Editorial

Der Gegensatz dieser beiden Prinzipien scheint zunächst ein sehr klarer zu sein. Entweder auf oder zu. Fenster, Türen, Tore, Gebäudeeinschnitte – durch die wohlüberlegte Platzierung von Öffnungen in massiven Bauteilen wird das Gesicht eines Gebäudes geprägt, lassen sich Lichteinfall und Energieeintrag gezielt steuern, Aus- und Einblicke inszenieren. Doch so mancher gestalterische Kniff stellt eben diese vermeintliche Klarheit infrage: Dass Glas von außen betrachtet oftmals keineswegs transparent erscheint und stark abweisend wirkt, ist uns allen klar.

Dass ausgewiesene Wand-Materialien wie z. B. Ziegel aber je nach Fügung einen durchlässigen Vorhang ergeben können, nach allen Seiten betonierte Räume durchaus nicht klaustrophobisch wirken müssen und die Art des Wandabschlusses darüber entscheiden kann, ob ein Innen- wie ein Außenraum wirkt, sind Phänomene, die es auszutesten und auszukosten lohnt. Gerade in der Uneindeutigkeit, in der Unentschiedenheit zwischen offen und geschlossen, schlummert enorme poetische Kraft, die – nutzbar gemacht – das Bauen zur Architektur erhebt. | Achim Geissinger

Gerichteter Blick

(SUBTITLE) Unternehmenssitz mit Eventlocation in Stuttgart

Der Stuttgarter Online-Weinhändler viDeli wollte aus der virtuellen Unsichtbarkeit auftauchen. Gemeinsam mit dem befreundeten Architekten Marco Hippmann wurde ein Grundstück gesucht und im Gewerbegebiet im Stuttgarter Osten auch gefunden. Entstanden ist eine schlichte Beton-Kiste, die einen funktionalen Lagerraum, Büros und den reduzierten, aber atmosphärischen Verkostungsraum »club traube« beherbergt. Durch wohl gesetzte Öffnungen werden Ein-, aber v. a. reizvolle Ausblicke gewährt – mitten im Gewerbegebiet an einer viel befahrenen Straße kein ganz einfaches Unterfangen.

Auf dem alten Schlachthofareal, direkt an der Verkehrsachse Wangener Straße in Stuttgart-Ost zwischen Büro- und Gewerbebauten der letzten Jahrzehnte steht das neue Domizil des Online-Weinhändlers viDeli, der an diesem Standort seine drei, bislang auf das Stadtgebiet verteilten Firmen (einen Weingroßhandel, eine Beraterfirma im Weinbereich sowie den Online-Weinhandel), zusammenführt. Eine sicher nicht auf Anhieb ansprechende Gegend, aber spannend und passend, wie sich die Bauherren Sabine Harms und Oliver Schmid mit dem Architekten und Stadtplaner Marco Hippmann einig waren. Schnell war klar, dass das Erscheinungsbild des Gebäudes in diesem heterogenen Umfeld nicht marktschreierisch, sondern unauffällig und ­zurückhaltend sein sollte. »Ich wollte den Ort, so unspektakulär er auch ist, nicht ignorieren«, sagt Hippmann. Und so ist die Gestaltung und die Materialwahl ein gut Stück aus der Umgebung heraus entwickelt: Beton für die Hülle, Asphalt für den Vorplatz, ein einfacher straßenbegleitender Grünstreifen anstatt einer aufwendigen Außenraumgestaltung und Leitplanken als Zäune. Entstanden ist eine langgezogene Kiste aus Beton-Fertigteilen in Sandwischbauweise auf einem Grundriss von 50 x 18 m – nichts ist angefügt und fast nichts auf­gebracht, lediglich der kleine, edle Messingschriftzug »club traube« gibt einen dezenten Hinweis auf die Bestimmung des Gebäudes.

