Editorial

Die allererste technische Norm, die der Schweizerische Ingenieur- und Archi­tektenverein herausgab, betraf Backsteinformate. Sie erschien 1883 und markierte den Beginn jener praxisorientierten Normierungstätigkeit, die das Schweizer Bauwesen bis heute prägt.

Dass die erste SIA-Norm ausgerechnet dem Back­stein gewidmet war, ist kein Zufall. Konstante Masse und kompatible Formate sind eine Grundvoraussetzung, sollen die Steine auch an Orten Verwendung finden, wo andere Regeln gelten als die im Umfeld der Ziegelei gelebten Traditionen. Jahrhundertelang war das kein Thema, Material wurde meist lokal verbaut.

Doch im 19. Jahrhundert änderte sich alles. Die Eisenbahn machte es möglich, Backstein über weite Strecken zu transportieren. Und die Nachfrage stieg: In atemlosem Tempo errichtete man imposante Industrieanlagen – oft aus Backstein, denn das feuer- und witterungsbeständige Material eignete sich gut für Bauten, in denen mit Feuer, Wasser und scharfen Chemikalien hantiert wurde. Auch formal passte Backstein geradezu ideal: Normiert und kleinteilig wie ein Zahnrad verkörperte er die Effizienz des Maschinenzeitalters; zu monumentalen Gebilden gefügt feierte er den sozialen Aufstieg der Industriebarone.

In den vergangenen Dekaden haben sich fast alle gründerzeitlichen Fabrikationshallen geleert. Viele mussten Neubauten weichen. Einige wurden erhalten und transformiert – aus Wertschätzung, aus Spargründen oder um ein Entwicklungsgebiet mit historischer Würde zu veredeln. Letztere Strategie exemplifiziert das Hamel-Gebäude in Arbon: Das schön restaurierte Denkmal bildet den glanzvollen Auftakt zu einem Neubaugebiet.

Judit Solt

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Ausschreibungen und Preise | Solot­hurner Schule

12 PANORAMA
Bodenhaftung für den Friesenberg | Regeln der Baukunde oder Bau-Un-Kultur?

15 ESPAZIUM – AUS UNSEREM VERLAG
SIA-Masterpreis 2017

16 FIRMEN UND PRODUKTE / WEITERBILDUNG
Im besten Licht | ­Aktuelles aus der ­Baubranche

18 SIA
Der Einfluss digitaler Akteure wächst | Das zukünftige Erbe | Sich dem Wandel stellen

22 VERANSTALTUNGEN

THEMA
24 HAMEL-GEBÄUDE, ARBON

24 INDUSTRIELLE PRACHT
Judit Solt
Pfister Schiess ­Tro­peano & Partner haben das Industriedenkmal umgebaut.

31 «DAS KONZEPT WURDE DAUERND HINTERFRAGT»
Judit Solt
Hauke Möller, Co-Projektleiter seitens der Architektur, spricht über historische Backsteine und das spannungs­volle Verhältnis von Alt und Neu.

32 IM STRUDEL DER GESCHICHTE
Judit Solt
Aufstieg, Fall und gebautes Erbe eines Industriebarons.

AUSKLANG
34 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Industrielle Pracht

Das Hamel-Gebäude wurde 1907 als Stickereifabrik erbaut. Pfister Schiess Tropeano & Partner haben das Industrie­denkmal mit viel Feingefühl transformiert. Heute dient es als Wohn- und Geschäftshaus, als Verkehrsknotenpunkt – und als edle backsteinerne Visitenkarte für ein neues Quartier auf dem Saurer-Areal in Arbon.

Es war das letzte Gebäude, das der Stickereibaron Arnold Baruch Heine 1907 auf seinem Fabrikationsgelände in Arbon errichtete – ein feingliedriger Beton­skelettbau, eingespannt in massive Backsteinfassaden mit grossen, in leichtem Grauton gestrichenen Fenstern. Die oberirdische Tragkonstruktion aus Stahlbeton war ebenso innovativ wie die unterirdische Fundation: Um das riesige Volumen im feuchten Untergrund am Bodenseeufer zu stabilisieren, war das Untergeschoss als dichte Waben­struktur aus Stampfbeton ausgebildet; bei Hochwasser wurden die Kammern geflutet, und sie leerten sich, wenn sich das Wasser wieder zurückzog.

