Editorial

Ganterbrücke, Sunnibergbrücke, Felsenauviadukt oder die Leonard P. Zakim Bunker Hill Memorial Bridge in Boston – über 100 Entwürfe stammen aus der Feder des Bau­ingenieurs Christian Menn, der vor knapp einem Jahr starb. Zahlreiche ausgeführte, aber auch viele nicht realisierte Projekte zeugen von seinem kreativen Schaffen. Seine Einstellungen zur Rolle des Ingenieurs, zum konzeptio­nellen Entwurf und zur Gestaltung von Brücken verdienen höchsten Respekt und regen zum Denken an.

Wir haben den Ingenieur Eugen Brüh­wiler als Autor hinzugezogen und einige Berufskollegen, ehemalige Schüler, Freunde und Familienmitglieder nach ihren Erinnerungen an Menn gefragt. Alle verband eine individuelle Freundschaft mit Christian Menn, und alle empfanden den Austausch mit ihm als Privileg. In einem anregenden, interessanten und durchaus auch humorvollen Austausch entstanden überraschende und per­sön­liche Beiträge. Sie geben einen etwas anderen Einblick in einen vielschichtigen Charakter.

Ergänzend schauen wir auf sein Werk, das Eugen Brühwiler in drei Schaffensperioden einteilt. Eine von Menns frühen Brücken im Kanton St. Gallen wird derzeit instand gesetzt mit dem Ziel, die elegante Kon­struktion zu bewahren, aber die Brücke den ­heutigen Anforderungen anzupassen. Am Schluss steht ein kleiner, feiner Holzsteg im Onsernonetal, den ­Christian Menn als Abschluss seiner Arbeit sah.

Daniela Dietsche, Clementine Hegner-van Rooden

Inhalt

03 EDITORIAL

07 WETTBEWERB
Ausschreibungen/Preis | Wasser, Licht und Schatten

10 PLANUNGS- UND BAUPROZESSE
Die neue Norm SIA 269/8 | BIM-Fachtagung: Projektabwicklung im Wandel

12 AUSZEICHNUN
Zum Beispiel eine Pilzfarm

14 ESPAZIUM
Aus unserem Verlag

16 VITRINE
Bewehrung und Fassaden

17 SIA
Projektierungssektor in Aufwärtsentwicklung

18 AGENDA

19 STELLENMARKT

20 CHRISTIAN MENN (1927–2018)

20 BAUINGENIEUR AUS LEIDENSCHAFT
Eugen Brühwiler Christian Menn – eine Würdigung.

22 «WIR MÜSSEN SEINEM WERK SORGE TRAGEN»
Clementine Hegner-van Rooden
Ein Gespräch mit Eugen Brühwiler über den Ingenieur und Mensch Christian Menn.

30 ÄSTHETIK VERSUS NUTZEN
Daniela Dietsche
Das Viadukt Mühle Rickenbach – eine frühe Brücke von Menn – wird derzeit instand gesetzt.

32 NEULAND
Daniela Dietsche
Ein kleiner Holzsteg über den Isorno: das letzte Werk von Menn.

34 STELLENMARKT

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Bauingenieur aus Leidenschaft

Christian Menn hat den Brückenbau bereichert. Seine Projekte genügen ästhetischen Ansprüchen und hielten vertretbare Baukosten ein. Dennoch zweifelte er oft. Eugen Brühwiler, Professor an der ETH Lausanne, erinnert sich.

Christian Menn (1927–2018) war durch und durch Ingenieur: Verstandeskraft als Esprit, kreative Fantasie und Leidenschaft prägten seine Person ebenso wie die Faszination technologischer Möglichkeiten. Er war immer auf der Suche nach der technisch effizientesten Lösung und besorgt um beste Qualität. Kritisch denkend, auch etablierte und normierte «Regeln» infrage stellend, hart mit ­anderen, aber auch mit sich selber, sparsam, nüchtern und prägnant. Bis ins Alter von 91 Jahren blieb er unermüdlich und überraschend.

