auffälligstes Element sind die blauen Brüstungsgeländer aus Eisenblechen, die lediglich gereinigt und an einem Ende ergänzt wurden. Das demontierbare, etwas robuste Geländer dahinter dient heutigen Sicherheitsstandards. Beeindruckend ist das restaurierte Oberlicht, das den kathedralartigen Raum mit Tageslicht durchflutet und an alte Bahnhofshallen erinnert. Es wirkt alles echt und ehrlich, nichts wird kaschiert: die alten, kaum noch sichtbaren, farbigen Wegmarkierungen auf dem Boden; der originale, ausgebesserte Industrieboden, der bis in die Toilettenräume und auf die erste Ebene führt; die abgeblätterte rosa Farbe am Geländer im Treppenhaus. Die große rote Stahlklappe im Boden und ein Stück Schienentrasse sind Relikte industrieller Nutzung. Die gelbe Kranbahn, die während des Umbaus als Baukran genutzt wurde, bekam ein zweites Leben als Aufhängevorrichtung für Traversen. Alles ist so untypisch für das Foyer eines Konzerthauses.

2. Satz: Die schwarze Schatulle

Wir schreiten in Richtung Philharmonie von einer Dimension in die nächste. Verbunden werden Alt- und Neubau durch die bereits erwähnte Glasfuge, die den schmalen Zwischenraum mit Tageslicht füllt. Dachten die Architekten etwa an Johann Sebastian Bachs »Kunst der Fuge«, eine gern genutzte Allegorie zwischen Architektur und Musik? Eine Sinfonie aus »Himmelsleitern« formiert sich und erschließt als Treppenaufgänge, um 90 Grad gedreht, die oberen Ränge des Konzertsaals. Profilglas lässt Tageslicht hinein und ist im Zwischenraum mit einer Lichtschutzfolie ergänzt, um die Innenräume nicht aufzuheizen und die Lichtemission für Anwohner und Umwelt zu reduzieren.

Wir tauchen tiefer hinein in das geheimnisvolle Innere, das wie ein abgehängter Kokon in seiner Schale schwebt. Der Saal überrascht durch seine Dimensionen, die von außen nicht ablesbar sind. Zentrales Element sind die Brettsperrholztafeln, die werkseitig vorgefertigt, vor Ort montiert und dunkel lasiert wurden. Deren geschuppte Abfolge dient der besseren Verteilung der Schallreflexion im Raum. Auf jeder einzelnen Tafel wiederum sind horizontale Fichtenholzleisten angebracht, deren Komposition an ein dynamisches Spiel aus Noten und Pausen auf Notenlinien erinnert. Hinter der Akustikplanung steht Yasuhisa Toyota, der für die Akustik der weltweit renommiertesten Konzertsäle verantwortlich ist. Er gab den Duktus vor und entwickelte in enger Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro die polygonale Raumgeometrie und die diffusen, rauen Oberflächen. Christian Hellmund erläutert, dass es Toyota wichtig war, Masse zu schaffen, damit die Schallenergie möglichst lange im Saal verbleibt und die Wände nicht schwingen. Die abgehängten, ebenfalls geschuppten Holzdecken sind mit bis zu
160 kg ungewöhnlich schwer. Die kompakte, dichte Holzschatulle führt zu knappen Nachhallzeiten und einem intensiven Klang, der für den Akustikmeister charakteristisch ist. Alexandra Gruber, die Soloklarinettistin der Münchner Philharmoniker, beschrieb den Klang als »klar, aber nicht kalt«. Es war Toyota, der zur Korrelation zwischen dem Akustischen und Visuellen treffend formulierte: »Ein Publikum, das gut sieht, hört auch gut.« Man spricht auch vom »emotionalen Hören«. Die uneingeschränkte Sicht auf das Orchester fiel mir während meines Konzertbesuchs positiv auf. Das liegt am durchlässigen Brüstungsgeländer aus grobmaschigem Seilnetz, das zwar für ein Konzerthaus ungewöhnlich ist, zum industriellen Gesamtbild aber passt und v. a. freien Durchblick gewährt.

Bei der Gestaltung eines Konzertsaals geht man von zwei Varianten aus: der Schuhschachtel und dem Weinberg. In der Schuhschachtel sitzt das Orchester am Ende des Saals, beim Weinberg formiert sich das Publikum rund um die Bühne. Diese war in der Isarphilharmonie ursprünglich mittig geplant, es sollte eine intime Atmosphäre entstehen. Die Weinbergvariante wurde aber aus akustischen Gründen verworfen und letztendlich lag es in der Entscheidung des Betreibers, da man sonst die gewünschte Kapazität von über 1 950 Besucher:innen nicht erreicht hätte und auch die Möglichkeit zur wirtschaftlichen Mehrfachnutzung durch zwei Orchester und Roadshows nicht gegeben wäre. So entstand eine Mischung aus beiden Saalformen, die trotzdem die gewünschte Nähe zum Orchester schafft, da es etwa 100 Plätze gibt, die die Bühne umfließen. Kein Platz ist mehr als 33 m von der Bühne entfernt (im Gasteig waren es 66 m). Der helle Bühnenholzboden und die dunklen Wände und Decken lenken die Aufmerksamkeit auf das Orchester. Mechanische Podien können die Bühne so weit anheben, dass diese sich nahezu mit dem dahinterliegenden Chor vereint.

