Editorial

«Sol lucet omnibus», schrieb der römische Dichter Petronius: Die Sonne scheint für alle. Ihr Licht ist der Ursprung allen Lebens auf der Erde, es steht allen reichlich zur Verfügung und kostet nichts. Und es trifft mit einer Farbtemperatur von 5777 Kelvin auf die Erdoberfläche auf.

Daran hat sich seit Petrons Zeiten nichts geändert. Was sich dagegen gewandelt hat, ist unsere Lebensweise: Immer mehr Menschen verbringen immer mehr Zeit ihres Lebens in künstlich beleuchteten Innenräumen. Die moderne Arbeitswelt verlangt es, die moderne Technik macht es möglich. Doch ­un­sere Gesundheit droht dabei auf der Strecke zu bleiben: Viele physiologische Prozesse des Menschen sind auf Sonnenlicht angewiesen – von der inneren Uhr, die die Ausschüttung diverser Hormone steuert, bis hin zur Vitamin-D-Synthese in der Haut. Unser Körper nutzt auf komplexe Weise Eigenschaften des Sonnenlichts, die selbst neueste Lampen kaum ­erzeugen können.

Eigentlich wäre es naheliegend, mehr nach draus­sen zu gehen. Aber nicht alle Menschen haben diese Mög­lichkeit. Zudem lässt sich damit – im Unterschied etwa zu tech­nologisch ­hochgezüchteten Lampen – kein Geld verdienen, denn eben: Sol lucet omnibus. Die Tageslichtlobby ist daher recht überschaubar. Dabei kann sie sich auf eine eindrückliche Kompetenz berufen: Die von der Velux Stiftung gegründete Daylight Academy zum Beispiel versammelt Fachleute aus diversen Bereichen wie Medizin, Biologie oder Architektur, um Themen aus Forschung und Praxis interdisziplinär zu bearbeiten.

Dieses Heft beruht auf einer Publikation der Akademie und wurde mit Unterstützung der Stiftung ­realisiert. Es präsentiert Wissenswertes für Planerinnen und Planer – für jene also, die unser künf­tiges gebautes Lebensumfeld entwerfen.

Judit Solt

Inhalt

03 EDITORIAL

07 WETTBEWERB
Ausschreibungen/Preis | Schule im Park

10 BAUKULTUR
Pop-Art in der Unterwelt

14 MEINUNG
«Brutale Intervention»

15 PLANUNGS- UND BAUPROZESSE
Ojalà – wenn plötzlich Gäste kommen

16 ESPAZIUM
Aus unserem Verlag

18 VITRINE
Licht und Raum | Euroluce 2019

18 WEITERBILDUNG

20 AGENDA

22 5777 KELVIN

22 BAUTEN IM LICHT
Judit Solt, Colin Fournier et al.
Das Licht der Sonne ist seit jeher ein Gestaltungsmittel der Baukunst. Die Art und Weise, wie wir es konkret einsetzen, ist ein Teil unserer baukulturellen Identität.

29 IM LICHT DER WISSENSCHAFT
Mariëlle P. J. Aarts, Jérôme Kaempf et al.
Das Licht beeinflusst die menschliche Physiologie vom Sehen über die «innere Uhr» bis hin zur Photochemie der Haut. Doch wie viel Licht brauchen wir? Und welches?

35 STELLENMARKT

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Bauten im Licht

Das Licht der Sonne wird in der Baukunst seit jeher gestalterisch genutzt. Wie genau, ist kulturell bedingt und wurzelt in uralten ästhetischen Traditionen. Bevor wir diese zugunsten neuer Kriterien – wie Energieeffizienz – aufgeben, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Denn der Einsatz von Tageslicht ist Teil unserer baukulturellen Identität.

Menschen auf allen Kontinenten, die in dichten Städten wohnen und arbeiten, verbringen heute im Durchschnitt 90 % ihrer Zeit in Innenräumen. Historisch betrachtet ist das ein relativ junges Phänomen: Während den ersten Jahrmillionen seiner Evolution lebte der Mensch draussen. Sein Rückzug in anfangs rudimentäre, dann immer elaboriertere Bauten begann vor rund 50 000 Jahren; doch erst in den letzten Jahrhunderten, im Zuge von technischem Fortschritt und Industrialisierung, verlagerte sich der Arbeits- und Lebensmittelpunkt ins Innere von Gebäuden. In Zukunft dürfte sich diese Tendenz verstärken. Prognosen zeigen, dass 2050 zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben werden.

