Editorial

Rund ein Jahr ist es her, dass in Wien die Nordbahnhalle durch einen Brand vernichtet wurde, dessen genauer Hintergrund bis heute nicht aufgeklärt ist. Wir waren damals Teil der Initiative IG Nordbahnhalle, die sich nachdrücklich bemüht hat, die Halle vor dem geplanten Abriss zu retten und daran arbeitete, ein Nutzungskonzept für »ein soziales Modellprojekt für Nachbarschaft, Kultur und Wissenschaft, ein politisches Modellprojekt für ökologische Nachhaltigkeit und solidarische Ökonomie und ein rechtliches Modellprojekt für eine kooperative, gemeinnützige Trägerstruktur« zu entwickeln. Die Pläne und Ansprüche waren groß, die Unterstützung aus Nachbarschaft, Kultur und Wissenschaft ebenso. Nach vielen kontroversen Debatten um den Erhalt mit Entscheidungsträger:innen aus Stadtplanung und Bezirk, Immobilienentwicklung und der Eigentümerin ÖBB, hat das Feuer schlussendlich Fakten geschaffen. Die Nordbahnhalle ist Geschichte, die Notwendigkeit für Common Spaces, Hybrid Places, wie auch der Titel des urbanize! Festivals 2020 lautet, das von 14.–18. Oktober in Wien stattfindet, bleibt jedoch bestehen.

Wir haben uns im Zuge des urbanize!-Festivals und in etlichen dérive-Ausgaben in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Blickwinkeln immer wieder mit dem Thema Demokratie beschäftigt. Die Bedeutung von offenen und niederschwelligen Orten der Begegnung, des Austauschs und der Diskussion hat sich dabei regelmäßig bestätigt. Das Schwerpunktthema Demokratische Räume, der Blick auf Geschichte, Gegenwart und Zukunft solcher nicht-kommerziellen Hybrid Places ist als Fortsetzung dieser Auseinandersetzung zu sehen.

Räume außerhalb der eigenen Wohnung, die als öffentliche soziale Treffpunkte dienen, Platz für Soziales, Bildung, Kultur und/oder Sport bieten, sowie Orte für gesellschaftspolitische Diskussionen und Engagement sind, erfüllen eine wichtige demokratiepolitische Funktion. Besonders dann, wenn sie sich nicht darauf beschränken, ein Top-down-Angebot zu stellen, sondern von ihren Nutzer:innen kollektiv verwaltet und programmiert werden. Solche Räume, für die es viele Namen gibt, seien es Arbeiter*innenheime, Volksheime, Genossenschaftshäuser, Kulturhäuser, Centri Sociali, Stadtteilzentren oder Third Places, haben eine lange Tradition, waren und sind überall zu finden. In manchen Städten sind sie ein wichtiger und unumstrittener Teil des Alltagslebens, in anderen ist ihre Geschichte vergessen oder sie sind mit politischem oder ökonomischem Druck konfrontiert. Ihr Problem in diesem Zusammenhang ist: Sie werfen keinen Profit ab, lassen sich touristisch nicht vermarkten, gelten manchen als verstaubt und wenig innovativ, sind – wenn selbstverwaltet – schwer kontrollierbar und stehen Aufwertungsprozessen immer wieder einmal im Weg.

Der Soziologe Ray Oldenburg hat in den späten 1980er-Jahren ein Buch zu einigen Aspekten des Themas geschrieben und den Begriff Third Places geprägt. Dieser hat sich bis heute gehalten, neuere umfassende Auseinandersetzungen mit dem Thema gibt es seither allerdings kaum, was ob der Bedeutung solcher Orte für die Stadtgesellschaft verwundert. Das Forschungsinteresse scheint auf einzelne Aspekte des Themas begrenzt zu sein. Wir stellen im vorliegenden Heft einige Typen solcher Räume und die dazugehörigen Kontexte und Konzepte vor: Von Kulturhäusern in Polen, über soziale Community-Museen und SESCs in Brasilien, Clubes de Barrio in Buenos Aires bis zu Gemeinschaftszentren und Common Spaces in Zürich. So unterschiedlich die Beispiele sind, alle zeigen den Bedarf von Räumen, die Gesellschaft bieten, die sich aneignen lassen, die für alle offen sind, die man für die unterschiedlichsten Aktivitäten nutzen kann, in denen Konsum keine Rolle spielt.

