Editorial

Bereits zum zehnten Mal stellt die db-Redaktion zum Abschluss des Jahres ihre Lieblingsprojekte vor – eine schöne und geschätzte Tradition. Unter dem gewohnt architekturkritischen Blickwinkel der db werden wieder höchst unterschiedliche Bauaufgaben im In- und Ausland unter die Lupe genommen: Wir schauen, wie in einem Kiefernwald an der Ostsee Musik vermittelt wird, wo das Deutsche Theater in Berlin probt, wie es sich in einem umgebauten Wohnhaus aus den 30er Jahren lebt, was das Designmuseum im schottischen Dundee zu bieten hat, und prüfen die Qualität einer Kirche mit Gemeindehaus in Karlsruhe und eines Seniorenheims bei Basel. | Redaktion

Zwischen Kiefern, in Küstennähe

(SUBTITLE) Arvo-Pärt-Zentrum in Laulasmaa (EST)

In einem Waldgebiet außerhalb von Tallinn wurde im ­Oktober das Arvo-Pärt-Zentrum eröffnet. Das niedrige, versteckt zwischen Bäumen liegende Gebäude birgt das Archiv des Komponisten, eine Bibliothek sowie einen Veranstaltungssaal und funktioniert bereits jetzt als gerne angesteuertes Ausflugsziel und als Ort der Begegnung — für Leute von nah und fern.

»Tabula Rasa«, produziert von Manfred Eicher, erschien 1984. Die Platte ­bedeutete den internationalen Durchbruch für den 1935 geborenen Komponisten, der vier Jahre zuvor aus der Estnischen Sowjetrepublik emigriert und über Wien mit einem Stipendium nach Berlin gelangt war: Arvo Pärt. »Tintinnabuli« nannte Pärt den Stil, den er in den Jahren zuvor entwickelt hatte und der seine Werke unverkennbar macht. Der Titel Tabula Rasa war programmatisch zu verstehen, denn zur Melodiestimme tritt lediglich eine zweite Stimme aus Dreiklängen, durch die der für den Komponisten typische ­glockenartige und sugges­tive Sound entsteht. Verfechtern der Neuen Musik, die gemeinhin die Abkehr von der Tonalität als Grundkonsens ansehen, war die Pärt‘sche Melodik und Harmonik stets in höchstem Maße verdächtig, zumal ihr Schöpfer noch in der UdSSR in die orthodoxe Kirche eingetreten war. Dessen ungeachtet gelang Pärt etwas, was ihnen versagt blieb: Seine langsamen und meditativ anmutenden Klänge, die von ostkirchlicher Spiritualität beseelt zu sein scheinen, sind fast populär geworden; Arvo Pärt gilt als der meistaufgeführte zeitgenössische Komponist.

Mehrere Jahrzehnte befand sich sein Lebensmittelpunkt in Berlin, bis er sich um das Jahr 2000 entschloss, in seine inzwischen unabhängige Heimat Estland, in die Gegend von Laulasmaa, 35 km westlich von Tallinn, zurückzukehren. Auch sein umfangreiches Archiv wurde zunächst dort untergebracht. Doch es stellte sich die Frage, was damit langfristig geschehen sollte.

Die Akademie der Künste Berlin, die Pärt als Mitglied aufgenommen hatte, signalisierte Interesse, aber der Komponist wünschte sich einen öffentlicheren Ort ein angesichts des notorisch schwierigen Zugriffs auf Akademie-Archivalien nachvollziehbarer Wunsch. Der Staat Estland brachte sich ins Spiel und es entstand die Idee eines »Arvo Pärt Centre«, mit dem das Land seinen prominentesten lebenden Kulturschaffenden ehrt. Als Bauplatz wählte man ein küstennahes Waldgebiet bei Laulasmaa.

