Editorial

Ursprünglich hatten wir geplant, die Sommerausgabe dem Thema ›rechte Raumnahme‹ zu widmen. Die Coronademos, die Samstag für Samstag über Monate hinweg manchmal zigtausende Menschen veranlassten, sich auf den Straßen Wiens zu versammeln, waren ebenso unerwartete wie verstörende Ereignisse. Unerwartet vor allem deswegen, weil es abgesehen von mehr als überschaubaren Demonstrationen aus dem Dunstkreis der FPÖ oder von den Identitären in den letzten Jahrzehnten (in Wien) keinerlei nennenswerte rechte Präsenz auf der Straße gab. Verstörend, weil die Zusammensetzung der Protestierenden von seltsamen ›linken‹ Gruppierungen, ›alternativen‹ Esoteriker:innen über christliche Fundamentalist:innen bis zu Nazis und Faschist:innen zumindest auf den ersten Blick doch überrascht hat. Als am 24. Februar Russland die Ukraine überfiel, hat das Thema rechte Raumnahme dann noch einmal eine ganz andere Dimension bekommen. Die Konzeption des Schwerpunkts hat sich deswegen verschoben. Das vorliegende Heft widmet sich vorrangig der Ukraine, und zwar nicht dem aktuellen Kriegsgeschehen, darüber war und ist täglich mehr als genug zu lesen und zu hören, sondern ukrainischen Städten und der ukrainischen Gesellschaft.

Ganz sind wir dem Ursprungsthema allerdings nicht untreu geworden. Daniel Mullis und Paul Zschokke haben einen Artikel über Rechte Raumnahme und performative Politik in Freiberg geschrieben, weil sich an diesem Beispiel besonders gut zeigen lässt, wie sich neue organisatorische und politische Strukturen bilden und was, angefangen von der Selbstverharmlosung der Teilnehmer:innen als ›besorgte Bürger‹ bis zur Sehnsucht nach Aufgehobenheit und Anerkennung in einer sich widerständig gerierenden Gemeinschaft, zentrale Kennzeichen der Bewegung sind.

Die Ukraine und ihre Städte haben in dérive bisher leider, so müssen wir eingestehen, keinerlei Rolle gespielt. Dass wir mit dieser Ignoranz nicht alleine dastehen, macht die Sache nicht besser. Am Beginn der Zusammenstellung des Schwerpunkts stand ein Vortrag der ukrainischen Architektin und Architekturhistorikerin Ievgniia Gubkina. Auf Einladung von IG Architektur and Claiming*Spaces/TU Wien sprach sie Anfang April in Wien über Ukrainian heritage of leftist urbanism under Russian threat. Für dérive hat sie ihr Vortragsmanuskript überarbeitet und wir haben es für diese Ausgabe übersetzt. Im Zentrum des Artikels steht die Moderne der Zwischenkriegszeit inklusive des sowjet-ukrainischen Konstruktivismus in Charkiw und die Gefahr, die diesem Erbe im aktuellen Krieg droht.

Ein weiterer Artikel basiert auf einem jüngst in Wien gehaltenen Vortrag. Emily Channell-Justice, Direktorin des Temerty Contemporary Ukraine Program an der Harvard University, referierte am IWM (Institut für die Wissenschaften vom Menschen) über ›Self-Organization‹ as Ukraine’s New Culture of Civic Engagement. Den Ausgangspunkt dieser neuen Kultur der Selbstorganisation sieht sie vor allem in der Euromaidan- Bewegung 2013/14 verankert, die für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU demonstrierte. Selbstorganisation in der Ukraine ist auch Thema des kommenden Buches von Channell-Justice.

Wenn es einen Platz in der Ukraine gibt, den fast jede*r kennt, dann ist das der Maidan in Kyjiw, wo die erwähnten Proteste stattgefunden haben. Ganz in der Nähe des Maidan befindet sich der Mariinsky-Park. Auch er hat bei Euromaidan eine Rolle gespielt, nämlich als Sammelpunkt des ›Anti-Maidan‹ und als Ort, an dem Anhänger:innen des Euromaidan verletzt und getötet wurden. Autor des Artikels, der die historische Entwicklung des Parks zu einem politischen Raum und das komplexe Zusammenspiel von Macht und Gesellschaft bei der Gestaltung einer Stadtlandschaft nachzeichnet, ist Serhy Yekelchyk, der am Rande des Mariinsky-Parks aufwuchs und heute Professor für Geschichte und Slawistik an der University of Victoria in Kanada ist.