Interessant ist, dass selbst in Häusern, die ein Kulturprogramm und Kurse anbieten, nicht dieses Angebot die Attraktion und der wichtigste Grund für den Besuch sind. Die meisten Menschen machen sich ausschließlich deswegen auf den Weg in einen dieser Räume, um in der Gesellschaft anderer Menschen zu sein. 50 Prozent der Besucher:innen der Zürcher Gemeinschaftszentren – immerhin 600.000 pro Jahr – kommen einfach so, ohne ein Angebot wahrzunehmen. Das Herz der brasilianischen SESCs, die ebenso wie die Gemeinschaftszentren ein umfassendes und vielfältiges Programm bieten, ist die Convivencia (dt. Zusammenleben), das Wohnzimmer der Einrichtungen, ein Raum, in dem kein Programm angeboten wird. Er ermöglicht andere zu treffen, sich zu unterhalten, Ruhe zu finden, gut und günstig zu essen und – in brasilianischen Städten nicht unwichtig – sicher zu sein. Demokratische Räume erweisen sich somit auch als wichtige Inseln in unserem kapitalistisch durchgetakteten Alltag und sind ein Safe Space der anderen Art.

Im Magazinteil ist ein Beitrag von Christa Kamleithner zu lesen, den wir eigentlich schon als Teil unseres letzten Schwerpunkts Pandemie veröffentlichen wollten, was aus Zeitgründen jedoch nicht klappte. Er zeigt die Kontinuitäten in der medialen Berichterstattung und vorurteilsbehafteten Diskussionen von den Cholera-Pandemien des 19. Jahrhunderts bis zu Covid-19, wenn es um die Ursachen der Verbreitung von Pandemien und das Thema Dichte im Städtebau geht. Ein weiterer Artikel, der uns besonders am Herzen liegt, stammt von Mona Fawaz, die über die Folgen der Explosion und die Probleme der Stadtentwicklung in ihrer Heimatstadt Beirut berichtet. Einer Stadt, der wir bereits eine ganze Reihe von Artikeln gewidmet haben. Das Kunstinsert von Isa Rosenberger verweist auf ein im Zusammenhang mit unserem Schwerpunkt sehr wichtiges Haus in Wien, die unter dem Namen Volksheim Ottakring gegründete Volkshochschule Ottakring. Sie war bei ihrer Gründung eine enorm wichtige Raumressource für selbstorganisierte Forschung, außeruniversitäre Bildung, Austausch und Diskussion. Rosenberger blickt in ihrer Arbeit ... das weite Land, woher sie kommt auf eine Tanzaufführung der Tänzerin und Choreographin Gertrud Kraus in eben jener Volkshochschule zurück, die dort im Jahr 1934 stattgefunden hat.

Wie schon erwähnt, steht das urbanize!-Festival vor der Tür. Coronabedingt begibt sich urbanize! verstärkt in den öffentlichen Raum, um mit Stadtspaziergängen, Walkshops und urbanen Spielen Commons-Potenziale für Wien zu erkunden. Wir bitten um Anmeldung und können eine Teilnahme trotz Maske und physical distancing nur nachdrücklich empfehlen. Wir freuen uns auf Euer/Ihr Kommen, denn wie immer gilt: urbanisieren Sie sich!

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer, Elke Rauth

Schwerpunkt
04—06
Einleitung
Christoph Laimer

07—14
Warum wir das Öffentliche, den öffentlichen Raum und öffentliche Gebäude in Städten brauchen
Martina Baum, Markus Vogl

15—18
Gemeinschaftszentren in ZÜRICH
Christoph Laimer im Gespräch mit Ingrid Vannitsen

19—24
Primary Care Culture Community centres in Poland
Karol Kuricky, Barbara Navrocka, Dominika Wilczyńska

25—31, 37—38
Das L200: ein Zürcher Modell für hybride gemeinschaftliche Räume
Panayotis Antoniadis, Ilena Apostol, Thomas Raoseta