»Perle statt Mammut«

Aus einem Spektrum von 71 Bewerbern waren 20 Architekturbüros 2013 zu einem Wettbewerb eingeladen worden, darunter internationale Prominenz wie Zaha Hadid, Coop Himmelb(l)au und Henning Larsen, aber auch eine Reihe estnischer Architekten. Das Rennen machte schließlich der Beitrag des spanischen Teams Nieto Sobejano, den die Jury als »humbly iconic« (demütig ikonisch) bezeichnete. »A pearl, not a mammooth« hatte die Vorgabe gelautet, und in den ­Auslobungsunterlagen fanden sich eine Reihe von Stichworten, die man im zukünftigen Gebäude umgesetzt wissen wollte, darunter: Reinheit, Einfachheit und Radikalität. Ziel sollte ein lebendiges Environment sein, kein Museum. Der Beitrag der Spanier zeigte ein organisch geformtes Gebäude inmitten der Waldlandschaft samt einem dazugehörigen Aussichtsturm. Die Fassaden des Hauptbaus waren ringsum verglast, und aus dem Volumen hatten Nieto Sobejano insgesamt 28 Höfe ausgestanzt. Zweck dieser Innenhöfe war nicht nur die Belichtung des Innern, sie dienten auch dazu, das Fällen von Kiefern zu vermeiden, und somit Architektur und Natur miteinander zu verzahnen. Im Verlauf des Bearbeitungsprozesses hat sich der Entwurf, dessen Tarnname »Tabula Rasa« auf Pärts Schlüsselwerk referiert, verändert und abermals vereinfacht, ohne dass allerdings das Grundkonzept verlorenging. Auf Initiative des Komponisten wurde der Standort leicht verschoben und die Anzahl der Höfe erheblich verringert – sie beträgt nunmehr lediglich sechs. Auch handelt es sich primär um Lichthöfe, denn die eigentlich sympathische Idee, die vorhandenen Kiefern zu erhalten, wurde aufgegeben. In den schier endlosen Kiefernwäldern Estlands dürfte das Fällen einiger Bäume zu verschmerzen sein.

Stützenwald ringsherum

Eine gute Dreiviertelstunde benötigt man mit dem Bus oder dem Auto von Tallinn bis nach Laulasmaa. In einigen Abschnitten verläuft die Straße entlang der Küste, doch die meiste Zeit führt sie durch Wälder – Besiedlung gerät kaum in den Blick, sobald man den Großraum Tallinn einmal verlassen hat.
Immer noch mitten im Wald, leitet ein Wegweiser von der Straße zum Parkplatz, und auf einem Fußweg zwischen Kiefern und Heidelbeersträuchern ­gelangt man in wenigen Minuten zum Arvo-Pärt-Zentrum. Dieses besitzt einen polygonalen Grundriss mit abgerundeten Ecken und wird von einer Dachstruktur aus Blechstreifen überfangen, die von der Eingangsseite aus gesehen leicht ansteigt und rückwärtig wieder abfällt. Durch die Einbuchtung im Süden und den Mitarbeiterparkplatz im Osten deutet sich ein Vorne und ein Hinten an, doch das äußere Tragwerk der Fassade, bestehend aus Stahlstützen unterschiedlichen Durchmessers und in unterschiedlichem Abstand gesetzt, umgibt das frei im Wald stehende Bauwerk auf allen Seiten. Die Stützen ruhen auf einem schmalen, mit sibirischer Lärche beplankten Sockel, der im Vorbereich des Cafés zu einer Terrasse ausgeweitet ist. Die verglaste Fassade tritt hinter die Stützenstruktur zurück, der obere Teil wurde ­ab­weichend vom ursprünglichen Entwurf mit dunkel gebeiztem Kiefernholz bekleidet. Optisch verbinden sich die Rundstützen mit den Baumstämmen. Die Architekten verweisen auch auf Taktstriche. Natürlich darf man diese Bezüge nicht zu direkt verstehen, denn es handelt sich bei dem filigranen, sich in die Fläche ausdehnenden Volumen, nicht – die beinahe inflationär gebrauchte Metapher sei hier noch einmal zitiert – um »gefrorene Musik«, auch wenn Nieto Sobejano in einem Ende 2017 erschienenen Katalog der Architekturgalerie Aedes Pläne ihres Gebäudes mit der Notation von Tabula Rasa überlagerten, sondern um ein eher pavillonartig wirkendes Gebilde.

