Editorial
Flanieren, schauen, kurz stehenbleiben und innehalten, beobachten und entdecken – während der Corona-Pandemie erlebt der Stadtspaziergang eine unerwartete Renaissance. Seit März dieses Jahres sind wir vorerst alle gezwungen, nicht in die Ferne zu schweifen, sondern unsere Kreise enger um den eigenen Wohnort zu ziehen. Also haben wir einige unserer langjährigen db-Korrespondenten gebeten, für uns auf Entdeckungstour durch ihre Quartiere zu gehen.
Herausgekommen ist eine spannungsreiche Mischung sehr unterschiedlicher Projekte und Bautypen – darunter sowohl Neubauten als auch Sanierungen. Begleiten Sie uns auf den folgenden Seiten zu Stadtspaziergängen durch Amsterdam, Berlin, Köln, Wien und Zürich. Es lohnt sich auf jeden Fall! | Ulrike Kunkel
Klar Schiff machen
(SUBTITLE) Schwimmende Siedlung »Schoonschip« in Amsterdam (NL)
Die niederländische Redewendung »schoonschip maken« ist gleichbedeutend mit »klar Schiff machen«, aber »schoon« bedeutet auch ganz wörtlich »sauber«. Damit hat die Flotte aus 46 Wohnbooten, die in einem Kanal im Norden Amsterdams liegt, einen passenden Namen bekommen, will sie doch die nachhaltigste schwimmende Siedlung Europas sein. Unsere Amsterdam-Korrespondentin durchstreifte die Siedlung für uns.
Der Johan van Hasseltkanal ist ein 1908 begonnener, aber nie vollendeter Nebenkanal des Flusses IJ in Amsterdam. Nur 900 m vom IJ entfernt endet er bereits als Sackgasse. Rund um dieses unfreiwillige Hafenbecken erstreckt sich der Polder Buiksloterham, der im 20. Jahrhundert als Gewerbe- und Industriegebiet eingerichtet wurde. Da jedoch der Wohnraumbedarf in Amsterdam groß ist und Buiksloterham nur einen Katzensprung von der Innenstadt entfernt liegt, begann vor etwa zehn Jahren eine Transformation der Gegend: Sie soll zu einem nachhaltigen, zirkulären Wohnviertel werden. Entgegen ihrer Gewohnheit, solche Gebiete aufzukaufen und in einem Rutsch zu beplanen, gibt die Stadt die nur schrittweise zur Bebauung frei. Zurzeit präsentiert sich die Gegend daher als spannendes Mischgebiet, in dem neue Baugruppenprojekte und Nullenergiehäuser zwischen Logistikbetrieben und Baumärkten entstehen.
Mitten in diesem Gebiet liegt, oder besser gesagt schwimmt, die Siedlung Schoonschip im Van Hasseltkanal. Sie zählt 30 Wassergrundstücke mit insgesamt 46 Wohnungen und beansprucht für sich, das »nachhaltigste schwimmende Wohnviertel in Europa« zu sein. Vermutlich stimmt das sogar, denn die Konkurrenz dürfte in dieser Kategorie nicht allzu groß sein.
Schwimmendes Asterixdorf
Von Süden kommend, überquert man eine kleine Brücke über den Kanal, ehe man die Häuser sieht. Wie ein Asterixdorf treibt das bunte Häuflein vor einer Kulisse aus achtgeschossigen Wohnblöcken (darunter mit Patch22 der bislang höchste Holzbau der Niederlande). Auf der gegenüberliegenden Kanalseite blickt man auf den Parkplatz eines Baumaschinenverleihs, vor dem ein altes Feuerschiff vertäut ist; ein Stückchen weiter wachsen entlang des Kais wiederum neue Wohnbauten aus dem Boden empor.
Den Zugang zu Schoonschip bilden hölzerne Stege. Aus der Nähe wird offensichtlich, dass alle schwimmenden Häuser zwar dieselbe Kubatur haben, dass sich ihre Architektur aber stark unterscheidet: von minimalistisch bis anthroposophisch ist alles dabei, wobei Holzbeplankungen in allen erdenklichen Maßen und Schattierungen das Bild bestimmen. Die breiten Stege zwischen den Häusern dienen gleichzeitig als öffentlicher Raum und als Abstellfläche, auf der Fahrräder, Kanus und Blumenkübel stehen. Hier und dort zimmert ein Bewohner noch an Teilen seines Heims, während seine Kinder auf dem Steg oder an der Uferböschung spielen. Neben den Stegen »treiben« kleine Erdhügel im Kanal, die bald zu schwimmenden Gärten werden sollen.