Kunstinsert
32—36
Isa Rosenberger
... das weite Land, woher sie kommt

Schwerpunkt
39—43
Rote Fabrik, Rojc, Gängeviertel ...
Philipp Klaus

44—49
Memory and Resistance:
The Museu da Maré in Rio de Janeiro
Lorenzo Tripodi, Laura Colini, Manuela Conti

Magazin
50—52
Beirut braucht einen bewohner*innenzentrierten Wiederaufbau
Mona Fawaz

53—58
Krankheit, Armut, Dichte
Die Kartierung der Cholera und der moderne Städtebau
Christa Kamleithner

Besprechungen
59—61
Die unbekannte Karriere der Moderne-Architektin Elizabeth Scheu Close S. 59
Von der Stadt für Autos zu einer Stadt für Menschen S. 60

68
Impressum

Demokratische Räume

(SUBTITLE) Versuch einer Annäherung

Vor rund 40 Jahren hat der Sozialwissenschaftler Ray Oldenburg den Begriff der Third Places geprägt und damit Räume bezeichnet, die weder der privaten Sphäre zuzuordnen sind noch dem Berufsleben. Räume, die ihren ersten großen Aufschwung erlebten, als es mit der Industrialisierung zu einer Trennung von Wohnraum und Arbeitsplatz kam. Oldenburg bezeichnete damit vorrangig soziale Orte der Geselligkeit wie Cafés, Pubs oder Klubs, aber auch Buchhandlungen oder Friseurläden – auch das Wiener Kaffeehaus findet in seinem gleichnamigen Buch prominente Erwähnung. Oldenburgs Third Places sind, wie er selbst schreibt, Orte, an denen die Menschen, die sie aufsuchen, nicht in die Rolle des*der Gastgebers*Gastgeberin schlüpfen müssen und es sind Orte, die man in erster Linie aufsucht, um in Gesellschaft zu sein, sich zu unterhalten, to »serve the human need of communication« (S. 20). Third Places sind Orte, die es erlauben zu kommen und zu gehen wann immer man will. Es gibt keine Verpflichtung zur Anwesenheit, es gibt keine Beginnzeiten, es gibt keine organisierten Treffen. Man kommt in der Gewissheit, jederzeit Leute zu treffen, mit denen sich eine gute Zeit verbringen lässt.

Third Places fungieren auch als Leveler, als Orte, die soziale Unterschiede ausgleichen und diese in den Hintergrund treten lassen. Die wichtige Rolle der Third Places sieht Oldenburg gerade darin, die Gesellschaft zusammenzuhalten: weil von Angesicht zu Angesicht diskutiert werden kann, weil man von seinen Mitmenschen ein umfassendes Bild bekommt, weil unterschiedliche Menschen miteinander ins Gespräch kommen, die vor allem die Tatsache eint, sich zur selben Zeit am selben Ort aufzuhalten und nicht etwa gemeinsame Interessen, Ansichten oder Berufe. Third Places bilden für Oldenburg »the political forum of the common man« (S. 25). Die Orte selbst brauchen dafür ein »low profile« (S. 36) mit günstigen Konsumationsmöglichkeiten und einer »unimpressive« (ebd.) Gestaltung, die einladend, aber trotzdem neutral in ihrer sozialen Kodierung wirkt. Hipness und innenarchitektonischer Übereifer sind fehl am Platz, im Mittelpunkt stehen die Gäste. Allgemeine Voraussetzungen für das Funktionieren dieser dritten Orte sind aber auch heterogene, nicht segregierte Stadtviertel und das Vorhandensein von Freizeit.

All die erwähnten Voraussetzungen haben sich seit dem erstmaligen Erscheinen von Oldenburgs Werk im Jahr 1989 verschlechtert. Gentrifizierung hat in vielen Städten dazu geführt, dass Reiche und Arme noch seltener als zuvor in denselben Stadtvierteln wohnen, günstige Lokale gibt es nicht mehr an jeder Ecke und solche, in denen man sich stundenlang aufhalten kann, ohne ständig konsumieren zu müssen, schon gar nicht. Unimpressive zu sein will und kann sich heute kaum mehr wer leisten. Unaufgeregte, günstige und eben dadurch für unterschiedliche Schichten attraktive Beisln, Wirtshäuser, Kneipen und Cafés sind mit der Verwertung der Stadt vielerorts aus den Nachbarschaften verschwunden und durch nichts Gleichwertiges ersetzt worden. Vielleicht mit ein Grund, warum für nicht-kommerzielle, niederschwellige Räume, wie es sie in unterschiedlicher Ausprägung in vielen Städten gab und gibt, wieder verstärktes Interesse besteht.