Wobei, wie Marco Hippmann erzählt, neben Beton durchaus auch andere Materialien für die Gebäudehülle überlegt wurden: Holz, wegen des Bezugs zum Wein und zu den Weinfässern, aber auch Metall, da das Budget begrenzt war und strikt eingehalten werden sollte. »Metall haben wir jedoch wegen des aufwendigen und dann doch wieder kostenintensiven Brandschutzes schnell verworfen, Holz lange präferiert. Da es uns aber wichtig war, auf eine Kühlung zu verzichten, hat der Stahl-Betonbau seine klaren Vorteile. Er erwärmt sich langsam, was für die schonende Lagerung des Weins wichtig ist, denn Temperaturschwankungen sind nicht per se problematisch, sie sollten aber auf keinen Fall plötzlich erfolgen.« So haben die Architekten ein »träges Gebäude« in einfachster Konstruktion geplant: 8 cm Beton-Außenschale, 12 cm Styrodur-Dämmung, 20 cm Innenschale und ein Dach aus Trapez­blechen, das begrünt wurde. Elektronisch gesteuerte Lüftungsklappen sorgen, gemeinsam mit den Dachfenstern selbst bei sommerlichen Spitzen­temperaturen (fast immer) für die erforderliche Nachtauskühlung. Falls einmal nicht, stehen mobile Klimageräte bereit, um die Qualität der Weine nicht zu gefährden.

Öffnungen – präzise gesetzt

Passend zum Äußeren ist auch das Innere zurückhaltend gestaltet und in ­jeder Hinsicht sparsam möbliert und ausgestattet. Versprüht das Gebäude nach Außen aber allenfalls einen spröden Charme, so sind die Büros, der kleine Besprechungsraum, die Erschließungsbereiche und v. a. der große »Weinraum« für Verkostungen, Präsentationen und Events trotz aller Schlichtheit wohnlich zu nennen. Dafür sorgen die Proportionen, die Stringenz der Gestaltung mit nur wenigen Materialien und Farben und v. a. die wohl gesetzten Fensteröffnungen, die stets den Bezug zu den umliegenden Räumen und zum Außenraum herstellen und dabei geschickt den Blick eben nicht auf den Asphalt der Straße und die vorbeifahrenden Autos, sondern auf den Wiesenblumenstreifen davor lenken.

Wirken die unterschiedlich großen, quadratischen Öffnungen von außen noch wie zufällig auf der Fassade verteilt, wird ihre durchaus sehr präzise Platzierung im Innern schnell klar. Jede Öffnung hat ihren Sinn und ist das Ergebnis einer eingehenden Planung und Analyse von Blickachsen und -beziehungen. So ist eine z. B. gen Himmel ausgerichtet und blendet die Gewerbebauten davor aus, eine andere ist wiederum so platziert, dass sie exakt die kleine Sitzgruppe belichtet und auch belüftet. Die Fenster zwischen den einzelnen Räumen erklären sich einerseits aus den Betriebsabläufen heraus und gewähren andererseits Einblicke in die unterschiedlichen Nutzungsbereiche des Gebäudes.

Dezent, aber wohnlich – der Weinraum

Nach Passieren des Eingangs steht man fast unmittelbar im Weinraum »club traube«, dem thematischen Zentrum des Hauses, und es gelingt schlagartig, das eben noch sehr präsente Gewerbebiet komplett auszublenden. In dem ­angenehm geschnittenen Raum, der durch den mittig platzierten, hohen Eichenholztisch und das vorherrschende Hellgrau (RAL 7032) geprägt wird, fühlt man sich auf Anhieb willkommen. Nur wenige Farbtupfer in Form von Bezugsstoffen der Sessel zweier Sitzgruppen an den Schmalseiten und großformatiger, an einer Wand konzentrierter Grafiken, setzen weitere Akzente. Nach und nach soll die Wand mit der momentan erst angedeuteten Petersburger Hängung mit Bildern, Fotos und Fundstücken, die die Bauherren von ihren Besuchen bei den Winzern mitbringen, gefüllt werden, sodass eine »Erzählwand« entsteht, die viel über das Unternehmen, seine Inhaber, ihre Partner sowie die Produkte mitteilt.

