Editorial

Wie unsere Städte geplant sind und welches Städtebau-Paradigma verfolgt wird, legt die Basis dafür, welche Mobilitätsformen ­möglich sind und vorherrschen. Das lässt sich am Beispiel Wien mit zahlreichen Statistiken nachweisen (alle folgenden Zahlen zur Verkehrssituation stammen vom unentbehrlichen VCÖ). In den zentrumsnahen, dicht bevölkerten Bezirken mit einem engmaschigen Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln nutzen die Menschen diese, gehen viel zu Fuß oder fahren mit dem Rad. In den dünner besiedelten Randbezirken nimmt das Auto noch einen relativ hohen Stellenwert ein. In neun von 23 Wiener Bezirken liegt der Anteil der autofreien Mobilität bei über 80 Prozent, der niederste Wert beträgt 50 Prozent und wird im Stadtrandbezirk Liesing verzeichnet.

Jahrzehntelang war das Auto der Maßstab des Städtebaus, die Rede von der autogerechten Stadt war keine Übertreibung. Sie war das passende Modell zur funktionalistischen Stadt, entsprach der technologiezentrierten Fortschrittsgläubigkeit ebenso wie der Individualisierung der Gesellschaft. Alte Quartiere, die breiten Stadtautobahnen weichen mussten, vollgeparkte Straßen und Plätze, Suburbanisierung und Zersiedelung, der Niedergang des lokalen Kleinhandels, schlechte Luft, tödliche Unfälle … all das wurde in Kauf genommen. Mit dem Auto zum großen Einkaufszentrum am Stadtrand zu fahren und es auf einem riesigen Parkplatz abzustellen, entsprach einem modernen Lebensstil. Beim Greißler ums Eck einzukaufen galt als so unpraktisch, teuer und antiquiert, dass diese Nahversorger:innen fast komplett aus dem Stadtbild verschwunden sind.

Obwohl nun auch die Kritik an der autogerechten Stadt bereits mehrere Jahrzehnte andauert, kann von einem klaren Bruch in den meisten Städten nicht gesprochen werden. Noch heute fließen hunderte Millionen Euro in Stadtstraßen und die Bemühungen, den Autoverkehr zurückzudrängen werden zumeist nur halbherzig verfolgt. Dabei wäre es gerade in Österreich höchst an der Zeit, einen klaren Paradigmenwechsel vorzunehmen. Das Land verzeichnet in der EU die dritthöchsten Pro-Kopf-Emissionen durch Kfz-Verkehr und in sieben Bundesländern ist der Verkehr der größte Verursacher von CO2-Emissionen.

Trotzdem ist unverkennbar, dass wir in einer Umbruchsituation leben, in der klar ist, dass der PKW »den Anforderungen einer veränderten Mobilitätskultur in den Zentren der großen Städte nur noch begrenzt« (Christoph Bernhardt) entspricht und im Hinblick auf die Klimakrise eine Abkehr von seiner Dominanz dringend notwendig ist. Typisch ist in einer solchen Phase, dass manche offensiv agieren, indem sie eingefahrene Denkmuster verlassen, neue Konzepte überlegen und umsetzen und andere so gut wie möglich versuchen, bekannte Rezepte fortzuführen und den Änderungsbedarf zu ignorieren, damit nur ja keine Unruhe aufkommt und bestehende Strukturen in Frage gestellt werden. Klarerweise tauchen in so einer Situation auch neue Player auf, drängen auf den Markt und versuchen, die Rahmenbedingungen zu ihren Gunsten zu ändern. Beim Thema Mobilität ist besonders ­auffällig, dass diese Player sich mit Produkten etablieren (wollen), bei denen man sich schwertut, die Innovation zu erkennen. In einer Stadt wie Wien, in der die Straßenbahn umgangssprachlich lange als die Elektrische bezeichnet wurde, E-Mobility als eine topaktuelle Entwicklung im Bereich Mobilität verkaufen zu wollen, lässt einen doch etwas verwundert zurück. Der gleiche Eindruck entsteht, wenn vom autonomen Fahren die Rede ist und man Werbebilder sieht, auf denen am Fahrersitz platzierte, lesende Personen abgebildet sind. Personen also, die etwas machen, was man in jeder Straßenbahn und U-Bahn schon immer machen konnte.

