Editorial

Im Hotel zu wohnen klingt nach William S. Burroughs, Nico und Marcel Prawy, nach Reise und Urlaub, nach Luxus und Muße. Wohnen im Hotel hat allerdings eine andere, weit weniger glamouröse und mondäne Seite und zwar dann, wenn das Zimmer eines Billighotels zur Wohnung wird, weil man sich die Miete am Wohnungsmarkt nicht mehr leisten kann. Ist das der Fall, hat man keine Wahl darüber, welches Hotel man bezieht, ob man im Hotelrestaurant oder zur Abwechslung vielleicht einmal in einem anderen Restaurant diniert, ob man doch wie- der auszieht und sich eine eigene Wohnung sucht und schlussendlich – und das ist der entscheidende Punkt – ob man sich frei entscheidet, im Hotel zu wohnen oder nicht. Im von Carina Sacher redaktionell verantworteten Schwerpunkt Willkommen im Hotel – Echo einer Krise geht es um das Wohnen im Hotel als Notlösung. Das betrifft, wie sie schreibt, Erwerbsarme, mittellose PensionistInnen, Obdachlose, Flüchtlinge, asylsuchende und zunehmend jüngst wohnungslos gewordene Familien.

Die historischen Hôtels meublés in Frankreich oder die Single Room Occupancy Hotels (SRO) in den USA, die im Schwerpunkt immer wieder auftauchen, wurden ursprünglich nicht deswegen aufgesucht, weil sich die BewohnerInnen in der eigenen Stadt keine Wohnung mehr leisten konnten. Viel eher waren sie Ankunfts- und Unterkunftsorte für ArbeitsmigrantInnen und nahmen »eine zentrale Rolle der bedingungslosen Aufnahme in Übergangssituationen« ein, was eine wichtige Funktion darstellte. Heute sind heruntergewirtschaftete Tourismushotels, abgelegene Motels oder Pensionen, in die seit ewig nicht mehr investiert worden ist, die Orte in denen AsylwerberInnen ihre Wartezeit auf den Asylentscheid absitzen, in denen wohnungslose Familien verzweifelt versuchen, so etwas wie Alltag zu leben, in denen verarmte PensionistInnen erkennen müssen, dass sie es mit ihrer Pension wohl nie wieder schaffen werden, die Miete für eine annehmbare Wohnung zu bezahlen.

Carina Sacher versammelt im Schwerpunkt Beiträge über unfreiwillige HotelbewohnerInnen im immer teurer werdenden Dublin (Mel Nowicki, Katherine Brickell und Ella Harris), über die wirtschaftliche Situation der vom französischen Staat teuer bezahlten sozialen Hotellerie (Erwan Le Méner) und über die Situation von Menschen, die in abgelegenen Motels in den USA leben (Abby Westberry). Ein weiterer Artikel dokumentiert die Situation in San Francisco und Oakland, wo die günstigen SROs immer öfter verschwinden und teuren Apartments für die sehr gut verdienenden IT-Arbeitskräfte aus dem Silicon Valley weichen müssen (Carla Leshne und Erin McElroy). AktivistInnen der Initiative Blocchi Precari Metropolitani (Irene di Noto, Valerio Muscella und Leroy S.P.Q.R’DAM) sprechen im Interview über die Wohnraumversorgung in Rom, ihren politischen Kampf für das Recht auf Wohnen und im Speziellen über das besetzte Hotel 4 Stelle.

Ihre Parole Riprendiamoci la città! (Nehmen wir uns die Stadt zurück!) ähnelt nicht nur derjenigen von DemonstrantInnen, die in Dublin gegen die Wohnungskrise auf die Straße gehen – Take back the city!, sondern auch derjenigen der linksradikalen italienischen Gruppe Lotta Continua, die im Italien der 1970er ein ganzes Programm unter dem Titel Prendiamoci la città (Nehmen wir uns die Stadt) verfasst hat. Klaus Ronneberger hat in seinem dérive-Artikel 1968 und die urbane Frage vor einem Jahr darüber geschrieben.

Hotel Publik – ein Dach über dem Kopf, das Kunstinsert von Alfredo Barsuglia, greift diesmal das Schwerpunktthema auf. Das 2 x 2,5 m große Häuschen Hotel Publik stand 2013/14 einige Monate vor dem Tiroler Landesmuseum in Innsbruck, dessen Stadtpolitik für seine rigide Verdrängungspolitik gegenüber Obdachlosen berüchtigt ist, und ermöglichte jedermann eine kostenlose Übernachtung.

Im ersten der beiden Artikel des Magazinteils, Vasco da Gama und Marco Polo in Hamburgs Hafencity, analysiert Katharina Prohl das fragwürdige Zusammenspiel von Straßennamen und Stadtmarketing in Hamburgs Hafencity und stößt dabei wenig überraschend auf Bedenkliches.

Obwohl wir bereits für die letzte Ausgabe einen ausführlichen Artikel über die Wiener Nordbahnhalle verfasst haben, müssen wir in dieser Ausgabe noch einen Text über diesen Stadtraum veröffentlichen, soviel ist seither passiert: Vandalismus, Feuer, Petitionsabweisung, Abriss. Mehr als ein Jahr intensives Engagement für ein soziokulturelles Nachbarschaftszentrum durch die IG Nordbahnhalle, an der auch dérive beteiligt ist, haben nicht gereicht, um die Nordbahnhalle vor der Visionslosigkeit der Wiener Stadtpolitik zu retten.

Stadtplanungspolitik und Bezirkspolitik, beide in grüner Hand, wollten nicht verstehen, was für eine tolle Chance auf ein Modellprojekt eine kooperative Entwicklung der Nordbahnhalle durch Zivilgesellschaft, Stadtpolitik und -verwaltung geboten hätte. In einem Stadtteil, der im fußläufigen Umfeld mehr Park- und Grünflächen aufweisen kann als so ziemlich jedes andere innerstädtische Viertel Wiens, war das Mantra von der Notwendigkeit von Grünflächen das zentrale Argument, um für den Abriss eines Gebäudes, das eine Grundfläche von 1.300 m² einnimmt, einzutreten. Dass es in dem Stadtentwicklungsgebiet, in dem die Halle liegt und in dem in einigen Jahren 20.000 Menschen leben werden, nicht eine einzige kulturelle Einrichtung gibt, zählte nichts. Die Nordbahnhalle muss weichen und ist nun Geschichte, dem Raumthema werden wir uns stadtpolitisch, publizistisch und mit Veranstaltungen 2020 dafür umso intensiver widmen.

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt
04—08
Willkommen im Hotel! Echo einer Krise
Carina Sacher

09-15
Prekäre Familien als lukrative Kundschaft Managementpraktiken eines Notunterkunft-Hotels
Erwan Le Méner

16—20
The Hotelisation of Dublin’s Housing Crisis Experiences of Family Homelessness
Mel Nowicki, Katherine Brickell, Ella Harris

21—26
The LOSS of SRO Hotels in San Francisco and Oakland
Carla Leshne, Erin McElroy

27—31
»Before its smell became me«
The Effects of Motel Residency on Socioeconomic and Social Insecurity
Abby Westberry, Elizabeth Lloyd Fladung

Kunstinsert
32—36
Alfredo Barsuglia
Hotel Publik
Ein Dach über dem Kopf

Schwerpunkt
37—41
4-Stelle-Hotel – Vom Nicht-Ort zum internationalen selbstorganisierten Haus
Irene Di Noto, Valerio Muscella, Leroy S.P.Q.R’Dam
Im Interview mit Carina Sacher

42—46
Vasco da Gama und Marco Polo in Hamburgs Hafencity Straßennamen und Stadtmarketing
Katharina Prohl, Raphael Dillhof

47—52
Das Ende der Nordbahnhalle
Christoph Laimer

Besprechungen
53—62
S. 53 Wir alle schätzen einander als Gestalten des Erstbesten
S. 56 Urbane Transformationsprozesse und ihre Manifestationen in Oberflächen
S. 57 Ein Park als Exempel von Überschreitungen
S. 58 »I am Moscow« – Bilder vom Rande der Stadt
S. 58 Le Corbusier in der russischen Buchhandlung
S. 60 Zur Rolle der Hyper-Präsenz im Film heute
S. 61 100 Jahre Zürcher Wohnbaugenossenschaften
S. 62 Das Privateigentum und dessen Versprechen hinterfragen