Von der Idee zur Produktion
Die Idee für Schoonschip hatte die Filmemacherin Marjan de Blok, als sie 2008 einen Dokumentarfilm über ein nachhaltiges Wohnboot drehte. Sie träumte von einer energieneutralen und zirkulären Siedlung solcher Häuser, und wusste damit bald auch einige Freunde zu begeistern. Gemeinsam entwickelten sie erste Ideen für die Realisierung. Den Standort fanden sie, als eine Architektin dazustieß, die wusste, dass im Bebauungsplan für Buiksloterham eine schwimmende Siedlung vorgesehen war. Kurz darauf lernte Marjan de Blok bei einem Vortrag über ein anderes Wasserwohnprojekt Sascha Glasl vom Architekturbüro Space & Matter kennen und beauftragte ihn mit einer Machbarkeitsstudie für den Standort in Amsterdam. Space & Matter setzten die Ideen der Freundesgruppe in einen Städtebauplan um und begleiteten die Bauherren, die inzwischen eine Stiftung gegründet hatten, in der Planungsphase. In Workshops mit den zukünftigen Bewohnern stellten sie deren Wünsche fest und entwickelten daraus das Konzept. Um sich moralisch zu verpflichten, musste jeder Teilnehmer ein Manifest unterschreiben, in dem die nachhaltigen Ambitionen festgehalten wurden.
Der Städtebauplan besteht aus fünf T-förmigen Holzstegen, deren Enden durch mobile Stegelemente – eigentlich Flöße – miteinander verbunden sind. An jedem T liegen, der Aussicht zuliebe leicht gegeneinander verdreht, sechs schwimmende Häuser. Während der Bebauungsplan 30 identische Bauten vorsah, schlugen die Architekten vor, die Hälfte der Parzellen mit 120-160 m² großen Doppelhäusern zu bebauen, sodass insgesamt 46 Wohneinheiten entstanden. Als Treibkörper dient jeweils eine 2,5 bis 3 m tiefe Betonwanne mit einem Aufbau in Holzskelettbauweise. Alle Häuser werden an einem Kanal im 10 km entfernten Zaandam gebaut, dann per Kran zu Wasser gelassen und nach Amsterdam geschleppt.
Upfall-Dusche und Mobility Hub
Bei der Materialisierung hatten die Bewohner im Prinzip freie Wahl, aber die meisten haben sich im Sinne des Manifests für natürliche, erneuerbare Materialien entschieden. Fast alle Häuser haben Holzfassaden; ein Wohnboot ist jedoch mit Solarpaneelen bedeckt, und ein anderes hat begrünte Wände. Der Architekt Wouter Valkenier hat sein schwimmendes Heim sogar komplett aus Restmaterialien gebaut. Beton ist, außer natürlich in den Treibkörpern, kaum vertreten, und Stahl wurde nur in wenigen Häusern als Balken für große Überspannungen verwendet.
Auf den Dächern der Häuser befinden sich Solarpaneele und Sonnenboiler. Heizwärme wird mithilfe von Wasserwärmepumpen aus dem Kanal gewonnen, dessen Mindesttemperatur in 4 m Tiefe bei 4-5°C liegt. Bemerkenswert ist, dass die gesamte Siedlung mit einem einzigen Anschluss an das staatliche Stromnetz auskommt. Jedes Haus ist mit einer Batterie ausgestattet, in der der Überschuss an gewonnener Energie gespeichert und mittels eines Smartgrid unter den Bewohnern verteilt wird.
Das Wasser für Duschen und Toiletten stammt aus 1000-Liter-Regenwassertanks. Das reicht, denn die Häuser sind mit Vakuumtoiletten ausgestattet, die nur 1 l Wasser pro Spülung verbrauchen, und viele nutzen außerdem Upfall-Duschen, bei denen das Wasser in einem geschlossenen System zirkuliert und kontinuierlich aufbereitet wird, sodass nur etwa 2 l Frischwasser pro Duschminute benötigt werden.
