Editorial

In dieser Ausgabe gibt das Material den Ton an. In Zeiten, in denen lokale Baustoffe ein Revival erleben, bringt ihre Anwendung dennoch Neues hervor: Schiefer, der scheinbar schwebt. Ziegel, die das Außen und Innen verschwimmen lassen. Keramikplatten, die in der Produktionsstraße wie Spritzgebäck in langen Strängen entstehen. Holzschindeln, die Dach und Fassade gleichsam bedecken. | Die Redaktion

Wahrhaftig nachhaltig

(SUBTITLE) Neues Besucherzentrum von Rapunzel

Das neue Besucherzentrum eines Herstellers für Bio-Lebensmittel von Haas Cook Zemmrich Studio 2050 ist sowohl Begegnungsort als auch Bildungsstätte. Vor allem aber bietet es vielschichtige Erlebnisräume in einer authentischen und nachhaltigen Materialwelt.

Wenn einer der Pioniere für Bio-Lebensmittel ein Besucherzentrum mit Museum, Supermarkt, Restaurant und Räumen für Events und Veranstaltungen eröffnet, dann wirft das Fragen auf. Noch dazu in einem ziemlich unscheinbaren Ort im Unterallgäu zwischen Memmingen und dem Bodensee. Wozu braucht »Rapunzel« so etwas überhaupt? Und wie lassen sich die ideellen und ökologischen Ansprüche in ein Gebäude übersetzen?

Angefangen hat alles im Jahr 1974 auf einem Bauernhof 50 km westlich von München. Ohne Businessplan, aber voller Ideen gründeten Jennifer Vermeulen und Joseph Wilhelm eine Landkommune. Ihre Motivation war allumfassend: Sie wollten die industrialisierte Ernährung hinter sich lassen und stattdessen einen Beitrag für eine gesündere Welt leisten.

Ideale statt Nabelschau

Ein Jahr später produzierten sie Müsli, Nussmuse und Fruchtschnitten und eröffneten in Augsburg den Naturkostladen »Rapunzel«. Den Namen entlehnten sie dem in Süddeutschland verbreiteten Wort für Feldsalat. Auf der Welle der gerade entstehenden Bio-Bewegung expandierte man so Schritt für Schritt zu einem Unternehmen mit heute 500 Mitarbeitern. Als Stammsitz und wichtigster Produktionsstandort dient seit 1985 ein ehemaliges Milchwerk in Legau.
Joseph Wilhelm, noch immer geschäftsleitend tätig, spricht davon, ein »Testimonial für einen anderen und mutigeren Lebensstil an den Schnittstellen zwischen ökologischem Landbau, gesunder Ernährung und sozialer Verantwortung zu schaffen«.

Dass es bei der »Rapunzel«-Welt um mehr als eine Nabelschau geht, zeigt die aktuelle Veranstaltungsvorschau. Neben Ayurveda-Kochkursen und Yoga stehen auch Kino, Lesungen und »Hippie-Partys« auf dem Programm. Von der Hauptstraße Legaus kommend, treffen die Besucher auf ein im Grundriss Y-förmiges Gebäude, das auf Anhieb eine angenehme Wärme ausstrahlt. Dieser Eindruck entsteht insbesondere durch das wellige, bis auf die im Erdgeschoss umlaufende Glasfassade heruntergezogene Dach. Hinzu kommt die Dachdeckung.

Authentische Materialien

Sie besteht aus 120 000 Schindeln, die dank der Vielzahl verschiedener Farbtöne von Ocker bis Rostbraun eine flirrende Kleinteiligkeit erzeugen. Dass es sich hierbei nicht um Holzschindeln, sondern um Biberschwanzziegel handelt, ist erst auf den zweiten Blick auszumachen. Diese Überraschung macht neugierig auf mehr. Über den zum Ort orientierten »Marktplatz« mit leise plätscherndem Brunnen gelangen die Gäste direkt in die zentrale zweigeschossige Eingangshalle. Hier herrscht geschäftiges Treiben. Denn die Halle ist im Erdgeschoss zugleich Restaurant mit rund hundert Sitzplätzen sowie Dreh- und Angelpunkt für die räumliche Verknüpfung aller Bereiche im Haus.