Im Schwerpunkt Mobilität und Stadtplanung blicken wir mitten in diesem Umbruch nach vorne und zurück; sehen uns die Geschichte der Fußgängerzonen (Martin Gegner) ebenso an wie die möglichen räumlichen Konsequenzen dessen, was unter der ­Überschrift automatisiertes Fahren verhandelt wird. Emilia Bruck betont dabei die Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher Zielsetzungen und adäquater Rahmenbedingungen. Dazu bietet der Schwerpunkt eine Analyse des 15-Minuten-Stadt-Konzepts durch Georgia Pozoukidou und Zoi Chatziyiannaki, das anhand des Beispiels Paris im letzten Jahr durch alle Medien gegangen ist, und zeigt in einem Artikel von Barbara Laa et al. strukturelle Barrieren der Mobilitätswende sowie mögliche Lösungen auf.

Im Magazinteil dieser Ausgabe geht es einmal um die Demokratiearmut in urbanen Gesellschaften und im zweiten Beitrag um die Obsoleszenz baulicher Strukturen. Nimmt man das Wahlrecht als Maßstab, hat die demokratische Verfasstheit unserer Städte in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen. In Wien hat sich der Prozentsatz der Stadtbewohner:innen, die nicht wählen dürfen, in den letzten zwei Jahrzehnten verdoppelt. Ein unhaltbarer Zustand, der viel mit sozialer Ungleichheit zu tun hat, wie Tamara Ehs und Martina Zandonella in ihrem Beitrag ausführen.

Die oben erwähnten Stadtautobahnen wurden in manchen Städten als obsolet bzw. nicht mehr tragbar erkannt und beispielsweise in Parks umgewandelt. Im Beitrag von Anamarija Batista, Julia Siedle und Sabine Tastel geht es um den Umgang mit Gebäudetypen und baulichen Strukturen, die ihre Funktion eingebüßt haben und den Umgang damit. Besonders wichtig ist ihnen, diese rechtzeitig als Ressourcen der Stadt zu erkennen und zu sichern, sowie durch Transformation ins Positive zu wenden.

Neben einer Reihe von aktuellen Besprechungen gibt es als Abschluss des Heftes einen Diskussionsbeitrag von Ernst ­Gruber zu den in Wien neu entstehenden so genannten Ankerzentren. Dieser besteht in einem Entwurf für diese neuen sozialen und kulturellen Räume in den Wiener Stadtquartieren und schließt damit an unsere Auseinandersetzung mit demokratischen Räumen in der vorletzten Ausgabe an.

Zum Abschluss kann ich verkünden: das urbanize Festival wird dieses Jahr vom 6. bis 10. Oktober in Wien stattfinden und sich mit der Frage nach Strategien für den Wandel beschäftigen.

Christoph Laimer

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt
04—10
Straßenräume im Wandel?
Die straßenräumliche Verträglichkeit und Wirkungen automatisierten Fahrens
Emilia M. Bruck

11—19
15-Minute City
Decomposing the New Urban Planning Eutopia
Georgia Pozoukidou, Zoi Chatziyiannaki

20—26
Fußgängerzonen in Deutschland
Erfolge, Probleme und Perspektiven eines fast hundertjährigen Straßenmodells
Martin Gegner

27—32
Mobilitätswende in den Köpfen
Zur Einleitung von Transformationsprozessen im Verkehrssystem
Barbara Laa, Harald Frey, Edeltraud Haselsteiner, Lisa Danzer, Peter Biegelbauer, Thomas Friessnegg