Oldenburgs Studien haben zweifellos einen wichtigen Anstoß geliefert, um die Bedeutung von sozialen Räumen in der Stadt zu erkennen. Doch sie decken bei weitem nicht alle Aspekte ab, die wir unter der Bezeichnung Demokratische Räume diskutieren möchten. Denn neben Orten der niederschwelligen Begegnung braucht es auch eine Verfügbarkeit von Räumen, an denen Pläne geschmiedet, Projekte umgesetzt, Treffen abgehalten, Veranstaltungen durchgeführt und Experimente gestartet werden können, die Möglichkeiten der Selbstverwaltung, der Aneignung und Gestaltung bieten.

Räumliche Ressourcen: Demokratie als Prozess

Was aber macht Third Places und andere für alle zugänglichen Raumressourcen demokratiepolitisch so wichtig? Die Möglichkeiten, sich aktiv in die Gestaltung der eigenen Umwelt einzubringen und an der gesellschaftlichen Entwicklung Anteil zu nehmen, indem eigene Wünsche und Vorstellungen, eigenes Wissen und eigene Erfahrung eingebracht werden können und eine Rolle spielen, sind rar gesät und ungleich verteilt. Es braucht Selbstbewusstsein und das Wissen über Spielregeln, Strukturen und Netzwerke, um überhaupt in Betracht zu ziehen, Bestehendes in Frage zu stellen. Die Voraussetzungen für gesellschaftliches Engagement korrelieren mit dem sozialen Status. Sich gestaltend an der Gesellschaft zu beteiligen ist keine Selbstverständlichkeit.

Selbstverständlich und vorherrschend in unserer demokratiemüden Gesellschaft ist vielmehr, die Verhältnisse als gegeben hinzunehmen, darauf zu vertrauen, dass »die Politik« schon ihr Möglichstes tun wird, um für eine lebenswerte Gesellschaft zu sorgen, oder, was viel öfter der Fall ist, sich zumindest damit abzufinden, dass man ohnehin nichts ändern kann.

Die Dominanz des Neoliberalismus hat für viele eine Verschlechterung der Bedingungen gebracht, ein anständiges Leben führen zu können. Arbeitslosigkeit und Wohnkosten sind stark gestiegen, die Zahl der Jobs, die nur Hungerlöhne einbringen, ebenso. Arbeitsbelastung und Stress nehmen laufend zu, Solidarität und Klassenbewusstsein, und damit auch das Wissen darüber, dass es grundlegende gesellschaftliche Interessenskonflikte gibt und eben nicht jede*r ihres*seines Glückes Schmied ist, ab.

Stattdessen greift die Erzählung vom individuellen Versagen und der persönlichen Schuld, wenn sich statt Erfolg nur Burnout einstellt, wenn sich trotz massiver Arbeitsbelastung die Geldbörse lange vor Monatsende leert. Die Hoffnung, die Politik würde sich darum kümmern, dass alle ein Auskommen finden, schwindet bei immer mehr Menschen. Die Politikverdrossenheit steigt, Ohnmachtsgefühle sind weit verbreitet und populistische Parteien und Verschwörungstheorien im Aufwind.

Was aber tun, um einen neuen Pfad in Richtung mehr Demokratie einzuschlagen und den geschilderten Phänomenen entgegenzuwirken? Selbstverständlich braucht es mehrere Maßnahmen auf allen Ebenen. Doch die Nachbarschaften, das Grätzl und der Kiez bilden wichtige Ausgangspunkte für die Stärkung der Demokratie. Der Maßstab des Lokalen, des eigenen Lebensumfelds bietet konkrete Anlässe für Diskussion und Engagement. Hier kann erlebt werden, dass die eigenen Wünsche Berechtigung haben, kann Gegebenes in Frage gestellt und gemeinsam mit anderen um gute Lösungen gerungen werden. Im eigenen Viertel verfügt man über Alltagsexpertise, kennt die Probleme und Schwachstellen genauso wie ein paar Menschen, mit denen Vorstellungen diskutiert und ein Veränderungsprozess gestartet werden kann.