Der informelle, fast fließende Charakter des Gebäudes setzt sich auch im Innern fort. Vom Foyer mit Empfangstresen gelangt man entlang der Garderobe zum Café und dem Pädagogikbereich. Geht man nach links in die Tiefe des Gebäudes, so passiert man einen kleinen Filmsaal, in dem alle halbe Stunde eine Einführung zu Leben und Werk von Pärt gezeigt wird, und weiter zu einem Auditorium mit 140 Plätzen, das regelmäßig für Konzerte, Vorträge und andere Veranstaltungen genutzt wird. Daran schließt sich südwestlich die öffentlich zugängliche Bibliothek an, von der aus man durch die Ausstellungsbereiche wieder zurück Richtung Foyer gelangt. Das eigentliche Archiv bildet das Herzstück des für die Besucher nicht zugänglichen Administrationsbereichs im Südwesten des Baukörpers.
Gegliedert und differenziert wird die Raumfolge durch die Höfe, die auf fünfeckigen Grundrissen aufbauen. Deren größter besteht aus drei zu einem Kontinuum verbundenen Fünfecken und birgt eine schlichte orthodoxe Kapelle.

Gewissermaßen die Umkehrung der eingeschnittenen Fünfecke ist der ebenfalls auf einem fünfeckigen Grundriss aufbauende und separat vor der Westseite des Gebäudes stehende Aussichtsturm, der ab nächstem Frühjahr geöffnet ist. Pärt versteht ihn als Zeichen der Transzendenz, als Symbol der Verbindung von Himmel und Erde. Steht man oben, so geht der Blick bis zum nahen Meer. Die Küstennähe prägt das Gebiet um Laulasmaa, mit dem der Komponist seit Langem verbunden ist. Zu Sowjetzeiten besaßen Komponisten und andere Vertreter der Intelligenzija vorzugsweise hier ihre Sommerhäuser. So auch Heino Eller, seinerzeit Lehrer am Tallinner Konservatorium. Er brachte Freunde und Bekannte mit in diese abgeschiedene Gegend – darunter eben auch seinen Studenten Arvo Pärt.

Die Liebe zur estnischen Landschaft mit ihren endlosen Wäldern und den fast menschenleeren Küsten war es, die Pärt bewog, in diesem Umfeld nicht nur sein Domizil zu beziehen, sondern auch das Musikzentrum mit seinem Nachlass errichten zu lassen. Und die Lage inmitten des Waldes ist es auch, die den besonderen Reiz des Gebäudes ausmacht. Das Erlebnis des Orts haben die Architekten gekonnt in Szene gesetzt. Auf die nordische Landschaft antworten sie mit einem Bauwerk, dessen organische Formen nicht zuletzt an Alvar Aalto erinnern. Man hält sich gerne hier auf, auch wenn es gar nicht viel an Exponaten zu sehen gibt; blättert in der Bibliothek in Büchern, genießt die Abendstimmung im Café und geht dann vom Duft der Kiefern umgeben zurück zum Parkplatz oder zur Bushaltestelle, um entspannt die Rückreise anzutreten.

db, Mo., 2018.12.03

03. Dezember 2018 Ulrike Kunkel



verknüpfte Bauwerke
Arvo Pärt Centre

Vorhof zum Himmel

(SUBTITLE) Kirchenzentrum Petrus Jakobus in Karlsruhe

In einer Stadtrandsiedlung hat die evangelische Gemeinde einen einprägsamen Ort der Begegnung geschaffen. Um einen zentralen Hof gruppieren sich eine Kirche mit wunderbarer Lichtwirkung und ein Café, das dazu beiträgt, das ruhige Viertel zu beleben. Für den neuen Stadtbaustein fand Peter Krebs genau das richtige Maß zwischen Einpassen und Zeichensetzen.