Willkommen im Hotel! Echo einer Krise

Wer anderer als der Hotelmensch per se Joseph Roth, selbst Vielreisender und Langzeitbewohner im Hôtel Foyot und zuletzt im Hôtel de la Poste im Pariser Viertel Saint-Germain-des-Prés, hätte ein scharfsinnigerer Erzähler des großstädtischen Hotellebens der Zwischenkriegszeit sein können? Als kosmopolitische Drehscheiben der Kunst, Wissenschaft, Industrie, des Finanzwesens und Handels bildeten die prachtvollen Stadthotels des späten 19. und ausgehenden 20. Jahrhunderts die gesellschaftliche Bühne für den Karriereaufstieg und einen Kontrapunkt zur bürgerlichen Existenz. Viele wohlhabende und schillernde Persönlichkeiten dieser Zeit begründeten im Hotel ihren Dauerwohnsitz oder zumindest den Pied-à-terre an prestigeträchtiger Adresse in der Stadt. Künstler wie Salvador Dali´ oder auch Andy Warhol machten das Hotel zum Schauplatz ihrer Aktionen und Experimente. Wohnen im Hotel mit Rundum- Service als luxuriöser Lebensstil kann, damals wie heute, nur als Randerscheinung bezeichnet werden.

Provisorische Wohnorte

Für jedes Portemonnaie war ein Zimmer mit Bett, Tisch, Sessel und einem Waschbecken für die minimale Hygiene über die ganze Stadt verteilt, oft an lebendigen Verkehrsknotenpunkten und in der Nähe von Fabriken, auf den Tag, die Woche, das Monat oder auch das Jahr zu mieten. Der junge, verarmte Tellerwäscher Eric Arthur Blair hielt den faszinierenden Einblick in das Leben eines dieser unzähligen Pariser Hôtels meublés in dem später unter dem Pseudonym George Orwell veröffentlichten Bericht Down and Out in Paris and London fest: »The lodgers were a floating population, largely foreigners, who used to turn up without luggage, stay a week and then disappear again. They were of every trade – cobblers, bricklayers, stonemasons, navvies, students, prostitutes, rag-pickers. Some of them were fantastically poor.« (Orwell 1933, S. 4)

Es war nicht die Reiselust, sondern die Notwendigkeit von Provisorien in den rasch anwachsenden Industriestädten für die nach Arbeit und einer besseren Existenz suchenden Menschen, die Nährboden für die Entstehung einer Bandbreite von privaten Hotel- und Unterkunftsstrukturen waren. Die Hôtels meublés oder Garnis in den französischen Städten (siehe Faure & Lévy-Vroelant 2007) und die Single Room Occupancy Hotels, kurz SRO, in den USA und Kanada (siehe Groth 1994) gehörten zu ein und demselben Phänomen von Ankunftsorten par excellence. Im Gegensatz zu den Hotel-Wahrzeichen der Luxusklasse betteten sich diese Hotels unauffällig ins Stadtgefüge ein, deren lebhafte Umgebung mit Bistros, Bars, Barbieren oder Waschsalons zusätzliche Bedürfnisse der BewohnerInnen zu stillen wusste. Als transitorische Wohnräume trugen sie wesentlich zur sozialen und wirtschaftlichen Integration der unteren und mittleren Arbeiterklasse in die großstädtische Gesellschaft bei. Gleichsam waren sie Abbild kosmopolitischer Vielfalt, arbeitsbedingter Mobilität und auch der Emanzipation von Frauen und jungen Männern. In Paris lebten um 1930 etwa 300.000 Menschen, also 12 Prozent der Bevölkerung in den 20.000 Hotels und hotelähnlichen Etablissements (vgl. Jankel, Lévy-Vroelant 2007, S. 10). In vergleichbarer Weise machten New Yorks 200.000 SRO-Hotelzimmer 10 Prozent des gesamten Wohnungsangebots um 1950 aus (vgl. Burke & Sullivan 2013, S. 120). Den Regierungen und Behörden waren sie, als Orte der Arbeiterklasse und Armut, seit jeher ein Dorn im Auge. Im Zuge rapider Verstädterung waren die Hotels, neu errichtete Häuser mit effizientem und flexiblem Grundriss oder umgebaute Wohngebäude, integraler Bestandteil der Immobilien- und Bodenspekulation.

Anfang des 20. Jahrhunderts stand Wohnen im Hotel – sowohl der Wohlhabenden als auch der Arbeiterklasse, TagelöhnerInnen und LandstreicherInnen – in den USA zunehmend in Kontrast, und damit in Kritik, mit der sich etablierenden Gesellschaftsform, die sich im homogen um die Städte ausbreitenden Einfamilienhausteppich materialisierte (vgl. Groth, S. 196f). Gleichsam häuften sich Studien über diese Wohnprovisorien, allem voran der Chicagoer Schule der Soziologie.[1]

Das weitere Schicksal der Hotelstrukturen und ihrer Gäste auf den beiden Kontinenten ähnelt einander sehr und kann als Geschichte der jeweiligen Stadt- und Wohnpolitik gelesen werden. Die Wohnungsnot nach Kriegsende bremste die für die Hotels lebenswichtige laufende Erneuerung der BewohnerInnenschaft. Sie wurden zusehends zum letzten Ausweg vor Obdachlosigkeit, zum einzigen Ort der Aufnahme in rauen diskriminierenden Zeiten. Mit dem algerischen Unabhängigkeitskrieg waren in den französischen Hotels vermehrt Algerier anzutreffen, die in ihnen alt geworden sind. In vielen Staaten der USA füllten sich infolge der Deinstitutionalisierung öffentlicher psychiatrischer Kliniken die SROs mit einer neuen Klientel (vgl. Groth, S. 272f).

Stigma und Missachtung hafteten auf diesen Gastgebern bedingungsloser Aufnahme und ihren BewohnerInnen. Viele der Hotels fanden in den Stadtsanierungsprogrammen der 1960er- und 1970er-Jahre, meist in kurzen intensiven Perioden, ihr Ende. Der Massenwohnungsbau verkleinerte die Nachfrage und der Umbau zu Wohnungen oder die Aufwertung zu Touristenhotels erwies sich inzwischen als weitaus gewinnbringender. In New York schrumpfte die Zahl der SRO-Hotelzimmer zwischen 1975 und 1981 um 60 Prozent (vgl. Wright & Rubin, S. 943). In ähnlichem Ausmaß verlor Paris innerhalb von sieben Jahren zwei Drittel der 1968 registrierten Ho^tels meuble´s (vgl. Faure & Le´vy-Vroelant, S. 266).

Das hinterlassene Vakuum an preiswerten und bedingungslosen Wohnräumen äußerte sich bei der nächsten Wohnungsknappheit durch sichtbare Obdachlosigkeit. In den USA war dies Anfang der 1980er-Jahre der Fall, als eine hohe Arbeitslosigkeit vorherrschte (vgl. Hoch & Slayton 1989, S.173ff). Ein Jahrzehnt später warnten Organisationen in Frankreich vor den Folgen des Verschwindens der Hôtels meublés.

Der Kapitalismus scheint aus dem letzten Loch zu pfeifen[2]

Attraktive Städte und Global Cities verkörpern heute die Epizentren der »globalen und totalen Produktion des sozialen Raums« (Lefebvre 1970, S. 165). Immobilien und allem voran Wohnungen stellen mittlerweile die gefragtesten Depots für weltweite, grenzenlose Wertanlagen in einem zügellosen Wett- lauf der Kapitalakkumulation dar.[3]

In den verschlossenen Einfamilienhäusern im US-amerikanischen For-sale-Schilderwald spukt die Leere. Ihre kurzzeitigen BesitzerInnen verließen ihren Traum oft in Windeseile. Er platzte, wie eben auch die Immobilien- und Hypotheken-Blase des perversen, global ausgetragenen Mensch-ärgere-dich- nicht-Finanzspiels, dessen Verwüstung weltweit zu spüren war (und noch ist). Als Ghost Estates, unfertige Wohnsiedlungen, stehen die Produkte des auf der irischen Insel wütenden Celtic Tiger wie Mahnmale dieser Gefräßigkeit, zuletzt durch ausländisches Direktinvestment, in der Landschaft. Die Ursachen sind bekannt, die Folgen wurden rasch unter den Teppich gekehrt.