Im wahrsten Sinne luxuriös und überaus wirkungsvoll nehmen sich die raumhohen, wandbegleitenden und farblich perfekt abgestimmten Vorhänge aus, mit denen sich der Raum auf vielfältige Weise variieren lässt. Akustik-Baffeln unter der Decke sorgen zusätzlich für eine sanfte Atmosphäre. Leuchten über der langen Tafel, aber v. a. eine einfache Deckenbeleuchtung, die zusammen mit dem Elektriker entwickelt und umgesetzt wurde, tauchen den Weinraum in ein angenehmes Licht. Aus der angeschlossenen, offenen Küchennische schiebt sich der 1,60 x 1,60 m große »Travertinblock« ins Bild. Er dient bei Verkostungen und Events als Anrichte und ist in Wirklichkeit natürlich aus 2 cm dicken Platten gefügt – was seiner Wirkung keinen Abbruch tut.

Doch dieser Raum, der jetzt so selbstverständlich wirkt, hat eine lange Entstehungsgeschichte. »Das Herzstück des Projekts, an dem gewissermaßen der Onlinehandel offline gehen sollte, erwies sich als echte Herausforderung. Wie lässt sich das darstellen? Fragten wir uns immer wieder«, erzählt Marco Hippmann. Und um die Frage nicht ausschließlich aus Architektensicht zu behandeln, nahmen sie das Stuttgarter Design Studio Projekttrangle hinzu. Alle Themen wurden gemeinsam behandelt, alle Entscheidungen gemeinsam getroffen und dass die Zusammenarbeit sehr gut funktioniert hat, bräuchte Hippmann eigentlich nicht extra zu betonen, denn das Ergebnis spricht für sich.

db, Mo., 2019.08.12

12. August 2019 Ulrike Kunkel

Passgenaues Implantat

(SUBTITLE) Radio- und TV-Fakultät der Schlesischen Universität in Kattowitz (PL)

Frei von Retro-Allüren haben die Architekten den Neubau geschickt in die Raum- und Belichtungssituationen seiner Nachbarbebauung eingepasst. Mit seinem dunklen Backstein formuliert er klare Raumkanten, bildet mit perforierten Formaten aber auch luftige Brisesoleils und erscheint so gleichermaßen abgezirkelt wie auch durchlässig. Die Unterscheidung in offen und geschlossen bleibt dabei unentschieden in der Schwebe.

»Wenn Sie in die Pawła kommen, schauen Sie genau hin, Sie werden es nicht gleich finden«, war der Rat des Passanten auf die Frage nach dem neuen Kattowitzer Fakultätsgebäude. Der geschulte Blick des Kritikers irrte nicht lange herum, aber der Hinweis war aufschlussreich. Offenkundig ist es den Architekten gelungen, den Bau in die Stadtstruktur aus dem 19. Jahrhundert »harmonisch einzufügen«, wie es in Erläuterungstexten so gerne heißt.

Dabei handelt es sich keineswegs um Anpassungsarchitektur mit irgendwelchen Retro-Allüren, die in dem dicht bebauten Innenstadtquartier unweit des Zentrums und der Kulturmeile in einer schmalen Querstraße ihren Platz fand. Ein immerhin 50 m langer, glatter Monolith, in seiner Körperhaftigkeit betont, indem die Dachkante abgefast ist; durchaus, um die Traufhöhe der Nachbarhäuser aufzunehmen, aber eben in einer ortsunüblichen, skulptu­ralen Form. Unüblich wie die Fassade selbst, ein Überwurf aus Lochziegeln, der dem Auge keine Gliederung bietet, schon gar nicht irgendwelche Fensterformen, Simse und dergleichen. Das Haus verschließt sich auch hermetisch den Blicken von außen und von gegenüber, während von innen die Straße wahrnehmbar ist. Zum Beobachten animiert der Durchblick jedoch nicht, weil das Bild doch stark verpixelt wird und die Tiefe des Ziegelgitters die Schrägeinsicht verhindert. Abends freilich, mit Innenbeleuchtung, kehren sich die Sichtverhältnisse um und aus den gegenüberliegenden Nachbarhäusern sind Menschen zu sehen, die agieren, sitzen, arbeiten.

