Editorial

Bedürfnisse von Touristen wandeln sich. Gerade die zunehmend gefragten Privatunterkünfte lassen den Glanz der Sterne verblassen und zeigen, dass heute vielmehr das authentische Erlebnis eine zentrale Erwartung Reisender darstellt. Aus diesem Grund lassen sich Hotelbesitzer, der Tourismusverband Schweiz, aber auch branchenferne Institutionen wie der Heimatschutz Un­gewöhnliches einfallen, um das Überleben ihrer Häuser zu sichern, und nutzen Räume, die ursprünglich anderen Zwecken zu­gedacht waren. So eröffnen sich für histo­rische Bauten, die einen wichtigen Anteil an ­unserem Schweizer Kultur­erbe darstellen, neue Perspektiven im Tourismus.

Der Pferdefuss alter Hotels ist der oftmals eingeschränkte Komfort. Das fängt an mit schwer erreichbaren Lagen in den Bergen und spürbaren Temperaturschwankungen in den Räumen und endet bei Bädern, die längst nicht so luxuriös sind, wie es manche Gäste von zu Hause kennen. Um über diese Umstände hinwegzutrösten und trotzdem anziehend zu wirken, bleibt den Gastgebern ­neben hervorragendem Service die Möglichkeit, die Häuser baulich und betrieblich anzu­passen. Die Frage nach der Angemessenheit von Eingriffen ist sowohl für den Tourismus als auch für den Denkmalschutz zentral. In einigen Fällen gelingt es, die Andersartigkeit der Bauten in das tou­ristische Erlebnis zu integrieren. Manchmal kann schon ein neues Betriebskonzept zu positiven Veränderungen führen.

Wie kann diese Gratwanderung zwischen flüch­tigen Trends und langfristigem Engagement ­gelingen? Dieser Frage geht TEC21 im aktuellen Heft nach.

Danielle Fischer, Hella Schindel

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Ausschreibungen und Preise | Schützen und heilen

12 PANORAMA
Die Vergangenheit neu erfunden | Stadtplanung als Gebietsmanagement

16 ESPAZIUM – AUS UNSERERM VERLAG
Ausgezeichnete Hotels

18 VITRINE
Aktuelles aus der Baubranche | Designers’ Saturday

21 SIA
Digital und smart | Baukultur in die Bildung! | Farbe und Material im öffentlichen Raum

24 VERANSTALTUNGEN

THEMA
26 ZEITREISEN – TOURISMUS IN DER SCHWEIZ

26 LEBENFDIGE RÄUME STATT KULISSEN
Roland Flückiger-Seiler
Historische Hotels sind ein bedeutendes Kulturerbe der Schweiz. Ihre bauliche Substanz muss allerdings laufend angepasst werden.

30 PERSPEKTIVENWECHSEL
Danielle Fischer und Hella Schindel
Das touristische Unterkunftsangebot weitet sich hierzulande auf Objekte aus, die ursprünglich andere Funktionen erfüllten.

AUSKLANG
36 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Lebendige Räume statt Kulissen

Historische Hotelbauten bilden einen bedeutenden Teil unseres Kulturerbes. Sollen sie zukünftig in ihrer Funktion erhalten bleiben, muss ihre Architektur zeitgenössischen Betriebsmodellen und Gästebedürfnissen angepasst werden.

Hotels befinden sich in einer fortlaufenden Transformation, die mal vom Zustand der Häuser, mal von den Erwartungen der Gäste angetrieben wird. Die gegenwärtige Anpassung bestehender Hotelbetriebe ist – mit etwas Abstand betrachtet – nur ein weiterer Schritt in einer langen Geschichte, die vor gut hundert Jahren ihre erste Wendung nahm.