Sich austauschen, andere Meinungen und Erfahrungen kennenlernen, tätig werden und Ideen gemeinsam erfolgreich umsetzen, sind Interventionen gegen die Ohnmacht und damit auch Schulen der Demokratie. Doch aktives, öffentliches Engagement benötigt Raum, der niederschwellig und kostenlos zur Verfügung steht. Egal ob es sich um Engagement in Stadtentwicklungsfragen oder die Bildung eines Nachbarschafts-Treffs, um Eltern-Kind- Gruppen, Fablabs, Repair- oder Sprachcafés, Kunst, Kreativ-Experimente oder soziale Start-ups handelt: Ohne räumliche Ressourcen bleiben viele gesellschaftlich nützliche Ideen auf der Strecke. In einer Gesellschaft, die mehr und mehr auseinanderdriftet und deutliche demokratische Defizite offenbart, braucht es offene demokratische Räume als integralen Bestandteil für funktionierende Nachbarschaften, die für Stadtteilversammlungen genauso Platz bieten wie für informelle Treffen, gesellige Feierlichkeiten, Weiterbildung, Kulturveranstaltungen und gesellschaftspolitisches Engagement.

Top-down oder zwischengenutzt: Die Wiener Situation

In der Zweiten Republik wurden Institutionen, die man tendenziell als offene Räume bezeichnen kann wie Volkshochschulen oder Büchereien, in Wien zwar wieder in Betrieb gesetzt und später auch neue wie die Volksheime oder die Häuser der Begegnung gegründet, aber im Vordergrund stand stets ein Top-down-Angebot und ideologische Vorstellungen wie beispielsweise »der Vermassung des Einzelnen in der Stadt« entgegenzuwirken (Ganglbauer 2012). Räume einfach günstig und unkompliziert als Ressource zur Verfügung zu stellen oder vielleicht sogar offensiv anzubieten, wurde von der Stadt nahestehenden Institutionen nie aufgegriffen oder umgesetzt.

Die Kultur suchte sich eigene Räume und fand sie in der Nachkriegszeit nicht zuletzt in den Kellern der Stadt. Auch die Wiener Kaffeehäuser bildeten noch lange Zeit wichtige Ressourcen als Treffpunkte für Künstler:innen, politische Gruppen und Initiativen.

In den 1970er- und 80er-Jahren standen in Folge des Strukturwandels vermehrt Gewerberäume, Fabriksgebäude und anderer Leerstand zur Verfügung, der von einer neuen Generation besetzt wurde. Einige davon bilden bis heute wichtige Orte für eine selbstbestimmte Alternativkultur und gesellschaftspolitisches Engagement wie Arena, WUK, Amerlinghaus oder EKH. Trotz ihres Stellenwerts für die Stadt mussten alle in den letzten Jahren um ihr Überleben kämpfen. Andere sind mit großer Brutalität geräumt worden wie etwa die Besetzungen in der Gassergasse und Aegidigasse. Insgesamt spielten Besetzungen in Wien im Vergleich zur Schweiz und Deutschland immer nur eine Nebenrolle. Der Umgang damit war und ist, bis auf eine kurze Phase, stets sehr restriktiv. Damit blieb und bleibt ein interessanter Nährboden für gesellschaftliche Entwicklungen, den Besetzungen bilden können, in Wien stark unterentwickelt. Wie wichtig aber die Erfahrungen eines experimentellen und selbstbestimmten Umgangs mit (Frei)Räumen sind, zeigen die Gründungen der heute hochbeachteten, weil sozial und baulich höchst innovativen Zürcher Wohnbau-Genossenschaften oder des Mietshäuser Syndikats in Deutschland, die jeweils aus Hausbesetzungsbewegungen hervorgegangen sind (siehe auch das Interview mit Andreas Wirz in dérive 77, S. 6–12).

