Editorial

Mit dem Tätowieren verglich Jo­hannes Florin von der Bündner Denkmal­pflege bei unserem Gespräch zu dieser Ausgabe die Sgraffitotechnik. Tatsächlich gibt es einige Gemeinsamkeiten: Bei beiden Anwendungen werden Motive in die Haut geritzt – einmal in die menschliche, einmal in jene eines Gebäudes. Beide Kunst­formen erheben Anspruch auf Dauerhaftigkeit, auch wenn die menschliche Lebensdauer nicht annähernd an jene eines soliden Engadiner ­Bauernhauses heranreicht. Und beide Darstel­lungs­­formen sind in Verbreitung und Motivik modischen Strömungen unterworfen. Doch während Tätowierungen heute fast schon zum persönlichen Optimierungsstandard gehören, geriet das Sgraffitohandwerk in Vergessenheit.

Dafür gibt es technische, administrative und auch ästhetische Gründe. Industriell hergestellte zementbasierte Putze verdrängten die aufwen­diger zu verarbeitenden mineralischen Produkte.Planbarkeit auf der Baustelle, Herstellergaran­tien und nicht zuletzt der gestalterisch motivierte Verzicht auf Verzierungen an der Fassade taten ein Übriges. Dabei passen Sgraffiti perfekt in ­unsere Zeit: Sie bieten individuelle Ausdrucks­möglichkeiten im gesamten Spektrum zwischen Handwerk und Kunst. Und mit ihrer technischen Komplexität, die einfach wirkt, doch viel
Er­fahrung voraussetzt, bedienen sie unsere Sehn­­sucht nach Authentizität und Entschleunigung. Zeit also, die vergessene Technik wiederzubeleben.

Tina Cieslik

Inhalt

RUBRIKEN
03 Editorial

AKTUELL
06 WETTBEWERB
Ausschreibungen/Preise | Ersatz neu bauen

10 FORSCHUNG
Schneeflocken im Holzmantel

11 BUCH
In luftigen Höhen

12 VITRINE
Aktuelles aus der Baubranche

14 ESPAZIUM – AUS UNSEREM VERLAG

16 SIA
Nach uns die Sintflut? | Ohne Verbesserungen keine Energiewende

20 VERANSTALTUNGEN

THEMA
22 SGRAFFITO – GESTERN, HEUTE, MORGEN

22 KRATZEN FÜR DIE EWIGKEIT
Tina Cieslik
Die alte Technik des Sgraffito ist fast in Vergessenheit geraten. Eine Rückbesinnung auf ihre Qualitäten und der Einsatz neuer Ma­terialien könnten das ändern.

26 «HÄUSER SOLLEN KOMMUNIZIEREN»
Tina Cieslik
Das Haus Sura ist ein Beispiel für die zeitgenössische Interpretation von Sgraffito. Künstlerin und Architekt erläutern die Zusammenarbeit.

AUSKLANG
34 STELLENMARKT

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Kratzen für die Ewigkeit

Sgraffito kann mehr als nur Engadiner Häuser zieren. Seine Vielseitigkeit und die lange Haltbarkeit sind auch für heutige Anwendungen attraktiv. Technisch möglich wird dies durch zeitgenössische Putze, die traditionell verarbeitet werden.

Sgraffito wird hierzulande praktisch gleichgesetzt mit dem Bautyp des historischen Engadinerhauses. Tatsächlich handelt es sich beim Sgraffito – der Name stammt vom italienischen «(s)graffiare» = ritzen, kratzen – um eine jahrhunderte­alte Technik, die auf der handwerklichen Bearbeitung von Kalkmörtel beruht und in ganz Europa verbreitet ist, teilweise unter anderem Namen oder in einer verwandten Anwendungsweise. In die Schweiz gelangte sie in der Renaissance via Italien und setzte sich hier vor allem im Engadin durch.[1]

Zum einen lag das an den engen Handelsbeziehungen, zum anderen eigneten sich das trockene Klima sowie die zahlreichen Kalkvor­kommen und deren bereits etablierte Nutzung für die Technik. Zum Erfolg trug aber auch der Bautypus des traditionellen Engadinerhauses bei. Während Sgraffito in Italien vor allem städtische Bauten zierte, trans­formierte es die Wirtschafts- und Wohngebäude der Engadiner Bauern zu repräsentativen Bauten. Deren grossflächige asymmetrische Fassaden, die sich aus der Kombination von Struktur und städtebaulicher Konstellation ergaben, liessen sich mittels Sgraffito gliedern.[2]

Dazu kam die Konstruktion: Die unregelmässigen Bruchstein- und Strickbauwände wurden mit einer dicken Kalkputzschicht überzogen, die tiefen, abgeschrägten Fensterlaibungen mit weisser Kalktünche betont. So fügten sich hier Fassadengestaltung und Architektur zu einem markanten Bautyp zusammen, dessen Bildhaftigkeit durch Illustrationen in Kinderbüchern wie dem «Schellen-Ursli»[3] und durch den ­tradierten Formenkatalog ins kollektive nationale Gedächtnis eindrang und auch heute noch wirkt.