Die Unfähigkeit zur Kreditrückzahlung, die Erhöhung der Mieten, die Kündigung von Mietverträgen und zuletzt Zwangsräumungen werfen Menschen, die bereits unter den Folgen der Lohnstagnation und einer zunehmenden Arbeitsprekarisierung leiden, aus den vertrauten Bahnen. Die Deregulierung des Wohnungsmarktes, eine diszipliniert durchgeführte Diät der öffentlichen Hand, ermöglicht durch den Rückzug aus der Objektförderung, der Verkauf kommunaler Wohnbauten und die Schaffung von Anreizen für private BauträgerInnen und Investmentfirmen transformierten die staatliche Verwaltung vieler Länder zu einem bloßen Rettungsdienst. In einer Zeit, in der ungerechte Wohnraumverteilung das Bild prägt und die globale Finanzkrise lokal tiefe Wohnungskrisen hinterließ, offenbart sich latente Wohnungslosigkeit, die Notwendigkeit zu erhöhter Wohnmobilität sowie Obdachlosigkeit scheinbar in stiller Akzeptanz. Die Not trifft auch die Mittelklasse und in drastischem Ausmaß Familien mit Kindern. Mietzuschüsse (Subjektförderung) für jene, die noch am Markt verharren, und die Unterbringung in Notunterkünften jener, die bereits ihr Zuhause verloren haben, gehören zu den Erste-Hilfe-Maßnah- men. Es ist die »Züchtung einer Kultur der Abhängigkeit« (2008, S. 16), um das Phänomen mit den Worten von Heinz Bude zu beschreiben. Die auf eine Odyssee geratenen Menschen verschwinden weitgehend aus dem Blickfeld – im Gegensatz zur Obdachlosigkeit auf der Straße – in der Unsichtbarkeit. Statistiken führen sie meist nicht als obdachlos an. Auf individueller Ebene verstecken Scham und Würde die Wohnungslosigkeit, Einsamkeit kehrt ein.

Wohnen auf Abruf

Es sind längst nicht mehr nur die geschichtsträchtigen Ankunftsstrukturen, wie die SRO-Hotels und Hôtels meublés, sondern heruntergewirtschaftete Touristenhotels mitten in der Stadt, obsolet gewordene Hotelkomplexe an den Peripherien, Motels entlang der ehemaligen Mobilitätsadern Amerikas, und auch vermehrt nicht zur Gänze ausgelastete klassifizierte Hotels, die von Toronto bis nach Dublin zunehmend von Dauergästen bezogen werden. Zu ihnen zählen Erwerbsarme, mittellose PensionistInnen, Obdachlose, Flüchtlinge, asylsuchende und zunehmend jüngst wohnungslos gewordene Familien. Der Aufenthalt, ob eigenverantwortlich oder öffentlich unterstützt, erstreckt sich meist über mehrere Jahre und bedeutet das Erstarren in Ungewissheit. Denn der gesättigte Wohnungsmarkt, lange Wartelisten für Sozialwohnungen oder auch ungenügend alternative Unterkünfte für Familien und Elternteile mit Kindern machen die Notlösung Wohnen im Hotel zum Dasein im chronischen Transit.

Die von den Staaten teuer bezahlte soziale Hotellerie boomt. Hotels werden zu welfare hotels, homeless hotels, Hôtels sociaux oder Hôtels d’urgence. Ihre Rolle ist nicht mehr klar auszumachen: Ihre unterschiedlichen Kategorien von Gästen vermischen sich, ihr Geschäft verschränkt sich mit der Not und öffentlichen Verantwortung. Frankreich zahlte 2018 für diesen privaten, temporären Notunterkunftssektor mehr als 225 Millionen Euro (vgl. Samusocial de Paris 2018, S. 60), Irland knapp 50 Millionen Euro (vgl. Fitzgerald 2019). Es ist ein Kampf gegen das Symptom dieser drastischen Wohnungsknappheit im wirklich preiswerten Segment, der einseitig behandelt – sprich ohne Setzung nachhaltiger Maßnahmen – nur verloren werden kann.

Die über Jahrzehnte von der französischen Politik verachteten Hôtels meublés weckten im Laufe der 1990er-Jahre – angesichts des Mangels an leistbarem Wohnraum – das öffentliche Interesse. Das bestehende, jederzeit verfügbare Angebot stellte eine leicht aufzuschließende Struktur der Notunterkunft dar. Heruntergekommene Hotels gaben Anlass zum Kauf seitens der Stadt und dem Umbau zu Sozialwohnungen. Seitdem expandiert der Hotelsektor der Hôtellerie sociale nicht nur quantitativ, sondern auch geografisch. Der 16-fache Anstieg des Bedarfs in der Metropolregion Île-de-France von 2005 bis heute, wo jede Nacht über 40.000 Menschen (davon 21.000 Kinder) im Hotel schlafen, ist unter anderem auf höhere Migrationsbewegungen, vermehrte Asylanträge und die zunehmende Prekarisierung zurückzuführen. Die als Notunterkunft ausgelasteten Hôtels meublés in Paris machten die Ausbreitung auf die Kommunen der Agglomeration und die Erweiterung des Angebots auf ehemalige sowie weiterhin aktive Touristenhotels mit einer gemischten Klientel notwendig. Während die vom Staat beauftragten Organisationen vor einem Jahrzehnt noch neue Plätze in Hotelzimmern sicherstellen konnten, ist die Kapazität heute beinahe ausgeschöpft.[4] Auf einer unsichtbaren Ebene schafft der Rückgriff der öffentlichen Hand auf die Ho^tels meuble´s eine Konkurrenz unter den Ärmsten; jenen, die das Hotel als Wohn- oder Übergangsort eigenständig wählen und jenen, denen das Hotel als temporäre Wohnlösung zugewiesen wird. Welche wirtschaftlichen Interessen hinter diesen Hotelunternehmen stehen und inwiefern dieses Geschäft lukrativ ist, untersucht Erwan Le Méner in seinem Beitrag Prekäre Familien als lukrative Kundschaft anhand eines ehemaligen Touristenhotels im Pariser Vorort Romainville.

Neben Paris reiht sich seit kurzem Dublin in die höheren Listenplätze der teuersten europäischen Städte ein. Die durch den desaströsen Einschlag der Finanzkrise auf ein bereits weitgehend dereguliertes Land verursachten Wellen ebben nicht ab. 102 Familien wurden im September 2019 allein in Dublin obdachlos. Das Monat verzeichnet gleichzeitig den Höchststand mit 10.397 IrInnen, die auf Notunterkünfte angewiesen sind, seit den vergleichbaren Aufzeichnungen im Jahr 2014. Innerhalb von fünf Jahren stieg die Obdachlosigkeit um 354 Prozent (vgl. Focus Ireland 2019). Zwei Drittel der in Dublin registrierten 1.288 Familien sind in Hotels und Bed&Breakfast-Unterkünften einquartiert (vgl. Dublin City Council, S. 85). Im Gegensatz zu Frankreich verfügt Irland über kein historisches Billig-Hotelsegment. Deswegen ist der Einsatz von Touristenhotels für die Unterbringung von Obdachlosen so jung wie die drastisch anwachsenden Zahlen. Nicht allein die Durchschnittsmiete für eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern im beliebten europäischen Steuersitz Dublin ist mit 1.700 € im Monat für kleine und mittlere Haushaltseinkommen nicht mehr tragbar. Darüber hinaus befand sich das verfügbare Mietangebot im Mai dieses Jahres auf dem Tiefststand seit den ersten Aufzeichnungen im Jahr 2006 (vgl. Lyons 2019). Ein weiterer nicht unwesentlicher Faktor auf dem lokalen Wohnungsmarkt ist Dublins Höhenflug des Tourismus. 2.856 Wohnungen werden auf der Sharing-Economy-Plattform Airbnb im professionellen Segment, sprich für mehr als 90 Tage im Jahr, angeboten (vgl. Neylon 2019). Zum Vergleich: 7.121 Menschen sind in der Hauptstadt wohnungslos (vgl. DRHE 2019, S. 13).

