Editorial

Der Gebäudestandard Minergie ist 20 Jahre jung. 1998 haben der Bund und die 26 Kantone diese Marke auf dem Immobilienmarkt eingeführt. Seither hat sich daraus eine unternehmerische und energiepolitische Erfolgsgeschichte entwickelt, unter namhafter Beteiligung der Bauwirtschaft: Über 46 000 Gebäude und eine Energiebezugsfläche von 50 Mio. m2 sind inzwischen zertifiziert. Beinahe 10 % des Gebäudeparks sind Nied­rigenergiehäuser und verheizen nun ein Drittel weniger Brennstoffe als konventionelle Hochbauten nach den kantonalen Baugesetzen. Dafür investieren Bauherrschaften jedes Jahr rund eine Milliarde Franken zusätzlich in bessere Wärmedämmung, emissionsarme Energiequellen und technisch kontrollierten Komfort.

Der Umwelt tut das gut: Seit 1998 stösst der Gebäudebestand jedes Jahr etwa ein Prozent we­niger Treibhausgase aus. Minergie demons­triert somit, dass eine Branche – aus eigener Überzeugung und mit öffentlichem Druck – einiges für die nach­haltige Entwicklung leisten kann. Dass dies kaum genügt, um die nationalen Klimaziele zu erreichen, weiss man aber auch. Die Energie­effizienz im ­­Ge­bäudebetrieb ist nicht erst seit 20 Jahren Thema der Bauforschung und der All­tagsarchitek­tur. Die Entwicklung sparsamer Ökohäuser begann zumindest ideell im Gleichschritt mit der Nachkriegskonjunktur. Inzwischen haben sich daraus unverzichtbare Neuerungen für Kon­struktion und Haustechnik ergeben. Nicht nur der Dämmperimeter ist zur festen Grösse im Entwurfsprozess geworden. Energie und Res­sourcen sind kostbar; die Architektur kommt um den ­schonenden ­Umgang damit nicht herum.

Paul Knüsel

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Ausschreibungen | Gestern üppig, heute stringent

10 PANORAMA
Zeitgemäss historisch | Leserbrief

14 ESPAZIUM – AUS UNSERERM VERLAG
Film in der Stadt

15 VITRINE
Aktuelles aus der Baubranche

17 SIA
Start in fruchtbare Zusammenarbeit | Gespräch mit der Politik | SIA-Form Fort- und Weiterbildung

21 VERANSTALTUNGEN

THEMA
22 DER DÄMMPERIMETER – EIN GOLDENER KÄFIG?

22 20 Jahre Minergie: «LIEBER FREIWILLIG, ALS MIT ZWANG»
Tina Cieslik, Paul Knüsel
Wie es der Verein geschafft hat, die Marke Minergie zu einer gewichtigen Grösse beim Bauen zu entwickeln. Ein Interview.

26 DIE LERNKURVE DER ENERGIEEFFIZIENZ
Paul Knüsel
Der Niedrigenergie­standard ist das Resultat von Forschungsbemühungen für ein Haus ohne Heizung. Ein Essay über das ökologische Bauprinzip.

AUSKLANG
32 STELLENMARKT

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

«Lieber freiwillig als mit Zwang»

1998 wurde das erste Haus in der Schweiz mit dem Energiestandard Minergie ausgezeichnet. 20 Jahre später sind es über 46 000 Minergie-Gebäude. Was hinter dem Erfolg steht, erklären zwei Vertreter des nationalen Trägervereins.

TEC21: Wir gratulieren dem Verein Minergie zum 20. Geburtstag. Was wünscht sich der Jubilar?
Andreas Meyer Primavesi: Qualität und Einfachheit. Die letzten Jahre waren für die Bau- und Immobilienbranche ziemlich turbulent und unter anderem von der Energiestrategie 2050, der Digitalisierung und den tiefen Zinsen geprägt. Wir wünschen uns darum nicht etwas für uns selbst, sondern für die ganze Branche: dass man die Kräfte bündelt und sich aufs Wesentliche besinnt.

TEC21: Auch für den Verein Minergie haben die letzten Jahre einige Veränderungen gebracht; 2017 hat man erstmals substanzielle Korrekturen am Gebäude­standard vorgenommen. Was zeichnet diesen heute aus?
Andreas Meyer Primavesi: Ein Minergie-Haus ist etwa ein Viertel besser in der Energie- und CO2-Bilanz als ein konventioneller Neubau. Berücksichtigt man die niedrigen Betriebs- und Nebenkosten, die günstigeren Hypothekarzinsen oder den Mehrwert einer Minergie-Liegenschaft, dann lohnt sich der Aufwand auch wirtschaftlich. Minergie ist nur unwesentlich teurer und aufwendiger zu realisieren als der Mainstream. Denn ein zentrales Anliegen ist, dass wir möglichst viele Bauträger ansprechen können. Darum ist Minergie das erfolgreichste Gebäudelabel auf dem Markt. Man hat bereits vor 20 Jahren ein Gespür für das Mach­bare entwickelt, sonst hätte es kaum überlebt.