Handwerk, Kunst, Kunsthandwerk

Für das Engadin typisch sind die grafischen Hell-Dunkel-Motive. In anderen europäischen Regionen ­setzten sich auch mehrfarbige Sgraffiti durch, vor allem ab dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. So sind reich geschmückte Jugendstilfassaden aus Österreich bekannt, in Deutschland oder in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion findet man ab den 1930er-Jahren oft politisch angehauchte Motive.

Der Basisaufbau für ein Sgraffito besteht aus einem mindestens 20 mm dicken Grundputz, der Un­ebenheiten des Mauerwerks ausgleicht und eine flächendeckende Haftung gewährleistet. Darüber folgt ein dunkler mineralischer Putz als Kratzgrund. Früher wurde für die Färbung Russ oder Holzkohle verwendet, heute sind es Pigmente. Anschliessend trägt man eine helle Kalkschlämme «al fresco» auf, also solange der Verputz noch feucht und im Abbinden begriffen ist. Sie ist die eigentliche Kratzschicht. Bei bunten Motiven sind es mehrere verschiedenfarbige Schichten.

In die oberste Schicht wird das Motiv als Vorriss geritzt, anschliessend kratzt man die feuchte Kalkschlämme als Linie oder Fläche heraus, sodass der dunkle Grundputz an die Oberfläche tritt und ein leichtes Relief ­entsteht. Als Kratzwerkzeug kann ein einfacher Nagel dienen. Bei mehrfarbigen Sgraffiti ist die Technik schwieriger, da der Bildaufbau umgekehrt werden muss: Zuerst werden die Details angelegt, die Umrisse werden erst zum Schluss sichtbar.

Das eigentliche Kratzen oszilliert je nach Ausführendem und Anspruch zwischen Kunst und Handwerk. So gibt es Motive, die mit dem Zirkel vorgeritzt sind, oder sich wiederholende Formen, die mittels Schablonen aufgetragen werden. Daneben gab und gibt es aber auch immer die freien Zeichnungen, die poetische Motive wie Fabelwesen oder auch künstlerische Interpretationen zum Thema haben, wie man sie aus den 1930er- bis 1960er-Jahren kennt, sowie die typischen Sinnsprüche der Engadinerhäuser. Die Ausführenden waren und sind dementsprechend sowohl Handwerker als auch Künstler, die neben den traditionellen Motiven auch eigene Bildwelten realisieren.

Mehr als Oberfläche

Faszinierend an Sgraffito ist die Verbindung von ­Flüchtigkeit und Dauerhaftigkeit: Durch den Al-fresco-Auftrag nass in nass entsteht ein ephemerer Moment, anschliessend bildet sich durch die Karbonatisierung des Kalkmörtels eine feste Verbindung zwischen Farb- und Putzschicht, was auch das Sgraffito haltbar und witterungsresistent macht. Das Wasser verdunstet, der Kalk verbindet sich mit Kohlendioxid aus der Luft. So wird der Putz wieder zum Ausgangsmaterial Kalkstein, der chemische Kreislauf schliesst sich.

­Heute gibt es vor allem im Engadin zahlreiche über 300-­jährige Sgraffiti in hervorragendem Zustand. Bedroht sind sie gemäss Johannes Florin von der Bündner Denkmalpflege denn auch weniger vom Alterungsprozess als durch Neuerungen. Durch Um- oder Einbauten für heutige Ansprüche ändert sich oftmals das Innenraumklima und damit auch jenes in der Wand, was zu Schäden an den Sgraffiti führen kann. Und natürlich sind die Sgraffiti auch den Launen des Zeitgeists unterworfen: So wurden um die Wende zum 20. Jahrhundert zahlreiche Ornamente im Engadin übermalt, bis in den 1970er-Jahren der Wind kehrte und die historischen Darstellungen wieder hervorgeholt wurden. Das Gute an der Technik: Wird der Putz lediglich übermalt, sind die Ornamente nicht unwiederbringlich verloren.