Das Gebäude war in jedem Sinn des Wortes das Flaggschiff für ein boomendes Unternehmen, von dem fünf Jahre später nicht mehr übrig blieb als Millionenschulden, unverkaufte Lagerbestände und ein Gebäudepark, den sich die Gläubiger zähneknirschend aufteilten.

Das Gebiet als Ganzes wurde als Saurer-Areal bekannt. Nach dem Ende der industriellen Nutzung und weiteren Handwechseln wird das Gelände nun als multifunktionaler Stadtteil neu entwickelt. Doch der letzte Bau der Stickerei-Hochblüte, nach einem vormaligen Besitzer heute als Hamel-Gebäude bekannt, fungiert weiterhin als repräsentativer Auftakt.

Direkt am Bahnhof Arbon gelegen und durch eine neue Unterführung an diesen angeschlossen, bildet es das Tor zum Stadtteil, das nach dem Untergang vieler bestehender Bauten gegenwärtig aus dem sumpfigen Boden gestampft wird. Als einer der wenigen erhaltenen Zeitzeugen soll das Hamel-Gebäude dazu beitragen, die Identität des Neubaugebiets mit der Pracht aus der industriellen Blütezeit zu veredeln – ähnlich, wie dies heute an vielen ehemals industriellen Standorten geschieht, etwa auf dem Sulzer-Areal in Winterthur.

Historischer Auftakt für Neubaugebiet

Zwei unter Denkmalschutz stehende Bauten spannen das Saurer-Areal von Nord nach Süd auf: das Hamel- und das Arbomec-Gebäude (Erläuterungen zum Arbomec-Gebäude vgl. Kasten unten); die Webmaschinenhalle und das Presswerk stehen ebenfalls unter Schutz. HRS Real Estate, die das Gebiet als Totalunternehmerin entwickelt, beauftragte Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten aus Zürich, den Umbau der beiden sensiblen Bauten zu projektieren. Beim Hamel-Gebäude haben die Architekten auch die Ausführung geplant, beim Arbomec-Gebäude haben sie diese als Vermittler zur Denkmalpflege begleitet.

Trotz Nutzungswechseln und Umbauten in den 1970er-Jahren war die vormalige Pracht des Hamel-Gebäudes weitgehend erhalten. Die Westfassade war wegen eines Anbaus zwar nicht mehr sichtbar, aber vorhanden: Man hatte das neue Volumen an den Bestand angedockt und die Backsteinfassaden verputzt. Die ursprünglichen feingliedrigen Holzfenster waren zum Teil noch da. Aufgrund der grosszügigen Raumhöhen und Fensterformate – für die Stickereiproduktion war gute Belichtung nötig – liessen die Räume unterschiedliche Nutzungen zu; der Skelettbau ermöglichte eine flexible Grundrissdisposition. Entsprechend vielfältig wird der Bau heute bespielt.

Zusammen mit den Bauherren, den Haustechnikern und der Denkmalpflege haben die Architekten die Planungsziele erörtert und Lösungen entwickelt. Sie entfernten die nachträglichen Anbauten und führten den Bau auf das Volumen von 1907 zurück – dies erwies sich als ökonomisch vertretbar, weil die zu Planungsbeginn noch gültige Brandschutzverordnung sonst ein zusätzliches Treppenhaus verlangt hätte.

Ein Teil des Erdgeschosses ist als offene Halle ausgestaltet, in der Aussenklima herrscht und die man von zwei Seiten über Arkaden betritt; auch die Bahnhofsunterführung mündet hier. Diese Ebene dient als Einkaufspassage mit Post, Coop-Filiale, Coiffeursalon, Optik- und Hörgeräte-Fachgeschäft, Chocolaterie, Fotostudio, Fitness- und Gesundheitszentrum und Klinik. Dennoch hat sie einen öffentlicheren Charakter als vergleichbare bahnhofsnahe Einrich­tungen, zum einen wegen der allseitigen Offenheit und zum anderen dank der räumlichen Grosszügigkeit, die eine Markthalle evoziert.