TEC21: Wenn Sie zurückblicken: Wie hat der Verein dies erreicht?
Milton Generelli: Mit Mut zur Innovation: Vor 20 Jahren hat der Standard erstmals eine thermische Bilanz eingefordert; gesetzlich erforderlich war einzig der Qualitätsnachweis für eine gut gedämmte Gebäudehülle. Dennoch war das primäre inhaltliche Anliegen nicht die Energieetikette, sondern die Steigerung des Komforts. Dies hat damals die Akzeptanz erhöht. Energiesparen war nicht populär und wurde eher mit Verzicht in Verbindung gebracht. Darum der Claim «mehr Komfort, mehr Energieeffizienz»: Dieser war den Endkunden einfach zu vermitteln. Doch es ist mehr als nur Mar­keting. Dahinter steckt ein fachlich fundiertes Konzept, das die Anforderungen zur Nutzerbehaglichkeit und qualitativen Gebäudesubstanz kombiniert.
Andreas Meyer Primavesi: Die sportliche Vorgabe bestand darin, das energetische Niveau von Neubauten um den Faktor zwei bis drei zu unterbieten; der Standard verlangte damals einen jährlichen Heizwärmebedarf von 42 kWh/m2 für neue Wohnbauten anstelle der gesetzlich erlaubten 120 kWh/m2. Erstaunlich ist si­cher, dass trotzdem eine solche Breitenwirkung entfaltet werden konnte.
Milton Generelli: Die Messlatte war weder zu tief noch zu hoch. Es hätte strengere Lösungen gegeben, aber die wären nicht derart breitenwirksam gewesen. Es war eben nie die Absicht von Minergie, nur vorbildliche Leuchttürme zu präsentieren, die zwar alles richtig machen, aber keine Verbreitung finden.

TEC21: Welche Rolle spielen die Kantone, die wesentlich zur Gründung des Vereins beigetragen haben?
Andreas Meyer Primavesi: Das enge Zusammenspiel mit den Behörden war sogar sehr wichtig und ist ein zentraler Erfolgsaspekt. Der Standard Minergie wäre ein Nischenprodukt geblieben, hätten sich die Erfinder und die Kantone nicht einigen können. Da waren anfänglich auch Hürden zu überwinden. Richtig vorwärts ging es, als die Kantone und anschliessend auch der Bund den Standard in ihre Energiepolitik integrierten. Dadurch hat sich die Sichtbarkeit wesentlich erhöht. Inzwischen ist Minergie ein Part­nerprojekt zwischen der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft. Es geht darum, dass wir freiwillig etwas leisten, was sonst mit Zwang realisiert werden müsste.

TEC21: Die Zertifizierungsregeln sind im letzten Jahr erneuert worden. Nun darf ein Neubau nicht mehr fossil beheizt werden. Ist das ein Versuchsballon für die Kantone, ihre Gesetze künftig darauf auszurichten?
Andreas Meyer Primavesi: Der Verein ist sich bewusst, dass diese Vorgabe aneckt und im Markt umstritten ist. Dennoch glauben wir nicht, dass die Versorgung mit fossiler Energie Bestandteil des zukunftsfähigen Gebäudestandards sein darf. Nicht nur bei Neubauten, auch bei Sanierungen ist dies zu hinterfragen. Was die Absichten der Kantone diesbezüglich betrifft, bin ich nicht die richtige Ansprechperson. Doch was der Verein tut, ist sicher kein Zufall. Unsere Vision tra­­gen die Kantone massgeblich mit, respektive sie haben bereits bei der Formulierung mitgewirkt. Ein Zweck des Standards ist: Wir sollen nachweisen, dass ein innovatives Baukonzept technisch und ökonomisch machbar ist. Der Gesetzgeber kann dann übernehmen, was er seinerseits für machbar und nachfrageorientiert hält.
Milton Generelli: Wichtig ist, dass wir – wie schon vor 20 Jahren – mutige Impulse setzen. Die neuen Vorgaben sind darum eine logische Fortsetzung. Zentral ist, dabei die Gesamtenergieeffizienz zu betrachten, ebenso wie die Verpflichtung, die Eigenversorgung etwa mit Photovoltaik anzu­streben. Die Technik, die es dazu braucht, gibt es heute schon.

TEC21: Nicht nur die Wärme, neuerdings wird auch der Stromkonsum bei Minergie mitgezählt. Warum hat man diesen Schritt, die Gesamtenergieeffizienz zu betrachten, nicht mit weniger Vorgaben verknüpft?
Andreas Meyer Primavesi: Hätte man zum Beispiel die Anforderungen an die Gebäudehülle komplett fallen gelassen und nur noch auf die Gesamtenergiebilanz gesetzt, hätten das sicher einige als grossen Wurf wahrgenom­men. Aber daraus wären Konflikte mit den kantonalen Gesetzen und den Baunormen entstanden. Das Bewertungssystem ist jedoch so aufgebaut, dass der Zielwert für die Gesamtenergieeffizienz auf unter­schiedliche Weise erreicht werden kann. Die Qualität der Gebäudehülle, der Eigenversorgungsgrad und die gebäudetechnischen Massnahmen können unter­­einan­­der abgestimmt werden. Den zwingenden Rahmen aber setzen die gesetzlichen Anforderungen an die Gebäudehülle und den Mindestanteil an erneuerbarer Energie. Das ist ein weiterer Mehrwert unseres frei­willigen Gebäudestandards: Ein Bauträger erhält mit der Zertifizierung die Sicherheit, dass er sämtliche Vorgaben für eine Baubewilligung erfüllen kann.
Milton Generelli: Wir dürfen nicht vergessen, dass sich der Standard weitgehend auf gültige SIA-Normen abstützt und eine Absicherung bietet, dass diese Grundlagen berücksichtigt werden. Allerdings wird das Bauen immer komplizierter; zusätzliche Qualitäts­aspekte kommen dazu. Den generellen Anstieg der Komplexität darf man Minergie aber nicht zum Vorwurf machen.
Andreas Meyer Primavesi: Ein Übermass an Anforderungen wird uns immer wieder vorgeworfen. Oder es wird wiederholt kritisiert, wie wenig Freiheiten das Konzept bietet. Aber wenn wir nicht genau hinschauen, wie gut die realisierte Bauqualität und der Komfort sind, würden uns substanzielle Baumängel vorgehalten. Nur darum müssen wir jetzt zum Beispiel nicht über Schimmel in Minergie-Häusern sprechen; den gibt es nicht. Auch die Abweichungen in der Energieperformance zwischen Planung und Alltag wären weitaus grösser, als sie sind. Die erfassten Differenzen sind nüchtern betrachtet nicht so riesig. Ein Erfolgsprinzip des Gebäudestandards steckt auch in der Planungssicherheit und im Investitionsschutz.