Immer wieder erwähnt Christian Hellmund als Inspirationsquelle den Dresdner Kulturpalast von gmp, etwa bei der Mehrfachnutzung der Halle E oder der Bühnenausrichtung. Von diesem Umbauprojekt habe man einiges an Erfahrung in die Planung einbringen können.

Die wirtschaftliche Konstruktion entspricht dem Einfach-Bauen-Prinzip. Hierfür holte sich gmp als Generalplaner mit schlaich bergermann partner und IB Hausladen renommierte Expert:innen ins Boot. Der Neubau ist als Haus-im-Haus konzipiert. Ein Stahltragwerk mit aufgesetzten Fachwerkbindern bildet mit der Gebäudehülle zusammen die äußere Hülle. Darin integriert ist der innere Raum des Konzertsaals aus einem akustisch entkoppelten Stecksystem aus Vollholz-Elementen. Die Entkopplung dient der Akustik und Vereinfachung des Bauablaufs. Der umlaufende Bereich zwischen Saal und Fassade erfüllt als Puffer die hohen klimatischen und akustischen Anforderungen. Demontierbar und daher sichtbar sind auch die Installationen. Ein Techniktunnel unter dem Parkett versorgt die Philharmonie mit Quellluft. Insgesamt sind die Transportwege der Lüftung möglichst kurz. Die angedockte Technikzentrale an der Stirnseite erlaubt eine reibungslose Wartung von außen. Zur nächtlichen Kühlung und Querlüftung in Halle E dienen zwei zusätzliche, wie Insektenschutzgitter gestaltete Außentüren, die im Sommer nachts geschlossen werden, während die Haupttüren geöffnet bleiben. Von außen zeigt sich der Neubau mit seiner hellgrauen Systemhülle aus Sandwichpaneelen als reiner Zweckbau. Einen Konzertsaal vermutet man nicht dahinter. »Wir hätten uns bei den drei kleineren Modulbauten natürlich eine architektonisch ambitioniertere Gestaltung der Fassaden gewünscht«, meint Hellmund. Letztlich reichte das Budget nicht. Da man das gedeckelte und knappe Budget für den Gasteig HP8 von insgesamt 70 Mio. Euro einhalten wollte, steckte man das Geld statt in die temporären Modulbauten lieber in die nachhaltige Sanierung der Halle E.

3. Satz: Das Ensemble

Wieder im Freien angelangt, stellt sich mir die Frage, was sich vorher auf dem Platz befand. Wurde etwa ein Gebäude abgerissen? »Nein«, meint der Architekt, »hier stand ein Tanklager, das einem Großbrand zum Opfer fiel und komplett zerstört wurde.« Der Bauschutt inklusive Ölauffangwanne wurden asphaltiert und die Fläche viele Jahre als Bauhof und Stellplatz genutzt. Daher entwickelte gmp in Zusammenarbeit mit sbp eine Pfahlgründung ohne Unterkellerung, die neben der Standfestigkeit im Isartal Vorteile im Bauablauf bot.

Während der Zeit des Planens und Bauens holte man die umliegenden Nutzer:innen ins Boot, darunter Architektur- und Designbüros, Kreativschaffende und sogar die auf dem Gelände lang ansässigen Autowerkstätten. »Das Reifencenter von Herrn Sendjak wurde während der Bauarbeiten durchaus beeinträchtigt«, plaudert Hellmund aus dem Nähkästchen. »Da kam die Idee mit dem Konzertbesuch plus Reifenwechsel.« Kein Witz – das Angebot wird immer wieder aufgegriffen und sowohl Sendjak als auch sein Nachbar, der Oldtimer repariert, sind nun vollends in den Interimsbetrieb des Gasteig integriert. Durch das Fügen der einzelnen Module entstehen spannungsvolle Zwischenräume, die entweder als Außenterrasse zwischen Saal X und Haus K oder als Verkehrswege genutzt werden. Kurze Wege führen zu einer reibungslosen Logistik bei mehreren Aufführungen. Gerne hätte man die Außenterrasse in Richtung Wasser erweitert. Was anfangs nicht genehmigt wurde, ist erfreulicherweise wieder im Gespräch. Ein ursprünglicher Entwurf sah vor, einen der Modulbauten auf dem Vorplatz zu errichten. »Gut, dass der Betreiber davon abgewichen ist, denn nun hat man einen großzügigen Raum für die Eingangssituation geschaffen«, so der Architekt. Auf der alten Laderampe vor Halle E, der als Außenbereich des Cafés dient, genießt man seinen Aperol im Schatten des Kraftwerks.

