Editorial
In seinem Gedicht »An die Freunde« von 1803 bezeichnet Friedrich Schiller die Theaterbühne als »Bretter, die die Welt bedeuten«. Für nicht mehr aber auch nicht weniger steht das Holzpodest, das den darstellenden Künstler vom Zuschauer abhebt: Eine Fläche, auf der sich das künstlerische Ideengebilde, vom inneren Erleben eines Einzelnen bis hin zu gesellschaftspolitisch aktuellen Themen, darstellerisch interpretieren lässt.
Ein simples Podium auf der grünen Wiese kann einer Aufführung von Musik, Tanz oder Schauspiel dabei ebenso genügen wie eine technisch bestens ausgestattete Bühne in anspruchsvoller Architektur. Der Umgang mit Bauten für die darstellenden Künste – von der experimentellen Schauspielschule über das Theater mit Leuchtturmcharakter bis hin zum Prestigeobjekt der Hochkultur – zeugt wiederum von den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer häufig auch umstrittenen Entstehung.
Dass ein Ort der Reflektion über gesellschaftliche Entwicklungen und Konflikte eine zentrale Stellung im baulichen Gefüge einnehmen sollte, kann in Anbetracht der Geschehnisse auf der Weltbühne nur als zwingend gelten – immer jedoch in der Hoffnung, dass ein Besuch von Theater, Konzertsaal und Oper den Blickwinkel des Zuschauers weitet und nicht verengt. | Martin Höchst
Lehrwerkstatt der Improvisation
(SUBTITLE) Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin
Für die Schauspiel-Hochschule Ernst Busch in Berlin haben Ortner & Ortner ein vormalig von den Opernwerkstätten genutztes Gebäude umgebaut, mit einem markanten Bühnenturm ergänzt und es dadurch in eine »Werkstätte des Theatermachens« verwandelt. So wenig wie möglich verändern, war der Leitgedanke, der ein überraschend freundliches Bauensemble hervorgebracht hat.
Die Adresse lautet Zinnowitzer Straße, das war zu Mauerzeiten Randgebiet, zumal von Ost-Berlin aus gesehen. Da war die Mauer, die »Staatsgrenze der DDR« ganz nahe, dahin ging man nicht.
Es war eine Gegend, in der Einrichtungen angesiedelt wurden, die nicht im Rampenlicht stehen sollten. Wie die Werkstätten für die Opernhäuser im Zentrum der »Hauptstadt der DDR«. Allerdings wurde auch die Ausbildung des Nachwuchses, in diesem Falle der Schauspielkunst, in der Peripherie Ost-Berlins angesiedelt und im Laufe der Zeit die vier Studiengänge für Schauspiel, Regie, Choreographie und Puppenspielkunst auf verschiedene Standorte verteilt.
Sie galt es, endlich wieder zusammenzuführen. Die Opernwerkstätten, deren von ihren Spielorten weit entfernte Lage im vereinten und verkehrsreichen Berlin sich als zunehmend problematisch gestaltete, boten sich an. Der langgestreckte Bau, 1943 mitten im Krieg als Stahlbetonkonstruktion begonnen, aber erst 1953 fertiggestellt, bot eine ideale Hülle, um das Raumprogramm unterzubringen, das die derzeit rund 175 Studierenden in ihrer Ausbildung benötigen – mit Ausnahme der als »Studiobühne« bezeichneten größten aller sonst üblichen Probebühnen für ein komplettes Ensemble plus Zuschauer, wie sie als Krönung des Ausbildungsgangs naturgemäß vorhanden sein muss; am besten deren zwei.