Magazin
33—37
Demokratiearmut
Teilhabe als soziale Frage
Tamara Ehs, Martina Zandonella

38—45
Ein systemischer Blick auf urbane Obsoleszenz
Anamarija Batista, Julia Siedle, Sabine Tastel

Diskussion
46—49
»… ein paar Schritte weiter, und man ist schon drinnen«
Soziokulturelle Ankerzentren als neue soziale und kulturelle Räume in Wiener Stadtquartieren – ein Entwurf
Ernst Gruber

Besprechungen
50—60
Architektur- und Stadtbildpolitik als ideologisches Spielfeld S. 50
Populär, politisch, poetisch S. 51
Die globale Wohnungskrise als Motor von Ungleichheit S. 52
Vierzehn Mal lokale Wohnungspolitik auf dem Weg zu »Mehr Licht als Schatten«? S. 53
Zusammenleben, Teilhabe und sozialer Zusammenhalt S. 54
Treibgut der Stadt S. 55
Nerven – Körper – Kamera S. 56
Größer als die Summe ihrer Teile – ein Handbuch zu Stadtsoziologie und Stadtentwicklung S. 58
Zumindest organisiert S. 59
Die Geschichte der Geschichte der Stadtgeschichte S. 60

64
Impressum

»… ein paar Schritte weiter, und man ist schon drinnen«

(SUBTITLE) Soziokulturelle Ankerzentren als neue soziale und kulturelle Räume in Wiener Stadtquartieren – ein Entwurf

Kulturmetropole und Stadt mit hoher sozialer Verantwortung: Nur wenige Städte können gleich zwei so hohe Ansprüche zugleich erfüllen. Wien gehört dazu und das prägt die Stadt in ihrer Außenwahrnehmung und in ihrem Selbstverständnis. Doch es könnte noch besser gehen, wenn Kultur mit dem sozialen Anspruch in Stadtentwicklungsgebieten zusammen gedacht wird: ein Entwurf als Diskussionsbeitrag.

Die hohe soziale Verantwortung Wiens steht in engem Zusammenhang mit dem geförderten Wohnbau und seinen Instrumenten. Dabei nehmen die Stadtentwicklungsgebiete eine besondere Bedeutung ein: Zum überwiegenden Teil in peripheren Lagen und damit komplementär zu den vorwiegend zentrumsnahen Kultureinrichtungen, bieten sie im Sinne einer polyzentralen Stadt eine große Chance um den sozialen Anspruch mit dem kulturellen Selbstverständnis der Stadt zu verknüpfen. Über die Bedeutung von Kultur und ihren Räumen in der Stadt wurde und wird vielfach diskutiert – im Diskurs um die Nordbahnhalle (siehe dérive 77 und 78), im Rahmen der jüngsten Bauträger-Wettbewerbe und der Frage nach Bauplatz-übergreifenden Wirksamkeiten, wie im Quartier An der Schanze in Floridsdorf.

Das Ankerzentrum: ein neuer sozialer Raum?

Geht es nach dem aktuellen Wiener Regierungsprogramm, so soll der »Ausbau von Ankerzentren als Basis für kulturelle Nahversorgung« stärker gefördert werden. »Mit den Mitteln der Kunst entstehen neue soziale Räume, die als »Anker« in den Bezirken Andockstellen für Neues und für das Weiterdenken von Bestehendem sein sollen« (Die Fortschrittskoalition für Wien, S. 93ff). Der in diesem Zusammenhang recht neue Begriff des Ankerzentrums bezieht sich auf Einrichtungen wie das Kulturhaus Brotfabrik in Favoriten, das Soho im Sandleitenhof in Ottakring oder das F23 in Liesing. Letzteres ist ein Beispiel für eine kulturelle Nutzung in einem sich stärker entwickelnden Gebiet. Als historisches Vorbild für den kulturellen Aspekt der sozialen Stadtentwicklung einer Smart City sieht Bürgermeister Michael Ludwig das Theater im Rabenhof (Ludwig 2020).