Ästhetik, Effizienz und Wirtschaftlichkeit

Menn war ein Ästhet. Das Spannungsfeld zwischen Gestaltung und wirtschaftlicher Realität hat ihn immerzu beschäftigt, fasziniert und gequält. Seine Projekte mussten hohen ästhetischen Ansprüchen genügen und dennoch vertretbare Baukosten einhalten. Dies empfand er als die moralische Pflicht des Ingenieurs. Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Ästhetik sind seine Kriterien der «Structural Art» – die neue, eigenständige Kunstform Ingenieurbau, die David P. Billington proklamierte.

Menn verstand Brücken auch als Ausdruck einer kunstaffinen Persönlichkeit, die auf einem soliden wissenschaftlichen Hintergrund und Verständnis der strengen volkswirtschaftlichen Anforderungen an Infrastrukturbauten basieren. Die Rolle der Ästhetik blieb dabei zentral. Auch wenn sie die erste Motivation beim Entwurf sein sollte, darf sie nie die technischen Anforderungen und Gegebenheiten verletzen.

Stets war Menn auf der Suche nach dem noch besseren Entwurf, fand ihn, rastete nicht, ging weiter zum nächsten. Noch im hohen Alter blieb sein Blick nach vorn gerichtet. Er erachtete es als notwendig, seine Brücken und deren Verhalten genau zu analysieren. ­Kritik und Selbstkritik waren wichtige Teile seiner Arbeitsweise, die ihn und seine Entwürfe weiterbrachten. Er konnte die richtigen Fragen stellen, um eine Anregung oder Idee zu gewinnen. Seine Neugier führte ihn zum «Experimentieren», einem Erkunden neuer Gestaltungsmöglichkeiten, dabei neuartige Techno­logien aus der Baustoffkunde und der Baumethoden ausnutzend. Es interessierte ihn nicht, Entwürfe zu kopieren – auch keine Kopie der Sunnibergbrücke an einem anderen Ort, wofür man ihn anfragte. Er schaute nur zurück, um sich an Gehaltvolles und an Fehler zu erinnern. Diesen Anspruch auf Kreativität und ­Originalität hat er stets beibehalten.

Emotional und beharrlich

Der Erfolg seiner Brücken hat Christian Menn Bestätigung gegeben und Selbstvertrauen verliehen. Trotzdem blieb er – aus einem Verantwortungsgefühl gegenüber «seinen» Projekten heraus – bescheiden und ging nüchtern mit Erfolgen um. Seine Dominanz im Schweizer Brückenbau rief Neider und Kritiker hervor, denen er bestimmt gegenübertrat, indem er mit Qualitätsmerkmalen seiner Projekte argumentierte. Es brauchte Energie, um Leute zu überzeugen. Nicht immer blieb er geduldig, und ­zuweilen drückte er sich undiplomatisch aus. Diese Kommentare waren zwar oft in der Sache richtig, aber nicht adäquat formuliert. Er zeigte Emotionen und konnte impulsiv sein.

Manche Berufskollegen zogen es deshalb vor, zu ihm auf Distanz zu gehen. Menn bedauerte dies, denn seine Kritik war nicht persönlich, sondern projektbezogen gemeint. Im privaten Umfeld war er umgänglich, kollegial und liebenswert. In der Projektarbeit aber strebte er mit aller Konsequenz nach der effi­zientesten Ingenieurlösung. Dann war er konzentriert, scharf analysierend, klar beurteilend und kompromisslos gegenüber schwachen Argumenten.

Nah an der Verzweiflung

So bestimmt Menn war, so offen war er gegenüber Neugierigen und Interessierten. Er gab seine Ideen und Erfahrungen Studenten und Berufskollegen preis. Im November 2012 publizierte er seine «Erfahrungen im Schweizer Betonbrückenbau» – ein reichhaltiges Vermächtnis. Gleichzeitig zweifelte und verzweifelte er zuweilen an der Inkompetenz, die ihn umgab.