Es wirkt wie eine gebaute Trotzreaktion: Obwohl Deutschlands Kirchen seit Jahren sinkende Mitgliederzahlen vermelden müssen, leisten sie sich immer wieder ambitionierte neue Gotteshäuser. Was auf den ersten Blick unvernünftig erscheinen mag, entspringt jedoch häufig einer nüchternen Logik des Sparens. So auch in der Karlsruher Nordweststadt, einer sehr ruhigen, sehr grünen, sehr aufgelockerten Nachkriegssiedlung, in der anno 2010 zwei schrumpfende evangelische Gemeinden zusammengelegt wurden: Petrus und Jakobus. Ihre beiden Kirchen waren in die Jahre gekommen und hätten eine aufwendige Sanierung erfordert. Weil sie zudem heutigen Vorstellungen eines zeitgemäßen Gottesdienstes nicht mehr entsprachen, wurden beide abgebrochen und das eine Grundstück verkauft, um auf dem anderen ein modernes Kirchenzentrum finanzieren zu können. Der Neubau ist nun exakt auf den Bedarf der fusionierten Gemeinde zugeschnitten: ein einladender Ort mit niederschwelligen Angeboten an das Quartier – und mit einem Kirchenraum, der genau jenen sakralen Charakter zeigt, der vielen protestantischen Räumen der Nachkriegszeit fehlt. Entworfen hat ihn der Karlsruher Architekt Peter Krebs.

Geschickt nutzt das Kirchenzentrum die Vorteile seines Standorts. Es liegt am Walter-Rathenau-Platz, der so etwas wie die Mitte des Wohnviertels darstellt: Zweimal pro Woche findet hier ein kleiner Markt statt. Die Petrus-Jakobus-Gemeinde betreibt daher ein Café, das allen Interessierten offensteht. So wird das Kirchenzentrum stärker belebt, umgekehrt bietet es aber auch einen attraktiven Treffpunkt für das Quartier und sorgt für ein bisschen Leben auf dem Platz, wenn kein Markt stattfindet.

Kirche und Gemeindehaus mit Café bilden eine bauliche Einheit, eine langgestreckte Raumspange, die dem Platz eine klare Kante nach Süden gibt. Dachflächen, die mehrfach abknicken und die Neigung wechseln, verleihen dem Gebäudeensemble eine markante Silhouette und erzeugen exakt das Maß an formaler Eigenständigkeit, das nötig ist, um das Kirchenzentrum als Sonderbaustein im städtischen Gefüge zu kennzeichnen. Die Fassaden aus geschlämmtem Sichtmauerwerk halten das Ganze gestalterisch zusammen. Natürlich sind sie nur vorgeblendet, doch der übliche Eindruck einer steinernen Tapete stellt sich hier nicht ein. Schwere Stürze über Fenstern und Türen machen das Prinzip von Tragen und Lasten anschaulich und geben – gepaart mit großen Laibungstiefen – den Wänden einen Ausdruck von Massivität, Ruhe und Beständigkeit. Ein sympathisch handwerkliches Erscheinungsbild wiederum erhält die Gebäudehülle durch die weiße Schlämme, welche die Ziegel mal stärker, mal weniger stark durchscheinen lässt. Gleichzeitig korrespondiert sie mit den verputzten Wohnbauten der Umgebung.

Gestaffelte Raumschichten

Vom Platz aus tritt man durch eine Pfeilerreihe zunächst in einen Vorhof, der Kirche und Gemeindehaus verbindet. An seiner Rückseite gibt er gleich wieder den Durchgang zur angrenzenden Wohnbebauung frei. Diese Möglichkeit der Durchwegung trägt wesentlich dazu bei, das Zentrum Petrus Jakobus mit dem Quartier zu verzahnen. Im Sommer bietet der Hof einen angenehmen Rahmen für Gemeindefeste. Sowohl der Kirchenraum als auch der Gemeindesaal lassen sich mit breiten Glastoren öffnen, sodass bei Bedarf eine durchgehende Fläche entsteht.

Hier kommt der gut durchdachte Grundriss zum Tragen, der sehr stringent in drei Raumschichten zoniert ist. Zum Platz hin bilden die Hauptnutzflächen ein zusammenhängendes Band aus Kirchenraum, Hof und Gemeindesaal. Es folgt eine Erschließungszone als durchlaufende Achse: Sie beginnt im Gemeindehaus als Flur, setzt sich im Hof unter einem eleganten, papierdünnen Vordach fort, das es erlaubt, trockenen Fußes hinüber zur Kirche zu gelangen, und mündet dort in einen inneren Weg, der schnurgerade bis zum Tauf­becken am Ende des Raums führt. Im Süden schließlich liegt die dritte Zone. Sie besteht aus untergeordneten Räumen – im Gemeinde­zentrum Küche, Haustechnik und Treppe, in der Kirche Sakristei und ein Andachtsraum – aufgelockert von kleinen Gartenhöfen, die mit buschartigen Ahornbäumen bepflanzt sind. Aus Kirche und Andachtsraum fällt der Blick in diese Patios, die einen Puffer zum direkt angrenzenden öffentlichen Weg und zur Wohnbebauung im Süden bilden. Da die Hofmauern bis zur Dachkante reichen und die Patios dadurch als Teil des umbauten Volumens erscheinen, wirkt das Kirchenzentrum größer als es tatsächlich ist und kann sich besser gegen die achtgeschossigen Wohnblocks in der Umgebung behaupten.