Die Materialisierung wirkt wohltuend neutral, die nüchterne Tragkonstruktion wurde freigelegt. Eigens entwickelte Lampen, inspiriert von den Leuchten der ehemaligen Stickereisäle, setzen warme Kontrapunkte. Sie unterstreichen, dass die Halle auch als Empfangsraum fungiert: Über die bereits vorab neu gebaute Unterführung – die einen beträchtlichen Eingriff ins Untergeschoss erfordert hatte – gelangt man vom Bahnhof direkt ins Gebäude und von dort ins neue Quartier. Die Halle ist gut frequentiert; nur in den hinteren Bereichen stehen noch Verkaufs­lokale leer – wenig erstaunlich angesichts der Tatsache, dass die Einkaufspassage einem Stadtteil mit rund 1000 Einwohnern und Hunderten von Arbeitsplätzen dienen soll, der aber erst im Entstehen begriffen ist.

Restauriert, ergänzt, gepflegt, gesichert

Im ganzen Hamel-Gebäude sind die Spuren der Ver­gangenheit spürbar – ebenso wie die grosse Sensibilität, mit der die Architekten diese freigelegt und ins Projekt integriert haben. Wo möglich, wurden die ursprünglichen Fenster erhalten. Knapp ein Dutzend der 130 Fens­ter konnten restauriert werden, die anderen wurden nachgebildet. Sämtliche Fenster sind mit einer Zweifachverglasung versehen. Eine Dreifachverglasung lehnte der Investor ab, weil die Denkmalpflege die finan­zielle Unterstützung verweigert hätte.

Die Backsteinfassaden waren meist in gutem Zustand. Nur auf den Westseiten des Kopfbaus und des zweigeschossigen Längsbaus, wo die Anbauten aus den 1970er-Jahren entfernt wurden, hatten die Oberflächen gelitten: Die Backsteine und der nachträglich angebrachte Putz hatten einen Verbund gebildet, sodass die Steine beim Entfernen des Putzes Schaden nahmen; sie wurden hydrophobiert und wo erforderlich ersetzt. Das Gebäude erhielt eine Innendämmung. Um die historische Bausubstanz nicht weiter zu tangieren, haben die Architekten die Technikzentrale auf dem Dach des Längsbaus platziert.

In den drei Obergeschossen des Kopfbaus sind 16 loftartige Mietwohnungen eingebaut, wobei die Eingriffe in die Substanz – bis auf den Einbau von Steigzonen – möglichst gering gehalten wurde. Auch hier blieb die Tragkonstruktion sichtbar und mit industriell anmutenden, aber sorgfältig behandelten Materialien für den Innenausbau kombiniert. Als Sonnenschutz dienen leinenfarbige Stoffmarkisen, wie man sie aus alten Schulhäusern kennt. Die Wohnungen haben keine Balkone; das Dach wurde zu einer kollektiv genutzten Terrasse mit Seesicht transformiert. Die ursprüngliche Dachkrone aus Sichtbeton mit Backsteineinsätzen wurde nach historischen Profilplänen neu gebaut – erstaunlicherweise nicht vorfabriziert, sondern vor Ort geschalt und gegossen.

«Bei diesem Projekt gab es vier grosse Herausforderungen», berichtet Hauke Möller, zusammen mit Rita Schiess Projektverantwortlicher seitens der Architekten. «Erstens galt es, die Leistungsfähigkeit des Tragwerks zu ermitteln und zu sichern; zweitens zog die bereits gebaute SBB-Unterführung, die wie ein Torpedo die heiklen Fundationen des vierstöckigen Hamel-Kopfbaus bedrängte, einige räumliche, technische und finan­zielle Folgen nach sich; drittens wollten wir die Ganzheit des Gebäudes trotz flexibler Nutzung be­wahren; und viertens sollten attraktive Wohnungen entstehen.»

Dies ist gelungen. Heute, fast zwei Jahre nach Fertigstellung, fallen die hochwertigen Details und Materialien des Hamel-Gebäudes wohltuend auf – nicht nur in der zurzeit in Transformation befindlichen, von Staub und Baustellenlärm gesättigten Umgebung, sondern auch im Vergleich mit ersten Neubauten.

TEC21, Fr., 2018.05.25

25. Mai 2018 Judit Solt

«Das Konzept wurde dauernd hinterfragt»

Zur Restaurierung des Hamel-Gebäudes in Arbon sprach Judit Solt mit Hauke Möller, Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten.