Das ist gut, denn Räume für Kunst und Kultur sind in der Stadtentwicklung keine Fixstarter. Doch bereits in der Zeit des Roten Wiens gab es visionäre Konzepte und konkrete Beispiele für dezentrale und multifunktionalere Räume: In Ihrem Text Ingenieure der Werkstatt für Massenform: Theater der Zukunft formulierte eine Gruppe Wiener Architekten bereits 1924 eine Neukonzeption von kleinen, sogenannten Raumbühnen als dezentrale Theaterräume, in denen Bühne und Zuschauerraum eins werden. Sie kamen zu dem Schluss, »In jedem Bezirk Wiens könnte eine solche [kleine Bühne] stehen. […] Hier will man es bequem haben. […] Im eigenen Bezirk, ein paar Schritte weiter, und man ist schon drinnen.[…] Nicht zuletzt die Siedlerbewegung weist denselben Weg« (McFarland et al. 2020, S. 648).

Die Raumbühnen knüpfen damit an Räume wie die Genossenschaftshäuser der Wiener Siedlerbewegung an: kleine, dezentrale Zentren für Kultur, aber eben auch für Soziales. »Das Genossenschaftshaus ist das Herz und Hirn einer Siedlung. Rathaus, Erholungsheim, Klub, Theater, Konzerthaus, Volksuniversität zu gleicher Zeit« fasste es der Kunsthistoriker, Philosoph und Nationalökonom Max Ermers 1924 zusammen (Ermers nach: Zimmerl 2002, S.92). Organisiert und getragen wurden sie genossenschaftlich oder auf Vereinsbasis, im Sinne eines rechtsförmigen Tausches zwischen Staat und gemeinnützigen Trägern erhielten sie dafür finanzielle Unterstützung (vgl. Novy & Förster 1991, S. 90).

Das Ankerzentrum als soziokultureller Raum in neuen Stadtentwicklungsgebieten

Die neuen Ankerzentren können an diese Ideen anknüpfen und sie weiterdenken: In einer Kombination des sozialen Anspruchs von Stadtteil- oder Nachbarschaftszentren, eingebunden in Stadtentwicklungsgebiete mit guter Leistbarkeit als Raum für dezentrale, niederschwellige Kultur auf Augenhöhe, für und mit den Bewohner:innen.

Das Ziel müsste sein, die Menschen vor Ort für ein kulturelles Programm zu begeistern, indem sie »neue Kooperationen mit Partizipation von Bürger:innen vor Ort, Künstler:innen und Kulturinstitutionen« (Die Fortschrittskoalition für Wien 2020, S. 93) fördert. Kunst und Kultur sollte verstärkt auch dorthin gehen, wo die neuen Wiener und Wienerinnen wohnen – in die Gebiete der Stadtentwicklung: in die Seestadt oder nach Hirschstetten, nach Floridsdorf, Atzgersdorf oder nach Liesing und dabei soziales und nachbarschaftliches Augenmaß beibehalten. Dadurch ließe sich auch der Fokus von den klassischen aufsuchenden und unterstützenden Aufgaben der Stadtteil- oder Nachbarschaftszentren auf andere Zielgruppen erweitern.

Dazu bedarf es einer starken Verbindung des Kulturellen mit dem sozialen Anspruch, damit beide voneinander profitieren können. Neue soziale Räume sind demnach Räume großer Hybridität – in ihrer Architektur, ihrer Finanzierung und ihrer Trägerschaft. Vier Prinzipien als Entwurf für ein robustes Konzept von Ankerzentren als neue soziokulturelle Räume für Wien.