In den letzten Jahren liessen vor allem in Deutschland energetische Instandsetzungen zahlreiche Beispiele aus den 1950er- und 1960er-Jahren hinter einer Aussendämmung verschwinden, oder sie wurden im Zuge einer Komplettsanierung zerstört. Auch dies ein Zeichen des Zeitgeists, immerhin waren Fassadenverzierungen um die Jahrtausendwende in der Architektur verpönt, und Aspekte der Energieeffizienz gewannen an Bedeutung. Schliesslich sorgten auch indust­riell hergestellte Materialien und das Aufkommen von Wärmedämmverbundsystemen für ein Verschwinden der Technik – Standardisierung, Garantien und Planbarkeit: bekannte Feinde des Handwerks.Revival? Ja, gern!

Doch wie in vielen anderen Bereichen könnte auch hier die Fusion zweier Herangehensweisen zu einer Weiterentwicklung und damit einer Wieder­belebung des Handwerks führen. Franz Bieri, Putz­experte bei Keimfarben, realisierte zusammen mit dem Architekten Robert Arnold und der Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz 2014 ein zeitgenössisches Sgraffito an einem Mehrfamilienhaus in Davos (vgl. «Häuser sollen kommunizieren»). Auf einem ­Mauerwerksuntergrund entschied man sich hier für einen hydraulischen Kalkputz als Grundputz und einen pigmentierten, zweischichtig aufgetragenen feinkörnigen Deckputz mit industriell gefertigten und erprobten Standardprodukten des Unternehmens. Das Sgraffito wurde anschliessend auf traditionelle Art und Weise aufgebracht – das Ergebnis überzeugt in ästhetischer und bisher auch in technischer Hinsicht.

Franz Bieri würde allerdings sogar noch weiter gehen: Seiner Ansicht nach könnte Sgraffito auch auf einem Wärmedämmverbundsystem funktionieren. Beispiele für ein vergleichbaren Putzaufbau bei einer Aussendämmung gibt es bereits – allerdings ohne Sgraffito.[4] Bedingung für ein WDVS-Sgraffito wäre eine dickschichtige Netzeinbettung von mindestens 10 mm, um Risse an der Fassade zu vermeiden. Was in der Theorie einfach tönt, verlangt allerdings viel Erfahrung bei der Ausführung: Die Feuchteregulierung der verschiedenen Schichten und der Einfluss der Witterung sind nicht komplett planbar. Das Ergebnis ist in jedem Fall eine «lebendige», aber eben auch unregelmässige Oberfläche, allfällige Ausbesserungsarbeiten sind gestalterisch anspruchsvoll.

Dennoch: Das perfekte Unperfekte – und damit Einzigartige – in der Gestaltung ist längst wieder en vogue. Das gilt auch für Fassaden. Mutige Architek­tinnen und Architekten sind also herzlich eingeladen, die erste Sgraffitofassade auf einem WDV-System zu planen.


Anmerkungen:
[01] Die Angaben zur Sgraffitogeschichte und -technik beruhen auf der Publikation «Sgraffito – eine traditio­nelle Putztechnik im Engadin» von Hartmut Göhler in: Über Putz. Oberflächen realisieren und entwickeln (vgl. TEC21 27–28/2012, S. 11).
[02] Die Engadinerhäuser sind gemäss der romanischen genossenschaftlichen Dorf- und Wirtschaftsorganisation jeweils zu einem Dorfplatz mit Brunnen hin orientiert. Mit ihren beiden Eingängen, dem Eingangstor in den Sulèr (Vorraum zu Stube, Küche, Vorratskammer und Scheune) und der Zufahrt zum Stall an der Stirnseite ergeben sich deshalb unregelmässige Fassadengliede­rungen. Vgl. Duri Gaudenz, «Das Engadiner Haus» in: Hans Hofmann, Unterengadin, Calanda Verlag, Chur 1982.
[03] Dessen Autorin, Selina Könz (auch: Chönz), war die zweite Ehefrau des Architekten Iachen Ulrich Könz und Mutter des Künstlers Steivan Liun Könz. Beide restaurierten historische Sgraffiti im Engadin und fertigten auch eigene Werke an, darunter z. B. die Fassade des Hauses zum kleinen Pelikan an der Schipfe in Zürich.
[04] Vgl. Über Putz. Oberflächen entwickeln und realisieren, gta Verlag, Zürich 2012, S. 86–117.