Vom Tageslicht entfremdet

Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass die Menschen sich immer weniger direktem Sonnenlicht aussetzen. In traditionellen Architekturen spielte die Sonne immer eine zentrale Rolle. Gebäude und Siedlungen wurden dem Klima entsprechend orientiert, dimensioniert, aufgeteilt, geöffnet oder verschattet; die Notwendigkeit, Innenräume möglichst natürlich zu belichten, setzte der Gebäudetiefe Grenzen. Im Gegensatz dazu erlauben es moderne Bauweisen und eine avancierte Haustechnik, weitgehend unabhängig von Lage, Klima und Orientierung zu bauen. Um die Funktionalität, Wirtschaftlichkeit oder Energieeffizienz von Gebäuden zu verbessern, wird ihr Fussabdruck vergrössert. Damit reduziert sich die Nutzfläche, die direkt über die Fassade belichtet und belüftet wird. Bei vielen energetisch optimierten Fassaden verringern tiefe Laibungen und Dreifachverglasungen den Lichteinfall zusätzlich. Grosse Öffnungen sind bei bestimmten Nutzungen – etwa im Bürobau – ohnehin problematisch: Zu viel Licht wirkt an Computerarbeitsplätzen störend, und die Sonneneinstrahlung kann in gut gedämmten Gebäuden rasch zu einer Überhitzung führen. Daher wird die Fensterfläche verringert, oder es kommen Gläser zum Einsatz, die das eintreffende Sonnenlicht nur sehr selektiv ins Gebäude lassen. Die Innenräume, in denen sich die Menschen aufhalten, sind deshalb auch tagsüber zunehmend künstlich ausgeleuchtet. Wie genau dies zu geschehen habe, war bisher nur punktuell geregelt. Erst im Juni dieses Jahres tritt die neue europäische Norm EN 17037 «Tageslicht in Gebäuden» in Kraft, die europaweit anwendbare Empfehlungen für die Tageslichtversorgung und die Tageslichtqualität innerhalb von Gebäuden gibt (vgl. «Tageslicht planen?»).

Hinzu kommt, dass mangels attraktiver Aussenräume in vielen Städten kaum Anreiz besteht, im Alltag viel Zeit draussen zu verbringen. Die weltweit steigende Urbanisierungsrate und das exponentielle globale Bevölkerungswachstum führen nicht nur zu einer Flächenexpansion bestehender Siedlungen, sondern auch zu deren Verdichtung; Freiflächen werden überbaut, mit Verkehr belastet oder durch Nachbarbauten verschattet.

Diese Entfremdung vom Tageslicht wirft Fragen auf. Die Evolution des Menschen spielte sich in einer von der Sonne beleuchteten und vom natürlichen Tag-Nacht-Zyklus rhythmisierten Umgebung ab. Seine ganze Entwicklungsgeschichte ist davon geprägt. Zum einen körperlich: Licht tangiert praktisch jeden Aspekt seiner Physiologie, es beeinflusst das Zusammenwirken vieler physikalischer, chemischer und biochemischer Vorgänge im ganzen Körper (vgl. «Im Licht der Wissenschaft»). Zum anderen intellektuell und emotional: Die Auseinandersetzung mit den gestalterischen, symbolischen und technischen Aspekten des wechselnden Tageslichts prägt die gesamte Kulturgeschichte – und damit auch das Bauen.

