Editorial

Wenn ein Automobilkonzern wie Mercedes, der die räumliche Entwicklung des letzten Jahrhunderts ganz wesentlich mitgeprägt hat, verlauten lässt, dass die Einkommen der Zukunft nicht aus dem Verkauf von Autos resultieren werden, sondern aus 
den Daten, die diese Fahrzeuge generieren, wird etwas deutlich: Dass der Kampf um die Daten lange schon nicht mehr nur online geführt wird, sondern in der Stadt angekommen ist.

Ging die klassische Ökonomie noch von einer Dreiteilung der Produktionsfaktoren in Kapital, Arbeit und Boden aus, die 
in den nachfolgenden (neoklassischen) Theorien noch um den Faktor Wissen ergänzt wurde, ist heute das Verständnis von Data als unverzichtbarer Produktionsfaktor im Mainstream angelangt. Welche Konsequenzen resultieren daraus für unser Zusammenleben und den Umgang mit Raum?

Gleich vorweg: die Algorithmen, die diese schier unüberblickbaren Mengen an Daten verarbeiten, haben nicht das 
kybernetische »Zeitalter nach der Arbeit« eines »Fully Automated Luxury Communism« (Aaron Bastani) gebracht, nicht das ersehnte Land eines ›New Babylon‹, wie es Constant Nieuwnhuys noch in den 1960er herbeisehnte; sie brachten auch nicht die Architekturen einer ›fully automated society‹ wie jene des ›Fun Palace‹ von Cedric Price, sondern Datafarmen und Chipfabriken, generische Architekturen – dort wo das Bauland leistbar und Energie verfügbar ist. Begleitet wird die volle Automatisierung – so zeichnet es sich zumindest ab – nicht durch eine von Arbeit befreite Gesellschaft auf dem Weg zur demokratischen Selbsterfüllung, sondern paradoxerweise von einem Heer digitaler Arbeiter:innen, die für wenige Cent in der Stunde in digitaler Handarbeit Maschinen ihr Wissen lehren oder alles das leisten, wofür komplexe Algorithmen wohl zu teuer wären. Während einige dieser Kisten bereits weitgehend personalkostenbefreit funktionieren, entsteht an anderer Stelle neue – meist prekäre – Beschäftigung statt Freizeit.

Um die komplexen Zusammenhänge zwischen Plattformkapitalismus, dem Umgang mit Daten, der physischen Infrastruktur des Digitalen und den daraus resultierenden Verschiebungen der Raumproduktion besser zu verstehen, müssen wir uns über disziplinäre Themenfelder hinauswagen. Denn die Welt der Daten zeigt uns einmal mehr, dass die Dinge vernetzt sind.

Mit dieser dérive-Ausgabe wollen wir uns daher dem Verhältnis von Digitalisierung und Raum in verschiedenen Maßstäben nähern, um so die vielen Verschränkungen und Größenordnungen zu behandeln, in denen Daten eine mittlerweile zentrale Rolle zukommt. Eine dieser Maßstabsebenen ist die der Fabrik, auch wenn sich die heutigen digitalen Fabriken, wie sie Moritz Altenried in seinem Beitrag beschreibt, räumlich nicht mehr klar eingrenzen lassen. Von den Megafabriken bis zu den digitalen Plattformen: »Überall finden sich Formen von Organisation und Kontrolle der Arbeit, die historisch vor allem mit der disziplinären Architektur der industriellen Fabrik verbunden waren, nun aber mithilfe digitaler Technologien über ihre Mauern hinausreichen.«

Mit dem Beitrag ›Work, Body, Leisure‹ unternimmt Marina Otero Verzier gleich mehrere Maßstabssprünge (vom Territorium 
bis hin zum Bett), um so die veränderten Beziehungen zwischen Arbeit und Freizeit im Kontext von digitalen Technologien und Automatisierung in den Niederlanden zu verhandeln. Gleichzeitig eröffnet sie jedoch auch eine globale Perspektive: während Arbeit an einer Stelle verschwindet, taucht sie an einer anderen wieder auf.