Hier wird die soziale Umstülpung in den Räumen unserer Städte erkennbar: Städtetrip-TouristInnen und globale ArbeiterInnen landen punktuell in den vom Wohnungsmarkt enthobenen Wohnungen, Familien ziehen stattdessen ins Hotelzimmer in der eigenen Stadt. Im Artikel The Hotelisation of Dublin’s Housing Crisis enthüllen Mel Nowicki, Ella Harris und Kathrine Brickell den mit der Wohnungskrise sichtbar werdenden widersprüchlichen Charakter des Hotels.

Auf bezeichnende Art und Weise stehen die Auswirkungen auf den Gast des Hotels einerseits als Urlaubsort und andererseits als Notunterkunft diametral gegenüber.

Nirgendwo sonst in den USA als in der Bay Area ist Wohnen derart teuer und das Verbleiben für viele unmöglich geworden; nicht zuletzt durch die Flut gutverdienender ArbeitnehmerInnen aus dem Silicon Valley am Wohnungsmarkt.

Die inzwischen mitten in den Städten fußfassenden Tech-Konzerne nehmen immer mehr Einfluss auf die räumliche und soziale Gestaltung der Region. Co-Living, all-inclusive Wohnkonzepte, heißen Menschen in Einbettzimmern dieser SRO-ähnlichen Strukturen, und fallweise sogar in deren alten Mauern, zu monatlichen Mietpreisen von 1.400 bis 2.400 $5 willkommen (vgl. Bowles 2019).

Bei durchschnittlichen Mieten für Einzimmerwohnungen in San Francisco von 3.300 $ ist es kein Wunder, dass diese Angebote bei der digital vernetzten, mobilen und allzeit kommunikativen Sharing-Generation fruchten. Was diese soziale Umwälzung und das neuerliche InvestorInneninteresse für die vorhandenen SRO-Hotels in San Francisco und Oakland bedeuten, betrachten Erin McElroy und Carla Leshne für diesen Schwerpunkt. Damit ergänzen sie die konfliktreiche Geschichte der SROs um ein wesentliches Kapitel.

Während viele US-amerikanische Städte für einkommensschwache Haushalte unwirtlich werden, wandeln sich unaufhörlich an anderer Stelle, abgesondert vom urbanen Leben, Transiträume zu De-facto-Wohnräumen. Ehemals pulsierende amerikanische Mobilitätsadern unter leuchtendem Schilderhimmel gehören ebenso der Vergangenheit an wie die Motels, die sie säumen. Mit dem Aufkommen der interstate highways und einem anspruchsvolleren Angebot an Unterkünften verloren sie in den letzten Jahrzehnten ihre Bedeutung. Auf informelle Art und Weise setzte ein schleichender Wandel ihrer Klientel ein, für die sie eine wesentliche Rolle in der Wüste an zugänglichem und leistbarem Wohnraum einnehmen. Before the smell becomes me, Titel des Beitrags von Abby Westberry, bringt die Angst der chronischen Isolierung von MotelbewohnerInnen auf den Punkt. Ihre Feldforschung erzählt von den täglichen Hindernissen sowie von angewandten Überlebenskonzepten und der Suche nach Zugehörigkeit. Fotografien aus The Hidden Homeless von Elizabeth Fladung vervollständigen das Bild dieser wenig erforschten Wohnorte.

Die hier angerissenen Geschichten können wie Schablonen eines Kapitalsystems verstanden werden, bei dem die Bewegung der Globalen und Vermögenden eine Bewegung der Lokalen und Ausgeschlossenen bedingt (siehe Virilio 2009).

Während die einen überall sesshaft sein können, sind die anderen in transitorischen Räumen nie zuhause. George Orwells vor fast hundert Jahren beschriebene »floating population« hat seine Aktualität leider nicht verloren. Familien und in großer Zahl Kinder leben in Ungewissheit im Transit, auf engstem Raum. Konfrontiert mit häufigen Ortswechseln und Stigmatisierung fällt die Sozialisierung und der Schritt zurück in eine Normalität schwer.

Und doch könnte alles anders sein! Die Wohnungsnot könnte sofort gelindert werden, würden die genügend vorhandenen Wohnungen rationell benutzt werden, so resümierte schon Friedrich Engels (1872, S. 45). Genau hier, am ungesunden Zustand dieses Systems, bei dem das Wohnen als Ware mit Tauschwert verstanden wird und dessen Produkt Leerstand in den meisten Fällen unangefochten bleibt, setzt die täglich praktizierte Kritik von Hausbesetzungen an. 12.000 Menschen wohnen in Rom in 90 besetzten Gebäuden. Der strukturelle Mangel an öffentlichem und zugänglichem Wohnraum lässt 200.000 Menschen in akuter Wohnungsnot. Dem stehen 34.750 leerstehende Wohneinheiten (vgl. ANSA 2018) oder, werden die Zweitwohnsitze und ungenutzten Büros dazugezählt, geschätzt 150.000 Wohnmöglichkeiten (vgl. FEANTSA & Fondation Abbe´ Pierre 2016, S. 15) gegenüber. Die Not macht Hausbesetzungen zur einzigen Alternative, zur informellen temporären Notlösung, auf die unterdessen sogar Sozialdienste und Hilfsorganisationen verweisen. Anhand des im östlichen Vorort liegenden 4-Stelle-Hotels, einer der größten Hausbesetzungen Roms von Blocchi Precari Metropolitani (Großstädtische Prekäre Blocks), sprechen die Aktivistin Irene di Noto, der Fotograf Andrea Muscella und einer der ersten Bewohner Leroy S.P.Q.R’DAM über die Transformation des ehemaligen Eurostar-Hotels zu einem Wohnhaus, die soziale Rolle der Recht-auf-Wohnen-Bewegungen in der Schaffung von würdevollem Wohnraum sowie deren politischen Einfluss.

Echo einer Krise

Das Anschwellen von Transiträumen und auch die mit ihnen Hand in Hand gehenden, erneut erscheinenden sekundären Funktionen wie Wärmestuben können als Echo einer Krise aktueller Politik wahrgenommen werden. Öffentliche Gelder wandern in den privaten Sektor. Verantwortung wird übertragen; im Falle von Armut, hin zu privaten, karitativen und solidarischen Trägern oder auf die betroffene Person selbst. Die internationalen Beiträge dieses dérive-Schwerpunkts veranschaulichen eindrücklich die Parallelen der global wirksamen Prozesse, bei denen sich eine uniforme Bewegung der vom Wohnungsmarkt Ausgeschlossenen hin zu provisorischen Wohnräumen, allem voran Architekturen des Transits, abzeichnet. Ein bedeutender Anteil der Betroffenen sind Kinder.

Dass Hotels Stoßdämpfer in Zeiten von Krisen verkörpern, ist an sich kein Übel. Im Gegenteil, als Komponente einer Stadt übernehmen sie, wie es lange bei Hôtels meublés und SROs der Fall war, eine zentrale Rolle der bedingungslosen Aufnahme in Übergangssituationen. Wesentlich ist allerdings dabei der Grad an Selbstbestimmung, die Dauer des Übergangs und die Aussicht auf einen stabilen Wohnort danach.

»Diese Wohnungsnot ist nicht etwas der Gegenwart Eigentümliches«, konstatierte Engels 1872. Sie wird immer wiederkehren, denn sie ist kein Zufall, sondern notwendige Institution des herrschenden Systems (vgl. Engels 1872, S. 20). 150 Jahre nach dieser eisernen Einsicht ist Wohnen erneut zu eng mit fremdbestimmten wirtschaftlichen Prozessen verwoben, während kommunaler Wohnbau vielerorts verkauft wurde und die Wohnpolitik weitgehend stillliegt. Nach einer Phase des Wohlfahrtsstaates stellt sich die Frage doch erneut: Was ist aus der Idee geworden, Wohnraum und Einkommen voneinander zu entkoppeln, allen einen qualitätsvollen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, und Wohnen als Menschenrecht zu verteidigen?