Spirituelle Konnotationen

Der natürliche Tag-Nacht-Zyklus gehört zu den Faktoren, die es uns Menschen ermöglichten, die zu werden, die wir sind. Die scheinbare Bewegung der Sonne am Himmel war der entscheidende Reiz für den Menschen, Zeit und Raum bewusst wahrzunehmen und schliesslich mit rationalen Mitteln zu erfassen. Dazu betrieb er auch beträchtlichen baulichen Aufwand. So diente die zwischen 2500 und 2000 vor Christus errichtete Megalithstruktur von Stonehenge unter anderem dazu, die für die steinzeitliche Zivilisation wichtigen Jahreszeitenwenden vorherzusagen: Die gigantischen Steine sind so ausgerichtet, dass am Mittsommertag, wenn die Sonne im Jahresverlauf am nördlichsten steht, die Sonne direkt über dem Fersenstein aufgeht und ihre Strahlen ins Innere des hufeisenförmigen Bauwerks dringen.

In der abendländischen Kultur, und besonders im Christentum, ist das Licht der Sonne stark mit dem Begriff des einzig Göttlichen verbunden. Die Sonnenverehrung gilt als möglicher Ursprung des Mono­theismus. Der Gott Aton, den der Pharao Echnaton im 14. Jahrhundert vor Christus zum Gott über alle Götter Ägyptens erhob, wurde in der Gestalt einer Sonnenscheibe angebetet. Im 3. nachchristlichen Jahrhundert förderten römische Kaiser, darunter auch Konstantin vor seiner Konversion, den Kult des Sonnengottes Sol Invictus. Das Christentum integrierte viele Elemente dieses Kults: So wurde der 25. Dezember, der Geburtstag des Sonnengotts, zum Weihnachtstermin umgedeutet; der arbeitsfreie Sonntag (dies solis) mutierte vom Tag der Sonne zum Tag des Herrn. Nicht zuletzt übernahm das Christentum die Licht- und Finsternismetaphorik des Sonnenkults, die unsere Kultur – auch unsere Baukultur – bis heute in vielfältiger Weise prägt.

Diese uralte gedankliche Verbindung zwischen Licht und Göttlichkeit ist in vielen europäischen S­prachen erkennbar. Besonders deutlich wird sie in Be­griffen, die Erkenntnis, Verständnis, Wissen und Intelligenz beschreiben – und zwar unabhängig davon, ob diese Begriffe im religiösen Sinn gebraucht werden («Erleuchtung», «göttliches Licht», «himmlisch») oder ob sie im Gegenteil dazu dienen, rationales Denken in einem weltlichen Kontext zu beschreiben («Aufklärung», «Leuchte», «heller Kopf»). Die positive Symbolkraft des Lichts ist offenbar stark genug, um selbst heftigste gesellschaftliche und politische Umwälzungen wie die Französische Revolution, den Siegeszug der Naturwissenschaften und die Industrialisierung zu überstehen.

Natürliches Licht als Kunstprodukt

Auch in Bezug auf die Produktion und die Rezeption von Kunst sind moderne Gesellschaften von ihren religiösen Ursprüngen geprägt. Heutige Kunstformen wie Malerei, Skulptur, Literatur, Musik und Baukunst wurzeln in einer jahrtausendelangen Geschichte, in der das Kunstschaffen fast ausschliesslich religiösen Themen gewidmet war. Viele dieser historisch gewachsenen Motive, Traditionen und Konventionen haben die Zeit überdauert. Bis heute bilden sie den kulturellen Hintergrund, vor dem sich das Kunstschaffen abhebt. Sie sind der wichtigste Referenzpunkt sowohl für die Kunstschaffenden, die Artefakte produzieren, als auch für das ­Publikum, das sie rezipiert.

Zu diesen Artefakten gehören – und zwar unabhängig von ihrer künstlerischen Qualität – auch städtebauliche und architektonische Werke. Dabei hat die Baukunst, im Gegensatz zu anderen Kunstgattungen, eine dominante Präsenz im Alltag: Alle sind ihr zwingend ausgesetzt, im Gegensatz etwa zur Poesie, mit der man sich aus freien Stücken beschäftigt. Und weil wir den grössten Teil unseres Lebens in einer gebauten Umgebung verbringen, ist auch die Menge und die Art des Tageslichts, das wir erhalten, fast vollständig von Bauwerken bestimmt. Insofern ist unser Licht, selbst wenn es natürliches Tageslicht ist, ebenso ein Kunstprodukt wie unsere Städte und Gebäude – und damit auch ein Ausdruck unseres kulturellen Erbes. Daher müssen wir unser Verhältnis zum Tageslicht nicht nur biologisch, sondern auch in einer kulturellen Perspektive betrachten.