4. Satz: Das Finale

München prahlt und zeigt gerne, was es hat. Und hierbei präsentiert sich die Isarphilharmonie herrlich unaufgeregt und entfaltet ihre wahren Qualitäten im Innern. Insofern passt der Vergleich von Volkwin Marg »von der wertvollen Violine im Geigenkasten«. Ein schwarzes Schmuckkästchen. Mit dem Gasteig HP8 ist gmp Architekten ein virtuoses Meisterstück gelungen, und manch einer versteht nicht, warum dieses schon bald der Vergangenheit angehören soll. Beide Szenarien sind denkbar: Wenn ein temporärer Bau zu einem dauerhaften wird – ist es dann nicht die beste Würdigung? Sollten die Interimsbauten doch rückgebaut werden, entspräche es der eigentlichen Idee des modularen Bauens im zirkulären Sinne: Mission erfüllt. Was auch passiert, dieses auf den ersten Blick unscheinbare Gebäude steht als Kontrapunkt zu all den großen und überteuerten Konzerthallen dieser Welt. Die Isarphilharmonie hat das Potenzial, zum Vorbild für eine neue Art von Konzerthaus zu werden und trifft genau den Zeitgeist einer bescheidenen, angemessenen Architektur. »Zugabe, Zugabe!«

db, Fr., 2023.12.01

01. Dezember 2023 Emre Onur

Pavillon »Blaue Stunde« in Berlin

Der lange Jahre brach liegende Spreepark Berlin wird nach und nach zu neuem Leben erweckt. Im Rahmen der nötigen Sicherungsmaßnahmen wurde das Restaurant entkernt und die früher verborgene Tragstruktur erstrahlt in neuem, leuchtend blauem Glanz.

Ab 1969 gab es einen ständigen Rummelplatz im Plänterwald, in unmittelbarer Nähe zum Treptower Park in Berlin: Der »VEB Kulturpark« war der einzige Freizeitpark der damaligen DDR. Ab 1992 wurde er dann im wiedervereinten Berlin als Spreepark betrieben, bis 2001 die Betreiber Insolvenz anmelden mussten. Darauf folgte eine wilde Zeit, in der die damalige Pächterfamilie nicht nur mit Geld, sondern auch einzelnen Fahrgeschäften nach Peru umzog oder wohl eher flüchtete. 2014 kaufte das Land Berlin die Liegenschaft zurück. Seit 2016 ist die landeseigene Grün Berlin GmbH zuständig und dabei, dem Park wieder Leben einzuhauchen. Seit 2020 finden bereits einzelne Veranstaltungen und Führungen statt, bis 2026 ist die komplette Wiedereröffnung geplant. Die Herangehensweise erinnert ein wenig an eine Hochzeit: etwas Altes, etwas Neues, etwas Geliehenes, etwas Blaues. Alt ist der Park an sich und insbesondere einige erhaltene Teile, wie z. B. das Eierhäuschen, das neben Gastronomie auch Ausstellungs- und Wohnräume für Künstler:innen beherbergt. Neu sind zahlreiche Interventionen von Künstler:innen, betreut und organisiert vom Spreepark Art Space. Dieser untersucht, wie Stadt- und Freiraumentwicklung einerseits und Kunst andererseits voneinander profitieren können. Es gibt einzelne Kunstaktionen, aber auch dauerhafte Projekte, zu denen u. a. die Blaue Stunde gehört. Geliehen hatten sich die früheren Betreiber einiges an Geld. Und Blau erstrahlt das ehemalige Schnellrestaurant, die sogenannte Mero-Halle. Namensgebend dafür war der Meroknoten: ein Raumfachwerk, bei dem Stahlrohre in vorgegebenen Winkeln in kugelförmigen Verbindungselementen zusammengesetzt werden. Viel mehr als diese Struktur und die Bodenplatte ist auch nicht übrig vom Bestandsgebäude. Verantwortlich zeichnet das Büro modulorbeat aus Münster, das nach eigenen Angaben irgendwo zwischen Kunst, Architektur und Urbanismus angesiedelt ist. Und »dazwischen« befindet sich auch das Gebäude, das in Anlehnung an die Dämmerung als Zwischenzustand und Transformation den Namen »Blaue Stunde« trägt.