TEC21: Vereinfachungen waren also bei der letzten Erneuerungsrunde kein Thema?
Andreas Meyer Primavesi: Selbstverständlich hinterfragen wir selbst einiges. Aktuell ist die Belüftung von sanierten Gebäuden ein internes Diskussionsthema. Auf ein Lüftungssystem verzichten oder die Anforderungen fallen lassen werden wir bestimmt nicht. Die Lüftung ist für uns immer noch das richtige Mittel zum Zweck. Aber wir denken an eine flexiblere Beurteilung und schauen, welche neuen Technologien für Anpassungen oder Vereinfachungen genutzt werden können. Wir nehmen Kritik ernst, aber wir hören lieber auf konstruktive, lösungsorientierte Beiträge als auf laute Vorwürfe.

TEC21: Wie tauscht sich der Verein mit der Fachwelt aus, um Probleme aus der Praxis in Erfahrung zu bringen?
Andreas Meyer Primavesi: Wir sind am Erfahrungsaustausch interessiert und führen in allen Regionen regelmässige Treffen mit Architekten und Fachplanern durch. Aktuelle Themen neben der Lüftung sind der sommerliche Wärmeschutz und das Monitoring des Energieverbrauchs. Wir sind uns bewusst, dass es die Balance zwischen zu detaillierten und zu vagen Anforderungen zu halten gilt.
Milton Generelli: Die Neuerungen für die Zertifizierung sind nicht im stillen Kämmerlein entwickelt worden, sondern waren Teil eines zweijährigen Vernehmlassungs- und Bereinigungsprozesses.
Andreas Meyer Primavesi: Das hilft uns. Nach den ersten zwölf Monaten und den Erfahrungen, die wir mit den neuen Zielen und Kenngrössen sammeln konnten, kann ich sagen: Sie kommen gut an.

TEC21: Aber die Pflicht zur Eigenerzeugung von Strom ist kostenrelevant. Wie viel mehr ist für ein Minergie-Haus zu investieren im Vergleich zum konventionellen Niveau?
Andreas Meyer Primavesi: Früher hat der Verein kommuniziert, dass mit Mehrkosten von rund 5 % zu rechnen sei. Doch diese Analysen treffen heute nicht mehr zu, und aktualisierte Angaben gibt es nicht. Ich gehe aber davon aus, dass sich der Mehraufwand für die Ener­gie­erzeugung positiv auf die Lebenszyklus- und Betriebskosten auswirken wird. Zudem wird der Zusatz­aufwand für die Technik entschärft, weil die Dämmanforderungen dieselben wie beim Gesetzesstandard sind. Hier ist nicht mehr zu leisten als bei allen anderen auch.
Milton Generelli: Darum setzt der Verein auf den Markt. Bei der Solartechnologie sind heute schon günstige Lösungen verfügbar. Zudem glaube ich, dass ein Minergie-Haus nicht teurer sein muss als ein konventionelles Gebäude, wenn das Gesamtkonzept von Anfang an darauf ausgerichtet ist.

TEC21: Der Standard Minergie hat sich regional unterschiedlich verbreitet. An Orten mit hoher Baudynamik wie im Raum Zürich ist der Standard ausserordentlich gut vertreten. Warum funktioniert das etwa im Tessin weniger gut?
Milton Generelli: Der Kanton hat kein generelles Problem, sondern ist nur zeitlich verzögert unterwegs. Der Gesetzgeber war beim Vollzug der Energieziele etwas im Verzug. Erst vor etwa 15 Jahren wurde die SIA Norm 380/1 für die Baubewilligung verbindlich gemacht. Mittlerweile wird auf Sensibilisierung und Weiterbildung gesetzt. Öffentliche Bauten müssen nach Minergie zertifiziert werden, und das Bauen nach Minergie wird finanziell gefördert. Zudem hat die Einführung des Standards Minergie-A, der die Stromerzeugung ins Zentrum stellt, bei den Zertifizierungen im Tessin einen eigentlichen Aufschwung gebracht.
Andreas Meyer Primavesi: Sich in der ganzen Schweiz und in allen drei Landesteilen aktiv zu bemühen, ist für den Verein Minergie sicher ein Kraftakt. Unsere Ressourcen für das Marketing sind beschränkt. Gleichzeitig können wir von der Vernetzung und den regionalen oder klimatischen Unterschieden fachlich profitieren. So kümmert sich die Agentur im Tessin in Zusammenarbeit mit der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (Supsi) um die angewandte Forschung, wie wir mit dem steigenden Kühlbedarf umzugehen haben. Auch bei den Vorgaben für den sommerlichen Wärmeschutz können wir so voneinander lernen.
Milton Generelli: Effektiv können wir klimatisch bedingte Einflüsse einbringen. So wissen wir, dass Minergie-Häuser im Tessin vergleichsweise weniger gut gedämmt werden müssen, im Gegenzug aber mehr Energie produzieren. Zudem bereitet uns der Sommer mit dem steigenden Kühlbedarf mehr Mühe. Wir müssen kluge Ansätze entwickeln, damit man Wohnhäuser nicht nachträglich mit Kühlaggregaten ausstatten muss.