Kulturelle Deutungen in Ost und West

In der westlichen Architektur hat das Licht aufgrund seiner symbolischen Verbindung zum Göttlichen eine stark positive Konnotation. Gotische Kathedralen streckten sich zum Himmel, um das göttliche Licht einzufangen und seine magischen Farben durch Buntglasfenster zu offenbaren. Eine säkularisierte Version dieses Strebens nach Höherem schwingt in der Formulierung nach, mit der Le Corbusier 1923 in «Vers une architecture» die Baukunst definierte: «L’architecture est le jeu savant, correct et magnifique des volumes assemblés sous la lumière.» Für die frühe architektonische Moderne waren Licht und Luft mehr als hygienische Notwendigkeiten: Sie galten geradezu als Symbole eines neuen, besseren Zeitalters. Auf dem Buchdeckel von Sigfried Giedions eindringlichem Manifest «Befreites Wohnen» von 1929 zum Beispiel scheinen die Worte «Licht», «Luft» und «Oeffnung» wie gute Geister durch die raumhohe Balkontüre ins Zimmer zu schweben.

Um eine Atmosphäre von Erhabenheit zu erzeugen, bedient sich die zeitgenössiche Architektur der gleichen Lichteffekte wie vor Jahrhunderten. Die geradezu mystische Stimmung beispielsweise, die in Peter Zumthors Therme in Vals herrscht, hat viel mit dem Einsatz von Licht als Gestaltungsmittel zu tun. Das von oben einfallende, in präzisen Strahlen ins Halbdunkel gelenkte Licht verwandelt das Baden in eine fast heilige Zeremonie. Der Zauber dieser Architektur, dem Experten und die breite Öffentlichkeit gleichermassen verfallen, beruht nicht nur auf der hohen ästhetischen Qualität des Gebäudes, sondern auch auf den Assoziationen, die es aufgrund seiner Ähnlichkeit mit einem sakralen Raum weckt. Die vom Architekten verwendeten Codes – Licht vom Himmel und Licht, das durch farbiges Glas scheint – lösen in unserem kulturellen Kontext bestimmte Emotionen aus; und zwar unabhängig davon, ob der Betrachter diesen Mechanismus bewusst identifiziert oder nicht.

Wie sehr solche Reaktionen kulturell bedingt sind, zeigt ein Vergleich. Die traditionelle japanische Architektur zum Beispiel behandelt das Tageslicht mit mehr Zurückhaltung. Die religiöse Welt Japans – Shint¯o und Buddhismus – ist nicht auf eine einzige Gottheit fo­kussiert. Die Sonne ist nur eine der vielen natürlichen Kräfte, die das Schicksal beeinflussen: Die Menschen fürchten und respektieren sie ähnlich wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder das Meer. In der traditionellen japanischen Architektur gelangt das Licht denn auch in gemilderter Form ins Gebäude, subtil gefiltert durch verschiedene Schichten von transparenten und semi­transparenten Oberflächen. Jun’ichiro Tanizakis 1933 veröffentlichter Essay «Lob des Schattens – Entwurf einer japanischen Ästhetik» ist auch als Protest gegen den Einfluss des Westens auf Japan zu verstehen.

Der Bedarf des Menschen nach Licht wird also nicht nur durch biologische Faktoren bestimmt (die im Übrigen je nach Individuum stark variieren können, vgl. «Im Licht der Wissenschaft»). Auch der kulturelle Hintergrund ist entscheidend, wenn es darum geht, Gebäude zu erstellen, in denen sich die Nutzerinnen und Nutzer wohlfühlen. Letztlich ist das auch ein Gebot der Nachhaltigkeit, ebenso wie die Bestrebungen nach Energieeffizienz, haushälterischem Umgang mit dem Boden, Verdichtung und Funktionsoptimierung: Denn die Lebensdauer eines Gebäudes hängt entscheidend davon ab, ob es auf Akzeptanz oder Ableh­nung stösst. Das erweist sich als neue Herausforderung für die Baukunst. In einer von Mobilität und Migration geprägten Welt lässt sich nicht automatisch vom geografischen Standort auf den Hintergrund der Menschen schliessen; in multikulturellen Gesellschaften gilt es, vielfältige und teilweise widersprüchliche Bedürfnisse zu befriedigen. Das macht die Auseinandersetzung mit dem baukulturellen Aspekt des Lichts als Gestaltungsmittel nicht einfacher – aber ganz bestimmt vielschichtiger und spannender.