1900 formierte sich Widerstand gegen die allmächtige Fremdenindustrie, der man vorwarf, mit Bahnen und Hotels ganze Landschaften zu verschandeln. Dazu gesellte sich das gesteigerte Bewusstsein schweizerischer Eigenart, das sich auch in der Architektur prägnant äusserte und auf Kollisionskurs geriet zum fremdländisch-höfischen Zeremoniell der Grandhotel-Kultur: Das Grandhotel aus der Belle Epoque wurde zum Symbol einer alten, überlebten Ordnung.[1]

Als wichtige Plattform etablierte sich 1905 der Schweizer Heimatschutz. Die historischen Hotels wie auch die Architektur des Historismus aus dem 19. Jahrhundert galten als verachtenswert. Seit den 1920er-Jahren entwickelte sich ein kompromissloser Baustil, das sogenannte «Neue Bauen». Die Kritik an den mächtigen Hotelbauten war zu dieser Zeit so radikal, dass Architekten wie Horace Edouard Davinet (1839–1922) aus Bern, Erbauer der Hotels Giessbach am Brienzersee, Seelisberg am Vierwaldstättersee und Rigi-Kulm, von ihren angeblichen Fehlleistungen sprachen.[2]

In der Zeit des Zweiten Weltkriegs übernahmen die Bundesbehörden den Kampf gegen die alten Hotelkästen. Sie beauftragten den Architekten Armin Meili (1892–1981) mit der Studie «Bauliche Sanierung von Hotels und Kurorten», in deren Schlussbericht 1945 etliche Hotelabbrüche und «Säuberungen der Baukörper von den hässlichen Zutaten aus dem Ende des letzten Jahrhunderts» vorgeschlagen wurden.[3] Den Höhepunkt der folgenden Sanierungswelle bildete die aus dem Erlös des Talerverkaufs von 1951 finanzierte «Säuberung des Rigi-Gipfels», bei der alle historischen Gebäude auf der Bergspitze abgebrochen wurden.[4]

Eine neue Seite aufschlagen

Ein allmähliches Umdenken begann in Fachkreisen erst in den 1970er-Jahren mit dem Zürcher Professor Adolf Reinle (1920–2006), der als erster Kunsthistoriker im 20. Jahrhundert die Hotels aus der Belle Epoque nicht mehr mit negativen Attributen versah. Damit legte er die Basis für deren Rehabilitierung in der schweizerischen Architekturgeschichte. Als Schlüsselereignis erwies sich sodann die Rettung des Hotel Giessbach durch die 1983 von Franz Weber ins Leben gerufene Stiftung «Giessbach dem Schweizervolk». Anstelle eines geplanten Jumbo-Chalets konnte das Hotelgebäude von 1884 restauriert und etappenweise wieder in Betrieb genommen werden.

An einer Fachtagung von 1995 in Luzern, die sich mit dem drohenden Abbruch des bedeutenden Saals beim Hotel Schweizerhof in Luzern auseinandersetzte, erklärten Experten historische Hotelbauten zu einem wichtigen Bestandteil unseres baulichen Kulturguts.[5] Die seither alljährlich verliehene Auszeichnung «Das historische Hotel/Restaurant des Jahres» führte zur allgemeinen Anerkennung historischer Hotelbauten im ganzen Land.

Auf Initiative erfolgreicher Bewerber um diese Auszeichnung entstand 2004 die Marketingorganisation «Swiss Historic Hotels». Als wohl einzige Hotelgruppe weltweit nimmt sie nur Betriebe auf, die bis in die Gästezimmer wertvolle historische Bausubstanz aufweisen und eine denkmalpflegerische Bewertung bestanden haben. Mit dieser Marketinggruppe können Hotelbetriebe ein immer beliebteres Nischenprodukt anbieten und sich von der im Tourismus verbreiteten baulichen Beliebigkeit distanzieren. Auf diese Weise ergänzen sich für einmal die Ziele von Kultur und Markt.