Neue Räume in Wien entstehen derzeit im Umfeld von gemeinschaftlichen Hausprojekten, die aber bis auf wenige Ausnahmen relativ klein sind. Ein weiterer Versuch, (sozio) kulturelle Räume zu schaffen, stellt das Konzept der Ankerzentren dar, mit dem die Wiener Kulturpolitik dezentrale kulturelle Angebote in die Randbezirke bringen will. Ob sich diese Orte zu Ressourcen für eine selbstbestimmte und aktive Stadtgesellschaft entwickeln werden, wird sich erst zeigen. Dass sie maximal eine längst nötige Ergänzung, aber sicher nicht ein Ersatz für bestehende zentrale Räume sein können, ist jedoch heute schon klar.

Dominiert wird die aktuelle Debatte vom Thema Zwischennutzung, das in Wien noch immer als Allheilmittel gegen den steigenden Raumbedarf speziell für Kunst und Kreativwirtschaft gesehen wird. Vor allem aber wird Zwischennutzung sehr strategisch zur Attraktivierung von Stadtentwicklungsgebieten eingesetzt, immer unter dem Vorzeichen der großen Dankbarkeit der NutzerInnen und ohne jegliche Diskussion darüber, wer hier Werte schafft, und wer davon profitiert.

In den letzten zwei Jahrzehnten sind auch in Wien viele genutzte oder potenziell nutzbare Räume verschwunden. Sie fallen der Stadtentwicklung oder dem Umstand zum Opfer, dass sich Immobilieninvestor:innen mittlerweile für Stadtgegenden und Objekte interessieren, die lange Zeit außerhalb von Entwicklungsinteressen standen. Die Ideologie der Ökonomisierung aller Lebensbereiche macht auch in Wien weder vor öffentlichen Räumen noch vor Räumen für künstlerische, soziale und gesellschaftliche Anliegen halt. Die generelle Inwertsetzung von Raum und Ressourcen verhindert die Entfaltung von gesellschaftlichen Potenzialen zur Lösung von Zukunftsfragen. Sie produziert soziale Ausschlüsse, gesellschaftliche Ungleichheit und demokratiepolitische Defizite. Die Verfügbarkeit von Raum für Tätigkeiten, die außerhalb einer monetären Verwertbarkeit liegen, ist damit eine hochpolitische Frage und berührt die Zukunft der städtischen Gesellschaft.

Gemeingüter, Commons und PCPs

Doch wie sollen und können unter den herrschenden Bedingungen hybride demokratische Räume für die urbane Gesellschaft entstehen? Interessante Ansätze liefert das Konzept der Gemeingüter oder Commons, das seit einigen Jahren eine viel beachtete Renaissance feiert. Die Potenziale der Commons, geteilter materieller Ressourcen, die einen Möglichkeitsraum jenseits von Staat und Privat eröffnen und damit die Eigentumsfrage neu verhandeln, werden in alle Richtungen erforscht und in ihrer Anwendung laufend erweitert. Unauflöslich damit verbunden ist die soziale Praxis des Commoning, der gemeinsamen, radikal-demokratischen Aushandlung und Verwaltung eben jener Ressourcen zum Vorteil aller. Immer mehr progressive europäische Städte widmen sich der Entwicklung eines Regelwerks für urbane Commons als Grundlage für Privat-Civic-Partnerships (PCPs), also einer Zusammenarbeit zwischen Stadtpolitik und Stadtgesellschaft auf Augenhöhe.

In der vorliegenden Ausgabe werfen wir Schlaglichter auf einzelne Entwicklungen und Beispiele von demokratischen Räumen, die von Polen bis Argentinien und Brasilien reichen. Ein besonderer Schwerpunkt gilt auch Zürich, das mit den Gemeinschaftszentren sowohl über ein Netz von Einrichtungen verfügt, das sowohl eine breite Versorgung der Stadtbevölkerung mit Räumen garantiert als auch durch seine Geschichte der Besetzungen immer wieder viele Freiräume entstehen sah und sieht. Zum Thema Commons und Raum findet sich mit L200 ebenso ein Beispiel im Heft. Auch Polen verfügt, wie andere Länder des ehemaligen Ostblocks, über ein reiches Erbe an Kulturhäusern, die ein großes räumliches Potenzial bereithalten. Besonders beeindruckend sind die Beispiele aus Südamerika, die wir in diesem Schwerpunkt vorstellen: Die Nachbarschaftszentren in Argentinien ebenso wie die sozialen Museen und die SESCs in Brasilien.