[Dieser Artikel ist eine teilweise aktualisierte Zu­sammenfassung von Auszügen aus: Judit Solt, Colin Fournier, Mariëlle P. Aarts, Marilyne Andersen, Siegrun Appelt, Magali Bodart, Jérôme Kempf, Bruno Bueno, Tilmann E. Kuhn, Silvia Coccolo, Jean-Louis Scartezzini, Andreas Schüler, Barbara Szybinska Matusiak, Carlo Volf, Jan Wienold, Anna-Wirz-Justice: «Daylight in the built environment», in: Changing perspectives on daylight: Science, technology, and culture. A sponsored Supplement to Science. © 2017 The American Association for the Advancement of Science AAAS, 3. November 2017, S. 24–32.]

[Kostenloser Download der ganzen Publikation unter
daylight.academy/wp-content/uploads/2017/11/Daylight-Booklet_3-Nov-2017_med_single-pages.pdf]

TEC21, Fr., 2019.05.10

10. Mai 2019 Judit Solt

Im Licht der Wissenschaft

Das Licht beeinflusst diverse Aspekte der menschlichen Physiologie, vom Sehen über die «innere Uhr» bis hin zur Photochemie der Haut. Doch wie viel Licht braucht der Mensch? Und vor allem: welches? Ist es ­möglich, Tageslicht durch künstliches Licht zu ersetzen? Die Antwort fällt differenziert aus. Was müssen Baufachleute wissen?

Die Sonne ist der Ursprung allen Lebens auf der Erde. Auch der Mensch lebte während fast seiner ganzen Evolution im Freien, in einer Umgebung also, in der die Sonne die vorherrschende Lichtquelle ist. Nicht nur unsere Sehfähigkeit – das photopische und skotopische Sehen, d. h. das Tag- bzw. Nachtsehen – ist auf Sonnenlicht ausgelegt; auch unsere Physiologie ist grundlegend davon geprägt. Seit der Industrialisierung hat sich die Lebensweise der meisten Menschen gewandelt. Je nach geografischer Lage, Breitengrad, Jahreszeit, Gesundheitszustand und Lebensweise ist eine genügende Versorgung mit natürlichem Tageslicht nicht mehr gegeben. Besonders stark betroffen sind Schichtarbeiter oder in ihrer Mobilität eingeschränkte Personen, etwa in Pflegeheimen und Spitälern. Dank künstlicher Beleuchtung bleibt die Sehfähigkeit zwar gewährleistet; dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in anderen Bereichen Mängel mit schädlichen Folgen entstehen.

Daher sind Forschung und Industrie bestrebt, Beleuchtungssysteme zu entwickeln, die Tageslicht simulieren. Bis heute gelingt das nur teilweise, selbst mit den technologisch fortschrittlichsten Lichtquellen. Um zu verstehen, woran das liegt, muss man zum einen die Eigenschaften von natürlichem Licht versus künstlichem Licht kennen (vgl. Kasten «Tageslicht imitieren?», S. 30). Zum anderen gilt es zu untersuchen, wie sich natürliches Licht auf den Menschen auswirkt. Gemäss heutigem Stand der Forschung beeinflusst es das menschliche Wohlbefinden in vier Bereichen: Sehfähigkeit und -komfort, Chronobiologie, psychologische Effekte und Photochemie der Haut.

