Editorial

Das Verhältnis zwischen Stadt und Land ist in den letzten Jahren wieder verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Auslöser dafür sind vor allem politischer Natur, der Anlass immer wieder Wahlergebnisse, Statistiken über Landflucht und manchmal auch Protestbewegungen. So klar viele der Phänomene bei oberflächlicher Betrachtung scheinen, so unscharf werden sie bei näherer Beschäftigung. In den USA haben die Tea-Party-Bewegung oder die Wahl Donald Trumps dazu geführt, dass sich WissenschaftlerInnen und AutorInnen vermehrt die Frage gestellt haben , was mit diesen Menschen in den Flyover-Staaten eigentlich los ist, die auf einmal Stunk machen und populistische Maniacs in höchste Ämter wählen. Man muss nicht lange suchen, um dann doch auf etliche nachvollziehbare Gründe zu stoßen, die berechtigterweise Anlass dazu geben, unzufrieden zu sein: Die baulichen Infrastrukturen in den USA sind in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt worden, für finanziell ausgehungerte Kleinstädte und Landstriche im Nirgendwo interessiert sich kein Mensch, das Wort Overtourism kennt hier niemand.

Die Einkommen vor allem der unteren Mittelschicht sind seit den 1990er-Jahren gesunken, ebenso die Lebenserwartung, besonders in der Arbeiterklasse.

Gut bezahlte Jobs verschwinden, Alkoholismus, Drogenkonsum, Selbstmorde und psychische Krankheiten nehmen zu. Wie Angus Deaton, Nobelpreisträger 2015 für Ökonomie, behauptet, passiert mit der weißen Arbeiterklasse in den USA heute das, was mit der schwarzen Arbeiterklasse schon in den 1970er-Jahren geschah. Sie wird nicht mehr gebraucht.

Eine in den letzten Wochen in den US-Medien diskutierte Studie der beiden Politikwissenschaftler Peter Ganong und Daniel Shoag weist nach, dass eine der klassischen ökonomischen Aufstiegsmöglichkeiten für die ländliche bzw. kleinstädtische Arbeiterklasse, nämlich der Umzug in eine größere Stadt, aufgrund sinkender Löhne und steigender Lebenshaltungskosten in den Städten keinen Sinn mehr macht. Das Ergebnis: In den USA verzeichnen fast alle der großen Städte Bevölkerungsrückgänge. Die Lebenshaltungskosten sind für Menschen ohne Uniabschluss im Vergleich zu den Verdienstmöglichkeiten mittlerweile einfach zu hoch.

Ganz ähnlich sind die aktuellen Entwicklungen in England. Der *Guardian* zitiert eine Studie, die besagt, dass die Zahl der Menschen zwischen 25 und 34, die übersiedeln, um einen neuen Beruf zu beginnen oder zu finden, heute im Vergleich zu den 1990ern um 40 Prozent gesunken ist. Grund dafür sind auch hier die hohen Lebenshaltungskosten in den urbanen Zentren, im Speziellen natürlich die hohen Mieten, die sich immer weniger Menschen leisten können. Pessimistisch zugespitzt könnte man sagen: Das Leben am Land bietet keine Perspektive, das Leben in der Stadt können sich nur mehr Reiche leisten.

Im vorliegenden Schwerpunkt geht Ilse Helbrecht der Frage nach, was denn Stadt und Land bzw. Urbanität und Ruralität nun eigentlich unterscheidet und was die Stadtforschung dazu sagt. Ähnlich wie auch Maximilian Förtner, Bernd Belina und Matthias Naumann in einem weiteren Beitrag in diesem Heft wehrt sie sich, anhand von z. B. Wahlergebnissen eine scharfe Grenze zwischen urban und rural zu ziehen und beiden Seiten eindeutige Charakteristika zuzuordnen. Die drei genannten Autoren zeigen am Beispiel von Wahlerfolgen der AfD, dass auch hier ein genauerer Blick notwendig ist und einfache Stadt-Land-Zuordnungen in die Irre führen können. Mit dem bekannten österreichischen Sozialforscher Günther Ogris haben wir über die Geographie des Wahlverhaltens in Österreich gesprochen und mit Erstaunen gehört, wie stabil die österreichische Wahlkarte ist. Theresia Oedl-Wieser beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema der Abwanderung der weiblichen Landbevölkerung in die Städte und hat darüber einen Artikel für den Schwerpunkt verfasst.