Eine beachtliche Menge an Projekten wurde und wird nie realisiert, wurde abgeändert oder verunstaltet. Sie zeugen von Misserfolgen und Frustration, die Menn neben dem Ruhm ebenfalls erlebte. Dies betrifft vor allem Projekte während der dritten Schaffensperiode im Ausland, in einem kulturellen Kontext und in einer Baukultur, die nicht immer zugänglich war. Die Projekte in den USA überzeugten zwar durch Kühnheit, waren technisch einleuchtend, und die Bevölkerung war oft begeistert. Doch die damit einhergehende Selbstverständlichkeit, Eleganz und Filigranität ergaben eine Qualität, die bei den Entscheidungsträgern und der beauftragten lokalen Planerschaft nicht immer erkannt wurde. Menn hatte grosse Mühe, diese paradoxe Situa­tion zu akzeptieren, und verurteilte sie scharf. Die nicht gebauten Projekte sind wertvolle Inspirationsquellen.

So war und ist Menn nicht nur bekannt als ­ausführender Ingenieur, sondern gibt uns als Brückendesigner auch studierenswerte, innovative Entwürfe, Ideen und Konzepte weiter.

TEC21, Fr., 2019.06.07

07. Juni 2019 Eugen Brühwiler

«Wir müssen seinem Werk Sorge tragen»

Eugen Brühwiler verband eine enge Freundschaft mit Christian Menn. Clementine Hegner-van Rooden, die Menn ebenfalls persönlich kannte, hat mit ihm über seinen Kollegen und Freund gesprochen.

TEC21: Herr Brühwiler, was lässt uns Christian Menn neben Entwürfen, Ideen und Konzepten als sein Vermächtnis für die Baukultur zurück?
Eugen Brühwiler: Christian Menn pflegte einen intensiven Austausch mit Berufskollegen. Er empfand die Gespräche als bereichernd, wenn er mit interessantem Fachwissen konfrontiert war. Diese Gesprächskultur und seine Offenheit für Kritik nehme ich mit. Ich werde sie pflegen und dadurch hoffentlich wiederum Fachleute zum mündlichen Austausch und zur Kritik von Projekten und Bauwerken ermuntern.

TEC21: Sie haben viele Gespräche mit ihm geführt. Wie kam es zu dieser kollegialen Freundschaft?
Eugen Brühwiler: Im Mai 1998 hatte er mir vorgeschlagen, mit ihm sein 1986 erschienenes Buch «Stahlbetonbrücken» zu überarbeiten und um Aspekte der Dauerhaftigkeit und der Erhaltung zu erweitern. Dieser überraschende Vorschlag war mir eine grosse Ehre, die ich als Chance verstand – damals war ich gerade drei Jahre als Pro­fessor für Bauwerkserhaltung an der ETH Lausanne tätig. Menn und ich hatten 1993 beim Brückenwett­bewerb für den Doppelspurausbau des Wipkinger­viadukts zusammengearbeitet. Er war Jurymitglied und ich als Brückeningenieur bei den SBB. Bei der Erarbeitung der dritten Auflage, die 2003 erschienen ist, hat mir Menn viel mitgegeben. Ich war beeindruckt, wie er bei seinen Ausführungen oft Skizzen erstellte – immer mit Kugelschreiber – und die Statik und das Kräftespiel seiner Entwürfe mit Pfeilen für Zug- und Druckkräfte einfach und klar erklärte. Diese Erfahrung hat meine Tätigkeit als Hochschullehrer, Forscher, beratender Ingenieur und Experte stark beeinflusst.