TEC21: Einem Jubilar wünscht man immer auch ein langes Leben. Wie lang wird es Minergie noch geben?
Milton Generelli: Solange wir Innovationen setzen und die Wirtschaft antreiben können, braucht es uns.
Andreas Meyer Primavesi: Sobald die Energiestrategie 2050 erreicht ist, braucht es uns nicht mehr. Oder wenn jedes Gebäude plus/minus eine Nullbilanz besitzt. Aber die Bauwirtschaft ist träge. Darum wird es den Verein in 20 Jahren sicher noch geben.

TEC21, Fr., 2018.08.10

10. August 2018 Tina Cieslik, Paul Knüsel

Die steile Lernkurve der Energieeffizienz

Das «Haus ohne Heizung» war die Vision. Nun ist das «Haus ohne Kamin» salonfähig geworden. Ein Essay über die Annäherung zwischen Architektur und thermischer Transmission.

Frankfurt am Main ist die deutsche Finanzmetropole schlechthin – und ihre Skyline mit Dutzenden Hochhäusern aus Stahl und Glas der glitzernde Beweis dafür. Einige der fast 50 Wolkenkratzer werden als Banken­zentrale, Hotel oder Wohnsitz der Reichen genutzt. Der älteste Turm gehört zum Dom, ist ziemlich genau 500 Jahre alt und 95 m hoch; der höchste, der «Commerzbank-Tower», endet erst bei 260 m. Die postmoderne Vertikale ist aber nicht die einzige städtebauliche Attraktion von «Mainhattan».

In der Altstadt wird das Mittelalter wieder zur Schau gestellt: Zwischen Dom und Römerberg ist das histo­rische Zentrum auferstanden, als hätte man das Rad der Zeit um Jahrhunderte zurückgedreht. Ein klobiger Verwaltungskomplex aus den Nachkriegsjahren musste einer Rekonstruktion des Vorkriegszustands weichen (vgl. «Zeitgemäss historisch»). Das Altstadtareal mit dem sperrigen Namen «DomRömer-Quartier» besteht nun wieder aus akkuraten Spitzgiebelhäusern und bunten Fachwerk-, Schiefer- oder Renaissancefassaden.

Die fünftgrösste Stadt Deutschlands vereint deshalb Gegensätzliches in Raum und Zeit: filigrane Himmelsstürmer im Banken- und Europaviertel sowie handwerklich solide, schnittige Retro-Architektur im Stadtzentrum. Jedes einzelne Format beeindruckt mit einer unübersehbaren Präsenz. Doch neben Lob gibt es dafür, kaum über­raschend, auch Kritik. Die hohen Kosten und die Verschleierungsarchitektur sind Aspekte, die nicht allen Urbanisten gefallen.

Frankfurt setzt aber nicht nur städtebauliche Trends, sondern fühlt sich auch dem ökologischen Zeitgeist verpflichtet. In der Energieszene ist die Metropole als inoffizielle Passivhaus-Hauptstadt Deutschlands bekannt. Die in jüngster Zeit erstellten öffentlichen Bauten erfüllen ebenso wie viele private Wohnsiedlungen allesamt höchste Vorgaben beim Energiestandard. Auch unter den Hochhäusern befinden sich qualifi­zierte Vertreter grüner Architektur.

Und sogar das neo­mittelalterliche DomRömer-Quartier ist hinter der ­Fassadenzier energetisch optimiert: Der Heizwärmebedarf der 13 Rekonstruktionshäuser variiert zwischen 13 kWh/m2 und 40 kWh/m2. Im besten Fall entspricht dies dem Niveau von Passivhäusern; im ungünstigsten wird ein Niedrigenergiestandard erreicht, vergleichbar einem Schweizer Minergie-Haus. So frei man Städtebau und Baukultur in Frankfurt inter­pretiert, so sehr beeindruckt das Selbstverständnis, wie vielfältig man selbst überdurchschnittlich spar­same Gebäude konstruieren und welch ästhetisch variable Energiehüllen man darüberstülpen kann.

Die Wahrnehmung: ein trojanisches Pferd

Eine Frankfurt wesensverwandte Stadt ist Zürich: An der Limmat wird ebenfalls mit Geld und Geist gehandelt, und auch hier mag man nicht mehr Energie verschwenden als zwingend nötig. Der Schweizer Banken­platz ist wie der deutsche ein Pionier und eine Hochburg des energieeffizienten Bauens. Anfang 1990er-Jahre hat man sich in der Innenstadt, in einem kantonalen Amtshaus, das Minergie-Label ausgedacht. Inzwischen treibt nicht nur die Stadtverwaltung ein ökologisches Bauen für die 2000-Watt-Gesellschaft voran.