Das dunkle Ziegelmaterial korrespondiert mit der Umgebung – und mit dem Bestandsbau, der wie ein Exponat vom Neubau gerahmt wird. Dabei ist der zweigeschossige, 140 Jahre alte, typologisch unspezifische Ziegelbau nicht eben eine bauhistorische Preziose und war zum Abriss freigegeben. Doch die Architekten mochten ihn nicht aufgeben, restaurierten ihn und präparierten seine dekorative Fassadengliederung heraus. Die Historie trägt die Gegenwart, das Neue fußt auf dem Alten, so die plakative Aussage. Es gibt Arbeitsmodelle und Skizzen, die wörtlich zeigen, wie der Neubau, scheinbar ohne EG schwebend, huckepack auf dem Bestandsbau sitzt. Auch ideell trägt der historische Bau das Institut, denn im Inneren haben die Architekten in einem zweigeschossigen Raum die Bibliothek, gewissermaßen sein Gedächtnis, untergebracht.

Die Historie war den Architekten jedoch kein Fetisch, denn am rechten Rand haben sie den Altbau kurzerhand um 3,5 m beschnitten. Den schmerzlichen Verlust der Symmetrie haben sie in Kauf genommen, um pragmatisch Platz für die Tiefgarageneinfahrt zu schaffen. Da die Vorhangfassade nicht bis auf Straßenniveau herabreicht, bleibt das EG offen, ist voll verglast. Ein großzügiger, überdachter Vorbereich, ein ebenfalls großzügiger Windfang und die geräumige Lobby schaffen eine offene und transparente Eingangssituation mit unverspiegeltem Durchblick von der Straße bis zum Empfangstresen und in den Hof.

Gestaffelt

Auf dem beräumten Grundstück hatten sich die Architekten mit einer typischen Hinterhofsituation konfrontiert gesehen, mit Seitenflügelgiebeln, angeschnittenen Lichthöfen und schrundigen Brandwänden, an denen sich ­frühere Nachbargebäude palimpsestartig abzeichneten. Glücklicherweise passte das Raumprogramm perfekt und war mit der Randbebauung und ein- bzw. zweigeschossiger randständiger Hofbebauung gut zu bewältigen. Höfe und Einschnitte übernehmen die Baulücken der Umgebung und sorgen für genügend Licht und Luft.

Die Dachflächen der niedrigen Bauteile im Hof sind zwar verklinkert, aber nur zu einem kleinen Teil umfriedet und begehbar. Für so viel (kostenintensiv zu unterhaltende) Terrassenfläche gibt es in der zahlenmäßig kleinen Fakultät keinen Bedarf.

Dafür gibt es den großzügiger »Klosterhof« im Zentrum, der die Gebäude belichtet und als Treffpunkt, Verteiler und Ort für Open-air-Events aller Art fungiert. Und wo keine Fenster möglich waren, in der Nordostecke, ist das hauseigene Kino mit 121 Sitzplätzen untergebracht.

Dominierendes gestalterisches und funktionales Element ist der den meisten Fassaden vorgehängte Schirm aus backsteinformatigen, horizontal liegend ­gestapelten Rahmenziegeln. Das Gitter hat ein Wand-Öffnungsverhältnis von 1:1 und wirkt als Lichtfilter und Sonnenschutz. In den nach Westen gelegenen Büro- und Seminarräumen an der Straßenseite gibt es bodentiefe Fenster, doch der Schirm verhindert direkte Einblicke. Die Hörsäle im DG hingegen erhalten durch Fenster in der Dachschräge ohne Gitterschirm volles Tageslicht.