TEC21: Inwiefern?
Eugen Brühwiler: Es ist ein Aspekt, den wohl viele seiner Gesprächspartner mitnahmen: sein Geschick, dem Entwurf von Brücken und dem Verständnis, wie eine Brücke «funktioniert», eine hohe Gewichtung beizumessen. Auf dieses wesentliche Kriterium, das Menn im Brückenentwurf vertrat, konzentriert sich unser Fachbuch; entwurfsspezifische und konstruktive Aspekte von Stahlbetonbrücken. Denn die grössten Mängel im Brückenbau betrafen und betreffen den technischen und gestalterischen Entwurf. Einfache Modelle schaffen Klarheit. Detailberechnungen behandelten wir nicht, da sie meist nur von sekundärer Bedeutung sind und weder auf Qualität noch auf Wirtschaftlichkeit einen nennenswerten Einfluss haben. Das kreative Denken steht im Vordergrund.

TEC21: Bemerkenswert ist, dass Sie das Kapitel über den Brückenentwurf vollständig umgeschrieben haben. Hinterfragte Menn seine Entwurfskriterien?
Eugen Brühwiler: Diese Überarbeitung hat mich sehr überrascht, da ich davon ausging, dass Menn aufgrund seiner grossen Entwurfserfahrung eine konsolidierte Haltung aufweisen würde. Aber nein, er vertrat die Haltung, dass alles (noch) besser gemacht werden kann. Noch vor wenigen Jahren sagte er mir, dass dieses Kapitel erneut überarbeitet werden sollte.

TEC21: Das Buch nimmt keinen Bezug auf Normen, bringt keine Hintergrundinformation zu Normartikeln …
Eugen Brühwiler: Auch das widerspiegelt eine grundlegende Haltung von Menn: Nicht das sture Einhalten der Norm, sondern der kreative Entwurf nach den Kriterien der «Structural Art» schafft gute Ingenieurbaukunst. Allerdings entspricht dies nicht mehr der gegenwärtigen Arbeitsweise. Der Bauingenieur führt seine Berechnungen in einem streng normierten Rahmen aus. Ihm bleibt kaum Zeit, und es fehlen oft Anreize, um ein Projekt intensiv zu bearbeiten und zu verbessern. Die Digitalisierung des Ingenieurwesens wird die Tragwerksanalyse und die rechnerischen Normnachweise beeinflussen – und hoffentlich ba­na­lisieren. So könnten die Ingenieure wieder ver­mehrt Rechenergebnisse detailliert beurteilen und Normvorschriften nicht buchstabengetreu, sondern projektbezogen interpretieren. Dies setzt allerdings solide Kenntnisse voraus, wie ein Brückentragwerk funktioniert. Deshalb werden die Methodik von Menn und Fachbücher in Zukunft wieder einen wichtigeren Stellenwert erhalten.

TEC21: Menns Meinung, dass Ingenieurbaukunst das Ergebnis von Innovation, Kreativität und Ideenreichtum ist – und nicht etwa von Normen und Berechnungen –, hält dann in die Praxis Einzug?
Eugen Brühwiler: Zu viele Nachweise und Detailberechnungen lenken vom Wesentlichen ab. Sie lähmen die Fantasie und Kreativität der Bauingenieure. Dies gilt auch bei bestehenden Brücken, die oft nur stur «nachgerechnet» und nicht wirklich überprüft werden. Insofern ist zu hoffen, dass eine Neuausrichtung der Arbeitsmethodik der Ingenieure stattfinden wird, wie Menn dies immer forderte.

TEC21: Trotz durchdachter Entwürfe mussten die meisten Stahlbetonbrücken von Menn bereits nach 20 Jahren Betriebsdauer instand gesetzt werden. Weshalb?
Eugen Brühwiler: Die meisten seiner Brücken wurden in einer Zeit gebaut, als die Kenntnisse über die Dauerhaf­tigkeit von Stahlbeton rudimentär waren und noch keine Tausalze für die Schnee- und Eisräumung verwendet wurden. Entsprechend zeigten die der ­Witterung und den Tausalzen ausgesetzten Betonober­flächen nach geraumer Zeit Bewehrungskorrosionsschäden und deutliche Zeichen einer Alkali-Aggregat-Reaktion auf. Dies betraf besonders die Ganterbrücke, die 2007/08 nach nur 27 Betriebsjahren instand gesetzt werden musste.