[Carina Sacher beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit prekären Wohn- und Arbeitsverhältnissen in den Bereichen Architektur, Stadt- und Sozialforschung. Sie studierte Architektur in Wien und Versailles. Aktuell ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Anne Lacaton an der ETH Zürich tätig.

Dieser dérive-Schwerpunkt entstand im Zuge des Forschungsprojekts Wohnen auf Abruf. Architekturen des Transits, das 2019 mit dem Margarete Schütte-Lihotzky Projektstipendium des österreichischen Bundeskanzleramts gefördert wurde. Seit der Diplomarbeit Willkommen im Hotel! Potenziale ungewöhnlicher Wohnnischen im Pariser Quartier La Goutte d’Or an der TU Wien vertieft Carina Sacher ihre Forschung zu Wohnen im Hotel als globales Phänomen.]


Anmerkungen:
[01] Siehe dazu Nels Anderson (The Hobo 1923, Lodging Houses 1937), Norman S. Hayner (The Hotel 1923, Hotel Life 1936); Harvey Warren Zorbaugh (The Dweller in Furnished Rooms 1925, Gold Coast and Slum 1929).
[02] Lefebvre 1970, S. 165.
[03] 217 Billionen Dollar und damit zwei Drittel des weltweiten Vermögens sind in Immobilien angelegt, ein dreifacher Anstieg seit der Finanz- und Wohnungskrise 2007. Drei Viertel davon stecken in Immobilien mit Wohnfunktion (vgl. Barnes 2016, S. 4f).
[04] Gespräch mit Erwan Le Méner, 12.6.2019.
[05] Die monatliche Miete eines Zimmers in der Größe von 12 bis 20 m² bezieht sich auf das Angebot eines der einflussreichsten Startups namens Starcity.

dérive, Mo., 2020.01.20

20. Januar 2020 Carina Sacher

Das Ende der Nordbahnhalle

Die Nordbahnhalle auf dem Weg zum Stadtteilzentrum betitelten wir in der Oktober-Ausgabe von dérive den Zwischenstandsbericht zur Auseinandersetzung um die Zukunft der Wiener Nordbahnhalle als sozialkulturelles Zentrum. Im Titel schwang zugegebenermaßen eine ordentliche Portion Optimismus mit. Die GegnerInnen dieses Plans waren nicht zahlreich, saßen aber an den entscheidenden Stellen. Trotz breiter Unterstützung aus der Nachbarschaft und hohem medialem Interesse war der Weg der IG Nordbahnhalle[1] von Anfang an steinig, und es war klar, dass mit der konkreten Umsetzung der schwierigste Abschnitt noch bevorstehen würde. Einen guten Monat nach Veröffentlichung des Artikels ist in der Nordbahnhalle überraschend ein Feuer ausgebrochen, dessen Rauchsäule weit über Wien sichtbar war. Die Halle wurde schwer beschädigt. Mitte Dezember, noch bevor die Untersuchungen zur Brandursache abgeschlossen waren, hat der Abriss der Halle begonnen. Der Brand markiert das spektakuläre Ende eines Möglichkeitsraums, der ein Modellprojekt für Wien hätte werden können. Die verantwortlichen Stellen der Stadt Wien taten alles, um das nicht erkennen zu müssen. Eine dokumentarische Aufarbeitung.

Kapitel 1: Der Wert der Partizipation

Für die Entwicklung des Geländes des ehemaligen Nordbahnhofs war ein umfangreicher Partizipationsprozess vorgesehen, der im Herbst/Winter 2013/14 stattfand. 27.500 Haushalte waren zur Teilnahme eingeladen. Dieser Prozess bestand aus Grätzel-Cafés, Dialogveranstaltungen, einer Planungswerkstatt und weiteren Formaten. Hunderte NachbarInnen hatten die Möglichkeit, Ideen und Vorschläge einzubringen. Ein Team von ExpertInnen stand für Beratung zur Verfügung – und wohl auch dafür, die Wünsche zu kanalisieren. Die eingebrachten Ideen wurden diskutiert, von den ExpertInnen bewertet und schlussendlich unter den Kapiteln Mobilität, Nutzung und Bebauung sowie Grün- und Freiraum zusammen- gefasst. Am 17. Februar 2014 fand das dritte und letzte Grätzel-Café statt. Auf der Tagesordnung stand der Punkt Finale Empfehlungen der BürgerInnen. Was wünschten sich die damaligen BewohnerInnen des Nordbahnviertels, drei bis vier Jahre bevor (!) die Nordbahnhalle erfunden wurde?

– Ein »Bildungs- und Kulturzentrum, das vielfältig und Generationen übergreifend genutzt werden kann [und] zur Belebung des Stadtteils beiträgt.«
– »Räumliche Vernetzung zwischen Altbestand und Neubau bzw. in die freie Mitte hinein.«
– »Mögliche (Zwischen-)Nutzungen im Freiraum und in bestehenden Gebäuden: kulturelle Nutzung der bestehenden Gebäude, Tunnel, Hallen und in Freiräumen, z. B. für Kunst/ Kultur (Installationen ...), Proberäume, Clubs, Diskos, als Skaterpark.«

Die drei Punkte sprechen für sich, einige Details sollten trotzdem hervorgehoben werden. Der Wortteil »Zwischen« bei Zwischennutzung steht in Klammern, es wurde also nicht nur an Zwischennutzungen, sondern an ganz normale Nutzungen gedacht. Besonders wird die Nutzung von bestehenden Gebäuden hervorgehoben. In der Aufzählung, welche Gebäude das sein könnten, kommt das Wort Halle vor. Ein sprachlicher Zufall? Nein. Der Partizipationsprozess ist gut dokumentiert und so ist im Detail nachzulesen, was in der Wunschliste stand, bevor die Punkte zusammengefasst wurden. Eine Liste aus dem ersten Grätzel-Café, an dem 300 NachbarInnen teilnahmen, hält fest, dass sich die TeilnehmerInnen den »Mehrerhalt bestehender Substanzen« wünschen, als konkretes Beispiel »Halle neben Wasserturm«.[2] Diese Halle neben dem Wasserturm wurde 2017 durch ein Forschungsprojekt der TU Wien zur Nordbahnhalle. Während des Beteiligungsprozesses war sie noch von der Firma IMGRO als Lagerhalle für Lebensmittel genutzt worden.

Dieser frühzeitig eingebrachte Wunsch der Nachbarschaft nach Erhalt der Halle neben dem Wasserturm wurde von den GegnerInnen der Nordbahnhalle geflissentlich übersehen und unter den Teppich gekehrt. Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass weder im Leitbild für das Viertel noch im Partizipationsprozess von der Nordbahnhalle die Rede sei und die Halle deshalb auch keine Existenzberechtigung hätte und abgerissen werden müsse. Eine rhetorisch gesetzte Nebelgranate, wurde der Name Nordbahnhalle für die Lagerhalle neben dem Wasserturm doch erst 2017 erfunden. Sie konnte somit unter diesem Namen im 2013 und 2014 stattfindenden Beteiligungsprozess gar nicht auftauchen. Als Gebäude und als Konzept war sie jedoch explizit erwünschtes Ergebnis der Partizipation: Der Wert der Halle neben dem Wasserturm war den NachbarInnen lange vor der Bespielung durch die TU Wien bewusst.

Auch das spätere Raumprogramm für diesen ungewöhnlichen und identitätsstiftenden Ort war von den TeilnehmerInnen des Partizipationsprozesses bereits grob umrissen worden. Als Ideen und Vorschläge für das Nordbahnviertel wurden im Protokoll des ersten Grätzel-Cafés notiert[3]: Ort für Kulturveranstaltungen ohne Konsumzwang; Treffpunkt für GrätzelbewohnerInnen ohne Konsumzwang; Mehrzweckhalle (Jugend, Theater ...); Sozialaspekt Begegnungszone: Lokale/Vereinslokale; Park-Gastronomie; Weltcafé; Speakers Corner; (Erwachsenen-)Bildungszentrum; Arena für kulturelle Open-Air-Veranstaltungen; flexibel genutztes Gebäude in zentraler Lage.