Vielfältige Sichtbezüge ins Freie und zu den durch Glaswände einsehbaren Erdgeschossnutzungen, vor allem für die Kaffeerösterei, die Bäckerei, sowie den Bio-Supermarkt sind wichtig für die behagliche Atmosphäre. Sie verschaffen den Gästen sofort einen guten Überblick und erleichtern die Orientierung. Entscheidend für die Raumwirkung ist aber der authentische Materialeinsatz.
Die Architekten des Stuttgarter Büros Haas Cook Zemmrich Studio 2050 verwenden sämtliche Oberflächen materialsichtig – verunklärende Anstriche oder undefinierbare Verbundwerkstoffe sind nicht auszumachen. Der Boden ist als geschliffener Terrazzoestrich mit grünen Andeer-Steinsplittern ausgeführt. Wände und Decken erscheinen in Sichtbeton. Die lange Ausgabetheke des Restaurants, die Brüstungen zur Galerieebene im 1. OG und die Untersicht der Dachschräge sind mit Eichenholz bekleidet.

Hinzu kommen von einem Allgäuer Möbelschreiner angefertigte Massivholz-Sitzbänke, -Stühle und -Tische. Letztere verfügen zum Teil – ebenso wie die Ausgabetheke – über Marmor-Tischplatten. Im Zusammenspiel ergibt sich ein wohltemperiertes Ensemble, das zugleich gemütlich und geradlinig-modern, unprätentiös und gewollt wirkt. Und das alles in einer sinnlichen Präzision, die die Wertschätzung für das Material und das traditionelle Handwerk eindeutig zum Ausdruck bringt.

Attraktion Wendeltreppe

Den wichtigsten gestalterischen Akzent in der Eingangshalle setzt die 12 t schwere, zugleich federleicht wirkende Wendeltreppe in der Raummitte. Sie ist 14 m hoch und besteht aus tragenden Außen- und Innenwangen aus Fichten-Brettschichtholz, die mit 5 mm starkem Eichenholzfurnier bekleidet sind. Einerseits erschließt sie die Besucherbereiche im UG, also Weinkeller, Bar, Garderobe und Toiletten. Andererseits führt sie ins 1. OG zu drei Veranstaltungsräumen und einem Museum rund um das Thema Bio. Die Bereiche sind von den Architekten und vom Atelier Markgraph in derselben Leichtigkeit und Detailverliebtheit gestaltet wie der Rest des Hauses. Interaktive Stationen zu ökologischem Landbau, gesunder Ernährung und fairem Handel sind hier ebenso zu finden wie zum Thema Lebensmittelverschwendung.

»Nachwachsenden oder wiederverwertbaren Baustoffen wurde, wann immer möglich, der Vorzug gegeben«, sagt Architekt Martin Haas in einem Interview für eine Art Reisetagebuch, mit dem »Rapunzel« die Entstehungsgeschichte des Besucherzentrums dokumentiert. Der Terrazzoestrich ist über einer Ausgleichsschicht aus Glasschaumzement angelegt und nicht mit kunststoffbasiertem Epoxidharz, sondern mit einer Schutzschicht auf silikatischer Basis versiegelt. Zur Wärmedämmung der Dachflächen kam Zellulosedämmung zum Einsatz.

Der Beton für das Tragwerk des Gebäudes stammt aus einem nur 14 km entfernten Sand-, Kies- und Transportbetonwerk. Und für das mit natürlichen Ölen behandelte Parkett im 1. OG wurden Eichenholzabfälle verwendet, die beim Bau der Treppe anfielen - und das, obwohl ein Angebot für billigeres neues Holz vorlag.

Ziegel statt Lärchenholz

Jede Materialentscheidung kam bereits während der Entwurfsphase auf den Prüfstand. »Wir haben eine Ökobilanz erstellt und die Materialien nach eingebundener Energie, der Wiederverwertbarkeit und dem Transport gewählt«, so Haas.

Dies führte bei der Wahl der Dachdeckung zur Entscheidung für die gebrannten Tonziegel und gegen den ursprünglichen Favorit Lärchenholz. Bezogen auf den gesamten Lebenszyklus erwiesen sich die Ziegel als nachhaltigere Lösung: Sie bestehen ebenfalls aus einem Naturprodukt (Ton), sind aber wetterfest, langlebig und nicht brennbar. Zudem eignen sie sich besser für die weniger stark geneigten Bereiche. Die typische variationsreiche Farbigkeit der Dachflächen entstand einerseits durch die unregelmäßige Beschichtung mit einer flüssigen Tonmineralmasse (Engobe), andererseits durch das unregelmäßige Untersortieren etwas längerer Ziegel.