Autos besitzen die Bewohner von Schoonschip nicht mehr. Stattdessen teilen sie sich einen Fuhrpark mit Elektroautos, -mopeds und -rädern, die in einem Mobility Hub organisiert sind und auf einem nahen Parkplatz bereitstehen.
Einheitliche Bewohnerschaft
Ein Spaziergang über die Stege bietet trotz niederländischer Gardinenlosigkeit weniger Einblicke als man erwarten würde. Zwar offenbaren ein paar Häuser dank großer Fensterfronten ihr großzügiges Innenleben mit Split Levels und offenen Grundrissen – so etwa das schwimmende Haus, das Sascha Glasl für sich selber entworfen hat. Viele andere zeigen dem Besucher jedoch die kalte Schulter und öffnen sich nur zum Wasser hin. Denn bei aller Variation ist eines sehr einheitlich: die soziale Zusammenstellung der Bewohner. Allesamt sind sie junge, gut ausgebildete, gutverdienende Niederländer, darunter viele Kreative und auch manch bekannte Medienpersönlichkeit. Am Zugang zu den Stegen weisen (sehr unniederländische) Schilder darauf hin, dass man sich auf Privatgelände begibt und Besuchergruppen nicht erwünscht sind.
Dementsprechend kam auch schnell der Vorwurf auf, es handele sich um ein elitäres schwimmendes Dorf. Dabei wollten die Initiatoren angeblich sogar soziale Mietwohnungen ins Konzept aufnehmen, aber die kontaktierte Wohnungsbaugesellschaft konnte nicht schnell genug mitziehen. Die Initiatoren hoffen nun, dass ihr Beispiel Schule machen wird.
Und warum auch nicht, denn in den dicht bevölkerten Niederlanden herrscht Wasserüberschuss und werden immer mehr Rückhaltebecken benötigt, während gleichzeitig das Bauland knapp wird. Schwimmende Häuser verursachen dank der ausgelagerten Produktion kaum Baulärm und sind komplett reversibel. Das weiß man schon, seit vor zehn Jahren auf dem Steigereiland (s. db 10/2010, S. 18) die erste Wassersiedlung angelegt wurde, an der sich Schoonschip jetzt orientiert hat. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis irgendwo Version 3.0 auftaucht.db, Mo., 2020.06.08
08. Juni 2020 Anneke Bokern
Happy Hour
(SUBTITLE) Baugruppenprojekt Gleis 21 in Wien (A)
Hinter dem neuen Wiener Hauptbahnhof stehen viele uninspirierte Wohnkisten von gemeinnützigen und freifinanzierten Bauträgern. Im einheitlichen Häusermeer fällt ein Wohnprojekt jedoch erfreulich aus der Reihe: Das »Gleis 21« von einszueins architektur setzt Lebenslust eins zu eins in Baukultur um. Unser Wien-Korrespondent hat es bei einem seiner Stadtspaziergänge eingehend für uns erkundet.
Die Cafés und Restaurants sind seit Wochen geschlossen, auch hier im Sonnwendviertel hinter dem neuen Wiener Hauptbahnhof, wo in den letzten Jahren auf dem Areal der ehemaligen Fracht- und Verschubgleise ein ganzes Stadtviertel für fast 20 000 Einwohner aus dem Boden gestampft wurde. Die Gassen, Straßen, Fußgängerzonen wirken ausgestorben, wie dieser Tage fast überall auf der Welt. »Hinsetzen darfst dich nicht, aber zum Mitnehmen und Spazierengehen kann ich Dir gern ein frisches Semmerl mit Ziegenkäse machen, wennst magst«, sagt Sabine Anreiter, vor ihr eine Theke voller Köstlichkeiten aus Tirol, Kärnten, Oberösterreich. Der Greißlerladen »Bio Mio« in der Bloch-Bauer-Promenade ist nicht nur ein schönes, wohlriechendes Geschäftchen, sondern auch ein Ersatz für den Kaffeehaus-Tratsch, für das sogenannte Plauscherl.