Die redaktionelle Arbeit an diesem Schwerpunkt hat gezeigt, dass es sowohl eine große Geschichte an demokratischen Räumen als auch wiederkehrendes Interesse daran gibt, es aber an umfassender und breiter Forschung zum Thema fehlt. Die meisten Forschungsarbeiten widmen sich einzelnen Phänomenen wie den Centri Sociali in Italien oder den Volksbildungseinrichtungen in Österreich, die Suche nach dem Gemeinsamen und Übergreifenden, die Analyse des gesellschaftlichen und demokratiepolitischen Potenzials existiert jedoch erst in Ansätzen. Einen kleinen Beitrag will dieser Schwerpunkt dafür leisten.

dérive, Di., 2020.10.27

27. Oktober 2020 Christoph Laimer

Die unbekannte Karriere der Moderne-Architektin Elizabeth Scheu Close

(SUBTITLE) One of the largest oeuvres by an Austrian Modern architect happens to be almost unknown in Austria – how is that possible?

Eines der umfassendsten Gesamtwerke, das ein österreichischer Architekt der Moderne im Zeitraum von 1938–1991 aufweisen kann, ist in Österreich unbekannt – wie ist das möglich? Nun, es ist möglich, weil man diese architekturschaffende Person im Deutschen gendern sollte, denn diese ist eine Frau.

Man kennt Rudolf Schindler, Richard Neutra und Victor Gruen, aber eine Architektin? Elizabeth Scheu Close, nie gehört! Es ist eine spannende Geschichte, wie man im 20. Jahrhundert als Wienerin in der Architektur der Moderne in den USA reüssieren konnte, in der früheren Heimat jedoch nicht wahrgenommen wurde. Noch dazu, wenn man in einem von Adolf Loos geplanten Haus aufgewachsen ist!

Die renommierte amerikanische Architekturhistorikerin Jane King Hession hat in ihrem jüngst erschienenen Buch, Elizabeth Scheu Close – A Life in Modern Architecture die einmalige Geschichte einer mutigen jungen Frau aus Österreich erzählt, die 1932 zum Studium in die USA auswanderte und die erste und bedeutendste Architektin in Minnesota wurde. In dem Bildband werden erstmals das reichhaltige Œuvre und nachhaltige Wirken der Architektin, die über 50 Jahre lang aktiv war, umfassend dargestellt, ein repräsentativer Querschnitt durch ein Werk von 456 aufgelisteten Projekten. Ebenso hat Jane Hession ein sensibles biografisches Portrait verfasst, hatte sie doch noch Gelegenheit gehabt, mit Lisl, wie sie zeitlebens genannt wurde, persönliche Gespräche zu führen.

Elisabeth (später Elizabeth) Scheu, geboren 1912, ist in der Larochegasse 3 in Wien Hietzing aufgewachsen und war – im doppelten Sinne – stark durch ihr Elternhaus geprägt. Es waren ihre aufgeschlossenen Eltern gewesen, die Schriftstellerin und Verlegerin Helene Scheu-Riesz (1880–1970) und der Anwalt Gustav Scheu (1875–1935), die Adolf Loos mit der Planung ihres Hauses beauftragt hatten, das 1913 von Familie Scheu bezogen wurde. Elisabeth lebte bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr in dieser Architektur-Ikone, womit ihr das Leben in der Moderne quasi in die Wiege gelegt worden war. Je älter sie wurde, desto mehr begriff sie die Wirkungsmacht von Architektur, wie diese nicht nur zum Quell von Inspiration, sondern auch von Provokation werden kann, so wie sie das beim Haus Scheu erlebte.

Gegen Ende ihrer Schulzeit wusste Elisabeth Scheu, dass sie Architektin werden wollte, bereits damals fokussiert auf die aufkeimende Moderne. Die Prägung in einem Loos-Haus aufgewachsen zu sein hatte entschieden dazu beigetragen, nebst der Ermunterung durch die Eltern einen ihren Talenten entsprechenden Beruf anzustreben. Beides waren außergewöhnliche Faktoren einer weiblichen Biographie im bürgerlichen Wien der Zwischenkriegszeit.