Auch hier wird klar, dass ohne genauen Blick die Gefahr von vereinfachten, voreiligen Schlüssen droht. Judith Eiblmayr schreibt in ihrem Beitrag über Hintergründe, Ursachen und Begleiterscheinungen von Suburbanisierung speziell in den USA und ihren britischen Anfängen. Die oben angesprochenen ökonomischen Verwerfungen finden ihre Berücksichtigung in einem von uns für dieses Heft übersetzten Artikel aus der *London Review of Books* über die Gelbwesten von Jeremy Harding.

Ebenfalls mit dem Thema *Stadt/Land* hat sich eine Veranstaltung beschäftigt, die wir Anfang Juni für das *Kunst Haus Wien* kuratiert haben. Die Vorträge bildeten eine Begleitveranstaltung zur sehenswerten Ausstellung *Über Leben am Land*, die noch bis 25. August läuft.

Von 9. bis 13. Oktober veranstalten wir bereits zum zehnten Mal das *urbanize!*-Festival, diesmal zur allerorten höchst virulenten Wohnungsfrage. Im Jubiläumsjahr *100 Jahre Rotes Wien* begeben wir uns auf die Suche nach Fragestellungen und Möglichkeiten einer gerechten Wohnraumversorgung für alle: *Alle Tage Wohnungsfrage* fragt nach dem Menschenrecht auf Wohnen und seiner Durchsetzbarkeit gegen das derzeit vorherrschende Modell »Wohnen als Ware«, nach Wohnmodellen für eine Gesellschaft im Wandel und dem Beitrag von Architektur und Stadtplanung zur Lösung der Klimakrise. Dazu laden wir nach Wien-Favoriten, dem mit rund 200.000 Einwohnern größten Wiener Gemeindebezirk, mit vielen unterschiedlichen Veranstaltungsorten, Vorträgen und Diskussionen, Stadterkundungen und Workshops, Filmen und Interventionen zwischen dem traditionellen Favoriten und seinem neuen Stadtentwicklungsgebiet Sonnwendviertel.

(Noch) keine Veranstaltung wird es im Hausprojekt *Bikes and Rails* im Sonnwendviertel geben, an dem wir beteiligt sind. »Ökologisch – Solidarisch – Unverkäuflich« lauten die Säulen des Holzbau-Passivhauses, das im Sommer 2020 bezugsfertig sein wird. Nach wie vor freuen wir uns über Menschen, die das erste Neubauprojekt im *habiTAT – Mietshäuser-Syndikat* unterstützen, indem sie Erspartes zwischen 500 EUR und 50.000 EUR als Direktkredit auf Zeit zur Verfügung stellen. 1,2 Mio. EUR befinden sich schon in diesem Alternativ-Finanzierungstopf, rund 300.000 EUR werden noch benötigt, um endgültig zu beweisen: Solidarität schafft Raum! Mehr Informationen und die Direktkredit-Unterlagen gibt es auf www.bikesandrails.org.

Die Redaktion

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt

04-05
Stadt – Land
Christoph Laimer

06-13
Urbanität –Ruralität
Ilse Helbrecht

14-19
Was ist dran am »Exodus« der jungen Frauen vom Land?
Theresia Oedl-Wieser

20-24
Die Geographie des Wahlverhaltens in Österreich
Günther Ogris

25-31
Unter Gelbwesten
Jeremy Harding

Kunstinsert
32-36
Elena Anosova
Out-of-the-way

37-43
Sine_Urban
Judith Eiblmayr

44-53
Stadt, Land, AfD
Maximilian Förtner, Bernd Belina, Matthias Naumann

Besprechungen

Wiens munizipaler Sozialismus S. 54
Die Karte als Werkzeug der Ermächtigung S.55
ZukunftsproduzentInnen S. 56
Es gibt ein richtiges Leben im falschen S. 57
A perfect day – Kunst im Realitäts-Check S. 58
All we have is now. »Ich muss heute noch die Welt retten!« S. 60
Neues zur territorialen Gerechtigkeit S. 61