Sehfähigkeit

Die primäre Verwendung von Licht für den Menschen ist das Sehen, d. h. die räumliche und zeitliche Wahrnehmung von Objekten und das Erfassen von Farbe, Bewegung und Helligkeit. Wenn das von Objekten reflektierte Licht auf die Netzhaut des Auges trifft, können wir Informationen aus der Umgebung auswerten. Licht bewirkt in der Netzhaut die Freisetzung des Neurotransmitters Dopamin, das die Lichtanpassung reguliert. Für qualitativ hochwertige Bilder auf der Netzhaut ist eine hohe Lichtintensität erforderlich. Diese ist auch wichtig für eine normale Entwicklung des Auges im Kindesalter, bei der die axiale Länge und die refraktiven Medien so aufeinander abgestimmt werden, dass ein genau auf die Netzhaut fokussiertes Bild entsteht (Emmetropisierung). Ein Mangel an Tageslicht im Kindesalter kann zu Missbildungen führen (vgl. Kasten «Tageslicht und Medizin», S. 34). Das Spektrum von Tageslicht wiederum deckt den gesamten sichtbaren Bereich ab, mit ähnlicher Stärke in allen Wellenlängen, was der Farbunterscheidung förderlich ist. Aus diesen Gründen ist der Umgang mit Sehbehinderungen bei Tageslicht in der Regel einfacher als bei elektrischer Beleuchtung.

Chronobiologie

Licht beeinflusst die Physiologie, das Verhalten und das Wohlbefinden des Menschen auch über nicht vi­suelle Reize. Es löst Reaktionen im Auge aus, die sich auf die zirkadiane Uhr im Gehirn und auf andere neu­ro­nale Wege auswirken. Der Begriff zirkadianisch kommt von Circa-Diem, d. h. fast ein Tag: Die «innere Uhr» des Menschen, die seinen Schlaf-Wach-Rhythmus steuert, muss immer wieder mit dem natürlichen Tag-Nacht-­Zyklus abgeglichen werden. Das zirkadia­nische System umfasst unter anderem die Ausschüttung  des ­Zirbeldrüsenhormons Melatonin in der Nacht und die Freisetzung des Nebennierenrindenhormons Cortisol am Tag. Zudem trägt Licht dazu bei, die Stimmung durch die Freisetzung der Neurotransmitter ­Dopamin und Serotonin zu modulieren. Bemerkenswert ist, dass die zirkadiane Uhr die Komplexität des Tageslichts in Bezug auf Dynamik, Intensität und spektrale ­Zusammensetzung nutzt: So verwendet sie einen speziellen, nicht visuellen Photorezeptor (Melanopsin), um besser auf das blaue Licht in der Morgen- und Abenddämmerung zu reagieren, und sie verfolgt saisonale Veränderungen durch Netzwerke von Neuronen in bestimmten Gehirnregionen. Ein Mehr an Tageslicht erhöht also die Aufmerksamkeit, das Wohlbefinden, die Stimmung, die Schlafqualität und die kognitive Leistungsfähigkeit des ­Menschen.

Umgekehrt beeinflusst das Licht auch den Schlaf. Eine ausreichende Lichtversorgung tagsüber erhöht die Dauer und Qualität des Schlafs in der folgenden Nacht. Wichtig ist auch, dass die Nacht tatsächlich dunkel ist – was heute vielerorts nicht mehr der Fall ist. Auch Morgen- und Abenddämmerung, die die Übergänge zwischen Tag und Nacht signalisieren, sind wichtige Signale für den zirkadianischen Rhythmus; doch insbesondere die Abenddämmerung wird oft gestört durch Kunstlicht mit hohem Blauanteil sowie durch elektronische Geräte wie Fernseher und Computerbildschirme, die kurzwelliges blaues Licht emittieren. Dies verzögert den folgenden Schlaf nicht nur, sondern beeinträchtigt ihn auch. Daher sollte man helles Licht und Licht mit einem hohen Anteil an kurzen Wellenlängen (kaltweiss) abends und nachts vermeiden, ausser bei bestimmten Arten von Nachtschichtarbeit.