TEC21, Fr., 2018.12.21

21. Dezember 2018 Tina Cieslik

«Häuser sollen kommunizieren»

Das Haus Sura in Davos überrascht mit einer ausdrucksvollen Sgraffitofassade. Der Entwurf und die Umsetzung stammen von ­Mazina Schmidlin-Könz. Im Gespräch erzählt die Künstlerin von der speziellen Zusammenarbeit und der Qualität des Unvorhergesehenen.

Hoch am Sonnenhang über Davos, direkt am Waldrand, steht trutzig das Haus Sura. Neben den benachbarten Hotelpalästen wirkt es trotz seiner fünf Geschosse nicht besonders mächtig, aber mächtig besonders: Umlaufende Sgraffiti zieren die grauen Fassaden. Mysteriöse Inschriften und archaische Ornamente, Formen und Muster scheinen eine geheimnisvolle Botschaft auszusenden.

Das Innere ist profaner, die Baugeschichte hingegen ist es nicht: Als Spekulationsobjekt mit vier identischen Ferienwohnungen kam der von einer Generalunternehmung geplante Bau 2010 auf den Markt. Die heutige Bauherrschaft kaufte statt einer Wohnung gleich das ganze Projekt und liess es zu einem Ferienhaus nach eigenem Gusto abändern. Neben Wellness- und Fitnessräumen beherbergt der 2014 fertig gestellte Bau Suiten und ­Einzelzimmer, die als Ganzes oder individuell gemietet werden können.

Für die Architektur zeichnet der Küssnachter Architekt Robert Arnold verantwortlich (vgl. «‹Das Spontane ist die Qualität›»). Mit der Gestaltung der Fassade beaufragte er die Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz aus der Architekten- und Künstlerdynastie Könz (vgl. Kasten unten). Sie entschied sich, die Fassade in traditioneller Sgraffitotechnik auszuführen (vgl. «Kratzen für die Ewigkeit»), setzte aber auf eine individuelle Auslegung der bekannten Motive. Das Ergebnis ist ein Bau, der zugleich zeitgenössisch und wie aus der Zeit gefallen wirkt.

TEC21: Frau Schmidlin-Könz, bei der Fassaden­gestaltung des Hauses Sura in Davos haben Sie tra­ditionelles Sgraffitohandwerk angewendet, die Gestaltung jedoch ist zeitgenössisch. Was waren Ihre Überlegungen dazu?
Mazina Schmidlin-Könz: Für mich war von Anfang an klar, dass ich an diesem Ort gern ein Sgraf­fito realisieren möchte. Aber ich wollte eine Neuinterpretation, kein Abmalen bekannter Motive mit dem Zirkel. Dazu kam die Farbe, eine Reminiszenz an den Ort mit seinem grauen Kalkstein und den orangen Färbungen der Eiseneinsprenkel. So wächst der Bau quasi aus dem Fels heraus. Der Architekt war sehr offen und akzeptierte meine Ideen. Und er half mir, auch die Bauherrschaft davon zu überzeugen.