Historie als Wirtschaftsfaktor

Aus baulicher und aus denkmalpflegerischer Sicht nachhaltig sind primär diejenigen Häuser, bei denen eine sanfte, etappenweise Erneuerung in die überlieferte Bausubstanz stattfinden konnte oder kann. Im Vordergrund stehen dabei Restaurierung oder Wiederherstellung wertvoller Bau- oder Ausstattungsteile, um den «roten Faden» der Gestaltung zu festigen oder zu reparieren. Der infrastrukturelle Unterhalt eines historischen Hotels interessiert den Gast kaum. Darum sind vor allem jene Häuser wirtschaftlich erfolgreich, denen es gelingt, die hohen Übernachtungskosten mit einer Verbindung aus Tradition und kontinuierlicher Modernisierung zu rechtfertigen. Ein funktionierendes Haus dürfen die Gäste dabei voraussetzen. Die Kunst liegt darin, den Mangel an Komfort, der alten Häusern manchmal eigen ist, angemessen als Teil der Reise in die Vergangenheit darzustellen.

Viel zu oft reduziert sich der Blick der Investoren auf den blossen Erhalt der Fassaden – solche Häuser sind dann nur als Kulissen ohne echte Seele im Innern zu bezeichnen. Interessant dabei ist, dass sich viele Hotels auf ihrer Webseite als «historisch» bezeichnen, obwohl sie die Kriterien der historischen Substanz nicht erfüllen. Leider verschliesst sich die Hotellerie dieser Kulissenhaftigkeit[6] nicht mehr. Wie anders wären die neuesten Umbauten am Grandhotel auf dem Bürgenstock zu erklären? Der Ursprungsbau der dortigen Anlage aus dem Jahre 1873, errichtet von Franz Josef Bucher-Durrer, dem wohl grössten Hotelkönig, den die Schweiz je hatte[7], erscheint heute eher als Karikatur seiner einstigen imposanten Erscheinung (vgl. TEC21 1–2–3/2018 «Bürgenstock-Resort: gebaute Landschaft»).

Familien, Paten und Genossenschaften …

Wo stehen wir heute bei der Erhaltung und Pflege historischer Hotelbauten? Welchen Weg finden Betriebe, die dringend einer nachhaltigen Sanierung in baulicher oder finanzieller Hinsicht bedürfen? Hier zeichnen sich zurzeit unterschiedliche Vorgehensweisen ab: Auf dem traditionellen Weg befinden sich Häuser, die seit Generationen in derselben Familie geblieben sind. Zu den kleineren Vertretern dieser Hotels gehören das Bellevue des Alpes auf der Kleinen Scheidegg, der Falken in Wengen oder das Bellevue in Adelboden.

Es gibt aber auch grosse Häuser, beispielsweise das Hôtel Beau-Rivage in Genf, das Palace in Gstaad oder das Hotel Waldhaus in Sils-Maria (vgl. TEC21 36/2013 «Inspiration Grandhotel»). In Sils wurden Tradition und Gastfreundschaft über Generationen weitergegeben und die bauliche Substanz mit Bedacht gepflegt und weiterentwickelt. Innerhalb der historischen Mauern bilden ausserdem seit jeher kulturelle Veranstaltungen einen Anreiz.

Eine bedeutende Gruppe von Hotels hat einen Mäzen im Hintergrund, im Idealfall sogar einen an der Geschichte interessierten «Hotelfan». Zu den prominenten Beispielen gehört das mit der Denkmalpflege renovierte Hotel Trois Rois in Basel. Auch das mit viel Geld aus Katar neu inszenierte Ensemble auf dem Bürgenstock sowie das aufwendig im alten Stil neu erbaute Dolder Grand in Zürich gehören zur Kategorie der Hotels mit einem finanzstarken «Paten». In diesen beiden Fällen musste die historische Substanz allerdings zugunsten einer international anerkannten Bespielbarkeit weichen, die keine Unannehmlichkeiten aufgrund baulicher Gegebenheiten verträgt.