»Weißt, ich wohne und arbeite im gleichen Bezirk, zehn Gehminuten voneinander entfernt«, sagt die 58-Jährige, »aber zwischen meinem Wohnort und meiner Arbeitsstätte liegen Welten. Man geht ein paar Blocks und ist plötzlich in einer vollkommen neuen Stadt. Im alten Favoriten leben viele Migranten, es geht wild und chaotisch zu. Im neuen Favoriten aber verwirklicht sich die gehobene Mittelschicht, bestehend aus Lehrern, Journalisten und Akademikern, und baut sich ihr kleines, feines Paradies. Noch fehlt mir die Lebendigkeit. Aber dafür bin ich beeindruckt, wie gut sich die Menschen hier vernetzen. Es ist, als würde über der Stadt, wie in einem kleinen Dorf, ein unsichtbares Spinnennetz von privaten und beruflichen Kooperationen liegen.«
Erfreulicher Einzelgänger
Ein Produkt genau solch feinmaschiger Netzwerkarbeit liegt wenige Meter weiter stadtauswärts. Am Nachbargrundstück befindet sich ein für diese Gegend untypisches Wohnhaus, das aus dem Häusermeer aus schicken, reduzierten, minimalistischen Einheitswohnbauten in Architekturweiß und Architekturgrau heraussticht: Das sogenannte Gleis 21, Produkt einer 66-köpfigen Baugruppe, macht mit seinem kanariengelben Sockel, seiner warmen Holzfassade, seinen blauen und türkisen Fenstern und seinem irgendwie zusammengestrickten Laubengang aus Sichtbeton und verzinktem Stahl auf den ersten Blick schon gute Laune.
»Der offene Laubengang ist wirklich etwas rough«, sagt Patrick Herold, der mit seiner Frau Birgit und dem zweijährigen Sohn Leo im ersten Stock wohnt, eine Eckwohnung am freistehenden Treppenhaus, ein Gespräch zwischen Straße und Balkon wie dereinst zwischen Romeo und Julia. »Aber dafür bietet er viel Fläche und Flexibilität. Der Gang ist so breit, dass man ihn selbst fast schon als eine Form solidarischen Wohnens bezeichnen könnte. Manche Bewohner parken hier ihre Kinderwagen, andere haben ein kleines Sofa draußen stehen, und es gibt sogar Leute, die am Abend ihren Esstisch hinausstellen und ihre Nachbarn auf ein paar Tapas einladen.« Nach einer Weile dann, keine Essenseinladung zwar, aber immerhin: »Magst raufkommen und dich etwas umschauen? Ich mach dir auf!« ›
Planen in der Baugruppe
Gleis 21, ein Kooperationsprojekt des Bauträgers Schwarzatal, des Kärntner Holzbauunternehmens Weissenseer und des auf Baugruppen und Partizipationsprojekte spezialisierten Wiener Architekturbüros einszueins, ist ein Holzhybridbau mit 34 Wohnungen auf insgesamt 4 000 m² Nutzfläche. Außerdem gibt es Bibliothek, Werkstatt, Saunahaus, Fitnessraum, eine großzügig verglaste Waschküche, eine Gemeinschaftsküche auf dem Dach, eine private Musikschule im Souterrain, ein paar anmietbare Mini-Apartments für Gäste und Flüchtlinge sowie ein leider noch schlummerndes Restaurant, für das man noch einen Betreiber sucht. Besonders stolz sind die Bewohner – 46 Erwachsene, 20 Kinder – auf den großen Veranstaltungssaal im EG, der u. a. vom Wiener Stadtkino bespielt und vom berühmten Burgtheater als Dependance und Off-Space genutzt wird. Vor der Corona-Krise gab es Lesungen, Filmvorführungen, Tanzveranstaltungen, zuletzt ein komplett ausverkauftes Jazzkonzert.
»Sowohl in der Planungsphase als auch jetzt im Betrieb«, sagt Patrick, »war die gesamte Baugruppe in kleine Projektgruppen unterteilt. Die einen haben sich um die Farben und Materialien gekümmert, die anderen um die Konzeption der Gemeinschaftsflächen, wiederum andere um das wirtschaftliche Finanzierungs- und Betriebsmodell.« Auch heute noch ist jeder erwachsene Hausbewohner angehalten, zehn bis 15 Stunden pro Monat in die Hausgemeinschaft zu investieren – so z. B. in die Vermietung und Bespielung des Veranstaltungssaals sowie in die Pflege der projekteigenen Webseite.