TEC21: Wie liefen Planung und Ausführung konkret ab?
Mazina Schmidlin-Könz: Ich habe zunächst eine Fassadenabwicklung des Architekten erhalten, darauf beruhte mein erster Entwurf. Anschliessend fertigte ich einige Modelle, weitere Fassadenentwürfe und Fassadenmusterplatten an. Für die definitive Ausführung wurde die Fassaden in 14 jeweils etwa 60 m² grosse Abschnitte eingeteilt, die Fläche, die etwa einem Tageswerk entspricht. Zu diesen 14 Abschnitten kamen die Sonderflächen wie Laibungen bei den Terrassen oder beim Keller dazu, die wir ganz zum Schluss bear­beitet haben. Meine zwei Mitarbeiterinnen und ich arbeiteten von oben nach unten.
Wichtig ist eine gute Zusammenarbeit mit einem handwerklich versierten Gipser, der den Verputz auftragen muss. Wir verwendeten einen verglätteten hydraulischen Kalkputz mit kleinem Zementanteil. Der auf den Grundputz aufgetragene Deckputz wird zweilagig 3 bis 4 mm oder einlagig 6 mm dick auf­getragen. Man darf ihn nicht verdichten, damit die nachfolgenden Lasuren gut eindringen können.
Sgraffito ist eine Al-fresco-Technik: Wenn der Putz noch nass, aber schon etwas angetrocknet ist, wird er mit Sumpfkalk überstrichen. Der Sumpfkalk kann mit Wasser mehr oder weniger verdünnt werden und erzeugt so weisse Flächen mit einem unterschiedlichen Deckungsgrad. Zudem habe ich zusätz­liche Schichten mit pigmentiertem Sinterwasser aufgetragen, um die Fassade farbig gestalten zu können. Die Schwierigkeit dabei ist, dass die Sumpfkalk- und Sinterschichten stark verdünnt, also fast farblos sind, der Deckungsgrad und die Farbigkeit folglich erst beim Trocknen sichtbar werden. Beim Auftragen dieser Schichten kann man die Gestaltung deshalb noch nicht erkennen. Erst nach dem Abbinden des Deckputzes ist die Farbigkeit vollständig sichtbar. Um diese Schichten gestalterisch kontrollieren zu können, sind vorgängig Muster und eigentliche individuelle Rezepte zu erstellen. Nach dem Auf­tragen kann der noch feuchte Putz auch bei den nicht gestrichenen Flächen gekratzt werden. Korrekturen können nach dem Kratzen keine mehr angebracht werden. Wir haben die gesamte Fassade freihändig mit einem Nagel bearbeitet. Und auch das Wetter muss mitspielen: Es darf nicht regnen oder zu kalt sein, sonst trocknet die Fassade mehrere Tage nicht. Bei weniger als 4 °C bindet der Putz nicht mehr ab.

TEC21: Was sind typische Schwierigkeiten oder Fehler bei der Herstellung von Sgraffiti?
Mazina Schmidlin-Könz: Man benötigt einen ausreichend grossen Zeitraum, um die Arbeiten ausführen zu können. Zudem muss der Putz mit der traditionellen Sumpfkalktechnik ausgeführt werden. Moderne kunststoffvergütete und dünn aufgetragene Putze eignen sich nicht. Und selber hergestellte Putzmischungen würden zudem das Problem der Produktehaftung erzeugen.

TEC21: Auf welche Grundlagen haben Sie sich bei den Motiven bezogen? Beim Sgraffito an den historischen Engadinerhäusern gibt es ja fast eine Art Formen­katalog für die einzelnen Bauteile.
Mazina Schmidlin-Könz: Ich habe die traditionellen Motive wie Schrift, Ornamentik und geometrische Formen neu interpretiert. Sgraffito ist faszinierend, weil es so lebendig ist. Es gibt durch die Kratztechnik eine Tiefenwirkung, die weit über jene des reinen Farbbauftrags hinausgeht, ein Spiel mit Licht und Schatten. Für dieses Haus wollte ich aber eher eine Art Hülle erzeugen. Ich bin auch Textilgestalterin, was man beim Haus Sura auch sieht. Die Fassade wirkt sehr textil.
Mein Entwurf diente bei der Ausführung als Basis, aber so, wie ich ihn umsetzte, gab es darin spontane Elemente. Ich wollte nicht einfach den Plan kopieren, und manche Entscheidungen hingen auch davon ab, welche Erfahrungen ich vor Ort machte. Mit dieser potenziellen Ungenauigkeit hatten die Bauherrschaft und die Behörden allerdings Mühe.
Für mich muss Sgraffito spontan sein. Eine Kopie der historischen Motive ist der falsche Weg – auch wenn viele Handwerker so arbeiten. Unser Farb- und Formempfinden hat sich weiterentwickelt. In der Malerei versuchen wir ja auch nicht, eine bessere Mona Lisa zu malen. Wir müssen versuchen, wieder mehr Gefühl zu zeigen. Das funktioniert aber nur, wenn man den Mut hat, sich von seiner Entwurfszeichnung zu lösen. Man erkennt das gut, wenn man die gezeichneten Entwürfe mit der realisierten Fassade vergleicht: Es gibt eine Ähnlichkeit, sie ist aber kein identisches Abbild. Man muss die Freiheit haben, den Moment einfliessen zu lassen. Und vor Ort ausprobieren können, wie das Material reagiert.