Blickt man zurück und hält sich die mehr als 500 Veranstaltungen vor Augen, die in der Nordbahnhalle stattgefunden haben, wird deutlich, dass ein großer Teil dieser Vorstellungen in den zweieinhalb Jahren der Nutzung bereits Wirklichkeit geworden waren. Kombiniert mit dem Potenzial einer langfristigen Nutzung durch eine selbstorganisierte, zivilgesellschaftliche und gemeinwohlorientierte Trägerschaft wären alle diese Ideen einer lebendigen Nachbarschaft umsetzbar gewesen. Doch die Ergebnisse der Partizipation ergeben vor allem viel hübsches Papier, dessen Wert sich in der Visionslosigkeit der politischen Entscheidungsträger und den Interessen der Bauträger auflöst. Entschieden wird auch unter rot-grün top-down.

Kapitel 2: Ein Handbuch zum städtebaulichen Leitbild

2015 wird das Handbuch zum städtebaulichen Leitbild Nordbahnhof[4] veröffentlicht. Herausgeberin ist die MA 21 – Stadtteilplanung und Flächennutzung, also eine offizielle Stelle der Stadt Wien. Die AutorInnen sind die ArchitektInnen und StadtplanerInnen Bernd Vlay und Lina Streeruwitz, die für den Masterplan des Nordbahnviertels verantwortlich und somit die ErfinderInnen der Stadtwildnis Freie Mitte[5] sind. Das Hand- buch bildet die zentrale Publikation für die Entwicklung des Stadtteils. Es enthält die Leitlinien und Konzepte der PlanerInnen ebenso wie einen detaillierten Bericht über den Partizipationsprozess. Es informiert darüber, welche Empfehlungen aus dem Beteiligungsprozess als Zielsetzung ins Leitbild übernommen wurden. Alle drei bereits erwähnten finalen Empfehlungen aus dem Partizipationsprozess wurden, wie es wörtlich heißt, »weitgehend« ins Leitbild aufgenommen.

Im städtebaulichen Leitbild werden fünf Bereiche und Bestandsgebäude der Freien Mitte dezidiert für soziale und kulturelle Nutzungen ausgewiesen. Trotz dieser Verankerung und des Partizipationsprozesses sind zwei davon mittlerweile abgerissen bzw. unbrauchbar gemacht. Es handelt sich dabei um zwei Tunnel (Doppeltunnel) und ein Gebäude, das in unmittelbarer Nähe stand. Der Doppeltunnel war als »soziokulturelles Lernzentrum mit Veranstaltungen« (S. 65), das Gebäude als »Kinderhaus« (ebd.) gedacht. An einer anderen Stelle im Handbuch heißt es über die Nutzung des Doppeltunnels: »Eine Nachmodellierung mit Sitzstufen könnte den Raum vor dem Kulturtunnel zu einer attraktiven Veranstaltungsfläche mit Außenbereich werden lassen.« (S. 129) Über das benachbarte Gebäude: »An dieser Stelle soll, im Bestandsgebäude oder in einem neuen Gebäude, soziale Infrastruktur für alle Generationen angeboten werden.« (ebd.) Der Doppeltunnel wurde mittlerweile zugeschüttet, das Generationenhaus abgerissen. Die IG lebenswerter Nordbahnhof, ein Zusammenschluss von BewohnerInnen des Viertels, schrieb in einem Blogeintrag im Februar 2018 über den »furchtbar gedankenlosen« Umgang mit der Substanz am Areal; weiter heißt es: »Und so ist passiert, was eigentlich nicht passieren sollte. Ein historischer Bestand ist ohne Not zerstört.«[6]

Mit der Verbindlichkeit des Leitbilds scheint es also nicht weit her: Während die Nordbahnhalle, so wurde von den GegnerInnen argumentiert, weg sollte, weil sie im Leitbild namentlich nicht erwähnt wird, wurden der Doppeltunnel und das Generationenhaus zerstört, obwohl sie im Leitbild mehrfach erwähnt werden. Der naheliegende Gedanke, dass die in den beiden zerstörten Einrichtungen geplanten sozialen und kulturellen Funktionen vielleicht in der Nordbahnhalle umgesetzt hätten werden können, wollte keinem der Verantwortlichen kommen.

Kapitel 3: Die Petition an den Wiener Gemeinderat

In Wien besteht die Möglichkeit, eine BürgerInnenpetition an den Gemeinderat zu richten. Voraussetzung sind 500 Unterschriften von in Wien lebenden Menschen und ein Anliegen, das die Gesetzgebung oder Verwaltung der Stadt Wien betrifft. Das Anliegen muss im Ausschuss des Landtags behandelt werden, ist aber in keiner Weise bindend. Obwohl sich die IG Nordbahnhalle von der Petition nicht viel erwartet hatte, weil von anderen Initiativen bekannt war, wie zahnlos das Instrument ist, entschloss sie sich, einen Petitionstext zu formulieren und Unterschriften zu sammeln. Aufgrund der großen Unterstützung aus der Nachbarschaft konnte die Petition rasch eingereicht werden.[7] Für November wurde die IG Nordbahnhalle eingeladen, ihr Anliegen vor dem Ausschuss zu präsentieren – ein üblicher Vorgang. Ebenso üblich ist es, dass die Vorsitzende des Ausschusses von den zuständigen Stellen der Stadtverwaltung Stellungnahmen zur Petition anfordert, die eine Woche vor dem Sitzungstermin veröffentlicht werden müssen. Für die Petition SOS Nordbahnhalle wurden Stellungnahmen von den Stadträtinnen für Kultur (Veronica Kaup-Hasler, SPÖ) und Stadtentwicklung (Birgit Hebein, Grüne), der Bezirksvorsteherin des betroffenen Bezirks (Uschi Lichtenegger, Grüne), den ÖBB und den Wiener Verkehrsbetrieben angefordert.[8]

Die Stellungnahmen von Hebein, Lichtenegger und den ÖBB enthielten die bereits davor öffentlich kundgegebene, äußerst selektive und einseitige Darstellung der Sachlage: Die Nordbahnhalle spiele weder im Partizipationsprozess noch im Leitbild eine Rolle; der Abriss sei mit den ÖBB vertraglich vereinbart; der Grünraum sei zu wichtig, als dass er durch die Nordbahnhalle verkleinert werden sollte; die Sanierung der Halle koste zu viel Geld; es gäbe baurechtliche Schwierigkeiten; es gäbe genug andere Flächen, die verwendet werden könnten (Wasserturm, Neubauten) und nicht zu vergessen: Zwischennutzung muss Zwischennutzung bleiben.

Kein Wort davon, dass die Halle neben dem Wasserturm bereits am Beginn des Partizipationsprozesses Eingang in die Liste der zu erhaltenden Objekte gefunden hatte. Kein Wort darüber, dass mehr oder weniger alle der im Partizipationsprozess vorgebrachten Wünsche und Vorschläge im Hinblick auf Bildung, Kultur und Soziales in der Nordbahnhalle bereits umgesetzt worden sind und hätten werden können. Kein Wort davon, dass einer der zentralen Punkte des Handbuchs zum Leitbild die Nutzung von Ressourcen bildet und Bestandsgebäude eine wichtige Rolle spielen sollen.