Ausgehend von einem abgewetzten Werbeplakat mit dem Slogan »Echte Autos in Deiner Nähe suchen Dich«, stellt Jochen Becker die Frage, wie autonome Fahrzeuge die Stadt wahrnehmen. Mit der Entwicklung von raumabtastender und datenverarbeitender Automobiltechnologie entsteht auch eine neue Bildpolitik die der Autor u. a. mit Anlehnungen an das Werk von Filmemacher Harun Farocki erörtert.

Keller Easterling spricht im Interview mit dérive über Schnittstellen und Wechselwirkungen digitaler und räumlicher Welten und nimmt dabei insbesondere die damit verbundenen Ein- und Ausschlussmechanismen auf sozialer Ebene in den Fokus. Easterling formuliert auch hier wieder ihre Kritik an einer veralteten modernistischen Sichtweise, die das Neue primär 
als Überschreibung des Alten versteht und plädiert dafür, Potenziale überlieferter Systeme in »neuverschaltete« Zukunftskonzepte miteinzubeziehen.

Helen Hester und Nick Srnicek widmen sich dem Maßstab der städtischen Wohneinheit. Die Autor:innen hinterfragen das Smart Home als digitales und vernetztes Zuhause, welches zeitintensive Hausarbeit zu reduzieren verspricht, und kontextualisieren die jüngsten Entwicklungen diverser Haushaltstechnologien in einem Abriss über die historischen Veränderungen sozialer Reproduktionsarbeit.

Im Magazin-Teil schreiben AKT & Hermann Czech über die soziale Wirksamkeit des Raumes in Zusammenhang mit ihrem Beitrag bei der aktuellen Architekturbiennale in Venedig, Ursula Probst spricht mit Mechtild Widrich über ihre Publikation ›Monumental Cares‹ und Jochen Becker diskutiert ›Umstrittene Methoden‹ von Jezko Fezer.

Vor der Sommerpause sollte unbedingt noch der Kalender für den urbanize! »Reality Check: Urban Commons« blockiert werden: Von 3. bis 8. 10. 2023 erkundet das Festival das soziale, demokratische, ökonomische und ökologische Transformations-Potenzial von ›Commons‹ und ›Commoning‹ im urbanen Raum. Im Zentrum stehen der Status quo der theoretischen Entwicklungen ebenso wie die Auseinandersetzung mit international gelebter Praxis. Mehr ab August auf urbanize.at.

Unvermittelt stolperten wir – obwohl dérive in der einen oder anderen Form lange schon eng verbunden – in diesem Frühling in die Rolle einer geteilten redaktionellen Verantwortung, weil Christoph Laimer krankheitsbedingt vorübergehend aussetzen muss; daher auch die Verzögerung, mit der dérive 91 erscheint. Wir hoffen dennoch eine weitere Ausgabe mit Beiträgen zu brisanten Entwicklungen des Städtischen, mit Anspruch – und mit dem für dérive altbekannten Lesegenuss vorlegen zu können.

Alles Gute euch allen, wünschen Jerome Becker, Jochen Becker, Michael Klein und Andre Krammer

Inhalt

01
Editorial
Jerome Becker, Jochen Becker, Michael Klein, Andre Krammer

Schwerpunkt
04—09
DIGITALE Fabriken
Moritz Altenried

10—13
Arbeit, Körper, FREIZEIT
Marina Otero Verzier

14—20
ECHTE Autos in Deiner Nähe SUCHEN Dich
Notizen zum ›Betriebsraum‹ einer maschinenlesbaren Stadt
Jochen Becker

21—23
»LOOKING for a lot of GOOD PROBLEMS«
An Interview with Keller Easterling on digital infrastructures
Andre Krammer, Jerome Becker, Keller Easterling

24—31
Zuhause im PLATTFORMkapitalismus
Helen Hester, Nick Srnicek

Kunstinsert
32—36
Feiermaterial
Rozafa Elshan und Stephanie Stern

Magazin
37—41
PARTECIPAZIONE/BETEILIGUNG
AKT & Hermann Czech

42—45
We’re HERE to MAKE history NOT RELIVE it.
Ursula Maria Probst, Mechtild Widrich