1) Umsetzungsprinzip: Prozess und Standortpolitik

Kultur ist eine klassische Querschnittsmaterie. Das macht sie resilient in ihrer gewachsenen Struktur, bedarf zugleich einer sehr interdisziplinären Herangehensweise in ihrer Entwicklung. Sie erfordert eine Hybridität der beteiligten Abteilungen und Verwaltungsstrukturen. Ein adäquater Prozess bindet die beteiligten Dienst­stellen der Stadt Wien von der Stadtentwicklung und Stadtplanung, über Kultur, Bildung, Soziales bis zum Wohnbau ein. Für eine strategische Kultur-Standortpolitik werden Aspekte der Standortwahl wie Dichte, Soziodemografie, Erreichbarkeit oder das Vorhandensein spezieller Angebote im Quartier herangezogen. An diese werden verpflichtende Vorgaben für die Einrichtung der neuen soziokul­turellen Ankerzentren festgeschrieben.

Für das »Orchestrieren der Prozesse« (Häberlin 2021, S. 52) werden ebenfalls im Regierungsprogramm zu findende »frühzeitige und bauplatzübergreifende Managementprozesse mit innovativen Nutzungskonzepten für Erdgeschosszonen« (Die Fortschrittskoalition für Wien 2020, S. 102) eingesetzt. Auch hierfür gibt es bereits gelungene Beispiele, wie die vernetzte Bespielung bauplatzübergreifender Gemeinschaftsräume.

Der Raumbedarf für die Etablierung von Zweigstellen etablierter Institutionen müsste in der Entwicklungsphase festgelegt und systematisch und möglichst früh in die Entwicklungen eingebunden werden.

2) Raumprinzip: Hybrides Raumprogramm für Kunst und Kultur auf Augenhöhe

Das Ankerzentrum als neuer sozialer Raum ist multifunktional und muss die Ergebnisoffenheit des Prozesses räumlich widerspiegeln. Es werden Räume für ­Menschen geplant, die mitunter noch gar nicht da sind. Es ermöglicht als Handlungs-Spiel-Raum Nutzungen von Kinder- und Erwachsenentheater, Lesungen, Tanz- und Infoveranstaltungen als Aufführungsort für die Freie Szene oder Konzerten – auch größerer Lautstärke und Frequenz. Bühne und Zuschauerbereich sind flexibel möblierbar. Abtrennbare Räume ermöglichen temporäre Anmietung bzw. Nutzung, wie als Proberäume. Ergänzt durch Nebenräume wie Bar, Lager und Sanitäreinheiten wird ein vollausgestatteter Veranstaltungsbetrieb mit Wirkung über das Grätzel hinaus ermöglicht. Wichtig für seine Relevanz ist demnach eine gewisse kritische Größe, 400–600m² erscheinen ein guter Richtwert für ein Ankerzentrum. Als neuer sozialer Raum bietet es nicht-programmierte Räume, zum Aufhalten, Lesen, als Treffpunkt oder zum Hausübung machen. Ein einfaches, kleines, günstiges Café kann die Niederschwelligkeit unterstützen.

Eine transparent gestaltete Erdgeschoßzone geht über in den öffentlichen Raum davor, der durch einladende Gestaltung eine Verlängerung des gebauten Raumes darstellt und so auch attraktiv wird. Diese bauliche Gestaltung, das Ineinanderfließen von halb-öffentlich und öffentlich spiegelt auch den Beitrag der sozio­kulturellen Nutzungen zur Quartiersbildung wider.

3) Prinzip des Public-Commons-Partnership

Das Ankerzentrum ist Gemeingut. Seine Trägerschaft muss transparent und effizient gestaltet sein und zudem ermöglichen, dass sich eine Vielzahl unterschiedlicher Akteur:innen damit identifizieren kann. Dazu eignet sich das Prinzip eines ­Public-Commons-Partnership[1], einer Partnerschaft zwischen Stadt, Zivilgesellschaft und Partner:innen aus dem Sozial- und dem Kulturbereich. Ziel sollte die Selbstverwaltung durch die Nachbarschaft sein. Dazu kann eine eigene Genossenschaft als rechtsverbindliche und langfristig stabile Struktur gegründet werden. In der Startphase können professionelle Konsulent:innen organisatorische und personelle Anschubhilfe leisten.