Ganz grundsätzlich scheint der grünen Stadtplanungs- und Bezirkspolitik nicht ansatzweise klar zu sein, was für ein Glücksfall sondergleichen das Ensemble aus Nordbahnhalle und Wasserturm für die Entwicklung des Nordbahnviertels dargestellt hatte. Eine Situation, nach der in der Stadtentwicklung im Normalfall händeringend gesucht wird, weil sie Identität stiften und Urbanität schaffen kann. Auch die öffentliche Unterstützung zahlreicher namhafter ArchitektInnen, StadtplanerInnen und StadtforscherInnen konnte die Position der grünen Stadtplanung nicht ins Wanken bringen. Einzig der Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler war und ist klar, welche einmalige Chance hier vergeben wurde.
Der Petitionsausschuss, zu dem die IG Nordbahnhalle geladen war, passte schlussendlich perfekt in dieses Bild der Ignoranz und Visionslosigkeit. Ab der Gründung der IG Nordbahnhalle war jegliche Diskussion der unterschiedlichen Stand- punkte von Seiten der Stadtplanungspolitik verweigert worden. Im Petitionsausschuss wurde den VertreterInnen der IG Nordbahnhalle nach deren Präsentation keine einzige Frage gestellt. Die Vorsitzende Jennifer Kickert bemühte sich redlich, das peinliche Schweigen der rund 20 anwesenden Gemeinderatsabgeordneten und deren MitarbeiterInnen zu kaschieren, indem
sie noch einen kleinen Diskussionsbeitrag zum Thema Zwischennutzung einbrachte. Birgit Hebein, grüne Vizebürgermeisterin und Planungsstadträtin, wiederholte abschließend ihre Position aus der Stellungnahme, ohne auf Gegenargumente einzugehen. Der grüne Kultursprecher Martin Margulies schwieg ebenso wie die ReferentInnen der Stadträtin. Damit war das Kapitel Nordbahnhalle für die Stadt Wien geschlossen, der Abriss für Sommer 2020 fixiert. In der offiziellen Presseaussendung der Stadt Wien hieß es am folgenden Tag: »Die Nutzung der Nordbahnhalle hingegen sei von vorn- herein temporär angelegt gewesen; der Erhalt der Nordbahnhalle über das Jahr 2020 hinaus decke sich nicht mit den städtebaulichen Planungen und die darauf basierenden politischen Beschlüsse für das Gebiet des ehemaligen Nordbahnhofs.«[9]

Kapitel 4: Politik und Immobilienwirtschaft machen Stadt

Die Planungsstadträtin Birgit Hebein hat ihr Amt erst im Juni 2019 angetreten. Sie war zwar in ihrer Rolle als Sozialpolitikerin immer für die Stärkung von Nachbarschaften eingetreten, hatte aber wenig Interesse, sich mit der Nordbahnhalle näher zu beschäftigen. Nach dem Start der öffentlichen Kampagne für den Erhalt der Nordbahnhalle ignorierte sie ebenso wie ihre MitarbeiterInnen jede Gesprächsanfrage der IG Nordbahnhalle.[10] Es kam zu keinerlei inhaltlichem Austausch. Ihre Argumente gegen die Nordbahnhalle blieben stets die gleichen. Gegenargumente ignoriert sie bis heute, zuletzt erst wieder bei einer Veranstaltung mit dem Titel Aktivismus und Zivilgesellschaft in der Smart City – unbequem und unverzichtbar!, die von der Stadt Wien veranstaltet wurde.

Den meisten der im Viertel aktiven Bauträger-Konsortien und der Grundstückseignerin ÖBB war die Nordbahnhalle immer ein Dorn im Auge. Offenbar wird es von InvestorInnen und ProjektentwicklerInnen als Zumutung empfunden, dass BürgerInnen ihrem Streben nach Höchstverwertung in die Quere kommen. Der Geschäftsführer der ÖBB Immobilien, Johannes Karner, schreibt in seiner Stellungnahme zur Petition der IG Nordbahnhalle: »Die Nordbahnhalle aber ist abzutragen, um so den vertragsgemäßen Zustand herzustellen.«

Weiters wird umgehend klargestellt, dass auch bei der Entwicklung des denkmalgeschützten Wasserturms BürgerInnen keine Mitsprache haben sollten: »Es wird daher angeregt, einen Schwerpunkt auf die kulturelle, gastronomische und soziale Entwicklung des Wasserturms zu legen. Dies sollte in Kooperation mit der Stadt Wien, dem Bauträgerkonsortium Nordbahnhof und der ÖBB-Infrastruktur AG erfolgen.«[11]

Kapitel 5: Nachdenkpause, Teilabriss, Brand

Aufgrund der Aktivitäten der IG Nordbahnhalle verordnete (sich) die grüne Stadtplanung eine Nachdenkpause und beschloss, vorerst nur einen Teil der Nordbahnhalle abzureißen. Grund dürfte wohl auch die anstehende Nationalratswahl gewesen sein, bei der es für die Grünen um ihr politisches Überleben ging. Der Erfolg in der grünen Hochburg Wien sollte wohl nicht durch einen Konflikt um einen nicht-kommerziellen Gemeinwohlort für die Nachbarschaft gestört werden. Schließlich ist nur schwer zu argumentieren, warum sich ausgerechnet eine grüne Stadtplanung vehement gegen die Schaffung von nicht- kommerziellen Orten für Nachbarschaft, Kultur und Soziales stemmt. Im September erfolgte der aufgrund einer neuen Straßenbahnschleife notwendige Abriss eines Teils der Nordbahnhalle. Bedeutende Flächen gingen verloren, doch der Rest der Halle war immer noch groß. Die Grundfläche hatte nun 1.300 m², dazu gab es Büroflächen von 150 m² im ersten Stock und einen großen hohen Keller, der bisher nicht für öffentliche Veranstaltungen genutzt wurde, sich aber für lautere Events perfekt geeignet hätte. Die verbliebene Hallenstruktur war in gutem Zustand, weil sie Anfang der 2000er-Jahre teilweise erneuert worden war.

Die IG Nordbahnhalle drängte darauf, dass die Halle nach dem Teilabriss gegen Vandalismus verbarrikadiert werden sollte. Aufgrund der umgebenden Baustellenentwicklung war eine reguläre Nutzung bis April 2020 nicht möglich. Trotz der mündlichen Vereinbarung, die Halle zu sichern, passierte wochenlang nichts. Der befürchtete Vandalismus ließ nicht lange auf sich warten. Fenster wurden eingeworfen, Mobiliar zerstört, Lagerfeuer angezündet, ein alter Gabelstapler in Betrieb genommen, um alles niederzufahren, was im Weg stand – es war ein Trauerspiel. Immer wieder forderte die IG Nordbahnhalle, die angekündigte Verbarrikadierung endlich durchzuführen. Nach der Ankündigung, die Sicherung der Halle selbst in die Hand zu nehmen, wurden Türen und Fenster mit Schalungsplatten verschlossen.

Wenige Tage später, am Sonntag den 10. November, brannte die Halle ab.[12] Zu diesem Zeitpunkt gab es in der Halle keinen Strom, es wurden keine selbstentzündlichen Materialien gelagert, es hatte mehrere Tage geregnet, am Tag des Brandes gab es kein Gewitter. Die Halle war gut gesichert und ein Eindringen ohne Werkzeug oder Schlüssel nur schwer vorstellbar. Der Brand wurde zur Mittagszeit von NachbarInnen entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt brannte die Nordbahnhalle aus dem Inneren heraus bereits lichterloh. Aufgrund der materiellen Umstände ging die IG Nordbahnhalle von Brandstiftung aus und äußerte diesen Verdacht in einer Stellungnahme am Abend desselben Tages.[13] Sie war mit dieser Vermutung nicht alleine. Mehr oder weniger alle NachbarInnen äußerten in den zahlreichen Presseberichten[14] den selben Verdacht. »Warm abgetragen« wurde zur kollektiven Annahme rund um das Brandgeschehen.

Fazit

Die Wiener Stadtpolitik ist für ihre ausgeprägte Top-down-Politik bekannt. Die seit Jahrzehnten regierende Sozialdemokratie sieht sich nach wie vor in der paternalistischen Position der Fürsorgerin, verantwortlich für das Wohl der Bevölkerung, was einerseits zu einer hohen Lebensqualität, andererseits aber zu einem tief gehenden Demokratiedefizit und einem verkümmerten Verständnis von Teilhabe und Mitsprache führt. Alle paar Jahre werden Instrumente erfunden, um Partizipation zu stärken. Diese sind jedoch stets so konzipiert, dass klar ist, wer schlussendlich Entscheidungen trifft, Macht ausübt und damit die Kontrolle behält. Die Bevölkerung darf zwar mitreden, aber nicht mitbestimmen. Das zahnlose und in keiner Weise bindende Petitionsrecht ist dafür ein gutes Beispiel.