TEC21: Der Entwurf kann also nur so gut sein, wie die technischen Kenntnisse bekannt sind?
Eugen Brühwiler: Dem ist so. Menn gab es zu denken, dass seine und andere Brücken so früh instandsetzungsbedürftig waren. Er äusserte unaufgefordert seine Bedenken – wenn es sein musste bis zum Bundesrat wie im Fall des Felsenauviadukts. Ausserdem beschäf­tigte er sich als ETH-Professor in der Forschung mit der Dauerhaftigkeit von Stahlbeton und Methoden zur Instandsetzung von Stahlbetonbrücken. Er war beispielsweise fasziniert von der UHFB-Technologie und erkannte das Potenzial, die Betonbauweise damit dauerhaft zu verbessern. 2014/2015 wurde diese Technologie weltweit erstmals in einem Grossprojekt eingesetzt: für den Chillon-Autobahnviadukt am Genfersee (TEC21 47/2014 «Ultrahochleistungs-Faserbeton in der Praxis»). Während der Projektierungsphase hinterfragte Menn im persönlichen Gespräch mit mir Aspekte dieser Anwendung. Als 85-Jähriger half er mir so, diese Grossanwendung zu konsolidieren.

TEC21: Freunde, Kollegen und am Brückenbau Interessierte haben das Gespräch mit Menn gesucht. Dieser Austausch zwischen Jung und Alt ist heute nicht selbstverständlich.
Eugen Brühwiler: Menn war auch nach seiner Emeritierung aktiv, vor allem für Bauherrschaften und Ingenieurfirmen aus dem Ausland. Er hatte eine gewisse Präsenz in den Medien und erhielt Anfragen für Vorträge, denn er war bekannt für seine inspirierenden Brückenprojekte und markanten Aussagen. Er nahm diese Anfragen gern und pflichtbewusst an. Wenn es ihm zu viel wurde, bat er mich, ihn zu vertreten. Zudem wussten Berufskollegen seine zuweilen patriarchalisch formulierten Ratschläge zu schätzen, denn diese konnten durchaus Garant sein für ein ausgewogenes Brückenprojekt. Und nicht zuletzt war Menn von diesem Austausch mit jüngeren Kollegen abhängig, denn er musste seine Entwürfe mit Visualisierungen auf Papier bringen und mit statischen Berechnungen und Modellen nachweisen. Dies war nur durch eine enge Zusammenarbeit mit Ingenieurbüros ­möglich.

TEC21: Und wie reagierte er auf die Änderung des Berufsbilds der Ingenieure über die letzten Jahrzehnte?
Eugen Brühwiler: Sie war ihm keinesfalls gleichgültig – im Gegenteil. Er schrieb Leserbriefe, hielt Vorträge und verfasste Beiträge in den Medien. Er hat versucht, ­seiner Sorge um den Ingenieurberuf Ausdruck zu verleihen, indem er unermüdlich forderte, dass der Bauingenieur wieder die Federführung im ­Brückenentwurf übernimmt. Denn abgesehen von der Erfüllung der normierten, technischen Anfor­derungen, die vom Ingenieur immer garantiert werden muss, sind die Wahl des Tragsystems und die grundlegende Formgebung primär Ingenieur­aufgaben. Leider delegieren viele Ingenieure ihre Gestaltungsfragen an den Architekten, manchmal gar den gesamten Entwurf. Dadurch sind die Inge­nieure immer mehr zu Handwerkern, zu Ausführenden geworden, statt Führende im Bau­wesen zu bleiben.