Die Fassaden zum Hof hin sind je nach Nutzungen nur teilweise beschirmt. Rings um den Hof sind die Studios, Schneideräume, Werkstätten und die Mensa angeordnet. Der renommierte Fotograf und Filmemacher Bogdan Dziworski, derzeit Dekan der Fakultät, hat hier z. B. sein Atelier und gerät über die vielfältigen Möglichkeiten der variablen Lichtverhältnisse ins Schwärmen. Er könne abdunkeln oder volles Tageslicht einlassen, habe den Ziegelschirm zur einen, offene Fenster zur anderen und die Terrasse für Freiluftaufnahmen vor der Tür.

Ein architektonischer Höhepunkt ist die Kaskadentreppe, die auf der Hofseite hinter der haushohen Glasfassade nicht nur zur Erschließung, sondern auch als kommunikatives Element die Geschosse miteinander verbindet. Die nackte Glasfront schien den Architekten zwar zu offen; dass der Ziegelschirm hier aus Kostengründen eingespart wurde, geriet aber eher zum Vorzug. Denn so ergibt sich eine eindrucksvolle, stockwerkübergreifende Glasfassade, hinter der man die Studierenden auf und ab gehen sieht und die für mehr Licht in den hinteren Flurzonen sorgt. Die Schwerter für die Gitterfassade waren schon montiert. Sie blieben – eigentlich nutzlos – vor der Glaswand stehen und geben ihr räumliche Tiefe.

Wie überall im Haus wird deutlich: Den offenen Bereichen spürbare Raumgrenzen zu geben, ist das von den Architekten verfolgte Grundprinzip. So gibt es die Gitter auch als Bereichstrennwände und zwischen manchen Büros und dem Flur. Sie tragen zu einer großen Vielfalt an anregenden Raumeindrücken bei, die beim Gang durch das Haus zu erleben sind, mit Sichtbeziehungen vom Schaufensterblick bis zum heimlichen Auge wie bei der Maschrabiyya (einem dekorativen Holzgitter der traditionellen islamischen Architektur) und ins gleißende Zenitlicht des Himmels. Eine »Schule des Sehens«, wie sie in einer Fakultät der Medienmenschen sicher willkommen ist.

Die Atmosphäre im Haus wird v. a. durch den an Wänden, Treppenstufen und Fußböden der Flure, Säle und Seminarräume allgegenwärtigen Ziegel bestimmt. Einmal glatt versintert, dann wieder als raue Torfbrandklinker, mal flächengleich, dann wieder im lebendigen Relief vermauert, harmoniert der Ziegel mit anthrazitgrauen stählernen Türgewänden, mit warmgelben, gediegenen Holzeinbauten und mit den Betonstützen- und Decken.

Er schluckt freilich auch viel Licht, was sich im Stromverbrauch des Hauses bemerkbar machen dürfte. Vielleicht ist der Umgang mit Licht und Schatten Katalonien, dem Herkunftsland der Architekten, geschuldet. In den heißen Sommern dort ist das prima. Während der osteuropäischen Herbst-und Winterzeit wünschte man sich jedoch, die Vorhangfassaden zur Seite schieben zu können, um jeden Strahl Tageslicht nutzen zu können.

Insgesamt beeindruckt das Geschick, mit dem das Bauvolumen passgenau in die innerstädtische Situation implantiert wurde und mit dem die unterschiedlichen Nutzungen miteinander verknüpft und in die Raum- und Belichtungssituationen eingepasst sind.