Auch wenn Russland schon seit 2014 die territoriale Integrität der Ukraine missachtet und im Osten des Landes kriegerische Handlungen gesetzt hat, rechnete wohl niemand mit einem solch umfassenden Krieg Russlands gegen die Ukraine, wie er nun seit über vier Monaten tobt. Warum niemand damit gerechnet hat, überrascht allerdings doch ein wenig, liest man Aussagen Putins über die Ukraine aus den letzten Jahren und sieht man sich an, welchen ideologischen Einflüssen er sich geöffnet hat. Einer von ihnen ist der 1954 in der Schweiz verstorbene, faschistische russische Philosoph Iwan Iljin, den Putin verehrt und immer wieder gerne zitiert. Timothy Snyder, bekannter Experte für u. a. die russische und die ukrainische Geschichte, hat 2018 einen Text über Iljins Ideologie und deren Fan Wladimir Putin geschrieben, den wir hier in der von Eurozine veröffentlichten deutschen Übersetzung nachdrucken, weil er einiges zum Verständnis der Situation beiträgt. Trigger warning: Hoffnung im Hinblick auf die weitere Entwicklung der Verhältnisse schöpft man nach der Lektüre keine.

Gerne hätten wir noch mehr Beiträge über die Ukraine untergebracht, aber die Zeit war knapp und der Platz im Heft ist es ebenso. Wir verweisen auf die am 9. Juli beginnende Ausstellung What can be done? Praktiken der Solidarität im öffentlichen Raum von Traiskirchen, an der auch ukrainische Künstler:innen beteiligt sind. Wir empfehlen das Veranstaltungsprogramm des IWM (iwm.at/upcoming-events) im Auge zu behalten und beispielsweise das ukrainische Netzwerk Operation Solidarity (operation-solidarity.org) oder die Wiener Initiative Office Ukraine. Shelter for Ukrainian Artists (artistshelp-ukraine.at) zu unterstützen.

Im Magazinteil gibt es neben dem schon erwähnten Text zu rechter Raumnahme ein weiteres Interview von Ursula Maria Probst in ihrer Serie zu Kunst im öffentlichen Raum bzw. zu öffentlicher Kunst. Auskunft gibt diesmal Gerrit Gohlke von der in mehreren europäischen Ländern aktiven Initiative Neue Auftraggeber. Oliver Ressler macht uns in seinem Kunstinsert Carbon and Captivity auf die Methode Carbon Capture and Storage aufmerksam, von der er befürchtet, dass sie sich zu einem »internationalen Flaggschiff des Green­washing fossiler Energie« entwickeln könnte.

Stand with Ukraine!
Christoph Laimer

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt

04—12
Das ukrainische Erbe des linken Urbanismus unter russischer Bedrohung
Ievgeniia Gubkina

13—19
Selbstorganisation als neue Kultur des zivilgesellschaftlichen Engagements in der Ukraine
Emily Channell-Justice

20—29
Der ideologische Park
Wie der Garten des Zaren in Kyjiw zu einem modernen politischen Raum wurde
Serhy Jekelchyk

30—31, 37—41
Gott ist Russe
Timothy Snyder

Kunstinsert

32—36
Oliver Ressler
Carbon and Captivity
Barbara Holub, Paul Rajakovic

Magazin

42—48
Rechte Raumnahme und performative Politik in Freiberg
Zum ›Spaziergang‹ mit den Freien Sachsen gegen die Coronapolitik
Paul Zschocke, Daniel Mullis

49—54
Kunst denkt in Möglichkeiten, nicht in Zwängen
Ursula Maria Probst, Gerrit Gohlke