Den Gästen der »Rapunzel«-Welt steht nicht nur mehr als drei Viertel aller Innenräume offen. Im Sinne eines ganzheitlichen Besuchererlebnisses ist auch die komplette, großflächig begrünte Dachfläche zugänglich. Im Wortsinn den Höhepunkt bildet die Dachterrasse über den Mehrzweckräumen im 2. OG. Hier, im höchstgelegenen Gebäudeteil, ordneten die Architekten ein »Krähennest« an, von dem aus sich die direkt benachbarten Produktionsanlagen ebenso gut überblicken lassen wie das Allgäuer Umland. Umgekehrt definiert dieser Bereich mit einer bis zu 21 m hohen Fassade eine weithin sichtbare Landmarke in der Landschaft.

Vom Dach führt der Weg über Treppen schließlich schrittweise zu den rückwärtigen Freiflächen und von dort zurück zum Haupteingang. Dieser architektonische Rundgang steht sinnbildlich für das Ideal von Rapunzel, in Kreisläufen zu denken und den Menschen mit gutem Beispiel voranzugehen. Insofern ist das Besucherzentrum tatsächlich mehr als eine Nabelschau. Es ist vielmehr der ernst gemeinte, aber eher spielerisch als überheblich formulierte Versuch, die Menschen zu sensibilisieren: für einen respektvollen Umgang mit ihren Mitmenschen und den endlichen natürlichen Ressourcen unseres Planeten.

db, Do., 2023.07.06

06. Juli 2023 Roland Pawlitschko

Kultur als Retter?

(SUBTITLE) Theaterneubau im spanischen Illueca (E)

In der spanischen Provinz haben Magén Arquitectos einen beeindruckenden Bau realisiert, der alle Erwartungen erfüllt. Entstanden ist ein Theater von hoher Qualität, das sich in seiner Materialität gut in die Altstadt einfügt.

Architektur hat manchmal sehr schwierige Aufgaben zu erfüllen. Wir erinnern zum Beispiel an den viel zitierten Bilbao-Effekt – eine Umschreibung für die gezielte Aufwertung von Städten durch spektakuläre Bauten. Mit diesem Begriff benennt man die städtebauliche Situation in Bilbao im Zusammenhang mit dem im Jahr 1997 fertiggestellten Guggenheim-Museum des US-amerikanischen Architekten Frank O. Gehry.

Bilbao, eine Stadt, die unter dem Niedergang ihrer bedeutenden Industrie zu leiden hatte, erfand sich neu und ließ sich von dem amerikanischen Architekten Frank O. Gehry eine spektakuläre Architekturikone bauen. Diese Architektur wurde zum Symbol für die Neuerfindung der Stadt, die heute zu einer der bekanntesten Städte der Welt zählt.

Lernen von Bilbao?

Der Bilbao-Effekt wurde oft kopiert und fast immer ging es schief. Warum erzählen wir hier davon? Weil auch kleinere Städte versuchen, diesen Effekt zu kopieren, um ihre wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, also ihre Lebensfähigkeit, zu erhalten. Ein ähnlicher Versuch, städtisches Leben durch Architektur zu fördern, startete im spanischen Illueca. Die Kleinstadt mit weniger als 3 000 Einwohnern liegt westlich von Zaragossa und ist das Verwaltungszentrum von Aranda, einem der am dünnsten besiedelten Gebiete Aragoniens. Jahrhundertelang lebte man hier als landwirtschaftliche Selbstversorger.

Um der Entvölkerung entgegenzuwirken und Freizeitangebote zu schaffen, schrieb der Stadtrat einen Wettbewerb für den Bau eines Theaters an der Stelle des alten Kinos aus. Obwohl Aragonien die viertgrößte Region Spaniens ist, gibt es keine Strände und eine eintönige Landschaft.

Das Fehlen jeglichen Massentourismus lässt diesen Teil des Landes sehr ursprünglich erscheinen. Trotzdem sucht man sein Heil im Tourismus, denn es fehlen schlicht Alternativen. Um das kulturelle Leben in Illueca zu fördern, schrieb die Stadtverwaltung einen Wettbewerb aus: Auf dem Gelände eines alten Kinos – wer braucht heute noch Kleinstadtkinos – sollte ein gemeinsamer Veranstaltungsort für Theater, Konzerte und Filmvorführungen entstehen, mit Platz für eine Musikschule und einem Proberaum für die Musiker des Ortes.
Den Wettbewerb gewann 2016 das Büro Magén Arquitectos aus dem nahe gelegenen Zaragoza, das von den Brüdern Jaime und Francisco Javier Magén geleitet wird. Das erfolgreiche Büro der beiden arbeitet bevorzugt in Spanien und Deutschland und wird international wahrgenommen.