Noch befindet sich das Stadtviertel im Halbschlaf. Doch hier und da sind Ansätze neuer Entwicklungen zu registrieren und der Aufschwung des zentrumsnahen Quartiers ist absehbar. Die Radio- und TV Fakultät der Universität mit ihrer agilen, kulturaffinen Studentenschaft wird zweifellos ihren Anteil daran haben.

db, Mo., 2019.08.12

12. August 2019 Falk Jaeger

Die Offenheit der Tiefe

(SUBTITLE) Unterwasserrestaurant »Under« Lindesnes-Båly (N)

An der südnorwegischen Küste wurde eine Betonröhre in die Nordsee gesenkt, um die Gäste eines gehobenen Restaurants mit einem Unterwasser-Erlebnis zu verwöhnen. Die ansprechend gestalteten Innenräume sind auf eine 25 cm dicke Acrylglasscheibe hin ausgerichtet, die den Gastraum von der offenen See trennt, und stellen gängige Vorstellungen von physischer Abgeschlossenheit und gefühlter Offenheit auf den Prüfstand.

Früher leitete der heute 32-jährige Chefkoch Nicolai Ellitsgaard den Gourmettempel Måltid im 70 km entfernten Kristiansand – bis ihn vor etwa zwei Jahren der Hotelbesitzer und Investor Stig Ubostad anrief, um ihm ein abgrundtief unmoralisches Angebot zu unterbreiten. »Als ich die Pläne und die ersten Visualisierungen gesehen habe, ist mir die Spucke weggeblieben. Alles, was ich herausbrachte, war: Wo muss ich unterschreiben?«

Seit wenigen Monaten ist die surreal wirkende, sich nach außen hermetisch abschottende Skulptur nun Wirklichkeit. Im Innern der betonierten Röhre, die wie eine umgekippte Stele im Fjord liegt, befindet sich das erste Unterwasser-Restaurant Europas und das größte seiner Art weltweit. Mit Superlativen hält man sich hier, am Fjord von Båly, rund 90 Autominuten vom nächsten Flughafen entfernt, keineswegs zurück: Der Name »Under« ist mit größter Programmatik und Medienwirksamkeit gewählt und bezieht sich nicht nur auf die hier zur Marke erhobene Lage unter der Wasseroberfläche, sondern ist zugleich auch das norwegische Wort für Wunder.

»Und an diesem Wunder haben wir wirklich intensiv gearbeitet«, erzählt Bauherr Stig Ubostad, der hier vor einigen Jahren ein mehr schlecht als recht funktionierendes Hotel mit 98 Zimmern geerbt hat. Das wunderbare Restaurant, so der Plan, sollte seine Herberge endlich aus den roten Zahlen hinauskatapultieren. »Wissen Sie, diese Region lockt nur einige norwegische Naturliebhaber an und ist international kaum bekannt. Daher habe ich beschlossen, in den Fjord eine Landmarke zu setzen. Ein architektonisches Bauwerk, das weltweit einzigartig ist. Mit wem realisiert man so ein Projekt – wenn nicht mit dem besten Architekturbüro Norwegens!«

Die Architekten von Snøhetta, die sich mit der Bibliothek von Alexandria und der Oper von Oslo bereits international einen Namen machen konnten, entwarfen ein Gebäude, das nicht nur den Faktor Standort neu denken lässt, ­sondern das auch neue Sichtweisen auf Land und Wasser, auf oben und unten, auf innen und außen, auf hell und dunkel, auf offen und geschlossen provoziert. Oder, wie Kjetil Trædal Thorsen, Gründungsvater und Partner von Snøhetta meint: »Dieses Bauwerk ist in jeder Hinsicht ein Hybrid, der mit scheinbar diametralen Positionen spielt und experimentiert. Doch dann merkt man plötzlich, dass dieses hybride Objekt weniger spaltet als vielmehr die vermeintlichen Kontraste und Differenzen in einer neuen, überraschenden Synthese vereint.«