Elisabeth Scheu begann ihr Architekturstudium an der Technischen Hochschule in Wien 1930 – zehn Jahre, nachdem Frauen zum Studium zugelassen worden waren, immer noch eine Herausforderung. Die männerdominierte Fakultät legte den Kolleginnen konsequent Steine in den Weg. »Die wollten dort einfach keine Frauen«, erinnerte sich Elizabeth Scheu Close. Dies war einer der Gründe, dass sie für sich in Österreich keine Zukunft sah, der andere war der verstärkte Antisemitismus; Helene Scheu-Riesz war zwar als Quäkerin aktiv, aber sie entstammte einer jüdischen Familie. Im Jahr 1932 bestieg Elisabeth Scheu ein Schiff nach New York, um am MIT – Massachusetts Institute of Technology in Boston ihr Architekturstudium fortzusetzen und niemand konnte damals ahnen, dass sie in den USA bleiben und ihr Lebensmittelpunkt Minnesota werden würde.

Nach ihrem Studienabschluss 1935 arbeitete sie drei Jahre lang in Architekturbüros in Philadelphia und Minneapolis, bevor sie 1938 gemeinsam mit Winston Close (1906–1997), ihrem Studienkollegen am MIT und späteren Mann in Minneapolis ein Büro explizit für moderne Architektur eröffnete. Die beiden setzten diesen Plan auch um und hinterließen ein breit gefächertes, nachhaltiges Werk.

Der erste Planungsauftrag sollte ein erschwingliches Haus für drei junge Universitätsprofessoren sein, das diese als Wohngemeinschaft bewohnen wollten, eine Bauaufgabe, bei welcher Close & Scheu Architects, wie sie ihr Büro bis zu ihrer Hochzeit nannten, ihren Innovationsgeist beweisen konnten: Ein Haus mit Flachdach, um überflüssige Kubatur zu sparen. Der boxy style war für Minnesota nicht nur wegen seiner schneereichen Winter eine Besonderheit, sondern wegen der reduzierten Form eine Provokation, wurde es doch in der Wiederverkäuflichkeit in Frage gestellt. So erging es Elizabeth Scheu Close ähnlich wie Loos – visionäre Architektur war ein Grund zur Anfeindung. Das Holzhaus, das immer noch steht, besticht in seinem Selbstverständnis einer unaufgeregten Moderne, die ihre Wiener Spuren nicht leugnen kann.

Während des Zweiten Weltkriegs ließen Elizabeth and Winston Close, Architects ihre Befugnis ruhen und Scheu Close arbeitete für die Page & Hill Defense Company, die vorfabrizierte Häuser für Kriegsheimkehrer errichtete. Sie war bis in die späten 1950er Jahre für diese Firma als Architektin tätig, mehr als tausend Einfamilienhäuser wurden nach ihren Plänen errichtet. 1946 wurde Winston Close zum leitenden Architekten der Campusplanung in Minneapolis bestellt, während Scheu Close alleinverantwortlich das Büro führte. Die Bauaufgaben waren ab dann vielfältig, von zahlreichen Einzelhäusern und Wohnbauten, über Spitäler bis zu Firmengebäuden, oder dem Wettbewerb für das Franklin D. Roosevelt Memorial in Washington im Jahr 1960. Elizabeth Scheu Close war in den USA eine der ersten Frauen in der Branche und hatte die Chance, moderne Architektur im größeren Maßstab umzusetzen. Außergewöhnlich dabei ist die ungebrochene Karriere von 1936 bis 1991, während Europa durch den Nationalsozialismus dem Antimodernismus unterworfen wurde.

2002 wurde sie vom AIA – American Institute of Architects für ihr Lebenswerk geehrt, »das von wesentlicher Bedeutung für das Architekturgeschehen in Minnesota war und dessen Baukultur mitbestimmt hat.« Jane Hessions Verdienst ist es, ein Stück amerikanischer Architekturgeschichte erforscht und eine Strömung der Moderne österreichischer Provenienz in einem großartigen Buch öffentlich gemacht zu haben hat.


Jane King Hession
Elizabeth Scheu Close –
A Life in Modern Architecture Minneapolis/London:
University of Minnesota Press, 2020 256 Seiten, ca. 35 Euro

dérive, Di., 2020.10.27

27. Oktober 2020 Judith Eiblmayr

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