Klippen umschiffen
So war die Aufgabe gewissermaßen von selbst gegeben, der sich die Teilnehmer des Wettbewerbs von 2011 stellten. Ortner & Ortner gingen als Sieger daraus hervor. Sie wollten das Bestandsgebäude erhalten, bis auf eine Ecke an der straßenseitigen Schmalseite, in die ein turmartiger, über die Baufluchtlinien hinausragender Bauteil eingefügt werden sollte, der zwei Probebühnen übereinander und zwischen ihnen noch die Bibliothek der Hochschule aufnehmen sollte. Aufgenommen hätte: Denn »ungerupft« blieb der Entwurf der Architekten nicht. Man könnte wieder einmal eine Berliner Lokalposse erzählen, die von – anfangs gemäßigten – Kostensteigerungen handelt, vom daraufhin verfügten Projektstopp, von dramatischen Protesten und schließlich einer eher widerwilligen Genehmigung des Vorhabens, das am Ende mit 44 Mio. Euro weit teurer wurde als der zunächst abgelehnte Zwischenstand; »gedeckelt« hatte die Politik das Projekt anfänglich bei 33 Mio. Euro unabhängig vom damals noch zu findenden Realisierungsentwurf. Allerdings müsste dann auch vom Vergehen der Jahre sowie von der Steigerung der Baukostenindizes gesprochen werden und nicht zuletzt von der Insolvenz einer beteiligten Firma, deren nicht erbrachte Leistungen neu ausgeschrieben werden mussten und nur für deutlich mehr Geld zu bekommen waren. Dass die Baukonjunktur in Berlin angezogen hat, davon wissen gerade öffentliche Auftraggeber ein Lied zu singen, deren parlamentarisch bewilligte Kalkulationen samt und sonders Makulatur werden.
Im Wandel begriffen
Aber all das Wehklagen verstummt, nimmt man den fertigen Bau in Augenschein. Das ist, wortwörtlich gesehen, erst einmal gar nicht einfach: Denn wiewohl seine Adresse Zinnowitzer Straße lautet, liegt er doch nicht unmittelbar an dieser, sondern zurückgesetzt in einer Art Hinterhofsituation. Ein Bebauungsplan lag nicht vor, die Genehmigung erfolgte gemäß des Einfügungsgebots des § 34 Baugesetzbuch. Was die darin benannte »Eigenart der näheren Umgebung« betrifft, so lässt sich diese nur als heterogen bezeichnen. Die vormalige straßenseitige Freifläche hat der Berliner Senat einem privaten Bauträger überlassen, der darauf den mächtigen Riegel eines erkennbar für zahlungskräftige Nutzer gedachten Apartmenthauses errichtet hat.
Die Gentrifizierung, hier ist sie mit Händen zu greifen. Umso sympathischer kommt der kratzbürstige Bau der Schauspielschule zum Vorschein, hat man erst einmal den Wohnblock umrundet und steuert durch eine frei gelassene Baulücke auf das Gebäude zu. Ins Auge springt: Der Probe- oder Studiobühnenturm.
Ortner & Ortner mit Projektarchitekt Roland Duda haben ihn ganz und gar mit senkrechten Latten aus langlebiger Lärche umkleidet. Das Ganze ist, wie gesagt, aus den Fluchtlinien des Bestandsbaus gerückt, sodass der Bühnenturm den Blick auf die lange Seitenfront des – übrigens nicht denkmalgeschützten – Altbaus verstellt. Stattdessen wird der Besucher nach links gelenkt, wo sich der Haupteingang der Hochschule befindet, eingesetzt in den erhaltenen Teil der alten Schmalseite. Von der Straße aus ist der Eingang nicht zu sehen, das mag man bedauern oder aber als erwünschte Folge des »Statements« betrachten, das die Architekten mit ihrem Lattenrost-Turm machen. Der kommt optisch eher als etwas Unfertiges zur Geltung, als eine noch nicht abgeschlossene Baustelle, mehr noch als Einrüstung. Die Abstände zwischen den Latten – die nur aus der Ferne so wirken, denn es handelt sich natürlich um recht kräftige Balken – sind groß genug, eine Ahnung dessen zuzulassen, was dahinter liegt. Bei Dunkelheit dann, wenn die Räume beleuchtet sind, strahlt das Gebäude durch seine transluzente Bekleidung aus Polycarbonatplatten von innen heraus und macht neugierig.