Doch wäre Zürich Frankfurt, würden viele Debatten hierzulande ganz anders geführt. Denn während im Norden ein Energiesparhaus als Mittel zum Zweck dient, endliche Ressourcen einzusparen, leidet es bei uns unter einem schlechten Ruf. Die Wahrnehmung ist: Das Zertifikat wird eher als Stigma denn als gefälliges Ökodesign interpretiert. Ein Minergie-Haus gilt hierzulande schnell als architektonischer Sündenfall oder zumindest als baukultureller Sonderling.

«Zürich will Modellstadt für ökologisches Bauen werden. Bleibt die Ästhetik dabei auf der Strecke?», fragte die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» vor einigen Jahren. Und die NZZ wunderte sich dieses Frühjahr nach einem Besuch des Ökoquartiers «Greencity» am Südrand der Stadt: «Wollen wir so leben?» Das Bestreben, den Energieverbrauch der Bewohner und Nutzer zu senken, zwinge die Architektur in die Knie. Zwar kann der «nachhaltigste Standort der Stadt Zürich» fast sämtliche Energie- und 2000-Watt-Zertifikate vorweisen, die man erwerben kann. Dennoch gewinnt die kunsthistorisch ausgerichtete NZZ-Kritik seiner Erscheinung – massive und massige Baukörper – wenig Gutes ab.

Warum funktioniert Niedrigenergie in Frankfurt, in nostalgischer Form von Altstadthäusern oder als emporragender Protz? Und warum erkennt ein Zürcher die Ökologie in gebauter Form scheinbar nur als stylisierten Klotz? Ist das wirklich so: Verformt das ökologische Gewissen die bisherige Architektur? Oder benutzt man die Ökoetikette nicht gerne auch als faule Ausrede für mässige ästhetische Qualitäten?

Tatsächlich wird die Energieeffizienz dort zum trojanischen Pferd, wo immer sie als Alibi für rationelle, rendite­orientierte Baukonzepte herhalten muss. Denn viele Zürcher Neubauten, wie in der «Greencity» oder an der Europaallee, sind nicht nur ökobilanziert und zertifiziert, sondern mindestens ebenso akribisch auf Ökonomie getrimmte, kompakte Klumpen.

Energiestandards: objektivierbare Qualität

45 Jahre nach der Erdölkrise kämpft das energieeffiziente und klimafreundliche Bauen immer noch um seine Anerkennung. Wie die Abbildungen auf diesen Seiten zeigen, lassen sich zwar schöne Gebäude auf der Minergie-Liste finden. Trotzdem erhalten die Wegbereiter und ihre Nachfolger bis heute schlechte Stilnoten. In der Zwischenzeit ist aber einiges passiert: In 20 Jahren hat sich der Standard Minergie von einer Marketingidee zum erfolgreichsten Gebäudelabel der Schweiz entwickelt (vgl. «Lieber freiwillig als mit Zwang»).

Jeder achte Neubau ist inzwischen zertifiziert. Nicht nur in Zürich werden ganze Stadtquartiere mit Niedrig­energiestandard aus dem Boden gestampft (vgl. TEC21 14–15/2015). Die «Green Building»-Welle ist für die ­Baubranche von einem Nischenprodukt zum Wachstumstreiber geworden. Stehen aber nicht Zahlen im Vordergrund, schwindet die breite Akzeptanz. Nochmals: Sind sich der hohe Energiestandard und ein vorzeigbares Aussehen spinnefeind?

In der Beurteilung, wie gutes Ökodesign wirkt, steckt allerdings ein grosses Missverständnis. Ein Streit über Ästhetik lässt sich kontrovers, aber meistens nur subjektiv führen. Andere Aspekte der Architektur, wie der Umgang mit Ressourcen, sind dagegen objektiv nachweisbar. In der Betrachtung ambitionierter Wohnsiedlungen und Geschäftspassagen kommen sich die unterschiedlichen Perspektiven deshalb häufig in die Quere: Während Energiefachleute die Vorzüge eines Gebäudes nach Kilowattstunden und CO2-Emissionen qualifizieren, sprechen Architekten und Städtebauer lieber über Struktur, Tektonik und Form.

Eine gemeinsame Bewunderung für das Energiesparhaus scheint an den Grenzen der eigenen Disziplin zu scheitern. Bis heute versucht man vergeblich, sich gegenseitig an­zuerkennen. Es wirkt so, als habe man sich im Dämmperimeter verfangen, obwohl die ersten Exoten bereits über 30 Jahre alt sind.

Die Bauphysik: solar oder polar?

Der Graben der Unvereinbarkeit rührt auch von den Anfängen her, als Erforschung und Erprobung unkonventioneller ökologischer Baukonzepte überhaupt begannen. Die Idee, ein «Haus ohne Heizung» zu realisieren, stammt aus Nordamerika; ab den 1960er-Jahren verfolgte man sie in Skandinavien und Deutschland weiter.[1] Die ersten Solarhäuser der Schweiz folgten wenig später; sie sind nun fast 40 Jahre alt.