Eine solche Genossenschaft kann in weiterer Folge auch auf mehrere Ankerzentren übertragen werden, um stärkere Synergien zu bilden. Entsprechend dem Ziel von »starken Zivilgesellschaften zur Stabilisierung von Nachbarschaft und Zusammenleben« (Die Fortschrittskoalition für Wien 2020, S. 102) stärkt eine (sukzessive) Einbindung engagierter Personen aus der direkten Nachbarschaft bzw. dem Stadtteil und dem Bezirk in die Trägerschaft die Identifikation: Ein co-verwaltetes Ankerzentrum in der Nachbarschaft mit der Nachbarschaft.

Dazu bedarf es langfristiger Finanzierungszusagen jenseits eines punktuellen Sponsorings. Die Ankerzentren sind daher hybrid finanziert: Die Finanzierung des laufenden Betriebs erfolgt über eine eigene Abwicklung von Fördermitteln mehrerer zuständiger Ressorts wie Kunst und Kultur, Soziales, Bildung oder Sport. Mit dem Bezug von Fördermitteln ist zugleich das notwendige Maß an Transparenz verbunden sowie die Verpflichtung, über die Verwendung der Mittel Rechenschaft abzulegen.

Zur Errichtung der Räume können Bauträger Mittel der Wohnbauförderung beziehen,[2] die Miete sollte dem Kostendeckungsprinzip unterliegen. Ebenso können bestehende Räumlichkeiten entsprechend adaptiert werden. Die Trägerorganisation mietet die Räumlichkeiten an und tritt als Betreiberin auf. Die Ausstattung wird über den Bauträger vorfinanziert und ist Mietbestandteil. Ein Ankerzentrum mit ca. 600m² Nutzfläche könnte sich mit jährlichen Personal-, Miet- und Betriebskosten von ca. € 150.000 pro Jahr finanzieren. Dazu können auch bauplatzübergreifende Kostenbeteiligungsschlüssel von Stadtentwicklungsgebieten beitragen, die im Vorfeld festzulegen sind. Die Beteiligung des freifinanzierten Wohnbausektors ist hier ebenfalls ein Thema, schlussendlich profitieren auch diese.

4) Prinzip der sozio-kulturellen Programmierung

Ein Ankerzentrum für soziale und kulturelle Nahversorgung ist auch ein Ort des Austausches und Empowerments aller sozialen Schichten und Gruppen der lokalen Gesellschaft. Das Ankerzentrum wird als nicht-kommerzieller Treffpunkt offen und niederschwellig konzipiert. Im Sinne einer modernen Demokratiekultur wird im und durch das Ankerzentrum die Mitgestaltung im Grätzel durch inklusive Teilhabe- und Mitsprachemöglichkeiten gestärkt. Dazu werden Beteiligungsformen genutzt, die direkt an der unmittelbaren Lebensrealität ansetzen: Im Gegensatz zur klassischen, aufsuchenden Gemeinwesenarbeit wird eine weitgehende Selbstverwaltung angestrebt, aktive Teilhabe, Partizipation und Mitgestaltung der benachbarten Bewohner*innenschaft gefördert und gestärkt.

Für eine nachhaltige Verankerung jeder Art von Zentrum ist die Akzeptanz in der Nachbarschaft essenziell. Die Identifikation mit den Genossenschaftshäusern der Siedlerbewegung entsprang der Arbeit, die von den späteren Bewohner:innen für ihre Siedlung geleistet wurde. Ein neues Ankerzentrum wird ebenfalls mit den Menschen vor Ort entwickelt: mit jenen, die schon da sind und mit jenen, die noch kommen. Über Beiräte bzw. soziokratische Organisationsstrukturen können unterschiedliche Nutzer*innengruppen eingebunden werden, um ein bedürfnisgerechtes, niederschwelliges Programm mit der Bevölkerung vor Ort zu entwickeln. So bekommt jedes Ankerzentrum seinen eigenen Charakter. Kernprogramme bestehender Träger bieten eine Ausgangsbasis, die auch zwischen den Ankerzentren wandern können. Die weitere Programmierung erfolgt über Formate wie Ideenwerkstätten, als bauplatzübergreifendes Beteiligungsangebot für Zielgruppen wie Kinder, Ältere oder Menschen mit Migrationshintergrund.