TEC21: Solche Meinungen vertrat Menn durchaus energisch.
Eugen Brühwiler: Er sorgte sich um den Berufsstand. Ich interpretiere seine spontanen, manchmal zornigen Aussagen auch als Ohnmacht gegenüber Meinungen und Ansichten, an denen nicht zu rütteln war und die er als falsch erachtete. Hinzu kam, dass er oft daran zweifelte, dass seine Projektideen richtig verstanden würden. Er befürchtete, man würde sie verändern. Seine Leidenschaft für das Ingenieur­wesen war gross – ebenso sein Leidensdruck. Es hat mich be­eindruckt, wie auch ein anerkannter «Weltstar des Brückenbaus» andauernd um Anerkennung für seine Standpunkte kämpfen musste.

TEC21: Weshalb setzte er sich diesem Druck aus und plante und beriet bis ins hohe Alter?
Eugen Brühwiler: Es war sein Lebensstil. Der Brückenbau mit allen seinen Facetten war ihm wichtiger als manch anderes. Sogar an seinem 80. Geburtstagsfest dis­kutierten wir spät abends noch über die aerodynamische Funktionsweise von breiten, aufgelösten Fahrbahnträgern für Hängebrücken. Er ist nicht umsonst einer der grössten Brückenbauer, der viel kreiert, un­eigennützig gelehrt und realisiert hat, der viel nachgedacht und gründlich recherchiert hat – und eine klare Haltung hatte. Seine Verpflichtung an die intellektuelle Ingenieurleistung ist beispielhaft. Er scheint daraus Energie gewonnen statt verloren zu haben.

TEC21: Worin fand Menn seine Inspiration?
Eugen Brühwiler: Zu Beginn inspirierten ihn vor allem die Brücken von Robert Maillart. Er analysierte sie und bewertete sie kritisch. Aber auch die Brücken von Berufskollegen und die Brücken aus früheren Zeiten wie die Steinbrücken der Rhätischen Bahn erkundete er systematisch, um das Wesentliche des Entwurfs herauszukristallisieren. Dadurch gewann er eine reiche Kenntnis der Geschichte des Brückenbaus und der Ingenieurbaukunst.

TEC21: Von diesem Wissen profitierte er in seiner Entwurfsarbeit. Können auch wir davon profitieren?
Eugen Brühwiler: Auch wenn nicht alle seine Brückenentwürfe gebaut oder gemäss der ursprünglichen Entwurfsidee ausgeführt wurden, können aufmerksame Ingenieure aus diesem beachtlichen Werk wesentliche Impulse für ihre eigenen Entwürfe filtern. Es ist wichtig, dass wir ihm Sorge tragen, dann wird es nachhaltig bestehen bleiben und zu einem erfahrbaren Erbgut Schweizer Ingenieurbaukunst.

TEC21, Fr., 2019.06.07

07. Juni 2019 Clementine Hegner-van Rooden

Ästhetik versus Nutzen

Das Viadukt Mühle Rickenbach bei Wil SG wurde 1964 nach Plänen von Christian Menn gebaut. Bis 2020 wird die Spannbetonbrücke ­instand gesetzt, verstärkt und verbreitert.

Eine Spannbetonbrücke, Korrosionsschäden, eine Instandsetzung. Nahe der Autobahnausfahrt Wil SG überquert das Viadukt Mühle Rickenbach Strassen und Gewässer. Auf den ersten Blick nichts Überraschendes, und doch fällt im Anfangssatz des technischen Berichts auf, dass der Planer der Brücke namentlich genannt ist: Das Viadukt wurde 1964 nach Plänen von Prof. Dr. Ch. Menn gebaut, heisst es dort. Es war damit eines seiner frühesten Werke.

«Die Konstruktion ist sehr schlank und elegant und zeigt die typische materialsparende Bauweise der damaligen Zeit», sagt Sandro De Luca, Projektleiter und Oberbauleiter des Kantons St. Gallen.