Beim Hotel Castell in Zuoz beauftragten die kulturell aufgeschlossenen Eigentümer Architekten und Künstler. Diese schufen begleitende Kunstwerke, die trotz ihrer Gegensätzlichkeit in Material und Gestaltung eine qualitativ hochwertige Ergänzung zum historischen Gebäude bilden, weil sie es nicht dominieren, sondern in einen gegenwärtigen Kontext einbinden und damit einen Mehrwert zum bestehenden Haus schaffen.

Eine weitere Gruppe bilden die Häuser, die ihren Betrieb gesichert haben oder noch sichern wollen, indem sie die Last der Investitionen auf mehrere Schultern verteilen. Im Binntal VS führte die Genossenschaftsform auf Initiative der Gemeinde 1987 zur pionierhaften Rettung des Hotels Ofenhorn. Ein ähnliche Idee hatten die Stammgäste des Kurhauses Bergün, als sie sich 2002 entschlossen, das heruntergekommene Haus von 1906 mit einer Aktiengesellschaft zu übernehmen. Seither treffen sie sich in Bergün regelmässig zu Festen und bringen dazu immer neue potenzielle Stammgäste mit.Diese in Zusammenarbeit mit der kantonalen Denkmalpflege restaurierten Betriebe zeigen, dass historische Häuser unter Respektierung der Geschichte nachhaltig geführt werden können.

Der Verkauf von Zimmern und Appartements im eigenen Haus zur finanziellen Gesundung hat den Nachteil, dass Miteigentümer über die Zukunft des Betriebs mitentscheiden. Beim Grand Hôtel des Rasses scheint dieses vor etlichen Jahren angewendete Modell aber zu funktionieren. Einen unkonventionellen Weg beschreiten die Eigentümer des Hotels Regina in Mürren, die Freunde und Stammkunden zur Mitarbeit bei der Restaurierung einladen.

… und Gastgeber

Neben einer intakten Bausubstanz gehört zur Nachhaltigkeit von Hotelbetrieben auch eine Betriebsführung, bei der der Gast nur wiederkehrt, wenn er sich von der Ankunft bis zur Verabschiedung wohlfühlt. Die Stammkundschaft nimmt die mit Getöse inszenierten Hotel-Ratings wohl zur Kenntnis, wichtig sind aber zufriedene Gäste als exzellente «Gratisbotschafter»!

Dazu eine kleine Geschichte zum Abschluss: Der Zermatter Hotelkönig Alexander Seiler (1819–1891) war einer der mächtigsten Hoteliers im Alpenraum und bei seinen Gästen ausserordentlich beliebt. Dazu trugen diverse kleine Begebenheiten bei, wie sie beispielsweise der englische Berufsbergsteiger Thomas W. Hinchliff (1825–1882) im Sommer 1857 schilderte: «Als spezielle Gefälligkeit für uns alte Freunde und Gäste beschenkte Hr. Seiler jeden von uns mit einer wunderbaren, schön in ein Papier eingewickelten Orange, eine sehr seltene Delikatesse in dieser entlegenen Gegend der Erde.»[8] Solche Aufmerksamkeiten machten aus dem Zermatter Hotelkönig in den Augen der bergbegeisterten Engländer einen der beliebtesten Gastgeber im Alpenraum.