TEC21: Wie ist die Resonanz auf den Bau?
Mazina Schmidlin-Könz: Unterdessen sehr positiv. Wenn ich vor Ort bin und höre, was die Leute sagen, die vorbeilaufen – der Bau wird immer angeschaut. Und das ist es ja, was Häuser machen sollten: mit den Menschen kommunizieren. Architekten haben heute Angst vor der Kunst. Sie sollten mehr Mut haben, mit Künstlern zusammenzuarbeiten. Früher gab es in dieser Hinsicht mehr Freiheiten: Die Hausbesitzer kannten die Sgraffitokünstler und vertrauten ihnen. Heutzu­tage geht es leider meist zuerst ums Geld, dann um die Absicherung und dann erst ums Projekt.

TEC21, Fr., 2018.12.21

21. Dezember 2018 Tina Cieslik

«Das Spontane ist die Qualität»

Das Haus Sura in Davos ist ein Beispiel für die zeitgenössische Interpretation von Sgraffito. Der Architekt Robert Arnold erläutert die Zusammenarbeit mit der Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz.

TEC21: Herr Arnold, beim Bau des ­­Hauses Sura in Davos hatten Sie vonseiten der Bauherrschaft viele Freiheiten. Wie kam es dazu?
Robert Arnold: Das war ein Glücksfall. Die Bauherrschaft hatte Vertrauen und uns einen Freipass ­ge­geben. Bestellt hatte der Bauherr «das Nonplusultra». Ich habe mir zunächst lang überlegt, was das be­deuten könnte. Letztendlich bin ich auf die Frage der Qualität gestossen, der Wertigkeit. Während meiner Ausbildung hatte ich im Architekturbüro von Albert Caviezel in Vitznau gearbeitet. Er war eng mit dem Künstler Steivan Liun Könz befreundet, der zahlreiche Sgraffiti im Engadin und auch im Unterland realisiert hat. Daran erinnerte ich mich, über diesen Weg bin ich beim Sgraffito gelandet. Als Ausführende empfahl mir Albert Caviezel Steivan Liuns Nichte Mazina Schmidlin-Könz, die ebenfalls Sgraf­fiti realisiert.

TEC21: Wie musss man sich die Zusammen­arbeit zwischen Ihnen und Frau Schmidlin-Könz vorstellen? Das Volumen war zu dieser Zeit ja bereits fertig. Oder hatte der Entscheid für Sgraffito auch architektonische Entscheidungen zur Folge?
Robert Arnold: Es gab einige Fragen, die sich erst daraufhin lösten, z. B. beim Vordach oder beim Dachrandabschluss. Auch die flächenbündigen Fenster haben wir extra gemacht, um keine Reminiszenz an die markanten Laibungen beim historischen Engadinerhaus zu wecken. Daneben war auch die eigentliche Konstruktion eine Anpassung an das Sgraffito. Ursprünglich war die Konstruktion mit Aussendämmung geplant, wie das heute Standard ist. Für mich war aber klar: Sgraffito bedeutet ein zweischaliges Mauerwerk. Neben den architektonischen Details änderte sich auch meine Rolle als Architekt. Mein Standpunkt war: Hier arbeitet eine Künstlerin, die Rückendeckung braucht. Ich habe mich eher als Coach gesehen.

TEC21: Und Sie hatten das Vertrauen, dass das auch gut kommt?
Robert Arnold: Nach dem ersten Telefonat hatte ich Mazina eine Fas­sadenabwick­lung geschickt. Dann kam eine Zeichnung retour. Emotional hatte ich eine Vor­stellung vom Projekt, hätte sie aber nicht darstellen können oder sagen, worin sie besteht. Die Zeichnung entsprach genau diesen Ideen. Von da an habe ich nur noch versucht, ihr die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Wir mussten zum Beispiel ein Farb- und Materialkonzept eingeben – mit einem freien Sgraffito funktioniert das nur bedingt. Das war administrativ die grösste Hürde. Dann hat sich aber herausgestellt, wie tragfähig das Konzept war. Alle Be­­tei­ligten haben ihre Opposition relativ schnell aufgegeben, als sie die Wertigkeit der Idee verstanden hatten.

TEC21: Es gab also eine grundsätzliche ­Opposition?
Robert Arnold: Das war die grundsätzliche Opposition gegen das Ungenaue, das Unvorhergesehene. Wie soll jemand in der heutigen Zeit etwas bewilligen, von dem er nicht weiss, wie es letztendlich ausgeführt wird? Tatsächlich ist aber genau dies die Qualität dieser Fassade, dass es spontane Entscheidungen gab. Am wichtigsten ist, dass der Bau eine Selbstverständlichkeit entwickelt, kein Spektakel.

TEC21, Fr., 2018.12.21

21. Dezember 2018 Tina Cieslik

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