Tragende Teile verstärken

Eine umfangreiche Untersuchung im Jahr 2012 zeigte den schlechten Zustand der Brücke. Vor allem in die Gerbergelenke drang chloridhaltiges Wasser ein, was zu Bewehrungskorrosion und infolgedessen zu Betonabplatzungen führte. Das Viadukt muss dringend ­instand gestellt werden. Das sah auch Christian Menn so. In einem Interview mit TEC21 sagte er einmal: «Ein Eingriff in ein Bauwerk wird dann notwendig, wenn die Funktionalität nicht mehr gewährleistet ist – sei es aufgrund der Geometrie, der ungenügenden Trag­sicherheit oder von Mängeln mit Schadenfolgen.»1

Wichtigste Vorgabe bei der aktuellen Instandsetzung in Wil: Das Befahren der Brücke im Gegenverkehr – rund 21 000 Fahrzeuge täglich – muss während der Bauzeit und künftig möglich sein. Deshalb wird die Brücke beidseitig um je 70 cm auf insgesamt 12.30 m verbreitert. Eine längere Vollsperrung, Umfahrung oder sonstige Alternativen gab es nicht. Die Verbreiterung der drei Fahrspuren wird im Endzustand den Forderungen für Kantonsstrassen entsprechen.

Infolge der Mehrlast und der notwendigen Dimensionierung auf Verkehrslasten gemäss SIA 269 (2011) mussten die Längsträger verstärkt werden. Hierzu wurde an den Innenseiten der Stege jeweils ein zusätzliches Vorspannkabel eingebaut. Ausserdem wurden bereits im Herbst/Winter 2017/2018 die Stützenfundamente verbreitert und teilweise mit Mikropfählen verstärkt.

Gerbergelenke eliminieren

Die beiden hoch beanspruchten Gerbergelenke beim Einhängeträger waren in einem besonders schlechten Zustand. «Wir haben uns entschieden, den Einhängeträger monolithisch mit dem Träger zu verbinden. Bei anderen Brücken haben wir den Einhängeträger auch schon ausgetauscht. Das wäre hier aufgrund der Vorgabe ‹Bauen unter Verkehr› nicht möglich», sagt de Luca.

Die Fuge wurde ausinjiziert, die Teilstücke der Fahrbahnplatte zusammenbetoniert und die Trägerstege auf der Innen- und Aussenseite mit vorgespannten Betonscheiben ergänzt bzw. verstärkt. So wurde die Brücke zu einem Durchlaufträger über sechs Felder. Mit dem Fugenschluss wurden zudem potenzielle Schwachstellen wie Undichtigkeiten in der Gerbergelenkfuge beseitigt und die Erdbebensicherheit verstärkt. Die Dauerhaftigkeit und die Redundanz des Tragwerks werden erhöht. Allerdings verändert sich durch die monolithische Verbindung der einzelnen Tragwerkselemente nun das statische System. Die Bewegungen aus Temperaturdifferenzen sind über die ganze Brückenlänge zu berücksichtigen und müssen bei den Wider­lagern aufgenommen werden. Deshalb werden die bestehenden Fahrbahnübergänge ausgebaut und durch Gleitfingerübergänge ersetzt.

Eleganz behalten

Die Verantwortlichen sind sich bewusst, welcher berühmte Bauingenieur die Brücke entworfen hat, doch die tägliche Baustellenarbeit beeinflusst dieses Wissen nicht. Hier geht es vor allem darum, die Probleme, die die damalige Bauweise mit sich bringt, normgerecht und technisch einwandfrei zu lösen – das heisst, die geringe Bewehrungsüberdeckung zu reprofilieren oder alten Beton mit neuem möglichst kraftschlüssig zu verbinden.