Anmerkungen:
[01] Roland Flückiger-Seiler, Hotelpaläste zwischen Traum und Wirklichkeit, Baden 2003 und 2005; S. 24–27.
[02] Roland Flückiger-Seiler, Hotelträume zwischen Gletschern und Palmen. Schweizer Tourismus und Hotelbau 1830–1920, Baden 2001 und 2005; S. 122.
[03] Armin Meili, Bauliche Sanierung von Hotels und Kurorten. Schlussbericht, bearbeitet und herausgegeben im Auftrag des Eidg. Amtes für Verkehr, Erlenbach/Zürich 1945.
[04] Roland Flückiger-Seiler, «Architektur nach dem Sündenfall». Der Umgang mit Hotelbauten aus der Belle Epoque. In: Erhalten und Gestalten. 100 Jahre Schweizer Heimatschutz. Hrsg. Madlaina Bundi, Baden 2005; S. 80–89.
[05] Historische Hotels erhalten und betreiben, Akten der Fachtagung Luzern 14.–16. September 1995, Luzern 1996.
[06] Thomas Barfuss, Authentische Kulissen. Graubünden und die Inszenierung der Alpen, Baden 2018.
[07] Romano Cuonz, Hanspeter Niederberger. Hotelkönig, Fabrikant Franz Josef Bucher; Bergbahnbauer, Erfinder Josef Durrer; Kunstmaler, Phantast Beda Durrer, Kriens 1998.
[08] Peaks, Passes and Glaciers. A Series of Excursions by Members of the Alpine Club. Edited by John Ball (Vol. I) and Edward Shirley Kennedy (Vol. II), London 1859–1862; Vol. I 1859, S. 130 f.
[09] Roland Flückiger-Seiler, Berghotels zwischen Alpweide und Gipfelkreuz. Alpiner Tourismus und Hotelbau 1830–1920, Baden 2015; S. 82 f.

TEC21, Fr., 2018.10.26

26. Oktober 2018 Roland Flückiger-Seiler

Perspektivenwechsel

Touristische Unterkünfte in der Schweiz weiten sich immer öfter auf Räume aus, die ­ursprünglich anderen Nutzungen dienten. In einem ehemaligen Zollhaus in Bern und im jahrhundertealten Türalihuus in Valendas wird die Architektur ­unterschiedlich als Teil des Ferienerlebnisses inszeniert.

Die Schweiz hat keine grossen modernen Archi­tekturikonen wie das Guggenheim Museum in Bilbao oder die Hamburger Elbphilharmonie, durch die täglich zehntausende Besucher strömen. Auch historische Anlagen von der Ausstrahlung der Alhambra oder der Loire-Schlösser fehlen. So erstaunt es nicht, dass Architektur auf der Wunschliste inter­nationaler Touristen in unserem Land bestenfalls ein sekundäres Kriterium ist. An erster Stelle steht die Landschaft mit den Bergen und Seen. Dennoch prägen Dörfer, historische Stadtteile, Brücken und Viadukte diese Landschaft massgebend mit. Sie bilden ein in der Schweiz gut erhaltenes Kulturerbe und tragen zum positiven Image bei, das Reisende von unserem Land haben.

Zu diesem Bild kommt neuerdings ein touris­tischer Trend hinzu: Es müssen nicht mehr die meist­besuchten Attraktionen eines Orts abgehakt werden – im Vordergrund steht ein herausragendes, einzigartiges Erlebnis abseits des globalen Massentourismus. Und weil die Weltkarte praktisch keine weissen Flecken mehr aufweist, richtet sich der Entdeckergeist mehr und mehr nach innen. ­Hideaways, Zeitinseln und Yogakurse boomen in Städten wie auf dem Land. Für diese neuen Bedürfnisse gibt es zahlreiche Angebote – die verbindenden Elemente sind Einzigartigkeit und Authentizität.

Hier haken die Anbieter ein: Gefragt sind Unter­künfte, die ein besonderes Erlebnis versprechen. Und das ist nicht nur an das Eintauchen in eine fremde Kultur oder an ein touristisches Highlight gekoppelt. Sogar die bekannte, nahe Umgebung kann aus einem speziellen Blickwinkel neu erscheinen. Mit der Gewöhnung an provisorische Unterkünfte erfährt zudem der Anspruch an bisherige Standards eine Abfuhr: Private Gastgeber, etwa über Airbnb gebucht, bieten statt Fernseher oder Minibar Geheimtipps für ein individuelles Erleben aus der Perspektive des Einheimischen. Solange Sauberkeit und Zuverlässigkeit gewährleistet sind, lassen sich die Reisenden vermehrt zu ungewöhnlichen Übernachtungsgelegenheiten verführen. Im Zuge der Sharing Economy sind bei der Unterkunftswahl auch ökologische und moralische Überlegungen bedeutend.