Natürlicher Materialkanon im Sakralraum

Über ein schweres Portal aus Eiche betritt man den Kirchenraum, ganz klassisch von Westen. Das Dach steigt allmählich an, um über dem Altar an der Ostseite in einen hohen Lichtraum zu münden, der diesen Bereich betont und effektvoll ausleuchtet. Sonne fällt hier – passend zum Hauptgottesdienst am Sonntagvormittag – durch Fenster in der Ost- und in der Südwand. Was ­sofort auffällt, ist die angenehme Akustik. An der Decke sorgen zarte Leisten aus Birken-Multiplex dafür, dass Töne kurz im Raum nachklingen, ohne sich in der endlosen Halligkeit zu verlieren, wie man sie etwa von gotischen Domen kennt.

Die glatt verputzten Wände tragen einen gebrochen weißen Anstrich aus antistatischer Silikatfarbe, die verhindert, dass sich Rußpartikel der Kerzen dort ablagern und mit den Jahren einen Grauschleier bilden. Am Boden liegen Platten aus hellem, grob geschliffenem Juramarmor. Als sakraler Brennpunkt setzt sich der Altarbereich mit zwei Treppenstufen vom restlichen Raum ab. Weil die Architekten auch die Prinzipalstücke entwerfen durften, wirkt alles wie aus einem Guss: Altar, Kanzel und Taufbecken bestehen aus dem gleichen Stein wie der Boden und ruhen als schwere Blöcke auf weiß gekalkten Eichengittern.

Dass die Orgel von einer der beiden Vorgängerkirchen übernommen wurde, ist ihr ihr nicht anzusehen, mit ihrer neuen weißen Lackierung passt sie sich unauffällig der Architektur an. Auch Teile der alten Kirchenfenster wurden wiederverwendet. In die Nordwand zum Platz sind zwölf kleine quadratische, rote Glasscheiben eingelassen, die aus der ehemaligen Petruskirche stammen, während sich an der Westwand über der Chorempore ein groß­flächiges, blau-gelbes Fenster aus der früheren Jakobuskirche findet. So lebt die Erinnerung an die aufgegebenen, vertrauten Gotteshäuser der beiden ­Gemeinden weiter und die Fusion schlägt sich symbolisch im Kirchenraum nieder. Wer nicht um diese Vorgeschichte weiß, wird kaum erraten, dass es sich bei den Fenstern um Spolien handelt. Sie fügen sich mit einer solchen Selbstverständlichkeit in den neuen Kirchenraum ein, als seien sie speziell für ihn geschaffen worden. Hut ab vor dieser gestalterischen Integrationsleistung!

Was hingegen den harmonischen Gesamteindruck stört, ist die Bestuhlung, die mit chromglänzenden Beinen und blauen Polstern dem Seminarraum eines Kongresshotels entstammen könnte. Der Architekt seufzt. Die Stühle waren erst kurz vor Planungsbeginn angeschafft worden, sodass die Gemeinde jetzt nicht in neue Kirchenbänke investieren wollte. Bleibt die Hoffnung, dass sie dies in ein paar Jahren nachholt.

Im Gemeindehaus auf der anderen Seite des Hofs wirken die Räume weniger sakral. Das Stäbchenparkett im großen Gemeindesaal, der sich bei Bedarf auch teilen lässt, verbreitet eine beinahe wohnliche Atmosphäre. Die eingestellte schwarze Miniküche wird für den Cafébetrieb genutzt. Stauraum für Geschirr und Ähnliches ist in Form von Einbaumöbeln in die Westwand integriert, sodass hier besonders tiefe Fensternischen entstehen, die das Bild solider Massivität der Fassaden verstärken.