Bauwerk modernisieren

Unter Denkmalschutz steht das Viadukt Mühle Rickenbach nicht. «Wir bauen aber trotzdem im Sinn der Brücke», sagt Marcel Eisenring, Projektleiter beim Kanton St. Gallen und örtlicher Bauleiter. Das ist wiederum entspricht der Vorstellung von Christian Menn, der die Meinung vertrat, man solle den Projektverfasser, falls er noch lebt, bei einer Anpassung beiziehen und seine Erfahrungen nutzen. «Aber auch wenn er tot ist, sollte ihn jemand gleichsam vertreten.»[1]

«Natürlich werden die Massnahmen der Brücke ein neues Aussehen geben», sagt Eisenring. Die Brücke werde aber auch nach Abschluss der Bauarbeiten im Sommer 2020 ein elegantes Bauwerk sein. Dann jedoch modernisiert und aktualisiert in die Gegenwart transferiert.


Anmerkung:
[01] «Gleichgewicht ist einer der schönsten Begriffe», TEC21 37/2010, espazium.ch/de/aktuelles/christian.menn

TEC21, Fr., 2019.06.07

07. Juni 2019 Daniela Dietsche

Neuland

Seinen Fussgängersteg im Onsernonetal bezeichnete Christian Menn als Abschluss seiner Arbeit. Mit viel Einfühlungsvermögen hat er die Holzkonstruktion in der Schlucht platziert.

Christian Menn plante über 100 Brücken aus Beton – aber nur eine aus Holz: eine kleine Fussgängerbrücke im Onsernonetal, von der er sich wünschte, dass die Menschen sie als Teil seines Werks wahrnehmen würden. Die Brücke über den Isorno bei Niva unterhalb Loco ist Teil des historischen Verkehrswegs Via delle Vose, eines alten Säumerwegs im Tessin, der heute als Wanderweg genutzt wird. Eine Steinbogenbrücke, der ehemals einzige Übergang über den Talfluss ins Onsernonetal, wurde bei einem Hochwasser 1978 zerstört. Das Militär erstellte eine Gerüstbrücke, ein Provisorium, das Jahrzehnte bestand. Auf Initiative der schweizerischen Stiftung für Landschaftsschutz und einer Privatperson wurde die Planung einer neuen Brücke schliesslich in Angriff genommen und finanziert.

Bogentragwerk an exponierter Lage

In seinem Entwurf greift Christian Menn die Bogenform der ursprünglichen Steinbrücke auf, schlägt aber vor, das Tragwerk in Holz auszuführen. Eine Kombination aus einem für einen Fussgängersteg gern gewählten Material und der für das Tessin typischen Form einer Bogenbrücke. Seit 2016 ersetzt nun eine elegante Holzkonstruktion das Provisorium. Sie besteht aus zwei Bogenrippen, die beidseitig in Betonwiderlager ein­gespannt sind. Zwischen den Brettschichtträgen aus Lärchenholz sind mit Stahlwinkeln Holzplanken als Gehwegplatten befestigt. Damit die Trägerrippen nicht kippen, sind sie unter der Gehwegplatte mit Zugstangen untereinander ausgefacht.

Der Holzbau der 20 m langen und 2.44 m breiten Brücke wurde im Werk vorgefertigt. Ein Helikopter hob das 4.5 t schwere Element an seinen Platz. Angesichts des nur zu Fuss (30 bis 45 Minuten Wanderweg) erreichbaren Brückenstandorts war eine leichte, mit dem Helikopter versetzbare Brückenkonstruktion sicher von Vorteil.

Christian Menn konnte an der Einweihung im Frühjahr 2016 aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen und die Brücke auch später nicht mehr besuchen. In einem Interview sagte er dem «Tagesanzeiger», dass sie zwar klein sei und bloss Fussgängern diene: Doch dieses Brüggli sei der Abschluss seiner Arbeit. Er habe es schrecklich gern.[1]


Anmerkung:
[01] «Der Überbrücker», «Tagesanzeiger» vom 19. 7. 2018.

TEC21, Fr., 2019.06.07

07. Juni 2019 Daniela Dietsche

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