Wie viel Tageslicht der Mensch im Minimum für seine Gesundheit und sein Wohlbefinden braucht, ist nicht abschliessend geklärt. Die notwendige Dosis hängt von mindestens drei Faktoren ab: erstens den Eigenschaften des Lichts (z. B. Radianz, Spektrum, Dynamik und Verteilung) in Abhängigkeit von der geografischen Lage und dem Klima sowie, in Innenräumen, von der Gebäudeausrichtung, der Distanz zu den ­Fenstern und deren Beschaffenheit; zweitens dem ­Zeitpunkt und der Dauer der Lichtexposition; und drittens in­dividuellen Eigenschaften des Menschen wie Alter, ­geistige und körperliche Verfassung oder kultureller Hintergrund. Gesichert ist, dass eine geringe Licht­intensität am Tag die Lichtempfindlichkeit bei Nacht erhöht. Solche Sensibilisierungseffekte haben zur Folge, dass Personen, die tagsüber nur schwachem Licht ausgesetzt sind, anfälliger sind für die negativen ­Auswirkungen von künstlichem Licht bei Nacht.

Psychologische Auswirkungen

In der gebauten Umwelt ist Tageslicht meist gleichbedeutend mit einem Blick ins Freie. Der Betrachter erhält Informationen über Tageszeit und Wetter; sieht er dabei auch natürliche Vegetation, kommt eine messbare positive psychologische Wirkung hinzu. Die Wirkung von Licht auf den psychischen Zustand des Betrachters variiert je nach Breitengrad, Tages- und Jahreszeit. Auf der Nordhalbkugel beispielsweise herrscht im Winter Lichtmangel und im Sommer Überfluss; dies ist eine mögliche Erklärung für ein höheres Aufkommen von saisonal affektiven Störungen (SAD, «Winterdepres­sion») in nördlichen Ländern.

Photochemie in der Haut

Sonnenlicht löst thermische und photochemische Reaktionen in der Haut aus, und zwar sowohl im ultravio­letten als auch im sichtbaren und infraroten Bereich. Hohe Dosierungen sind schädlich. Tiefe dagegen verursachen wenig zelluläre Schäden und haben positive Effekte: Die Exposition gegenüber UVB-Strahlung löst die Produktion von Vitamin D aus, während die UVA-Exposition epidermale Stickoxide (Nitrosothiole, Nitrite und Nitrate) in Lachgas (NO) umwandelt, was eine arterielle Gefässerweiterung bewirkt und damit den Blutdruck senkt. Tageslicht enthält sowohl UVA- als auch UVB-Strahlung, sodass eine regelmässige, kurze Exposition für die Vitamin D- und NO-Produktion ausreicht. Elektrische Lampen dagegen geben wenig oder gar kein UV-Licht ab. Auch die meisten Fenstergläser (ausser eisenarmes Glas) sind nicht UVB-transparent und reduzieren die UVA-Transmission deutlich. Um die Vitamin-D-Synthese zu stimulieren, reicht eine normale Innenbeleuchtung also nicht aus; ob eine Umwandlung von epidermalen Stickoxiden in NO erfolgt, ist fraglich.


[Dieser Artikel ist eine selektive Zusammenfassung von drei Kapiteln der Publikation Changing perspectives on daylight: Science, technology, and culture. A sponsored Supplement to Science. © 2017 The American Association for the Advancement of Science AAAS, 3. November 2017.

Die Inhalte stammen aus den Kapiteln:
Brian Norton, Arthur Braun, Michael Balick, Richard Hobday, Colin Fournier, Jean-Louis Scartezzini, Judit Solt: «Daylight: Contexts and concepts», S. 4–8.
Mirjam Münch, Anna Wirz-Justice, Adam E. Brøndsted, Steven A. Brown, Albert Gjedde, Thomas Kantermann, Klaus Martigny, Danielle Mersch, Debra J. Skene: «The effect of light on humans», S. 16–23.
Mariëlle P. Aarts, Jérôme Kempf, Steven A. Brown, Bruno Bueno, Albert Gjedde, Danielle Mersch, Mirjam Münch, Jean-Louis Scartezzini, Carlo Volf, Jan Wienold, Anna-Wirz-Justice, Magali Bodart: «Reinventing daylight», S. 33–37.]

[Kostenloser Download der ganzen Publikation unter:
daylight.academy/wp-content/uploads/2017/11/Daylight-Booklet_3-Nov-2017_med_single-pages.pdf]

TEC21, Fr., 2019.05.10

10. Mai 2019 Judit Solt

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