Arbeiten und ausprobieren
Man betritt das Gebäudeensemble also in seinem viergeschossigen Bestandsbau. Geradeaus öffnet sich das Foyer, doch der Blick fällt nach links auf eine einladende, offene Cafeteria – auch dies ein neuer Anbau, freilich nur eingeschossig. Wo früher geradezu eine Portiersloge gewesen wäre, steht ein offener Tresen als Informationsschalter. Daneben führt ein Flur durch die gesamte Länge des Gebäudes. An ihm liegen rechts und links die Werkstätten, für Bühnenaufbauten und Kostüme – für alles, was ein Theater benötigt. Das ist die Botschaft des Hauses: Hier geht es um Arbeit, um all jene Arbeiten, die der Erzeugung der Illusion vorausgehen, die »Theater« bedeuten.
Darum – so die Grundidee – ist alles entweder so belassen, wie es vorgefunden wurde, oder in einer solchen Weise ergänzt, dass der Werkstattcharakter hervorgehoben wird. So sind die Flure und überhaupt alle Bauteile wie etwa die Betonstützen der Konstruktion nur bis zur Höhe von 2,30 m ordentlich verputzt. Was darüber liegt, verblieb, wie es sich nach Abschluss der Rohbauarbeiten darbot. Das hat bei freigelegten Wänden aus Abbruchziegeln oder aus Kalkstein seinen eigenen Charme, bei den blanken und an ihren Kanten verspachtelten Rigipsplatten des Trockenbaus ist das allerdings doch einigermaßen gewöhnungsbedürftig. Zudem sind die verputzten Wände mit einer Schultafelfarbe gestrichen, sodass sich ein jeder mit Kreide darauf verewigen kann – was die Studierenden dann auch bis in den letzten Winkel hinein mit großem Eifer getan haben. Ob zwischendurch jemand abwischen kommt?
Beton wird Skulptur
Die vertikale Erschließung erfolgt durch eine neue, angemessen dimensionierte, dreiläufige Treppe aus Beton, die in zweifach abgewinkeltem Verlauf frei nach oben führt – ein kantiges, robustes Objekt, eine Betonskulptur, die den Charakter des Gebäudes markant betont und sich doch eigenständig gibt – nicht zuletzt, weil sie frei im Raum steht. Und der Besucher merkt, dass die Architekten an mehreren Stellen solche Offenheit herbeigeführt haben. So ist z. B. durch Heraustrennen eines Deckenabschnitts ein länglicher, zweigeschossiger Raum entstanden, den die Studenten als Tischtennisecke nutzen. Lustig, dass die spiraligen Heizkörper unter den Fenstern des früheren OGs an Ort und Stelle blieben.
Am Ende des Gebäudetrakts führt eine winzige Bestandstreppe nach oben. Im 1. OG den Flur zurück führt der Weg an der Bibliothek vorbei, durch eine in Holzrahmen gefasste Glaswand abgetrennt und einsehbar. Der ursprüngliche Entwurf, der die Bibliothek im neuen Turm ansiedelte, ließ sich nicht realisieren; sie musste in das – daraufhin etwas gedrängte – Raumprogramm des Hauptgebäudes integriert werden.
Ihre Umsetzung ist aber dennoch von der gleichen Luftigkeit, die die Architekten überall im Haus spüren lassen. Die minimalistische Einrichtung in Holz strahlt Wärme aus, zumal im Kontrast zu den rohen Materialien des Bauwerks selbst. Überhaupt bilden Türen, Türrahmen, Fußleisten aus glattpoliertem Holz ein angenehmes Pendant zum roh Belassenen.
Und damit zum Bühnenturm. Die Lattenbekleidung draußen setzt sich im Inneren fort, sodass die beiden Probebühnen (inklusive je eines Umgangs um sie herum) gänzlich von Holz umschlossen sind. Die beiden Studiobühnen selbst sind einfache frei bespielbare Blackboxes mit zusammenschiebbarer Zuschauertribüne und erhöhten Regieräumen. Dekorationen und Bühnenbilder können seitlich hereingebracht werden, für die obere Bühne auch über einen Lastenaufzug.
Belassen, was ist
Dem Hauptgebäude war in den 50er Jahren noch ein fast quadratischer, gebäudehoher Anbau als Verwaltungstrakt angefügt worden; in ihm haben heute die Dozenten ihre Zimmer, dazu gibt es Räume für kleinere Lehrsegmente wie etwa die Sprechausbildung. Hier wie fast überall haben die Architekten so viel wie möglich so weitgehend wie möglich erhalten und belassen.