Ziegel als Fassadenmaterial

Die geforderten 1 000 m² Nutzfläche wurden in ein Volumen gepackt, das im Inneren große Räume zulässt, von außen aber als kleinteilige und kleinstädtische Struktur wahrgenommen wird. Der Baukörper umschließt den vorher vom Kino besetzten städtischen Block entlang der östlichen Innenstadtgrenze und schließt im Norden an die dortige Wohnbebauung an. Die schmalen innerstädtischen Wege und die Blockränder wurden neu definiert. An der Stelle des Eingangs ist die Fassade zurückgesetzt und definiert auf unaufdringliche Art den Eingang zum Haus.

Die benachbarte Ruine des alten Kinos erschien den Eigentümern angesichts des Neubaus wohl zu schäbig, sodass hier ein Reinemachen durch Abriss stattfand. Eine städtebauliche Maßnahme, die noch nicht abgeschlossen ist. Lediglich eine neue Mauer grenzt die benachbarte innerstädtische Brache ab. Ob die Aufwertung des kulturellen Lebens in Illueca gelingt, wird auch davon abhängen, wie sich die unmittelbare Nachbarschaft weiterentwickelt. In jedem Fall haben die Architekten die Messlatte für die weitere Entwicklung dieses Areals hoch gelegt.

Um sich den ortsüblichen, massiv gebauten Fassaden mit ihren klein dimensionierten Fensteröffnungen anzupassen, wählten die Architekten den Ziegel als Fassadenmaterial und setzten zugleich auf die innenarchitektonischen Qualitäten dieses schönen Werkstoffes. Aus dem Foyer ergeben sich fein temperierte Ausblicke, die daraus resultieren, dass dieser Bau trotz massiver Ziegelwände außen und innen, sowie einer Sichtbetondecke eine grazile innenräumliche Ausstrahlung hat.

Unterschiedliche Ziegeloberflächen

Lochziegelwände, hinter denen sich eine Glasfassade mit Holzprofilen verbirgt, lockern die Fassade auf. Abhängig vom Sonnenstand beleben die dadurch entstehenden Schattenspiele die Wände. Gleichzeitig sind kleinformatige, pointiert gesetzte Fenster in die Fassade eingelassen. Sie wirken wie zufällig entstanden und zitieren damit die gebaute Nachbarschaft, deren Fassaden von unzähligen Umbauten erzählen.

Die Kleinteiligkeit der Fassade setzt sich im Inneren fort. Durch die Verwendung unterschiedlicher Ziegeloberflächen und -formate im Wechsel mit verputzten Wandflächen wirkt das Foyer wie ein überdachter städtischer Platz. Da die unmittelbar angrenzende, bebaute Nachbarschaft eine entsprechende Qualität noch vermissen lässt, hält man sich hier gerne auf. Das ist letztlich das Ziel des Auditoriums: Durch hochwertige Architektur eine Aufenthaltsqualität zu bieten, die dieses Haus mit Leben füllt. Ganzglasgeländer flankieren die Wege in den oberen Geschossen und steigern die Transparenz. Auch wenn wir uns wiederholen: Trotz massiver Wandscheiben und einer schweren Sichtbetondecke ist das im Grunde ein leicht wirkendes Haus.

Aufenthaltsqualität

Das eigentliche Theater mit seiner akustisch wirksamen, perforierten Holzverkleidung, der roten Bestuhlung und dem geschwungenen Dach unterstützt traditionelle Sehgewohnheiten. Der Saal bietet Platz für 224 Zuschauer, eine durchgehende Bestuhlung mit verschiedenen Bereichen, darunter ein leicht ansteigendes Parkett und Balkone im Oberrang.

Ob die seitlichen Balkone an allen Plätzen die notwendige Theaterqualität einer guten Sicht auf die Bühne bieten, darf bezweifelt werden. Zumal die Einzelsitze auch dem gemeinsamen Erleben entgegenwirken. Etwas Dialog braucht auch der Zuschauer, solange er diskret ist und nicht stört.

Die rote Bestuhlung zitiert die Farbe des Backsteins, ansonsten ist der Verzicht auf farbige Flächen einer der Gründe für die zurückhaltende Qualität des Auditoriums. Lässt sich der Bilbao-Effekt mit überdurchschnittlicher Architektur wiederholen? Nein, denn es war nicht die Architektur von Gehry, die Bilbao aus seiner Situation als „verrottende Industrieleiche“ rettete, sondern ein wirtschaftlicher Umbau mit dem Schwerpunkt Tourismus. Gehry setzte nur den pointierten Schlussstein.
Magén Arquitectos haben es konsequent vermieden, Architektur mit Bedeutung aufzuladen. Die wirklichen gesellschaftlichen Veränderungen gehen von den Menschen aus.

db, Do., 2023.07.06

06. Juli 2023 Rolf Mauer

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