46—50
KYBERNETIK und Revolte
Jochen Becker

Besprechungen
51—57
Die Stadt und das Gemeine S. 51
Die Kunst des stillen Widerstands S. 52
Erinnerungsarbeit zum Wiener Nordwestbahnhof S. 53
»Im Rückwärtsgang zum Rütteltisch« S. 54
Gelebte Utopie des Mittelstandes S. 56
Unruhe im Stadtraum S. 57

60
Impressum

Gelebte Utopie des Mittelstandes

Die Terrassenhaussiedlung der Werkgruppe Graz hat sich zu einem Juwel der österreichischen Architekturgeschichte 
etabliert. Grund genug, dass die Architekturforscherin Andrea Jany und das Werkgruppen-Mitglied Eugen Gross in forschender Gemeinsamkeit einen Sammelband herausgeben. Die beiden verpacken in der umfassenden Publikation ›Gelebte Utopien‹ fast alles, was es zu diesem herausragendem Wohnprojekt der frühen 1970er Jahre in Graz zu sagen und zu forschen gibt bzw. gab. Wobei Eugen Gross quasi als Pressesprecher und Weiterdenker des nicht mehr aktiven Architektenkollektivs fungiert.

Die Begeisterung und das umfassende Engagement für diese revolutionären Terrassenhäuser kann man jeder Zeile des von Eugen Gross verfassten Kapitels »Die Terrassenhaussiedlung als konkrete Utopie« entnehmen. Alles hat es gegeben, Vermittlung, begleitende soziologische Studien, bauphysikalische Experimente, Modelle, Städtebau und vieles mehr. Alles genau beschrieben und mit vielen Verweisen auf essenzielle weiterführende Quellen. Fast unterhaltsam dann die Aussage: »Der Altersstruktur (zwischen 30 und 40 Jahren, Anmerkung Red.) entsprach auch das erhöhte Nettohaushaltseinkommen von 9.000,– bis 16.000,– 
Schilling im Monat. Die potentiellen Bewohner:innen sahen sich als aufstrebende Mittelschicht.« Diese Feststellung steht leider ohne weiterführende Anmerkungen zur sozialen Bewohner:innenstruktur auf Seite 24. Heute entsprechen ATS 15.000,– aus dem Jahr 1976 ca. ATS 57.500,– also EUR 4.180,–. (https://www.statistik.at/Indexrechner/Controller)

In den beiden Kapiteln von Andrea Jany »Steirische Perspektiven und Entwicklungen« bzw. »Entwurf und Struktur« gelingt die komprimierte Darstellung der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen zwischen 1945 und den 1970er Jahren, die erst die Basis für das Entstehen eines so aufregenden Projekts schufen. Immer wieder wird auf das unermüdliche Engagement der Architekten der Werkgruppe verwiesen, ohne deren Vision und Entschlossenheit die brutalistischen Terrassenhäuser niemals Wirklichkeit geworden wären. Bis heute scheiden sie die Geister, dabei reicht das Spektrum von Liebe bis Hass. Die meisten der Bewohner:innen mögen ihr Demonstrativbauvorhaben sehr. Jetzt steht es unter Denkmalschutz, was die Eigentümer:innen teils wenig begeistert. Die Grazer:innen, die dort nicht wohnen, sind nach wie vor skeptisch gegenüber den vier zum Teil zwölfgeschossigen städtischen Schiffen.

Auch die begleitende bauphysikalische und strukturelle Forschung der 1970er Jahre, die vom Bundesministerium für Bauten finanziert wurde, wird dargestellt. In vielen Passagen sind die Nuancen der unermüdlichen Gespräche, die die Autor:innen mit den Architekten führten, zu spüren. Somit werden Fakten und Situationen angenehm lesbar gemacht. Ab und zu entsteht der Eindruck, dass die Architekten fast direkt aus dem Buch sprechen würden. Das macht beim Lesen richtig Spaß, inklusive dem trockenen Humor von Hermann Pichler, einem Werkgruppenmitglied. Er lebt von Anbeginn in der Terrassenhaussiedlung.