Bewohnbare Geschichten

Als Verband aller Tourismusunternehmen springt Schweiz Tourismus auf diesen Zug auf und initiierte für den Sommer 2018 eine unkonventionelle Kampagne: In verschiedenen Schweizer Städten entstanden Pop-up-Hotels. Der Begriff «Hotel» erhält dabei eine erweiterte Bedeutung: Es handelt sich um Unterkünfte auf Zeit – drei bis fünf Monate – in Bauten, die eigentlich andere Funktionen erfüllten. Um den Gästeservice zu gewährleisten, sind sie jedoch einem konventionellen Betrieb angegliedert. Als gemeinsame Voraussetzung für die Wahl der Orte galt, dass sie Platz für ein Doppel­bett boten und über sanitäre Anlagen verfügten.

In Bellinzona konnte man hoch über der Stadt in einer der drei Burgen übernachten. Abends erhielt man feuerpolizeiliche Instruktionen und wurde anschliessend bis zum nächsten Morgen eingeschlossen. In Basel durfte man sich gegen alle Traditionen in einem privaten Fischergalgen am Rheinufer einquartieren, was allein baurechtlich nicht ganz unkompliziert war. Das Angebot, an einem Fischereikurs teilzunehmen und damit an die kulturelle Bestimmung anzuschliessen, machte es möglich. Sanitäre Anlagen und Frühstück bot die nahe gelegene Jugendherberge. Am besten vom Wasser aus zu erreichen war ein im Schilf verstecktes Bootshaus in Kastanienbaum, gerade gross genug, um ein Bett zu beherbergen. Von dort aus liess sich der Vierwaldstättersee aus privater Perspektive betrachten.

Der Luxus dieser Standorte liegt nicht im Komfort oder Service. Ihr Reiz bestand in der zeitlich begrenzten Existenz und der exklusiven Lage, die maximal «instagrammable» war. Die wenigen nötigen Einbauten wurden möglichst frei in die alten Räume gestellt, sodass sie anschliessend spurlos wieder entfernt werden konnten. Auf diese Weise blieb auch ihre Andersartigkeit ablesbar. Die Geschichten, die den Häusern eingeschrieben sind, werden so Teil des touristischen Erlebnisses.

Wohin es führen kann, wenn Bilder von vermeintlich unberührten Orten viral gehen, konnte man vor einiger Zeit am Beispiel des Berggasthauses Äscher in Wildkirchli AI verfolgen: Es landete auf dem Cover von «National Geographic» als einer der schönsten Orte der Welt und wurde anschliessend überrannt. Die Wirte haben zum Ende dieser Saison gekündigt. In deutlich geringerem Ausmass, aber ebenfalls über die Attraktivität der Bilder in den sozialen Netzwerken haben die Pop-up-Hotels eine grosse Nachfrage ausgelöst.

Übernachten im Zollhaus auf der Brücke

So wurde ein Hotelzimmer auf Zeit in ein ehemaliges Zollhaus zwischen der Berner Altstadt und dem Bärengraben implantiert. Es steht als einer von vier qua­dratischen Wächtern, aus dem ortstypischen grünen Sandstein gefügt, auf der Nydeggbrücke (1844) und wurde nur wenige Jahre zum Zolleintreiben benutzt: Die Idee, eine Gebühr für das Begehen der zwar privat gebauten, sich aber eindeutig im städtischen Raum ­befindlichen Brücke zu entrichten, wollte den Bernern offenbar nicht einleuchten.

Nach der späteren Nutzung als Wohnhaus des Bärenwächters und langen Zeiten des Leerstands bis zuletzt als Standort des Swiss Brand Museums, das allerdings wegen einer schwie­rigen Positionierung zwischen Kunst und Kommerz schnell wieder verschwand, hat es die Stadt Bern erneut zur Miete ausgeschrieben. Die Betreiber zweier benachbarter Restaurants ergriffen in Kooperation mit Schweiz Tourismus die Gelegenheit und beauftragten die Berner Architekten Campanile + Michetti mit dem reversiblen Ausbau der Liegenschaft.