Während der Zugang zur rund 35 m langen, unter 20 Grad versenkten Betonröhre über eine stählerne Gangway erfolgt und die kleine Terrasse vor dem Eingang noch ein wenig an eine mit hochglanzlackierten Eichenbohlen ausgelegte Luxusyacht erinnert, schließt sich die an einer Ecke wie mit einem feinen Skalpell amorph aufgeschabte Skulptur bald zu einem kastenförmigen XXL-Profil und verschwindet mit archaischer Wucht in den mal spiegelglatt ruhigen, mal wütend tosenden Tiefen des Meeres. Auffällig ist die leichte, konvexe Bauchung der Oberfläche, die sich nicht mit nackter, mathematischer Geometrie zufriedenzugeben scheint, sondern in ihrer Anspannung fast schon etwas männlich Muskulöses hat.

»Wir sind an einem besonderen Ort und müssen mit den Kräften der Natur arbeiten, die uns hier auf Schritt und Tritt begegnen und die das Projekt ­maßgeblich mitgeformt haben«, sagt Thorsen. »Die aquadynamische Bauchung haben wir in Simulationen errechnet. Sie garantiert, dass selbst bei stärksten Stürmen das Gebäude niemals wie eine Barriere wirkt. Die großen Wellen werden den Beton weich umspülen und über den Eingangsbereich schwappen.« Schade nur, dass an genau jener Stelle, an der die Gebäudeunterseite die Wasseroberfläche durchsticht, die Illusion der schräg lehnenden Betonröhre massiv gestört wird. Denn rund 30 cm über dem Wasser knickt die Gebäudekontur ab und setzt sich senkrecht nach unten fort. Der morphologische Kompromiss ist verhängnisvoll. »Der Knick war unter der Wasseroberfläche geplant, dann wäre er nicht mehr sichtbar gewesen. Wir haben lange gegen die Statik gekämpft. Schließlich mussten wir uns geschlagen geben.«

Betoniert wurde das Gebäude übrigens auf einem schwimmenden Ponton, der in der Nachbarbucht in 100 m Entfernung vor Anker lag. In einer eintägigen Reise wurde das 1600 t schwere Ungetüm nach monatelanger Aushärtungszeit im Juni 2018 mit Seilen und luftgefüllten Tarierballons an Ort und Stelle gezogen. Dort wurde der massive, doppelwandig betonierte und mit einer innenliegenden Wärmedämmung versehene Hohlkörper, der zu diesem Zeitpunkt bereits verglast und wasserdicht gemacht worden war, mit Gewichten belastet, z. T. mit Wasser geflutet und schließlich mit acht riesigen Ankerbolzen in 5 m Tiefe ans Fundament geschraubt.

5 000 Millimeter unter dem Meer

Auf der obersten Etage der Röhre befinden sich der Empfang mit Garderobe und Zugang zum Lift. Der Fußweg führt Stufe für Stufe in immer dumpfer, immer blauer werdende, sehnsüchtig in die Tiefe saugenden Gefilde hinab. Auf der nächst unteren Etage wartet die Bar mit dem sich elegant an die Fas­sade schmiegenden Lounge-Bereich. Das hier eingeschnittene Acrylglas­fenster, ein vertikaler, schmaler, bis ins 2. UG reichender Schlitz, offenbart die Lage direkt am Übergang zwischen Über- und Unterwasser; die Wellen tanzen an der Glasscheibe, oben fliegen Vögel, unten schwimmt ein Zwergseeskorpion durch das bläulich leuchtende Nass.

Mit dem Fensterschlitz offenbart sich bereits das lang gehütete Geheimnis der Offenheit und Verschlossenheit dieses Gebäudes, denn zu keiner Sekunde wirkt das Under eng oder gar klaustrophobisch, wie man an Land gemeinhin noch vermuten mag. Der Innenraum wirkt luftig und hell und im besten des Wortes in eine nordische Mystik getaucht. Erstaunlicherweise gibt nicht die Lichtmenge, sondern allein die Farbtemperatur Aufschluss über die Unterwasserlage: In den ersten 5 m unter der Wasseroberfläche werden nach und nach die Rotschwingungen aus dem Spektrum herausgefiltert, und je ­tiefer man hinabsteigt, umso bläulicher wird das Rundherum. Kleine LED-Spots im Plafond korrigieren die Wellenlänge und sorgen dafür, dass einem das Date vis-à-vis nicht wie eine blaulippige Wasserleiche erscheint.