Das gilt auch für die Fassade des Altbaus. Sie erhielt ein WDVS, das in hellem Grau verputzt wurde und die in nunmehr tieferen Laibungen befindlichen, neuen und dunkelgrauen Fensterrahmen betont. Die Fassade mit ihren gleichmäßig gereihten stehenden Fenstern, so sagt Manfred Ortner, habe etwas vom Rationalismus, der italienischem Architekturströmung in den späten 20er und den 30er Jahren. Im 3. OG sind die Fenster kleiner, sodass der Bau eine hohe Attikazone aufweist, die von einem fein profilierten Gesims abgeschlossen wird. Auch das ist keine Neuerfindung, sondern ein typisches Detail der Erbauungszeit mit ihrem Griff ins klassizistische Formenrepertoire (nebenbei wird das aufgesetzte, niedrige Technikgeschoss den Blicken entzogen). Der warme Farbton der Holzlatten passt vorzüglich zum lichten Grau der Putzfassade, dürfte aber an Farbe verlieren und sich allmählich selbst einem silbrigen Grau annähern.
Die Grundidee von Ortner & Ortner überzeugt. »Das Unfertige planen«, haben sie sie genannt; bei der Schauspielschule ist das Unfertige, Provisorische, Veränderbare keine billige Ausrede für unverputzte Wände und sichtbar geführte Rohrleitungen, sondern bildet die Folie, vor der das Schauspiel seine Illusion entfaltet. »All the world’s a stage«, möchte man Shakespeare zitieren: Mitten in Berlin, in einer halb ruppigen, halb schon geschniegelten Ecke der Stadt steht jetzt eine Bühne, auf der die ganze Welt entstehen kann.db, Di., 2019.01.08
08. Januar 2019 Bernhard Schulz
Bühne zwischen den Bühnen
(SUBTITLE) National Kaohsiung Centre for the Arts (Weiwuying) in Kaohsiung (RC)
Der weltgrößte Komplex für Darstellende Kunst in der zweitgrößten Stadt Taiwans umfasst vier Aufführungsstätten auf höchstem bühnentechnischen und akustischen Niveau. Das hervorstechendste Merkmal des Bauwerks ist allerdings der überdachte Außenraum zwischen Oper, Theater, Konzertsaal und Kammermusiksaal, die »Banyan Plaza«.
Das vor Ort als »Weiwuying« bekannte Center ist 225 m lang, 160 m breit und umfasst eine Fläche von 3,3 ha – mehr als die Fläche des größten je gebauten Supertankers, die 500 000 t fassende »Seawise Giant«. Oper, Theater, Konzertsaal und Kammermusiksaal ruhen zusammen mit der sie verbindenden gigantischen Stahlkonstruktion des Dachs auf einem bis zu fünf Geschosse in die Tiefe reichenden, hochwassersicheren Sockel. In ihm sind Parkebenen, Technikräume und ein riesiger Bereich für die Bühnentechnik der Oper untergebracht.
Der überdachte Freiraum zwischen den vier Aufführungsstätten, die sogenannte Banyan Plaza, zeigt sich als System ineinander übergehender Gewölbe, die eine 17446 m² große »Grotte« formen. Gestaltung und Konstruktion dieses außergewöhnlichen Elements machten den Einsatz sowohl einer parametrischen Modellierung als auch die Übertragung von Fachwissen aus dem Schiffsbau erforderlich.
Die Gebäude für Darstellende Kunst, die die Architekten von Mecanoo aus Delft bisher entworfen haben – wie etwa »Llotja«, eine Kombination aus Theater und Konferenzzentrum im spanischen Lleida – hatten jeweils übliche Größen. Der mehrere Hektar große Fußabdruck des »Weiwuying« jedoch machte es den Architekten diesmal unmöglich, den Entwurf anhand physischer Modelle auszuarbeiten. Nur zwei Elemente wurden als Modelle in großem Maßstab gefertigt: eins der gebogenen Stahlpaneele, die auf den Boden der Banyan Plaza treffen in Originalgröße und der Zuhörerraum im Konzertsaal im Maßstab 1:100.