Leserbrief
Betrifft: »Eloge für einen Nazi«, von Rudi Gradnitzer S. 62

68
Impressum

Stadt - Land. Ein Vorwort

Die Residenzstadt Wien war zu Zeiten der Habsburger-Monarchie Hauptstadt eines großen Reiches und galt als Wasserkopf. Sie war Sitz des Kaiserhauses, an das man Steuern entrichten musste, das die eigene Volksgruppe, wenn es nicht die deutschsprachige war, diskriminierte und ausbeutete. Nach dem Ersten Weltkrieg, als vom großen Reich nur ein Rest übrig blieb, Wien eine hungernde Stadt war und die sozialdemokratische SDAP bei den ersten freien Wahlen die absolute Mehrheit erreichte, bekam der Hass auf Wien eine neue, antiproletarische Note. Das später so genannte Rote Wien (1919–1934) war das ideale Feindbild des konservativen Österreichs, das vor allem durch die von der Christlichsozialen Partei geführten Bundesländer repräsentiert wurde. Eine Besonderheit Österreichs war, dass damals fast 30 Prozent der Bevölkerung in der Hauptstadt lebten. Die Schärfe der ideologischen Gegensätze bekam dadurch noch mehr Gewicht. 1920 wurde Wien ein selbständiges Bundesland und konnte sich damit vom erzkonservativen, stark ländlich geprägten Niederösterreich abkoppeln. Seit diesem Zeitpunkt, mit Ausnahme der Zeiten der Diktaturen, waren und sind in Niederösterreich die ÖVP und in Wien die SPÖ (bzw. die jeweiligen Vorgängerparteien) die stärksten Parteien – eine unglaubliche Stabilität.

Trotz dieser eindeutigen Wahlergebnisse und der politischen Grenze, die es zwischen Wien und Niederösterreich gibt, wäre diese mit freiem Auge natürlich nicht erkennbar, gäbe es keine Ortsschilder und natürlich spielt sie in ganz vielen Bereichen keinerlei Rolle. So liegt Wiens größte Shopping Mall knapp außerhalb der Stadtgrenze in der gerade einmal 7.000 EinwohnerInnen zählenden niederösterreichischen Marktgemeinde Vösendorf, zahlreiche WienerInnen haben ihre Wochenendhäuschen im niederösterreichischen Waldviertel und noch mehr verlassen ihre Stadt für Ausflüge, um z. B. in den in Niederösterreich liegenden Wiener Alpen wandern zu gehen. Eine Gegend, die den hitzegeplagten WienerInnen schon seit Eröffnung der Südbahn Mitte des 19. Jahrhunderts wohlbekannt ist. Sie diente ihnen – zumindest den GroßbürgerInnen unter ihnen – ab dieser Zeit als Ort für die Sommerfrische. Ungefähr seit dieser Zeit kommt das tatsächlich hervorragende Wiener Wasser aus dieser Gegend. Dass WienerInnen gerne Wein aus Niederösterreich trinken, Spargel aus dem Marchfeld und Marillen aus der Wachau essen, sei nur nebenbei erwähnt.

Umgekehrt pendeln rund 190.000 NiederösterreicherInnen täglich nach Wien (interessanterweise auch 90.000 WienerInnen aus Wien hinaus), gar nicht so wenige von ihnen arbeiten bei der Stadt Wien. Polizisten wurden in Wien früher gerne Mistelbacher genannt, was der Legende nach auf ihren niederösterreichischen Herkunfts- bzw. Ausbildungsort verweist. Der Sozialforscher Günter Ogris sagt im Interview für diesen Schwerpunkt, dass die drei beliebtesten Kulturstätten der NiederösterreicherInnen in Wien liegen.
Man sieht, selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung zeigen sich sofort mannigfaltige Verbindungen und Abhängigkeiten, die die politische Grenze völlig ignorieren. »Die komplexen gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse von Räumen verbieten es, räumliche Grenzen als scharfe Grenzen für unterschiedliche soziale Verhältnisse zu vermuten«, schreibt Ilse Helbrecht in ihrem Artikel, in dem sie sich mit den Begriffen Stadt und Land sowie Urbanität und Ruralität auseinandersetzt. Helbrecht wehrt sich heftig gegen vereinfachende Darstellungen, um urbane und rurale Räume zu identifizieren und kategorisieren, wie sie sich medial in den letzten Jahren großer Beliebtheit erfreut haben. Sie sieht Begriffe wie Urbanität und Ruralität als »Konstrukte der Wissenschaft, die spezifische Antworten auf Probleme und Herausforderungen bieten«.