Über den Hof gelangt der Besucher wieder hinaus auf den Walter-Rathenau-Platz. Lässt man nach dem Rundgang das Gesehene noch einmal Revue passieren, bleibt v. a. ein Eindruck großer Stimmigkeit im Gedächtnis haften. Nichts wirkt aufgesetzt oder manieriert, alles fügt sich mit großer Selbstverständlichkeit zueinander. Meisterhaft hält das Zentrum die Balance zwischen geschlossenem Erscheinungsbild und räumlicher Durchlässigkeit, zwischen strengem Grundriss und frei komponiertem Aufriss, zwischen Anpassen an die Wohnhäuser der Umgebung und Herausstechen als Gemeinschaftsbau. In seiner Ausgewogenheit lässt es einen ausgesprochen harmonischen Ort entstehen. Was will man mehr von einer Kirche?

db, Mo., 2018.12.03

03. Dezember 2018 Christian Schönwetter

Sicher und ausgeglichen

(SUBTITLE) Seniorenwohnen »La Dunette« in Huningue (F)

Das direkt am Rhein gelegene Gebäude vermindert die Ängste vor der Aufgabe der eigenen Wohnung und vor dem drohenden Autonomieverlust beim Umzug in eine Einrichtung des Betreuten Wohnens. Die gesamte Anlage hat etwas Selbstverständliches und Unaufgeregtes und bietet damit den passenden Rahmen für ein im Prinzip doch ganz normales Leben inmitten der örtlichen Strukturen.

Wer Dominique Coulons kompromisslose Farb- und scharfkantige Geo­metriespiele kennt, wird in Huningue fast ein wenig enttäuscht sein. Die Seniorenresidenz fällt zwischen der in kubischer Formensprache gestalteten Kindertagesstätte »La Nef« und einer Reihe recht durchschnittlicher Doppelhäuser kaum ins Gewicht. Sie führt vor Augen, dass gute Architektur weniger von der ästhetischen Gestalt abhängt als vielmehr von den Angeboten, die sie macht.

Am Bedarf orientiert

Seit 1987 arbeitet die französische Ersatzkasse MSA am Wohnkonzept MARPA (Maisons d’Accueil et de Résidence Pour l’Autonomie), das älteren Menschen, die zu Hause nicht mehr gut zurechtkommen und vielleicht sogar zu verein­samen drohen, in Wohngemeinschaften ein angenehmes Umfeld, Versorgung und Geselligkeit bietet. Vorrangig für kleine ländliche Gemeinden gedacht, gibt es in Frankreich – neben ganz ähnlich gearteten Angeboten – inzwischen mehr als 200 dieser überschaubar großen, personell gut zu betreuenden Wohngemeinschaften, sieben Stück davon im Elsass.

In Huningue war dazu ein besonders langer Atem nötig: Bereits 1996 hatte der damalige Bürgermeister die Frage nach geeigneten Wohnformen für ­Senioren aufgeworfen. Nach langwierigen Untersuchungen zu Bedarf, Genehmigungsfähigkeit und Umsetzbarkeit, sogar nach einer Erhebung unter der örtlichen Rentnerschaft holte die genehmigende Regionalverwaltung das für die Agglomeration Saint-Louis als zweitrangig priorisierte Projekt endlich aus der Schublade und die Realisierung dieses Wohnangebots konnte beginnen.

Meins und Unseres

Die meisten MARPAs sind mit Rücksicht auf die eingeschränkte Mobilität vieler Bewohner ebenerdig angelegt. Im Grunde fühlen sich die Bewohner im OG aber wohler, weil sicherer, der Grad an Privatheit wird dort als höher eingeschätzt. In Huningue liegen auch deshalb – v. a. aber wegen der begrenzten Grundstücksfläche – die meisten der 22 Apartments in der Beletage. Zwei Einheiten sind mit je etwa 50 m² für Ehepaare gedacht, eine steht mit 32 m² je nach Sachlage zum Probewohnen oder als kurzfristige Unterkunft in Not­fällen bereit, die übrigen Single-Studios bieten auf rund 40 m² jeweils einen Wohnbereich samt Alkoven für das Bett, ein seniorengerechtes Bad und nahe der Küchenzeile einigen Stauraum in Einbauschränken.