Nach außen lässt sich die Typologie des Gebäudes nicht eindeutig zuordnen: Es gibt nichts, was zweifelsfrei darauf hinweisen würde, dass es sich um einen Kulturbau handelt. So könnte die glatte, in der Draufsicht rechteckige Großform auch für die Konzernzentrale eines internationalen Unternehmens stehen.
Unter Bäumen
Etwa die Hälfte der Grundfläche des Kulturkomplexes wird von der Banyan Plaza beansprucht. Ihr Bodenniveau variiert über mehr als ein Geschoss, was es erlaubt, sie übergangslos an den benachbarten 65 ha großen Weiwuying Metropolitan Park anzuschließen. Von Beginn an war es ein wichtiger Aspekt des Entwurfs, die Umgebung bestmöglich mit einzubeziehen. Mit der Fertigstellung des Gebäudes wurden auch die Arbeiten am Park, in dem zuvor einige Militärbaracken und Lagerhäuser standen, abgeschlossen. Zuvor lag das Areal über viele Jahre brach, bis Bürgerinitiativen die Stadtverwaltung zu seiner Umgestaltung drängten. 2010 erklärte sich die Verwaltung schließlich bereit, dort einen naturnahen Park anzulegen – also erst drei Jahre nachdem Mecanoo den Wettbewerb für den Kulturkomplex gewonnen hatten.
Das Gebäude ist das deutlichste Symbol für die Entschlossenheit der Stadt, das Image von Kaohsiung zu verändern: von Taiwans wichtigstem Schwerindustrie-Standort mit hoher Luftverschmutzung hin zu einer Stadt, die zunehmend von Hightech geprägt ist, und darüber hinaus auch in den Bereichen Umwelt und Kultur etwas zu bieten hat. Seit den frühen 90er Jahren sind in der Stadt 22 km S-Bahn-Gleise und 755 km Fahrradwege entstanden. In der Metropolregion mit 2,7 Mio. Einwohnern und – diese erstaunliche Zahl nennt die Regierung – 2,2 Mio. motorisierten Zweirädern sollen die Treibhausgase bis 2020 »substanziell« reduziert werden.
Wovon die Gestaltung des Weiwuying inspiriert ist, erklärt Francine Houben, Gründungspartnerin und Creative Director von Mecanoo: »Als ich das erste Mal hierher kam, sah ich auf dem Areal bellende Hunde, leere Militärbaracken – und Banyan-Feigen. Unter diesen Bäumen fängt sich der Wind vom Meer. Unser Traum war es, dass die Banyan Plaza die Stimmung des Parks auf informelle Weise fortführt. Das Ungeordnete sollte sich mit dem Formalen verbinden. Denn sobald es dunkel wird, findet hier das Leben auf der Straße statt, mit vielen beiläufigen Darbietungen.«
Francine Houben beschreibt die Plaza als Kaohsiungs »futuristische Lounge«, eine sich durch das Gebäudes schlängelnde Promenade, die – wie die verzweigt wachsenden Banyan-Bäume – die Besucher vor dem tropischen Regen schützt und doch jede noch so kleine Brise Wind einfängt. Mit ausgeklügelten Licht- und Soundsystemen ausgestattet, kann die Plaza auch nach Einbruch der Dunkelheit auf vielfältige Weise genutzt werden.
Was die eigentlichen Funktionen des Weiwuying betrifft, so umfasst es eine Oper mit 2 260 Sitzen, einen Konzertsaal mit 2 000 Plätzen, ein Schauspielhaus für bis zu 1 245 Personen, ein Kammermusiksaal und ein offenes Amphitheater, das in die Südseite des Gebäudes eingelassen ist, wo sich das Dach bis auf das Geländeniveau des Parks absenkt.