Maximilian Förtner, Bernd Belina und Matthias Naumann treibt ebenso die Absicht, vor vereinfachenden Darstellungen zu warnen, im Speziellen bei der Interpretation von Wahlergebnissen der AfD. Mit Lefebvres Theorie der Urbanisierung, die Stadt und Land erfasst, und Adornos Begriff der Provinzialität, den er nicht exklusiv mit dem Ländlichen verknüpft, zeigen sie, dass die Zentralität als Wesen der Urbanität (Lefebvre) und der »individuelle Bildungsprozess« als Möglichkeit, die Provinz hinter sich zu lassen, viel erfolgsversprechendere Ansätze bei der Analyse von Wahlverhalten sind als die Stadt-Land-Dichotomie. Gemäß dieses Ansatzes be- schreiben die Autoren drei unterschiedliche Orte, die einen besonders hohen AfD-WählerInnenanteil gemeinsam haben, aber unterschiedlichen Raumtypen entsprechen.

Förtner, Belina und Naumann bezeichnen sie als Ort einer umfassenden Peripherisierung, als peripheres Zentrum bzw. als zentrale Peripherie. Mit dem schon erwähnten Günter Ogris vom Institut SORA, das in Österreich durch seine Hochrechnungen bei Wahlen bekannt ist, haben wir ein Gespräch geführt, um herauszufinden, wie viel Gehalt in der plakativen These steckt, dass die BewohnerInnen von Städten links oder liberal sind und die Landbevölkerung rechts und konservativ ist. Das Ergebnis der Stichwahl bei den letzten österreichischen Präsidentschaftswahlen 2016 zwischen Alexander Van der Bellen (Grün) und Norbert Hofer (FPÖ) schien diese These besonders zu unterstreichen.

Ogris macht im Interview auf den interessanten Umstand aufmerksam, dass die Geographie des Wahlverhaltens in Österreich sehr beständig ist und nur wenige Ereignisse in den letzten Jahrzehnten grundlegende Änderungen verursachten. Aber auch er verweist darauf, dass es urbanes Wahlverhalten eben nicht nur in den Städten gibt, sondern auch in mit diesen in Verbindung stehenden Räumen wie z. B. dem Burgenland, dessen Bevölkerung in einem hohen Ausmaß nach Wien pendelt.

Die Migration zwischen Land und Stadt behandelt Theresia Oedl-Wieser und geht damit einer anderen Geschichte über das Verhältnis von Stadt und Land nach, die in den letzten Jahren wieder öfter zu hören ist: Die Landflucht junger Frauen. Auch in diesem Fall unterstützen die Statistiken diese Erzählung und Oedl-Wieser zählt Gründe auf, die sie plausibel machen: Geschlechterrollen, Bildungschancen, Arbeitsmarkt.

Für genauere Erkenntnisse über die »Wechselwirkungen von Wanderungsmotiven, Lebensphasen, ökonomischem und sozialem Status sowie den sozialen Kategorien Geschlecht, Alter und Ethnizität« müsse allerdings »zielgerichteter unter- sucht werden«.

Mit den sich speziell in den USA seit Jahrzehnten immer weiter ausdehnenden räumlichen Schwellen zwischen Stadt und Land und ihrer Besiedlung setzt sich Judith Eiblmayr in ihrem Beitrag sowohl aus historischer als auch aus aktueller Perspektive auseinander. Dabei dürfen die Themen Mobilität und Spekulation nicht fehlen und das tun sie auch nicht.

Darüber hinaus geht es um psychische Phänomene wie suburban angst, das Fehlen bzw. die Vermeidung von öffentlichen Räumen und aufkeimende Gegenbewegungen.