Anfang der 1980er-Jahre führten die Kantone erstmals Wärmedämmvorschriften ein und offizialisierten die zuvor definierten bauphysikalischen Normen. Die neuen Vorgaben stellten den damaligen Stand der Erkenntnisse allerdings auf den Kopf. Mit der Sonne zu bauen, anstatt sich gegen die Kälte abzuschirmen, war das Credo der nordamerikanischen Solararchitektur. Ein Sonnenhaus gewinnt die Strahlungsenergie passiv mit vollflächig verglasten Südfassaden und aktiv mit Luftkollektoren auf dem Dach oder an der Hauswand. Riesige Wassertanks im Keller sollten die Wärme saisonal speichern.

Das solare Bauen ist eine Antithese zur dicken Ver­packung. Dennoch spurten der Gesetzgeber und die Bürokratie auf den polaren Energiesparpfad ein.
Nicht zu vernachlässigen ist, dass die junge Geschichte des energieeffizienten Bauens eigentlich auf einer disruptiven Entwicklung beruht. Der Gebäudetyp «Solarhaus» wurde ausserhalb staatlicher Architekturakademien und öffentlicher Bauforschungsinstitute entworfen.

Stattdessen waren vielerorts Idealisten am Werk; darunter bis heute rund um die heutigen Hochburgen Zürich und Frankfurt aktive und erfolgreiche Architekten und Energieingenieure. Ihnen war jedoch bewusst, dass das Gebäude der Zukunft eine heikle Gratwanderung zu bewältigen hat. Teilweise gegensätzliche und sogar widersprüchliche Experimente, von solar zu polar, wurden vor rund zwei Jahrzehnten dazu präsentiert. Daraus entstand ein Wettstreit zwischen extrovertierten Sonnenfängern und introvertierten Verpackungskünstlern, der einige Architekturrepräsentanten irritierte. Die Zeitschrift Hochparterre berichtete eher skeptisch über die «solaren Urhütten».

Derweil beklagte man auf akademischer Ebene das «Splitting der Fassade»: Die Aussenwand wurde zur thermischen Zwiebel und die ungewohnte Dämmschicht sogar mächtiger als die massive Tragstruktur. Derweil schrumpfte die dünne Fassadenhaut zum Dekor. Die populäre monolithische Bauweise, vom Gründerhaus mit Sandstein bis zum modernistischen Betonbau, schien plötzlich der neuen Qualitätsgrösse «Wärmedämmperimeter» zum Opfer zu fallen.

Der Erfolg: ein Beitrag zur Klimapolitik

Aber worum geht es denn eigentlich? An sich darum, dass man in der Gebäudenutzung viel Energie einsparen kann. Damit ausreichend Warmwasser und angenehme Raumtemperaturen zur Verfügung stehen, kann der spezifische Wärmebedarf mehr als 20, knapp 5 oder nur 1 ½ Liter Heizöläquivalent pro m2 betragen. Ein Gebäude, kurz vor der Erdölkrise in den 1970er-Jahren erstellt, verbraucht viermal mehr als ein aktueller Neubau.

In weniger als zwei Generationen ist aus der Energieschleuder Haus – mit 22 Liter Heizöläquivalent – ein Spitzenreiter auf der Effizienzskala geworden. Das Gesetz erlaubt aktuell nur noch 4.8 l. Beim Minergie-­Zertifikat sind es 3.5 l; für den Passivhausstandard nochmals 2 l weniger. Würde ein Autohersteller dieselben Erfolge vorweisen wollen, dürfte ein Mittelklassewagen nurmehr 3 Liter Benzin pro 100 km verbrauchen. Neue Autos schlucken durchschnittlich dreimal so viel.

Als vor über 40 Jahren das Erdöl verknappt wurde, sorgte man sich zuerst um den freien Verkehr. 1973 waren die Autobahnen auf Anordnung des Bundes an drei Sonntagen gesperrt. Danach hat sich der Gesetzgeber stärker auf den baulichen Wärmeschutz konzentriert; dessen Fortschritte haben die motorisierte Mobilität inzwischen weit überholt. Entsprechend positiv meldet sich der Kanton Zürich zu Wort: «Der gesamte Wärmebedarf geht seit zehn Jahren stetig zurück.»[2]

Und auch für die nationale Treibhausbilanz ist die Energieeffizienz beim Bau eine seltene Erfolgsgeschichte. «Obwohl die beheizte Fläche zwischen 1990 und 2016 um 39 % zugenommen hat, sanken die Emissionen aus Heizung und Warmwasseraufbereitung in Wohn- und Gewerbegebäuden um etwa ein Viertel», lobt das Bundesamt für Umwelt den Gebäudesektor im aktuellen Klimabericht. Diese Bilanz bietet sowohl dem Wachstum der Energiebezugsfläche als auch der Marktdynamik überraschenderweise die Stirn. Die Preise für fossile Brennstoffe haben sich in den letzten 20 Jahren nur geringfügig erhöht, weit weniger als prognostiziert.

Die Transmission: wie dicht und kompakt?

Den grossen Fortschritten der letzten Jahrzehnte zum Trotz: Das Haus ohne Heizung erweist sich als Illusion. Während die Pioniersolarhäuser in Nordamerika selbst im Winter reichlich besonnt werden, ist das Klima Mitteleuropas dafür an kalten Tagen zu düster. So wurde an Testobjekten in Skandinavien und Deutschland erstmals ein Mittelweg zwischen Gewinnmaximierung und Verlustminimierung erprobt. Die Schnittmenge aus «solar» und «polar» war das Resultat dieser thermischen Mengenlehre. Die Fensterfront nach Süden blieb offen, wurde aber durch eine Hülle aus drei gut gedämmten, massiven Fassaden ergänzt.