Grundlage war ein Rahmenplan der Arbeitsgemeinschaft Latz + Partner – Riehl Bauermann unter Mitarbeit von LOMA architecture landscape urbanism, der bereits eine Entkernung der Halle vorsah, diese aber anhob und u. a. auch eine neue Bodenplatte plante. Diese Anlehung an den Rahmenplan mag manch eine:r kritisch sehen, aber ganz ehrlich: Bleibt man nah am Masterplan, ist es geklaut; macht man es anders, ist es ignorant. Allen recht machen kann man wohl es nie.

Nicht-Bauen als Bauaufgabe

Modulorbeat stieg 2020 ein. Da stand bereits fest, dass die Halle so nicht zu halten ist und zumindest die Tragstruktur zu sichern wäre, wollte man sie weiterhin nutzen. Dach und Wände wurden entfernt, der Boden jedoch blieb drin. Es sind keine wirklichen archäologischen Spuren, aber Zeugen der Vergangenheit. So kann man anhand der Lücken im roten Fliesenboden heute noch sehen, wo sich früher die Toiletten befanden, oder erahnen, wo in der Küche großes Gerät stand oder Rohre verliefen. Die eine oder andere Unebenheit wird bei Regen sichtbar, wenn sich Pfützen bilden, in denen sich die Konstruktion spiegelt. Die Blaue Stunde interagiert immer wieder unterschiedlich mit ihrer Umgebung. Je nach Tages- und Jahreszeit wirkt die Farbe etwas anders, zwischen geplantem und angelegtem Grün bahnt sich Spontanvegetation ihren Weg, die Vorhänge wehen im Wind. Gerade dieses Improvisierte und Experimentelle macht den Charme dieses (Nicht-)Gebäudes aus.

Die besagte und namensgebende Farbe ist nicht nur ein Blickfang, sondern in erster Linie dringend nötiger Korrosionsschutz. Die Tragstruktur wurde an manchen Stellen ertüchtigt und ergänzt und anschließend enzianblau gestrichen. »Natürlich hätten wir auch eine andere Farbe nehmen können. Rot war irgendwie naheliegend, hat man jetzt aber auch oft gesehen. Blau fanden wir einfach gut und passt in den Park hinein«, so Jan Kampshoff, einer der zwei Gründer von modulorbeat. Insgesamt ist das Projekt von einem sehr angenehmen Pragmatismus geprägt. »Wenn ich keinen Innenraum brauche, baue ich auch keinen«, erklärt Kampshoff die komplette Abwesenheit von Wänden. Dieses Nicht-Bauen muss man sich erst einmal trauen. Aber wo ist das besser möglich als in einem Berliner Freizeitpark, der noch dazu vom Spreepark Art Space explizit als Forschungs- und Entdeckungsprojekt gedacht ist? Modulorbeat sieht darin auch weniger eine architektonische als eine kuratorische Aufgabe: »Es ist im Prinzip alles schon da. Wir verknüpfen und vernetten und machen den Raum wieder nutz- und erlebbar«, beschreibt Kampshoff seine Rolle. Und sie waren keineswegs untätig: Sie teilten die Halle bzw. das, was von ihr übrig blieb, in zwölf gleich große Quadrate auf – ein wenig wie ein Spielfeld. Die Blaue Stunde ist Spielwiese, Experimentierfeld, Erprobungsraum. Als »Spielmaterial« stellten sie fünf gerade und drei runde Bänke auf, hängten drei Vorhänge, die innerhalb ihres Rasterstücks verschiebbar sind, auf und setzten der Konstruktion zwei transluzente Kunststoffdächer auf. So sind manche der Quadrate stärker abgetrennt als andere. Der Raum passt sich an, je nach Nutzung. Wenn der Spreepark ab 2026 regulär geöffnet ist, wird hier vermutlich entspannt Pause gemacht und vom Blauen ins Grüne geschaut.

Temporär als Chance

Ursprünglich war die Blaue Stunde als temporäre Lösung geplant. Manchmal überzeugen die Übergangslösungen dann aber so sehr, dass sie bleiben dürfen – so wie hier. Auf die Frage, was man denn nun noch ändern wolle oder müsse, um es dauerhaft zu nutzen, waren sich Betreiber und Architekt recht einig: Ach, also eigentlich nix, oder? Gegebenenfalls könnte man die hölzerne Unterkonstruktion der zwei Kunststoffdächer austauschen, da sie nicht unbedingt auf Langlebigkeit ausgelegt war. Hier kann man noch nachlegen, muss man aber (noch) nicht. Dieser Mut zum Experiment tut gut. Vermutlich liegt da auch die Chance. Hätte man das Projekt von vornherein langfristig angelegt, wäre manches vielleicht gar nicht möglich gewesen.

db, Fr., 2023.12.01

01. Dezember 2023 Anke Geldmacher

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