Eine Gegenbewegung gibt es auch in Frankreich und jede/r von uns kennt sie: die Gelbwesten. Gerade diese hohe Bekanntheit scheint es schwer zu machen, einen sowohl unvoreingenommenen als auch kenntnisreichen Blick auf das Phänomen zu werfen. Viele BeobachterInnen scheitern dabei, sich nicht von einzelnen Aspekten ablenken zu lassen.

Dem Autor und Journalisten Jeremy Harding gelingt das dafür umso besser, weswegen wir seinen Text Unter Gelbwesten für diese Ausgabe übersetzt haben. Er ist selbst bei Demonstrationen der Gelbwesten mitgegangen, hat mit vielen von ihnen gesprochen und sich trotzdem einen unabhängigen Blick bewahrt. Auch hier stimmt es, von einer Folge der Disparität von Stadt und Land zu sprechen und gleichzeitig stimmt es auch wieder nicht. Viele ländlichen Regionen werden vernachlässigt, was zur Folge hat, dass sich Menschen ihr Leben trotz Vollzeitarbeit kaum mehr leisten können, aber das Gleiche trifft auf viele städtische Banlieues in oft noch viel größerem Ausmaß zu. Den Gelbwesten deswegen das Recht zu verwehren, für bessere Lebensverhältnisse auf die Straße zu gehen, wäre absurd; toll und politisch unglaublich interessant wäre es natürlich, sie würden das solidarisch und gemeinsam mit den BewohnerInnen der Banlieues machen.

dérive, Mo., 2019.07.08

08. Juli 2019 Christoph Laimer

ZukunftsproduzentInnen / Buchbesprechung

We understood that the act of picturing alternative worlds is no longer enough. We should start a journey of constructing them instead. (STEALTH.unlimited)

Ausgehend von der Finanzkrise 2008 beschreibt das Buch Upscaling, Training, Commoning. Constructing a Future That is Yet to Be die folgende zehnjährige Schaffensperiode der multidisziplinären Praxis von STEALTH.unlimited (Ana Dzˇokic ́ und Marc Neelen).

Frei zwischen den Feldern Kunst und Architektur wechselnd, werden dabei das bewusste Sehen, das entschlossene Entdecken, die Neuinterpretation, das Ver- handeln urbaner Räume und das Austesten gesetzlicher Graubereiche zu zentralen Arbeitsmethoden. Die dadurch aktivierten Orte definieren ein breites Handlungsfeld zwischen umkämpftem Stadtraum, urbaner Nische, Galerien und Biennalen sowie dem nicht-physischen Dialog kollektiven Zusammenlebens.

In den letzten Jahren war zu beobachten, wie AkteurInnen alternativer Stadt- und Architekturproduktion vermehrt ins Rampenlicht getreten sind, auch STEALTH. unlimited sind Teil dieser Bewegung. Doch während sich dieser Diskurs oftmals noch im Theoretischen, Akademischen befindet, sich dort verfängt, sind Dzˇokic ́ und Neelen schon einen Schritt weiter. In dem selbst-editierten Buch zeigen sie uns Projekte, die sich mit den gewandelten Umständen und den dadurch neu entstandenen Problemfeldern nicht nur beschäftigen, sondern diese auch kontinuierlich als Anlass nehmen, die eigene Praxis zu hinterfragen und neu zu definieren.

Unterstützung für die Reflexion holen sich Dzˇokic und Neelen bei KomplizInnen mit den unterschiedlichsten Expertisen – sinnbildlich für die Arbeitsweise von STEALTH.unlimited, die Vielschichtigkeit urbaner Räume und die daraus resultierende Notwendigkeit interdisziplinärer Produktion.

Neben einer ausführlichen Einleitung finden wir fünf thematische Schwerpunkte. Besonders der letzte Abschnitt, ein fiktiver Blick in die Zukunft, geschrieben von Paul Currion zeigt, dass dieses Buch keine endgültige Position präsentieren will. Mithilfe der dargestellten Projekte werden Themen wie Ökonomien der Ausdauer, Trainingsplätze für ein anderes Leben, das Umgestalten des Wohnungswesens und die Neuonstituierung von Machtgefügen besprochen. Das vorliegende Buch ist alles andere als ein Werkbericht, sondern vielmehr die Möglichkeit, die beiden HauptakteurInnen auf ihren Stationen zu begleiten und die Transformation ihrer Praxis detailreich nachzuvollziehen. Insofern offenbart sich die Konzeption des Buches in Form eines Travelogs (Reiseberichts) als wahrer Kunstgriff.