Besonders angenehm wirkt ein Deckenversprung zwischen dem niedrigeren Eingang und dem höheren Wohnbereich, der beim Eintreten unterschwellig ein Gefühl von Großzügigkeit vermittelt. Die oft gehörte Kritik, man könne den Mietern doch keine kahlen Flächen und graue Böden zumuten, verblasst vor der Tatsache, dass eine ästhetische Vorgabe einen Eingriff in die persönliche Autonomie der Bewohner bedeuten würde. Schließlich handelt es sich um Mietwohnungen, wenn auch recht kleine, auf deren neutralem Hintergrund durch die mitgebrachten Möbel und Ausstattungsgegenstände ein individuelles Ambiente erst entstehen kann.

Die in den Fenstersturz eingelassenen Vorhangschienen werden dazu ebenso genutzt wie die Scheiben der kleinen Fensterchen, die von der Küchenzeile aus eine Sichtverbindung zu den Fluren ermöglichen. Dass deren Holzläden, wenn auch nach außen hin gut sichtbar dekoriert, zumeist verschlossen sind, zeugt von der Notwendigkeit einer klaren Trennung zwischen privatem Rückzugsraum und öffentlichen Bereichen.

Alle Wohneinheiten sind um einen zentralen Erschließungsbereich herum arrangiert, der über abwechslungsreiche Wege in intime Sackgassen und auf weite Plätze führt. Der allgegenwärtige rote Ton des pigmentierten Sichtbetons lehnt sich an den des in der Region häufig verwendeten Sandsteins an und wird als solcher erkannt und geschätzt. Angesichts der wolkigen Oberfläche und so mancher Ausbesserung wünscht man sich jedoch mehr schweizerisches Know-how im Umgang mit dem Material. Den spannungsreichen Perspektiven tut das jedoch keinen Abbruch, vielmehr sorgt die unsaubere Betonstruktur für zusätzliche Belebung des Spiels von Licht und Schatten, Geometrie und Material, ja, sie mildert sogar den Kontrast zu den stark geflammten Oberflächen der Sperrholzplatten, mit denen die Wohnungseingänge akzentuiert sind. Besonders angenehm ist der Tageslichteinfall durch Oberlichter – z. T. auch in den Studios –, durch Einschnitte in die Gebäudekubatur oder den im OG eingeklinkten, leider nicht als Aufenthaltsfläche konzipierten Lichthof. Natürlich gibt es einen geräumigen Aufzug, beliebter ist jedoch die offene Treppe, die Überblick über die Halle und eine Sitzgelegenheit auf dem Zwischenpodest bietet – beliebt selbst bei jenen, für die das Bewältigen der Stufen eine ordentliche Anstrengung bedeutet.

Hat die Eingangshalle mit ihren schallharten Oberflächen und der Achse, die von der Straße aus längs durch das Gebäude über die überdachte Terrasse hinaus bis zur gegenüberliegenden Rheinseite weist, einen klar öffentlichen Charakter, so verbreitet der angrenzende Ess- und Wohnbereich eine sehr angenehme Wohnzimmeratmosphäre. Eine zweiseitig belichtete Sequenz ineinander übergehender Raumsituationen lässt zwischen gemeinsamen Aktivitäten und teilnehmender Vereinzelung vieles zu. Hier wird bei der Zubereitung der Mahlzeiten geholfen, gegessen, debattiert, ferngesehen oder auch einfach nur im Sessel gelesen oder sich am Kachelofen aufgewärmt. Die Akustikdecke tut hier – andernorts selten genug zu erleben – ihren Dienst und sorgt für eine auffallend angenehme Hörsamkeit.

Stützend und sicher

Die Bewohner zahlen etwa 660 Euro im Monat für die Warmmiete und zusätzliche 450 Euro für die Pflege der üppigen Gemeinschaftsflächen, die Teleassistenz per Notrufarmband und für die sechs Alltagsbegleiterinnen, die Versorgung rund um die Uhr und auch einiges an unterhaltsamem Programm anbieten. Die Mahlzeiten werden nochmals gesondert abgerechnet. Schnell addieren sich die moderaten Preise zu Summen, die sich die Interessenten erst einmal leisten können müssen. Der bezugreiche Name des Hauses kommt nicht von ungefähr: »Dunette« bezeichnet auf Französisch die oberste Ebene des Achterdecks von Segelschiffen, auf der die ranghöchsten Passagiere untergebracht werden.