Dass das gesamte Projekt während und nach Fertigstellung von unterschiedlichsten Dissonanzen begleitet wurde, geht in der Euphorie der mehr als 14 Texte etwas unter und bekommt wenig Platz. Zu Beginn wollte niemand das Projekt finanzieren, dann fand sich nur schwer ein Konsortium an Baufirmen – die dann in Konkurs gingen – und final gipfelt alles in der Verdoppelung der Baukosten, kombiniert mit Ausführungsmängeln. Die Wohnungen waren nebenbei außerordentlich teuer. Aber genau diese Umstände führten zur Selbstverwaltung, die Eigentümer:innen wollten das Schicksaal ihrer Investitionen selbst in die Hand nehmen. Schade ist somit, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingen in der Publikation kaum dargestellt sind.

Warum die Terrassenhaussiedlung, ein letztlich über Wohnbauförderung finanziertes Eigentumsprojekt, kein genossenschaftliches Mietobjekt wurde, lag wahrscheinlich an der Grundhaltung der damals in der Steiermark Regierenden. Der rote Wiener Gemeinde- und Genossenschaftsbau wurde in der schwarzen Steiermark nicht geschätzt.

Die Komplexität der Bauphysik und die Konservierung von Sichtbeton versucht Alexander Eberl in seiner umfassenden Recherche zum Spannungsfeld von Wärmedämmung bis Denkmalschutz zu illustrieren. Der Abschnitt »Denkmalschutz oder Klimaschutz« lässt einen vermuten, schon in der Überschrift alles verstanden zu haben. Dem ist aber nicht so. Das Thema wird detailliert und mit physikalischer Empirie aufgerollt. Die Conclusio wird hier nicht verraten.

Wirklich grandios und lesenswert ist die 1975 verfasste Baubeschreibung der Werkgruppe Graz. Diese liest sich mehr wie ein Manifest und ich frage mich, wo diese Visionen hingekommen sind. Warum geht im angewandten Urbanismus und Wohnungsbau so Wichtiges verloren? So vieles muss wiederholt schlechter erfunden werden.

Schließlich gelangt man mit QR-Codes einfach zu den außerordentlich ernst geführten Radiointerviews aus dem Jahr 1980. Radio Steiermark, 21.00 Uhr. Diese Gespräche wirken in Passagen wie eine Ansprache an die Nation. Die Herren Architekten sprechen konzentriert und langsam, mit tiefer Stimme über die Verbindung von Struktur, Stadt und Partizipation. Heute wäre es nicht anders.

In der Mitte des fast 300 Seiten umfassenden Kompendiums engagiert sich Jomo Ruderer mit einem Überblick. Er gehört heute zur forschenden Mittelschicht der 30- bis 40-Jährigen. Er gibt eine Zusammenfassung zu den Aspekten der Partizipation und bezieht dabei auch alle anderen wesentlichen Sachverhalte der Terrassenhaussiedlung ein. Für Leser:innen mit wenig Zeit empfiehlt sich dieses Kapitel.

Im Unterschied zu den beiden Herausgeber:innen habe ich als Verfasser dieser Rezension mehrere Jahre in den 1980er Jahren im Erdgeschoß der Terrassensiedlung – so wurden die vier Blöcke umgangssprachlich im 20. Jahrhundert genannt – gewohnt. Gemeinsam mit Lotte Schreiber produzierte ich 2019 einen filmischen Essay (›Der Stoff aus dem die Träume sind‹), in dem die Riesenskulptur Terrassensiedlung eine tragende Rolle spielt. Aus dieser Perspektive erscheint der Roman über »Rupert Sumpfhuber« von Anselm Hort am Ende der Publikation als nicht notwendiger Appendix. Anekdoten des Alltags, wie z. B. herabfallende Einkaufswägen, die in die nur 4 cm (Wärmedämmung?) starken Mahagoni-Eternit-Fertigteilfensterpanele ein Loch schlagen oder verliebte Nachbar:innen fehlen darin leider. Langatmig und sprachlich nicht an die herausragende Qualität der Siedlung heranreichend, bildet der Text ein unbefriedigendes Ende der sonst so aufschlussreichen Publikation. 

Prädikat: sehr lesenswert.

Eugen Gross / Andrea Jany (Hg.)
Gelebte Utopie. Die Terrassenhaussiedlung der Werkgruppe Graz
Berlin: Jovis, 2022
288 Seiten, 30 Euro

dérive, Mi., 2023.08.02

02. August 2023 Michael Rieper

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