Eine kooperative Stadtentwicklung auf Augenhöhe steht nicht auf der Agenda der »Smart City für alle«. Wenn Anliegen und Ideen aufkommen, die sich nicht mit den offiziellen Interessen der Stadtpolitik decken, wird die Kommunikation darüber so weit als möglich vermieden oder sie werden auf die lange Bank geschoben. Das hat sich auch in den nahezu zwei Perioden grüner Stadtplanung in Wien nicht geändert. Partizipation bedeutet in Wien nach wie vor in erster Linie Information und darüber hinaus eine Möglichkeit, Kritik zu kanalisieren und auszubremsen. Die grundlegende Richtung und die erwünschten Ergebnisse stehen in der Regel schon fest. Eine Fearless City (siehe http://fearlesscities.com) zu werden, die sich radikal den Interessen aller BewohnerInnen verpflichtet fühlt und die Zukunft der Stadt nicht hinter verschlossenen Türen, sondern in breiten, konsultativen öffentlichen Aushandlungsprozessen bestimmt, steht für Wien also in keiner Weise auf der Tagesordnung.

Dieses demokratische Defizit zeigt sich deutlich, wenn es um das Thema Zwischennutzung geht. In Wien ist es üblich, dass bei Zwischennutzungen in erster Linie die Perspektive von InvestorInnen und EigentümerInnen berücksichtigt wird. Die von der Stadt nach langem Drängen der IG Kultur Wien eingerichtete Agentur Kreative Räume ändert daran nichts. Niemand will sich Ärger einhandeln. Statt die grundsätzliche Frage nach gesellschaftlichem Raumbedarf zu stellen, wird einem neoliberalen Zwischennutzungsmantra gehuldigt, das prekäre NutzerInnen in eine Dankbarkeitsrolle zwingt, statt zu thematisieren, welches Aufwertungsinstrument Zwischennutzungen für InvestorInnen eigentlich darstellen. Während international längst die negativen Effekte von Zwischennutzungen klar geworden sind, weshalb diese Strategie in anderen Städten gar nicht oder nur mehr eingeschränkt zur Anwendung kommt, heißt es in Wien auch von der grünen Stadtplanungspolitik völlig unreflektiert »Zwischennutzung muss Zwischennutzung bleiben«.

Der grundsätzliche Mangel an Räumen für nicht-kommerzielle Initiativen, die überwiegend aus dieser Not heraus auf den Zwischennutzungsmarkt drängen, obwohl sie eigentlich langfristigen Raumbedarf haben, ist kein Thema. Dass InvestorInnen aus Zwischennutzungen materiellen oder immateriellen Profit ziehen und es sich dabei nicht um Geschenke handelt, für die man ewig dankbar sein müsste, liegt auf der Hand, ausgesprochen wird das in Wien allerdings nicht.
Die Nordbahnhalle hätte ein soziales Modellprojekt für Nachbarschaft, Kultur und Wissenschaft, ein politisches Modellprojekt für ökologische Nachhaltigkeit und solidarische Ökonomie und ein rechtliches Modellprojekt für eine kooperative, gemeinnützige Trägerstruktur in Zusammenarbeit mit der Stadt Wien werden können. Es gab sowohl Interesse der unmittelbaren Nachbarschaft[15] als auch von Universitäten, Kulturinitiativen und stadtpolitischen AktivistInnen.[16]

Leider lag die Entscheidungsgewalt bei den AbrissbefürworterInnen. Selten zeigte sich so viel Unwillen, eine Diskussion zu führen. Selten regierte eine größere Ignoranz gegenüber allem Wissen einer gemeinwohlorientierten und zukunftsfähigen Stadtentwicklung. Selten wurde eine so einfache Möglichkeit, mittels einer Koproduktion von Stadtpolitik, Stadtverwaltung und Zivilgesellschaft ein großartiges urbanes Projekt umzusetzen, derart leichtfertig vergeben. Die Folgen dieser Politik werden zu spüren sein. Die völlig unnötige Vernichtung[17] eines umfassenden sozialen Möglichkeitsraums durch die Stadtplanungspolitik wird dann längst vergessen sein.


[Christoph Laimer ist sauer, Aktivist der IG Nordbahnhalle und Chefredakteur von dérive — Zeitschrift für Stadtforschung. Dank für die Mitarbeit an Elke Rauth.]


Anmerkungen:
[01] Die IG Nordbahnhalle ist eine Initiative von NachbarInnen, ArchitektInnen, StadtforscherInnen, KünstlerInnen und sozialen Initiativen, die für eine dauerhafte Nutzung der Nordbahnhalle als soziales und kulturelles Nachbaschaftszentrum eingetreten ist. dérive war und ist Teil der Initiative
(ig-nordbahnhalle.org).
[02] Leitbild Nordbahnhof – Handout 3. Grätzel-Cafe 17.02.2014, unter dem Titel »Anregungen aus dem ersten Grätzel-Café vom 10. September 2013«. Verfügbar unter: https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/projekte/nord-bahnhof/grundlagen/leit-bild-2014/beteiligung/pdf/graetzel-cafe-3-empfehlungen.pdf [Stand 4.12.2019]
[03] Im Handout 3. Grätzel-Cafe 17.02.2014 heißt es: »Diese [Anregungen] bildeten die Grundlage für die Arbeit in den BürgerInnendialogen«.
[04] Verfügbar unter https://www. wien.gv.at/stadtentwicklung/projekte/nordbahnhof/grundlagen/leitbild-2014/pdf/handbuch-gesamt.pdf [Stand 4.12.2019]
[05] Die Freie Mitte ist als Teil des Nordbahnviertels konzipiert. Sie entsteht auf einem Teil des ehemaligen Bahngeländes, das mittlerweile großflächig verwildert ist. Die Nordbahnhalle steht am Rand dieses Geländes.
[06] https://nordbahnhof.wordpress.com/2018/02/23/schauen-sie-nicht-her-alles-muss-weg/ [Stand 4.1.2019]
[07] Am Rande sei erwähnt, dass es unüblich lange dauerte, bis die eingereichte Petition angenommen wurde. Nach mehrmaligem telefonischen Nachfragen wurde sie nach rund drei Wochen veröffentlicht, ursprünglich war von »längstens einer Woche« die Rede.
[08] Die Stellungnahmen sind hier veröffentlicht: https://www.wien.gv.at/petition/online/PetitionDetail. aspx?PetID=02efe8118ab24b4380143ea168f2afc6
[09] https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20191108_ OTS0056/petitionsausschusstagteimwienerrathaus
[10] Davor gab es noch vereinzelte informelle Gespräche.
[11] Der angesprochene Wasserturm wurde durch den Einsatz von BürgerInnen unter Denkmalschutz gestellt und muss als Industriedenkmal erhalten werden. Er wurde in Gesprächen mit der IG Nordbahnhalle immer wieder als Alternative zur Nordbahnhalle bezeichnet. Das Problem: Der Wasserturm hat eine Grundfläche von 140 m², die Nordbahnhalle hatte (nach dem Teilabriss) inkl. Keller eine Fläche von rund 1.800 m². Eine kulturelle, gastronomische und soziale Entwicklung auf 140 m² ist auf jeden Fall eine Herausforderung.
[12] Eine Chronologie der Ereignisse findet sich hier: https://ig-nordbahnhalle.org/about/
[13] Siehe https://ig-nordbahnhalle.org
[14] Siehe: https://ig-nordbahn- halle.org/medienecho/
[15] In einer Umfrage der Wiener Tageszeitung Kurier sprachen sich im November 2019 67 Prozent der Nachbarschaft für den Erhalt der Nordbahnhalle aus.
[16] Radio dérive hat in seiner Dezembersendung SOS Nordbahnhalle #brennt einen Querschnitt von Stellungnahmen gebracht. Nachzuhören unter https://cba.fro.at/435317
[17] Wäre die Nordbahnhalle nicht abgebrannt, hätten sie die ÖBB bzw. die Stadt Wien nächsten Sommer abreißen lassen.

dérive, Mo., 2020.01.20

20. Januar 2020 Christoph Laimer

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