»Arbeitsstunde, haben wir uns gedacht, würde so ernst und mühsam klingen. Daher sprechen wir lieber von Happy Hour. Das passt gut zum Happy Feeling dieses Hauses.«
Auch die Architekten selbst, inzwischen zu regelrechten Meistern soziokratischer Baugruppen-Moderation herangereift, erinnern sich mit größtem Vergnügen an die Planungszeit zurück. »Der Aufwand ist enorm, und manchmal braucht man Nerven wie Stahlseile«, sagt Projektleiterin Annegret Haider. »Aber am Ende kriegt man mehr Energie zurück als man investiert hat. Die Zufriedenheit derer, für die man plant, ist eine der schönsten Befriedigungen, die man als Architektin erleben kann.« Die langjährige Erfahrung zeigt, dass die Wohnzufriedenheit in Baugruppenhäusern deutlich höher ist als in klassischen Miet- und Eigentumswohnungen, die am Markt erhältlich sind. Für die Projekte von einszueins, so hört man, so liest man, trifft das insbesondere zu.
»Das Schöne ist«, sagt Architekt Markus Zilker, einer von insgesamt drei Partnern im Büro, »dass wir mit Menschen arbeiten, die Wohnen nicht nur als Ware, sondern in erster Linie als sozialen Raum und als Lebenskultur verstehen. Das schlägt sich natürlich auch in der architektonischen Gestaltung, in den unterschiedlichen Nutzungselementen sowie im Einsatz von materiellen Ressourcen nieder. Einer der wichtigsten Eckpfeiler dieses Projekts von der allerersten Stunde an war die Entscheidung, dass das Haus konstruktiv und atmosphärisch als Holzbau bzw. Holzhybridbau errichtet werden soll.«
Die Wahl fiel auf einen massiven, vertikalen Betonkern, in dem die Küchen, Sanitärräume und aussteifenden Scheiben untergebracht sind sowie auf Geschossdecken und Fassaden aus vorgefertigten Holzmodulen. Das Anschlussdetail von Holzverbunddecke und Betonlaubengang mittels Isokorb, erzählt Zilker, war eine technische Entwicklung von einszueins und Weissenseer und kam in dieser Form weltweit erstmals zum Einsatz. Andere konstruktive Details hingegen, so wie etwa die Anschlusspunkte zwischen Unterzug, Geländer und Entwässerungsmaßnahmen würden eher den Weg in die Fibel der Herzen als ins Bauhandbuch für Ingenieure finden.
Noch einmal drei Stockwerke in die Höhe. Die luftige Erschließung macht die Begehung nicht nur coronatauglich, sondern sorgt auch für ein gewisses Urlaubsflair: Fahrräder, Blumenkästen, hölzerne Kisten mit selbstgenähten Sitzkissen. Und immer wieder stehen die Fenster offen, die Menschen in ihren Küchen, ein Hallo aus der Tiefe des Raums. Im letzten Stock, direkt unter der kollektiven Dachbibliothek wohnt der Wiener Radio- und Zeitungsjournalist Michael Kerbler.
»Das Gleis 21 wird nicht jedem gefallen«, sagt er. »Muss es aber auch nicht. Diejenigen, die genauer hinsehen, werden darin nicht nur ein fröhliches, berührendes Wohnhaus für 64 Individualisten und Gemeinschaftsmenschen erkennen, sondern auch die Erkenntnis haben, dass Architektur gleichermaßen aus materieller Hardware und sozialer Software besteht. Das Gleichgewicht der Kräfte in diesem Projekt ist einfach perfekt. Kann schon sein, dass sie mich hier im Holzpyjama raustragen werden. Aber jetzt geht es mal darum anzukommen, sich ein neues Grätzel anzueignen und ein Stückerl Stadt in den nächsten Jahren ordentlich zu beleben. Es ist viel zu tun. Warst schon unten beim Bio Mio?«db, Mo., 2020.06.08
08. Juni 2020 Wojciech Czaja