Besprechungen

55—60
Diskursfeld Doppelhaushälfte S.55
Der Prozess der Produktion von Karten S.56
Damals, in der Gegenwart der Zukunft S.57
Handbuch für Stadtmacher:innen S.58
Deep Talk! Oder: Fühle ein Erdbeben! S.59

68
Impressum

Diskursfeld Doppelhaushälfte

Das österreichische Unternehmen Würth ist Spezialist im Handel mit Montage- und Befestigungsmaterial. Seine Produktpalette umfasst Schrauben, Schraubenzubehör und Dübel, Werkzeuge, chemisch-technische Produkte sowie Arbeitsschutz. Zu den Kund:innen zählen Handwerks- und Industriebetriebe. Seit 1984 produziert Würth zudem jedes Jahr einen Wandkalender mit Aufnahmen lasziv posierender Topmodels im Bikini. Die Bewerbung von Baubedarf mit Pin-Up-Klischees scheint aus der Zeit gefallen, doch die Popularität des Kalenders spricht für sich. Die Auflage beträgt mittlerweile fast 800.000 Exemplare, verschickt werden die Bikini-Beautys an Kund:innen aus mehr als sechzig Ländern.

In ihrem Video As Years Go By (2022) montiert Monica Bonvicini fragmentarische Blicke auf die halbnackten weiblichen Körper und Auszüge aus der Produktpalette des Würth-Katalogs. Der Titel ihrer Ausstellung, die eher eine umfangreiche installative Intervention in das Kunsthaus Graz als eine klassische Werkschau ist, passt zu dieser Bestandsaufnahme misogyner Marketingstrategien: I don’t like you very much. Doch ist die Ausstellung mehr als ein feministischer Blick auf die Männerdomäne Baustelle. Bonvicini interessiert sich seit langem für den gebauten Raum als Sphäre des Sozialen und die ihm impliziten Geschlechterrollen, für die Übergänge zwischen öffentlichem und privatem Raum, wie physischer Raum zu einem psychischen wird und welche Mechanismen unser Verhalten in bestimmten Umgebungen steuern. Architektur als Feld, das vorgeblich auf die Bedürfnisse zukünftiger Bewohner:innen reagiert, tatsächlich aber diese Bedürfnisse meist selbst a priori standardisiert, wird von ihr exemplarisch reflektiert. Auch die Prägung urbaner wie suburbaner Strukturen von politisch-ideologischen und geschlechtspolitischen Überzeugungen findet in Bonvicinis Skulpturen, Videos und Fotoarbeiten Ausdruck.

Zentrales Werk der Ausstellung in Graz ist ein in drei Teile zerlegter Holzbau, der in originaler Größe die Konstruktion eine jener Doppelhaushälften reproduziert, wie sie in der Lombardei häufig zu finden sind. Vierzig Fotografien solcher ›Italian Homes‹ aus den späten 1960ern – stets der gleiche Typus – sind ebenfalls Teil der Schau. Die schlichten, zweigeschossigen Häuser mit Satteldach waren für die prototypische Familienkonstellation der damaligen Zeit konzipiert. Ursprünglich idente Bauten, zielten diese in den Jahren ihrer Errichtung darauf ab, homogenen sozialen Gruppen gleiche Wohnbedingungen zu bieten. Heute spiegeln die Häuser in ihrer individuellen Gestaltung – unterschiedliche Farben prägen die beiden Hälften der Fassade, Balkone variieren, Fenster sind anders geordnet – die ökonomischen und demographischen Veränderungen innerhalb jener suburbanen Gemeinden, für die sie entstanden. Die uneinheitliche Ästhetik, oft ein kurioses Nebeneinander von Elementen aus dem Baumarkt, stellt dem modernistischen Wunsch nach Standardisierung und Homogenisierung einen individualistischen Impetus entgegen, der in seinem Streben nach Abgrenzung fast wie ein Ausdruck gestörter Nachbarschaft anmutet.