Diesen Ausgleich verbinden das Minergie-Konzept und andere Energiesparhäuser bis heute: möglichst viel Sonneneinstrahlung für den passiven Energie­gewinn und eine gute Dämmung gegen unnötige Wärmeabflüsse. Mit zusätzlichen geometrischen Interventionen schraubt man den Energiebedarf weiter zurück: Der Würfel ist nach der Kugel die zweitbeste thermodynamische Form, um einen Baukörper mit so wenig Energie wie möglich zu beheizen.

Das kompakte Gebäude, mit minimaler Hüllfläche im Verhältnis zum Volumen, ist das architektonische Pendant. In den meisten Lehrbüchern zum energieeffizienten Bauen wird beschrieben, dass das Haus, das ohne Kamin auskommen soll, auch auf die bisherige Vielfalt an Konstruktionsformen verzichten muss. Denn erst kompakte, gut gedämmte Hüllen bieten Gewähr, dass erneuerbare Energieträger mit geringer Leistungskraft die fossilen Brennstoffe verdrängen können. Das kistenförmige Gebäude ist so zum Bild für die gestalterische Auszehrung durch das klimafreundliche Bauen geworden.

Die Assemblage: Die Architektur lernt

Der konstruktive Gewinner des energieeffizienten Bauens ist das additive Bauen, namentlich Wärmedämmverbundsysteme oder ähnliche Kompaktfassaden­varianten. Begradigte Fassaden und ultraschlanke ­Hartschaumdämmschichten sind darum bei energie­effizienten Häusern sehr häufig anzutreffen – aber ebenso oft bei kostenreduzierten, rationellen Bauten.

Manches erinnert allerdings an die Wegwerfmentalität: Hochleistungsdämmprodukte und andere Bauteile aus dem Hightechlabor enthalten kritische Substanzen; ihre energetische Wirkung interessiert mehr als umfassende ökologische Betrachtungen. Doch viele erstaunliche Produkte der Energie- und Materialforschung sind weder länger erprobt, noch weiss man über die Umwelteinflüsse im Lebenszyklus Bescheid. Und werden heute keine neuen Recyclingmethoden erforscht, hat man gegen die Abfallberge von morgen nicht vorgesorgt.

Am erfolgversprechendsten und nachhaltigsten funktionieren konstruktive Ansätze, die den Wärmedämmperimeter im Sandwichprinzip eingrenzen und dazu traditionelle Baustoffe und reversible Konstruktionsformen verwenden. Die Architektur hat einiges dazugelernt; umfassend und auch ästhetisch nachhaltig stellt man sich inzwischen der Wärmeschutzherausforderung. Sichtbar wird dieser Wandel überall dort, wo der Lebenszyklus nicht als Dekoration verstanden, sondern das additive Core-and-Shell-Prinzip durch eine versierte Assemblage von Materialien und Bauteilen abgelöst wird.

Charakteristisch für die jüngste Generation von energiesparenden Wohn- und Geschäftshäusern ist daher eine pragmatische Mixtur mit wiederentdecktem Gestaltungsanspruch: die Tragstruktur ein Skelettbau, der passive Wärme speichert, und die Hülle eine selbsttragende Holzrahmenkonstruktion, deren Ausfachung neben der Dämmung auch zur Profilierung der Aussenfassaden benutzt werden kann.

Die Reliefs tauchen ebenso wieder auf wie die Ecken und Kanten früherer Bauperioden. Allerdings gelingen «wärmebrückenfreie» Bauteilübergänge nur dank thermischen Speziallösungen. Auf Balkone will man nicht mehr verzichten; diese sind nun Teil eines selbsttragenden Anbaus und vom Hauptgebäude statisch und thermisch entkoppelt.

Dennoch setzt sich das Dilemma zwischen offener und geschlossener Bauweise ungeachtet der besseren Materialien fort. Sinnbildlich dafür steht das Fenster, das wohl am stärksten vom technischen Fortschritt profitiert: Die Fenster der ersten Minergie-Häuser haben mit den heutigen Produkten wenig gemein. Damals waren sie zweifach verglast; heute ist Dreifachverglasung mit Neongasfüllung der übliche Minimalstandard. Der Wärmedurchlass dieser transparenten Bauteile hat sich in den letzten zwanzig Jahren halbiert.

Zwar ist dieser Qualitätssprung auch ein Gewinn für die architektonische Freiheit beim Entwerfen energieeffizienter Häuser; zudem erlauben grössere Fensterflächen ein Plus beim Tageslichtkomfort. Aber dadurch wird ein Teil des energetischen Gewinns mit dem Wärmeschutzfenster wieder zunichtegemacht; in ähnlichen Fällen spricht man vom Reboundeffekt: Bessere Technologien sind zwar effizienter, verführen aber meistens zur Ausweitung des absoluten Nutzungsumfangs.

Und ein zu unbedarfter Zuwachs des Glasanteils an einer Gebäudefassade birgt weitere, energetisch schwer abschätzbare Unsicherheiten: Wenn das Klima, wie in den nächsten Jahrzehnten erwartet, wärmer wird, bieten die heute derart transparent konzipierten Gebäudehüllen, trotz beeindruckend niedriger U-Werte, dereinst wenig Schutz vor sommerlicher Überhitzung.