Man geht davon aus, dass sich die Bewohner im Grunde selbst versorgen können. Das tun sie z. T. auch, was die Anzahl der Stellplätze in der Tiefgarage erklärt: Einige erhalten sich ihre (Auto-)Mobilität und erledigen ihre Einkäufe motorisiert.

Alle profitieren von Computerkursen in einem eigens dafür eingerichteten Raum, von einer Frisierstube daneben, einem Bastelraum im UG, einem Gemüse-Garten und dem Pétanque-Feld am Eingang, das auch gerne von Senioren aus der Nachbarschaft genutzt wird. Der Standort könnte kaum besser gewählt sein: Hinten die Rheinpromenade, vorne eine der Hauptstraßen samt Bushaltestelle, keine drei Schritte entfernt von den parkartig angelegten Ufern eines Rhein-Kanals. Direkt nebenan bietet ein Seniorentreff diverse Freizeitbeschäftigungen an, und auch die frühkindliche Betreuungseinrichtung gegenüber findet immer wieder Anlass, mit den Kleinen auf einen Besuch ­herüberzukommen.

Auf konzeptioneller wie auf gestalterischer Ebene findet das Haus die Balance zwischen dem nötigen geschützten Rahmen, aber auch einer gewissen Durchlässigkeit, die Möglichkeiten eröffnet. Das Betreten des Grundstücks ist mit Rücksicht auf die Privatsphäre nicht unbedingt erwünscht, aber auch nicht explizit untersagt. Ein Bezug zum Außenraum ist von fast allen Stellen aus gewährleistet. Das äußere Erscheinungsbild hebt sich in seiner Klarheit zwar deutlich vom Umfeld ab, leitet aber mit der Ziegelfassade wie selbstverständlich von der Kindertagesstätte über zur Wohnbebauung. Das flirrende Bild der handgearbeiteten, stellenweise zu Mustern arrangierten Steine mildert die Schärfe der Kanten ab und gibt den Oberflächen eine erstaunliche Tiefe. Das Gefühl von Schwere und Festigkeit des Mauerwerks bleibt dabei erhalten.

Über die Verschwenkung der Felder neben den Fenstern kann man streiten; innerhalb der orthogonalen Fassadenstruktur wirken die Schrägen fremd und unnötig. In den Zimmern betonen sie jedoch die großzügige Festverglasung und geben dem Wohnraum Struktur. Beim Öffnen der Lüftungsflügel versperrt unerwartet ein Ziegelgitter den freien Blick; es bedient Sicherheitsaspekte von Einbrechen bis Hinausfallen. Der Querschnitt kann im Hochsommer kein Gefühl der Erfrischung mehr vermitteln, obwohl die mechanische Zwangslüftung übers Bad ausreichend dimensioniert ist. Auch ist die Brüstung zu niedrig, um auf ihr sitzen zu können – optisch hingegen ist das Maß richtig gewählt.

Als gute Wahl erscheint auch die Pelletheizung, die sowohl die Kita als auch das Wohngebäude versorgt. Die Fußbodenheizung in der Halle wird im OG und in den Wohneinheiten von Radiatoren ergänzt – ein gusseisernes Modell, das in angedeutetem Vintage-Design Bekanntes und Gewohntes anklingen lässt.
Die ersten Anzeichen fortschreitender Aneignung verträgt das Gebäude sehr gut. Einige Pflanzen haben den Weg in Flure und Hallen gefunden wie auch das eine oder andere Kunstwerk. Es gibt viel Solidarität unter den Bewohnern, man schaut nacheinander und unterstützt sich nach Kräften. So manchem hat der Einzug ins Achterdeck zu mehr Selbstständigkeit im Alltag verholfen, zu neuer Energie – Würde.

db, Mo., 2018.12.03

03. Dezember 2018 Achim Geissinger

31. 1969

4 | 3 | 2 | 1