Die Holzkonstruktion (As Walls Keep Shifting, 2019–2022), die diesen Bautypus dreidimensional nachformt, wirkt imposant, in ihrer teilweise gekippten Platzierung im Raum aber auch wie kollabiert. Tiefe Tonfrequenzen, die durch die Halle dröhnen, senden irritierende Geräusche aus, die das Unheimliche des wandlosen Eigenheim­skeletts betonen. Die Architektur des Kunsthauses in ihrer alienhaften Anmutung nimmt diese Atmosphäre auf und projiziert sie zurück auf das, was in ihre biomorphe Form interveniert: Alles wirkt seltsam deplatziert, irgendwie schlecht ausgeleuchtet und in seiner Rechtwinkligkeit von den Aussichtstrichtern, den ›Nozzles‹, durchkreuzt. Der Titel des Werkes ist dem Buch House of Leaves von Mark Z. Danielewski entlehnt, einer aus mehreren Perspektiven erzählten (Horror-)Geschichte über eine Familie, die ein scheinbar ideales Haus auf dem Land errichtet, in dem aber bald wie aus dem Nichts eine neue Kammer erscheint. Auch ist es innen wenige Millimeter größer als außen. An einer Außenwand öffnet sich ein Korridor, der vom Garten aus gesehen nicht existiert, von innen aber in ein lichtloses Labyrinth mit sich immer wieder verschiebenden Räumen führt. So wie das Buch für die verschiedenen Erzählstimmen verschiedene Schrift­typen verwendet und der Text in seiner graphischen Erscheinung kippt oder gespiegelt wird, auf dem Kopf steht oder quer über die Seite läuft, bleibt auch Bonvicinis hölzerne Doppelhaushälfte in ihrer Raumsequenz kaum lesbar. In der Holzstruktur selbst ist eine leicht erhöhte, begehbare Ebene – Wohnzimmer oder Garage? – mit bedrucktem Teppichboden ausgelegt. Abbildungen ausgezogener Jeans sind da zu sehen, sie liegen auf flauschiges Bild gewordenen Steinfliesen, Laminat, auf Orientteppichen oder Veloursteppich und signalisieren: Die Bewohner:innen sind daheim und haben sich ihrer Arbeitskleidung entledigt. An der Wand hängt ein skulpturaler Abguss eines Besens, und an einem Balken eine der Schönheiten im Bikini aus dem Würth-Kalender. Mit diesen ist auch die Unterseite der Treppe tapeziert, untermalt vom Sound einer Baustelle. Wo sind wir hier gelandet? Wohnt hier überhaupt schon wer oder haben die Bauarbeiter das Haus okkupiert?

Beamen wir uns zurück zum Anfang der Ausstellung. Ein Video auf einem großen Flatscreen am Eingang der Halle lässt uns eintauchen in psychedelische Farben, während der begleitende, leicht dystopisch anmutende Sound durch den Raum flutet. Der Titel des Werks, I See a White Building, Pink and Blue, ist einer Erzählung des Neurologen Oliver Sacks über eine Frau mit Halluzinationen entlehnt. Tatsächlich sind es vor allem die Verschiebung der Wahrnehmung und das ostentativ inszenierte Klischee arbeitender Männer und deren attraktiver Traumfrauen, die Bonvicini hart gegen das biomorphe, vorgeblich fluide Gebäude des Kunsthaus Graz schneidet. Die dem italienischen Doppelhaus eingeschriebene, spätmodernistische Idee eines gemeinsamen sozialen Standards, der seine topographische Zementierung von Geschlechterrollen zu gerne übersieht, stellt der Architektur von Peter Cook und Colin Fournier eine formal inszenierte Fremdheit gegenüber, die statische Kategorisierungen aufzu­lösen verspricht. Letztlich, und das macht Bonvicinis aus der Achse gekipptes Atmosphärenbild in seiner fast spröden Insistenz deutlich, fügt sie diesen jedoch auch nur eine weitere Erzählung falscher Versprechen hinzu.


Monica Bonvicini. I Don’t Like You Very Much
Kunsthaus Graz, 22.04.–21.08.2022

dérive, Do., 2022.08.04

04. August 2022 Vanessa Joan Müller

4 | 3 | 2 | 1