Die vier Zuschauersäle – entworfen in Zusammenarbeit mit dem bedeutenden, in Paris ansässigen chinesischen Akustiker Albert Yaying Xu – erheben sich als »Bubbles« aus dem Sockelgeschoss, steigen entlang der Plaza weiter empor und wirken wie aufgereihte, asymmetrischer Schiffsrümpfe, sowohl vom Aussehen als auch von der Haptik her. Das bewegte aluminiumbekleidete Dach, das wegen des laut trommelnden Monsunregens dick gedämmt ist, resultiert aus der Höhe der drei größeren Auditorien. Sie sind, was Grund- und Aufrisse betreffen recht unspektakulär. In Hinsicht auf Größe und Technik allerdings haben Oper und Schauspielhaus Weltklasse. Der Konzertsaal als wohlbekannter »Weinberg« in post-Scharoun’scher Manier glänzt immerhin mit einer wunderschönen, eng gerippten Struktur an der Akustikdecke. Die Gestaltung des Kammermusiksaals ist so naheliegend wie gewitzt: Die Empore der oberen Ränge, deren Brüstung den Umriss eines Flügeldeckels nachzeichnet, fällt auf der rechten Seite steil ab, sodass ein Maximum an Zuhörern die Musiker, die stets auf der linken Seite der Bühne sitzen, auch sehen kann.
Aus dem Schiffsbau
Als Francine Houben vom Wettbewerbsgewinn ihres Büros erfuhr, dachte sie spontan: »Okay! Doch wie sollen wir das machen? Wir hatten keine Ahnung, wie wir die Banyan Plaza Wirklichkeit werden lassen sollten.« Das Büro setzte sich mit der Groninger Werft Centraalstaal in Verbindung. Deren Analyse des Entwurfskonzepts bestätigte, dass sich das angedachte Tragwerk auch realisieren ließ. Der technische Leiter von Mecanoo, Friso van der Steen, war sich zwar sicher, dass für die Umsetzung des Projekts eine Herangehensweise wie im Schiffsbau erforderlich sei, doch »es war ein hartes Stück Arbeit, andere am Bau Beteiligte davon zu überzeugen«.
Die Fachleute der Werft Ching Fu in Kaohsiung, die eng mit Groningen zusammenarbeiteten, lieferten das Wissen darüber, dass sich die übergangslos fließende Wand- und Deckenbekleidung der Plaza mit 8 mm dicken Stahlplatten, alle mit unterschiedlichen Formaten und Krümmungen, bauen ließ. Die Platten sind über Stahlstäbe mit der ebenfalls stählernen Tragstruktur verbunden, sodass sie sich während der in Taiwan so häufigen Erderschütterungen verformen können. Die Platten wurden eher »lässig« miteinander verschweißt, um die übliche Ungenauigkeit der Fugen an Schiffsrümpfen nachzuahmen.
Das gesamte Gebäude stellt zwar eine beeindruckende bauliche Leistung dar, der einzige besonders hervorzuhebende Teil seiner Architektur ist jedoch die Banyan Plaza. Die Plaza zeichnet sich durch einmalige visuelle und atmosphärische – ein wenig mysteriöse – Qualitäten aus; sie zeigt sich als demokratischer, mit der Umwelt verbundener Bereich, der keine Raumhierarchien und Bewegungsrichtungen vermittelt. Eine Bemerkung von Louis Kahn könnte kaum besser als mit der Banyan Plaza illustriert werden: »Ein großartiges Gebäude muss mit Unermesslichkeit beginnen, durch messbare Mittel gestaltet werden und darf letztlich nie gemäßigt sein.«
Dasselbe gilt für viele der inneren Erschließungs- und Foyerräume des Komplexes. Allerdings ist die Holzbekleidung in diesen ansonsten weiß gehaltenen Bereichen schwarz gestrichen, wodurch ein starker Kontrast entsteht, der den Eindruck des fließenden Raums abschwächt. Das Schwarz, das die Architekten ursprünglich vorgesehen hatten, sollte zwar noch einer anderen Farbgebung weichen, doch der Bauherr bestand auf dieser ersten Version. Doch dieser Umstand beeinträchtigt den Gesamteindruck der fantasievollen Architektur nicht übermäßig. Und so lässt sich abschließend feststellen, dass mit dem National Kaohsiung Center for the Arts eine Spielstätte mit Weltrang entstanden ist – sowohl funktional als auch architektonisch.db, Di., 2019.01.08
08. Januar 2019 Jay Merrick