Die Oberflächen tragen zum Teil Beschriftungen oder deren Spuren aus den Zeiten als Museum. Vor einem Fenster sind der Bärenpark, die Altstadt und tief unten der Fluss sichtbar. Der Orts reizt in diesem Fall nicht mit seiner «splendid isolation», sondern inszeniert das Wohnen inmitten des städtischen Treibens an einer Lage, wo es sonst nicht möglich ist. Die umgebenden Attraktionen, aber auch die Gesichter der hautnah vorbeiströmenden Touristen und später die nächtliche Stille über dem Wasser schaffen zusammen eine aus­sergewöhnliche Atmosphäre. Im Kanon der elf Unterkünfte, die in diesem Rahmen zur Auswahl stehen, ist die Übernachtung hier vergleichsweise günstig. Manche Angebote, deren Zimmerpreise sich zwischen 150 und 750 Franken pro Nacht bewegen, sind allerdings schlicht zu kostspielig, um eine Alternative zu Airbnb zu sein.

Fraglich ist auch, ob die Häuser über die kurzzeitige Popularität hinaus vom Projekt profitieren. Die Pop-up-Hotels werden als Magnet eingesetzt, um ein neues Licht auf vermeintlich bekannte Orte zu werfen. Folgenlos für die Umgebung fallen die Liegenschaften anschliessend in ihren Dornröschenschlaf zurück. Nachhaltigkeit scheint in diesem Zusammenhang kein Thema zu sein. Eher geht es um den Gewinn neuer Touristengruppen, und der scheint zu gelingen. Das Angebot trifft auf einen gesellschaftlichen Trend. Die Nähe, die gute Erreichbarkeit und das Fieber, das der enge Zeitrahmen auslöst, machen die Idee innerhalb des Landes attraktiv. Obschon an ein internationales Publikum gerichtet, buchen vor allem Schweizer diese Angebote. Sobald sich die Fotos ins Ausland verbreitet und das touristische Bild der Städte erweitert haben, ist aus Sicht des Marketings der Zweck der Häuser erfüllt.

Eine Reise durch Jahrhunderte

Ebenfalls vor allem von Schweizer Touristen gebucht sind die Häuser der Stiftung Ferien im Baudenkmal. Hier steht der langfristige und qualitativ hochwertige Erhalt des Kulturerbes im Fokus. Im Angebot befinden sich 26 von der Stiftung renovierte Baudenkmäler. Anders als bei den Pop-up-Hotels soll mit den einzigartigen Bauten für die Gäste eine möglichst grosse Bandbreite an Stilen und Epochen der Schweizer Baukultur in allen Landesregionen erlebbar gemacht werden. Gleichzeitig bleiben so historisch wertvolle Bauten erhalten.

Das Türalihuus im bündnerischen Valendas ist Teil eines Dorfgefüges, das seit 2004 durch die Stiftung Valendas Impuls entwickelt wird, um einer Entleerung der Gemeinde entgegenzuwirken. Das preisgekrönte Engagement richtet sich auch auf eine Reintegration leer stehender Häuser. Neben altem Schulhaus und Restaurant begab man sich auch auf die Suche nach einer Nutzung für das Türali­huus, das prominent am ­Dorfplatz steht.

Nach einer Machbarkeitsstudie durch den Heimatschutz im Jahr 2007 entstand die Idee, das ehemalige Wohnhaus für Ferienwohnungen zu nutzen und damit seine vielschichtige Gestalt mit allen Schwächen und Stärken erlebbar zu machen. Ein gewünschter Nebeneffekt der zwei wochenweise vermieteten Wohnungen ist es, die Gäste in das Dorfgeschehen einzubinden und für die Situation der Einwohner zu sensibilisieren.