Ausblick

Das soziokulturelle Ankerzentrum ist Gemeingut. Es ist Anlass, um über eine effiziente Bündelung der verfügbaren Mittel und Ressourcen nachzudenken. Es eignet sich, um bestehende Funktionstrennung in der Verwaltung zu überwinden und die Instrumente von Wohnbau und Stadtentwicklung hinsichtlich ihrer Zeitgemäßheit zu überprüfen. Das soziokulturelle Ankerzentrum entspricht der Tradition einer Kulturmetropole und Stadt mit hoher sozialer Verantwortung.


Anmerkungen:
[01] Tomaso Fattori (2012) verwendet den Begriff im Zusammenhang mit seinem Diskussionsbeitrag zur rechtlichen Verstetigung von Gemeingütern (Commons).

[02] Ansätze für diese Praxis bieten das Kulturhaus in der Sargfabrik in Wien 14. oder das WUK. Bspw. als Einrichtungen der kommunalen Infrastruktur oder als Gewerbebetrieb zur Deckung der sozialen Bedürfnisse der Wohnbevölkerung, vgl. aktuelles Wiener Wohnbauförderungs- und Wohnhaussanierungsgesetz, §1 und 2

Literatur:
Die Fortschrittskoalition für Wien (2020): Koalitionsprogramm. Verfügbar unter: www.wien.gv.at/regierungsabkommen2020.
Fattori, Tomaso (2012): Towards a Legal Framework for the Commons. Verfügbar unter: wiki.p2pfoundation.net/Towards_a_Legal_Framework_for_the_Commons [Stand 20.3.2021]
Häberlin, Udo (2021): Öffentliche Räume als Plattform einer Solidarischen Stadt und Baustein der Gemeinwohlorientierung? In: dérive Nr. 82.
Ludwig, Michael (2020): Soziale Stadtentwicklung im Fokus. Verfügbar unter: https://www.michael-ludwig.wien/aktuelles/weltstadt/soziale-stadtentwicklung-im-fokus/ [Stand 20.3.2021]
McFarland, Rob; Spitaler, Georg & Zechner, Ingo (Hg.) (2020): Das Rote Wien. Schlüsseltexte der Zweiten Wiener Moderne 1919–1934. Berlin: De Gruyter Oldenbourg.
Novy, Klaus & Förster, Wolfgang (1991): einfach bauen. Genossenschaftliche Selbsthilfe nach der Jahrhundertwende. Zur Rekonstruktion der Wiener Siedlerbewegung. Wien: Picus.
Zimmerl, Ulrike (2002): Kübeldörfer. Siedlung und Siedlerbewegung im Wien der Zwischenkriegszeit. Wien: Österreichischer Kunst- und Kulturverlag.

[Ernst Gruber ist Architekt, Grafik- und Kommunikationsdesigner sowie Mitglied der Geschäftsführung von wohnbund:consult, Büro für Stadt.Raum.Entwicklung. Sein Forschungs- und Arbeitsschwerpunkt sind Raum- und Stadtforschung sowie Wohnbau und Partizipation. Lehrtätigkeit am Institut für Städtebau der TU Wien, laufende Publikations- und Forschungstätigkeiten. Lebt und arbeitet in Wien.]

dérive, Mo., 2021.05.17

17. Mai 2021 Ernst Gruber

4 | 3 | 2 | 1