Einerseits wird man zum Mitreisenden und andererseits erhält man einen angenehm niederschwelligen Zugang in die Welt von STEALTH.unlimited. Mittendrin statt nur dabei, verlässt man die passive Position des Architekturbetrachters und begibt sich von Bordeaux über Stockholm, Konjic, Belgrad, Wien bis nach Rotterdam und an viele Orte mehr.

Und was finden wir in dieser Welt? Definitiv keine Hochglanz-Architektur oder monumentale Prestigebauten. Es sind provisorische, improvisierte Installationen und Aktionen, die direkt an Ort und Stelle entstehen. In bester DIY-Manier ist es dieser kollektive Ansatz, der alle Beteiligten Selbstermächtigung erfahren lässt.

How it could work? fragen sich Dzˇokic ́ und Neelen, eine eindeutige Antwort haben sie selbst nicht. Das Buch allerdings zeigt Ansätze, wie wir als mutige, selbst-organisierte Gemeinschaft einer Beantwortung dieser Frage näher kommen können und vielleicht eine Zukunft (abseits der Ausbeutungslogik) erreichen, die noch unvorstellbar ist. Besonders die beiden Langzeitprojekte Stad in the Maak (city in the making – Rotterdam) und Ko Gradi Grad (Who builds the city – Belgrad) sollte man sich diesbezüglich und aufgrund ihrer Dimension und Möglichkeiten genauer ansehen.

Die beinahe intimen Bilder und Alltagsfotografien sind ganz im Sinne des Travelogs die richtige Erzählform, um die prozess- orientierten Projekte greifbar zu machen – ein guter Ansatz, um der schwierigen Darstellbarkeit kreativer Prozesse entgegenzutreten. Ob es jedoch notwendig ist, die DIY-Ästhetik auch in grafischen Belangen zu übernehmen, stelle ich in Frage, eine reduzierte und klare Gestaltung hätte dem Buch in punkto Lesbarkeit nicht geschadet und auch den Inhalt besser transportiert.

Toll an diesem Buch ist jedenfalls, dass STEALTH.unlimited in den Texten und Projekten ihre eigene Praxis ständig hinterfragen, offenlegen und uns an der Transformation teilhaben lassen. Es geht nicht darum, erfolgreich abgeschlossene Projekte zu zeigen, sondern die Entstehung mit all ihren Problemstellungen, Entdeckungen, Kompromissen und ortsspezifischen Eigenheiten begreiflich zu machen. Ein How-to-book für all jene, die ihre Umwelt mit eigenen Händen gestalten wollen, STEALTH.unlimited auf dieser inspirierenden Reise zu begleiten wird wärmstens empfohlen.

dérive, Mo., 2019.07.08

08. Juli 2019 Silvester Kreil

All we have is now.

(SUBTITLE) »Ich muss heute noch die Welt retten!«

Besprechung der Kunstbiennale Venedig

»May you live in interesting times« – der vom US-amerikanischen Direktor der Londoner Hayward Gallery Ralph Rugoff als Kurator für die diesjährige Kunst-Biennale in Venedig ausgewählte Titel richtet sich direkt an sein Gegenüber und löst zunächst ein erstauntes »Mmmh« aus. Wie wir schließlich in Erfahrung bringen, bezieht sich der beiläufig harmlos klingende Titel auf einen alten chinesischen Fluch und dient als Parabel für die derzeitigen durch Klimaerwärmung, Artensterben, Digitalisierung, Biotechnologien, Robotik, Migration, Rassismen, Krieg und Gewalt global existierenden Turbulenzen und Verunsicherungen.