Weitere perfekt bis zum letzten Millimeter verarbeitete Holztreppen führen schließlich hinab in die blauesten Tiefen. An der Decke und an den Wänden wird der Raum von sisal-artigen, mit bunten und naturfarbenen Fäden gewebten Paneelen gesäumt. Die akustisch wirksamen Platten sind eine Sonderanfertigung des dänischen Stoffproduzenten Kvadrat. Mittels eines Algorithmus wurde die Produktion der aus nicht brennbarem Trevira-Garn gewebten Matten so programmiert, dass sich mit jedem Tiefenmeter die Fadenfarbe verändert, dass sie von Rot zu Grün und Blau wechselt, dass sie über den gesamten Innenraum betrachtet ein lebendig changierendes Bild erzeugt. Die akustische Maßnahme ist bitter nötig, denn die Geräusche der selbst entworfenen Holzstühle auf dem mit einer Fußbodenheizung ausgestatteten Terrazzo wären ohne die hübschen Paneele wohl noch durchdringender.

Unten angekommen darf man für rund 225 Euro das 18-gängige Menü ge­nießen, das erklärtermaßen die Ressourcen vor Ort nutzt, das Meer und die Wiesen und Wälder rundherum.

Und plötzlich schwimmt wieder ein Zwergseeskorpion vorbei – die gesamte Gastgesellschaft lässt den zweiten Gang links liegen und strömt zum Fenster. Die 11 m breite und 3 m hohe Acrylglasscheibe musste wegen des hohen Wasserdrucks massiv und 25 cm dick (!) dimensioniert werden. Auf dem künst­lichen Riff davor haben sich in den letzten Monaten, zwischen den olivgrünen Kelpblättern Schutz suchend, Venusmuscheln und Seeigel angesiedelt. Am Abend wird es künstlich beleuchtet, worauf sich das Fenster vor den bis zu 40 speisenden Gästen in einen 33 m² großen Lampenschirm verwandelt.

»Das Wasser zu beleuchten klingt nach einem dramatischen Eingriff in die Natur«, erklären die beiden Meeresbiologen Trond Rafoss und Kim Halvorsen, die das Projekt von Anfang an begleitet haben und im Under nicht nur ein Restaurant, sondern auch eine maritime Beobachtungsstation sehen. »Aber die permanente Lichtverschmutzung in den Dörfern und Städten hat weitaus größere Auswirkungen als die sieben Scheinwerfer, die in den Abendstunden die paar Kubikmeter des Meeres ausleuchten. Viele Fische fühlen sich vom Licht angezogen. Und die anderen, die das Licht scheuen, ohnehin fernbleiben.« Ob sich das karge Bild mit dem irgendwie distanziert wirkenden Blick in die maritime Fauna und Flora dann inten­sivieren wird, darf man anzweifeln; die Nordsee ist nicht der Indische Ozean.

Mit rund 7,2 Mio. Euro, die in Forschung, Entwicklung und Errichtung flossen, soll das Unterwasser-Restaurant nicht zuletzt den internationalen Tourismus, der die norwegische Südküste auf dem Weg nach Stavanger, Bergen und auf die Hurtigruten bisher übersprungen hat, ankurbeln. Das Konzept könnte aufgehen – am 2. April wurde das Lokal, das nordischen Matadoren wie Noma (Kopenhagen) und Maaemo (Oslo) Konkurrenz machen soll, eröffnet. Die Tische sind bis November ausgebucht.

db, Mo., 2019.08.12

12. August 2019 Wojciech Czaja

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