Der aus dem späten Mittelalter stammende Hauptteil des Baus wurde in der ferneren Vergangenheit mehrfach um- und ausgebaut sowie aufgestockt. Die Architekten Capaul & Blumen­thal erarbeiteten mit der Denkmalpflege zunächst die verschiedenen epochalen Spuren. Malereien an der Fassade wurden in Teilen renoviert, aber nicht rekonstruiert. Auch die Innenräume wirken nicht «oberflächensaniert». Die Architekten verwendeten wenige Materialien, vor allem Holz, Stein, Luftkalk und Schmiedeisen, wie sie ursprünglich eine Rolle spielten. In den ungeheizten Erschliessungsräumen und Küchen, die hauptsächlich in Stein gefasst sind, wurden nach Bedarf neue Stufen oder Beläge zugefügt.

Die Ausstattung der mit Schweizer Klassikern eingerichteten historischen Räume ist, auch in Küchen und Bädern, komfortabel und zeitgenössisch. Dennoch muss sich der Gast den Häusern anpassen: Niedrige Türen, steile Treppen und dunkle Küchen zählen gewöhnlich nicht als Pluspunkte. In diesem Fall fordern sie aber mehr oder weniger sanft zur Auseinandersetzung mit dem Haus und seiner Geschichte, seinen Geschichten heraus, und darin liegt der eigentliche Reiz.

Lebendige Spuren und Schichten

Der Russ aus der Zeit, als man noch am offenen Feuer kochte, wurde auf den Wänden beider Küchen belassen. Nicht nur die Oberflächen verströmen Sinnlichkeit, sie liegt auch in der spärlichen Belichtung und den ­Gerüchen. Die hellen Wohnräume erzählen dagegen ­andere Geschichten: Eine Malerei von einem Paar beim Tête-à-­Tête auf dem Holztäfer befindet sich im selben Zimmer wie ein geisterhaftes Gesicht, das früher den Hintergrund eines Büfetts schmückte. In der «maserierten Stube» imitiert eine Struktur auf dem einfachen Fichten­täfer ein edleres Holz. Diese befand sich in gutem Zustand, sie musste lediglich gereinigt und mit Leinöl behandelt werden.

Je nach Nutzung sind die Holzauskleidungen von simplen Bretterwänden bis zu reich verziertem Täfer abgestuft. Wände und Decken der Schlafzimmer sind schmucklos mit alten Holzkassetten verkleidet. Aus Löchern in diesem Täfer ragen Haken und seltsame ­Ketten, die wahrscheinlich von ehemals landwirtschaftlichen Funktionen der Zimmer zeugen. Ansonsten ­strahlen die Schlafräume klösterliche Einfachheit aus.

Im Haus das Reiseziel

Die individuellen Räume zu entdecken ist ein Erlebnis voller Überraschungen. Mancherorts führen ein paar Stufen hinauf und hinab zu einer weiteren Tür, hinter der sich noch ein unerwartetes Zimmer verbirgt. Insgesamt erinnert das Haus an die alten amerikanischen Patchworkarbeiten, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben, immer wieder ausgebessert, geflickt und den veränderten Bedürfnissen angepasst wurden. In diesem Sinn werden die zukünftigen Feriengäste das Erscheinungsbild weiter verändern und ihren Teil zur Haushistorie beitragen. In seiner handwerklichen Sorgfalt – und scheinbar ohne die Substanz zu werten – wirkt der Bau kostbar und in der Zeit verankert.

Mit der Öffnung von Baudenkmälern gelangen diese aus dem bewahrenden musealen Kontext zurück in die Gesellschaft. Die Schweizer Kombination von gepflegtem Kulturgut, Landschaft, hochstehendem ­Gastronomie- und Hotelangebot kommt dem touristischen Trend zu Authentizität und Erlebnis entgegen und kann vielfältig interpretiert werden.

TEC21, Fr., 2018.10.26

26. Oktober 2018 Danielle Fischer, Hella Schindel

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