Die von Rugoff dazu thematisch zusammengestellten 79 internationalen künstlerischen Positionen in den Werfthallen des Arsenale werden durch eine mit vier Meter hohen blanken Sperrholzwänden gestaltete Ausstellungsarchitektur kojenartig in einer Just-do-it-Baustellen-Manier in Szene gesetzt. Die Dominanz von KünstlerInnen, die von der mexikanischen Galerie Kurimanzutto und dem Berliner Galeristinnenduo Sprüth/Magers vertreten werden, ist auffällig. Ebenso die US-Lastigkeit – woher ein Drittel der KünstlerInnen kommt. Diesem Manko stehen politische Werke zum Thema Blackness und Queer-Aktivismen von Künstlerinnen wie Njideka Akunyili Crosby oder Zanele Muholi gegenüber, ohne dabei allerdings auf aktuelle Diskurse zu Fragen der Dekolonialisierung oder Genderpolitics einzugehen.

Ebenfalls Thema ist eine posthumane Welt, in der Roboter die Herrschaft übernehmen. Verblüffend realistisch wirkt die performative Installation der chinesischen KünstlerInnen Sun Yuan und Peng Yu, in der ein Roboter – wie nach einem Akt der Gewalt – blutrote Flüssigkeit hin- und her wischt. Skype-Interviews mit SoldatInnen in der Installation Global Agreement von Neil Beloufa vermitteln ein authentisches Bild vom Leben in der Armee und im Krieg. Aktiviert werden die Videos durch körperliche Interaktion auf Fitnessgeräten. Ansonsten ist das Angebot an partizipatorischen Optionen beschränkt.

Eine Ausnahme bilden die erfolgserprobten Installationen von Hito Steyerl, die zu einer virtuellen Stadttour einlädt. Im Hauptpavillon in den Giardini treffen wir auf weitere Arbeiten der im Arsenale gesichteten KünstlerInnen.

Derzeit sind es 91 Länderpavillons – Tendenz steigend – die in den Giardini, im Arsenale, quer durch die Stadt oder auf Inseln wie Giudecca – im Estland-Pavillon ist eine gelungene exzentrisch-schamanistische Installation von Kris Lemsalu zu sehen – tagsüber zur Nonstop-Kunsttour einladen. Im kanadischen Pavillon ist mit dem Kollektiv Isuma und deren Video One Day in the Life of Noah Plugattuk erstmals die Volksgruppe der Inuit vertreten. Exklusiv-, Herrschafts- und Machtverhältnisse thematisierend, enterte der Künstler Manfred Grübl mit der temporären Brücke Transition-Übergang die Giardini.

Die Eröffnung des österreichischen Pavillons geriet zum Staatsakt. Der Andrang der, aufgrund der Neukonstituierung der österreichischen Regierung mittlerweile Exminister und deren Vorgänger war groß. Unter anderem weil sich im Kunst- und Kulturbereich durch eine Reihe politischer Fehlentscheidungen die Situation verschärft hatte, rief eine Gruppe von KünstlerInnen die während der offiziellen Eröffnungsrede von Gernot Blümel Anwesenden zur Protestaktion auf. Als Blümel mit seiner Rede startete, wendete sich mehr als ein Drittel der Anwesenden (viele von ihnen trugen Sticker mit Anti-Blau-Schwarz-Statements) von diesem ab und kehrten ihm den Rücken zu.

Erstmals wurde mit Renate Bertlmann – eine Pionierin und wichtige Vorreiterin der zweiten und dritten Generation der Performancekunst – der österreichische Pavillon von einer Frau im Alleingang bespielt. Entsprechend hoch waren die Erwartungen, die von der Kuratorin des Pavillons Felicitas Thun-Hohenstein durch Biennale-Lectures wie Ästhetik des Riskanten im Vorfeld – an der unter anderen Inna Shevchenko von Femen teilnahm – gesteigert wurden. Anstatt ein radikales Zeichen zu setzen, entschieden sich Künstlerin und Kuratorin – für viele enttäuschend – für ein nüchternes, reproduzierendes Statement, indem Schwarz-weiß-Kopien von Dokumentationsmaterial vergangener Performances im ver- blassenden Großformat als Wandtapete in dem zur weißen Faltschachtel stilisierten Pavillon affichiert wurden. Wie unzählige KünstlerInnen vor ihr verfiel Renate Bertlmann der verführerischen Wirkung des Muranoglases und ließ daraus 312 rote Rosen produzieren. Die daran montierten Messer als Waffe gegen patriarchale Aggression büßen durch die kitschige Gestaltung der Rosen stark an ihrer politischen Intention ein. Der an der Außenwand angebrachte Neon-Schriftzug amo ergo sum wirkt unschlüssig und im feministischen Kontext fehl am Platz.