Die Komfortfrage: zu viel oder zu wenig?

Die Lernkurve des energieeffizienten Bauens ist weit vorangekommen; doch der einfach gestrickte Wärmeschutzpullover erfüllt die Anforderungen längst nicht mehr: Das Gebäude ist nicht nur sparsamer, sondern auch zu einer leistungsfähigen, aber fragilen Klimakapsel geworden. Jedes Wohn- oder Geschäftshaus hat den wechselhaften äusseren Witterungsbedingungen ein stabiles internes Behaglichkeitsniveau gegenüberzustellen.

Die staatliche Regulierung des Wärmedämmperimeters hat nun ein komplexes Deklarationssystem, bestehend aus vielfältigen energetischen Wechselwirkungen hervorgebracht. Im verbindlichen Energienachweis spielen geografische Ausrichtung, Beschattung, Sonnenschutz, Fassadenabwicklung, Dämmung der Aussenwand, Speichermasse der Gebäudestruktur, Fensteranteil oder U- respektive g-Werte von Fensterglas eine wichtige Rolle. Und auch die Nutzungsphase muss in abstrahierter Form, etwa im SIA-Normenwerk, abgebildet werden können.[3]

Trotzdem darf nicht vergessen gehen: Man kann weder alles im Voraus definieren, noch lassen sich sämtliche Probleme, Unsicher­heiten oder Risiken im Hochbau den verschärften Energiestandards in die Schuhe schieben. Auch die vielen Revisionsrunden beim Brand- und Lärmschutz stellen jedes Mal neue Herausforderungen dar, die untereinander sogar neue Zielkonflikte verursachen können.

Umso dringender ist zu überlegen, welche Leistungen ein standortgebundenes Gebäude überhaupt erbringen kann. Da die früheren Minergie-Sonderregeln inzwischen gesetzlicher Minimalstandard sind, wäre eine interne Koordination der vielen Einzelanforderungen zwingend angebracht. Die Zeit dafür drängt: Bis 2020 wollen die Kantone ihre eigenen Energievorschriften den aktuellen Minergie-Werten anpassen, zumindest was den Wärmeschutz betrifft.

Dessen ungeachtet sind weitere Pendenzen zu erledigen, will man die Gesamtenergieeffizienz eines Gebäudes verbessern. Seinerseits hat der Trägerverein letztes Jahr den Kurs bereits korrigiert. Der neue Fokus richtet sich auf eine (auch selbstverschuldete) Hypothek: Während der Konsum von Wärme sinkt, steigt derjenige von elektrischer Energie. Denn auf eine Heizung oder einen Kamin möchte man im Prinzip verzichten; aber umso wichtiger wird der Stromanschluss.

Mechanisch belüftet ist zum Beispiel jedes Minergie-Haus; auch der Anteil der Wärmepumpen ist in zertifizierten Objekten besonders hoch. Der erneuerte Minergie-Standard bezieht sich deshalb nicht länger auf den Konsum von Wärmeenergie für Heizung und Warmwasser, sondern zählt nun auch den Elektrizitätsverbrauch der Haushalte mit. Ungelöst sind jedoch auch hier zentrale Fragen zum Verhalten und zu den Ansprüchen der Benutzer respektive der Transfer solcher Informationen in normierte Planungsdaten.

Ein Minergie-Haus steht für die Option, ein ausgeglichenes Temperaturniveau im Sommer und Winter sowie einen stets kontrollierten Luftwechsel mit limitiertem Betriebsenergieaufwand anbieten zu können. Allerdings weiss man inzwischen, dass sich dasselbe Behaglichkeitsniveau auf unterschiedliche Weise, mit hohem technischem Aufwand oder mit ressourcenschonenden Low-Tech-Konzepten erreichen lässt.

Wo liegt nun aber der goldene Mittelweg, der die gegensätzlichen Strategien verbinden kann? Abermals sieht sich die Bauforschung mit Grundsatzfragen konfrontiert. Lau­teten sie vor 30 Jahren: Hat es zu viel oder zu wenig Energie, müssen wir sie einfangen oder einsperren?, so heisst es nun: Funktioniert es besser mit mehr oder mit weniger Komfort? Der Energieeffizienztest ist für die Architektur also noch nicht ausgestanden.

Die Prüf­kriterien sind aber nicht mehr die Bauphysik, der Dämmperimeter oder die Gebäudehülle, sondern der Zielkonflikt zwischen Ressourcenaufwand und Nutzungskomfort. Das Problem mit der Ökoverpackung reduziert sich inzwischen auf die Gestaltungsfrage: Gefällt sie, oder befindet man sie als unpassend? Aber der Inhalt, der zur nachhaltigen Nutzung passt, ist nun zu definieren.


Anmerkungen:
[01] Eine Geschichte der Niedrigenergiehäuser bis zum Passivhaus. Institut Wohnen und Umwelt 1996.
[02] Energieplanungsbericht 2017. Regierungsrat Kanton Zürich.
[03] Grundlagen zur Wirkungsabschätzung der Energiepolitik der Kantone im Gebäudebereich. CEPE ETH Zürich 2008.

TEC21, Fr., 2018.08.10

10. August 2018 Paul Knüsel

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