Im Unterschied dazu gelingt dem KünstlerInnen-Duo Bárbara Wagner und Benjamin de Burca im brasilianischen Pavillon in ihrer Auseinandersetzung mit Fragen von Identität, Gender, Hierarchien und Schönheitsidealen eine authentische politische Message. In ihrem Zweikanal-Video Swinguerra zeigen sie performende brasilianische Jugendliche, die einen speziellen Tanz- und Musikstil praktizieren, der im urbanen Raum im Nordosten Brasiliens als Möglichkeit zur sozialen Integration herangezogen wird.

Im Hier und Jetzt kommen wir auch im Pavillon Litauens an, in dem durch die Inszenierung einer Strandoper dringliche Themen wie Klimaerwärmung, das Aussterben der Artenvielfalt und Vermüllung des Ozeans behandelt werden. Direkt gegenüber vom Arsenale, einem ehemaligen Sperrgebiet des Militärhafens, wurde in einer leergeräumten Lagerhalle zur Inszenierung eines Badestrandes samt Liegestühlen und Badehandtüchern Sand aufgeschüttet. Die von der Situationistischen Internationale einst an- gestimmte Parole »Unter dem Pflaster liegt der Strand« gewinnt hier neue Züge. Kuratorin Lucia Pietrouisti beauftragte für die Realisierung der Strandoper die Regisseurin Rugilé Barzdziakaite, die Drehbuchautorin Vaiva Grainyté und die Komponistin Lina Lapelyté. Vereinzelt aufspringende SängerInnen konfrontieren uns in ihrem Gesang mit Dystopien als Folgen von Konsumwahn und Tourismusindustrie. Die Erwärmung der Arktis führt weltweit zu Wetterextremen. 815 Millionen Menschen leiden an Hunger, das sind knapp 11 Prozent der Weltbevölkerung. Ein Großteil der Treibhausgase wird durch Fleisch- und Milchproduktion erzeugt.

Nature Sustainability und Ausstellungen über das Ineinanderwirken von Natur und Technik liegen derzeit im Trend.

Treibende, ganze Kontinente bildende Inseln aus Plastik im Pazifik, Meldungen über Unmengen von Plastik in Kadavern von Meerestieren, Müllberge, die Lebensräume formen, schießen einem angesichts des auf dem Canale Grande in Venedig treibenden Bootes durch den Kopf, auf dem sich ein vier Meter hoher Berg von Plastikmüll befindet. Dieser bildet einen extremen Kontrast zu den vor den Giardini vor Anker liegenden Luxusyachten der KunstsammlerInnen. Der amerikanische Künstler Christian Holdstad bezeichnet sein ortspezifisches Kunstwerk Consider yourself as a guest (Cornucopia), das im Kanal vor der Ca’Foscari University bis 12. Juni installiert ist, als »Einladung, sich mit der dringlichen Frage auseinanderzusetzen, den Ozean vor der totalen Verschmutzung durch Plastikmüll zu retten«. Der Sponsor des Projekts ist das globale, in mehr als 100 Ländern aktive Unternehmen FPT Industrial, das unter anderem Industriefahrzeuge und Marinemotoren erzeugt und als Mitverursacher des Problems seit April 2019 Partner des europäischen Projekts Clean Sea Life ist.

Ambitionen, sich für transnationale und interdisziplinäre Projekte zu öffnen, mehren sich. Der Research-Pavillon auf der Insel Giudecca, in dem sich KünstlerInnen wie Saara Haanula, Charlotta Ruth Ralo Mayer, Nikolaus Gansterer unter anderem mit der Analogie von Augmented Reality und Übungen zur Schaffung neuer Bedeutungen beschäftigen, ist dafür ein gelungenes Beispiel.

dérive, Mo., 2019.07.08

08. Juli 2019 Ursula Maria Probst

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