TEC21: Herr Möller, woher stammten die Backsteine, mit denen das Hamel-Gebäude ursprünglich gebaut wurde?
Hauke Möller: Unser Bauleiter Christian Witzig aus Kreuzlingen berichtete während der Bauphase: «Die Backsteine kommen mit grösster Wahrscheinlichkeit aus der Ziegelei Noppelsgut in Kreuzlingen, damals noch Emmishofen. Dies erzählte mir der alte Baumeister Rolf Uhler aus Kreuzlingen, dessen Grossvater an­scheinend den Hamel gebaut hat. Damals gab es keine Lkw, man such­te Transportwege für das Material an den Eisenbahnlinien – und die Eisenbahnlinie Kreuzlingen–Arbon existierte schon. Die Ziegelei brannte 1917 ab und wurde nicht wieder auf­gebaut. Heute existiert nur noch der Ziegeleiweiher, aus dem seinerzeit der Ton für die Ziegel gewonnen wurde. Noch heute stehen in Kreuzlingen einige Gebäude aus diesen Steinen. Der Besitzer hiess Thomas Würtenberger; seine beiden Söhne wurden relativ bekannte Künstler und hatten kein Interesse, die Ziegelei zu übernehmen.»

TEC21: An der Westfassade mussten teilweise neue Steine eingesetzt werden. Wo kommen diese her?
Hauke Möller: Es handelt sich um Spezial­anfertigungen, also um einen Sonderbrand, angefertigt durch Firma Keller Ziegeleien im Werk Frick. Die bestehenden Fassadensteine wurden hinsichtlich Qualität und Far­be analysiert; anschliessend hat man einige Musterriemen im Labor erstellt und vor Ort geprüft. Vom Favoriten wurden einige Steine an einer beschädigten Stelle in den bestehenden Mauerverband eingemauert, bemustert und freigegeben, unter anderem auch durch das Amt für Denkmalpflege.

TEC21: Worauf mussten Sie besonders achten?
Hauke Möller: Eine Schwierigkeit bei der optischen Beurteilung der neuen Steine ist, dass die alte Oberfläche sich nach über 100 Jahren Witterungseinflüssen und teils mechanischer Beanspruchung stark vom rekonstruierten Ursprungsstein unterscheidet. In solchen Fällen wählt man häufig eine dunklere, quasi vorpatinierte Oberfläche, um die Patina der Originalsubstanz zu imitieren. Im Gegensatz dazu haben wir uns entschieden, die Unterschiede zwi­schen Alt und Neu zu zeigen.
Eine weitere Herausforderung war die Angleichung des Fugenbilds: Die ursprünglichen Steine wurden sehr viel handwerklicher produziert und variierten stärker in den Grössen, was mit den Fugenbreiten ausgeglichen wurde. Daher galt es, ein durchschnittliches industriell gefertigtes Steinformat zu finden – eine Gratwanderung, denn die Fugen wirken schnell zu breit oder zu schmal. Das Fugenmaterial wurde vor Ort per Hand abgemischt: 16 Teile gewaschener Sand 0 bis 4 mm, 5 Teile hydraulischer Kalk, 2 Teile Zement.

TEC21: Weshalb wurden die beschädigten Steine hydrophobiert?
Hauke Möller: Wir hatten es hier nicht mit einem zweischaligen Mauerwerk zu tun, in dem die Feuchtigkeit in der Hinterlüftungsebene abtrocknen kann. Deshalb bestand die Gefahr, dass das Mauerwerk an den beschädigten Stellen Wasser zieht; insbesondere wurde die harte, schützende Ober­fläche, die beim Brennen der Steine entsteht, durch den Freilegungsprozess an vielen Stellen beschädigt. Der mine­ralische, atmende Wandaufbau mit neuer mineralischer Innendämmung wurde daher an bestimmten Aussen­flächen mit einer hydrophoben, dampfdurchlässigen Schutzlasur versehen.

TEC21: Kann man eine so differenzierte Intervention in die historische Sub­stanz überhaupt planen?
Hauke Möller: Man muss sich die gesamte Fassadensanierung als eine Planung in Etappen vorstellen, Hand in Hand mit der Bauleitung bzw. Ausführung vor Ort koordiniert. Dabei gab es viele unbekannte Faktoren; nach den einzelnen Fassadenrückbauten und Freilegungen mussten wir die vorgefundene Situation unter Beiziehung der erforderlichen Fachspezialisten neu beurteilen. Zunächst haben wir den Zustand und die Massnahmen in Form von detaillierten Ansichtszeichnun­gen «kartiert». Mithilfe dieser Zeichnungen wurden die Massnahmen unter Berücksichtigung der Projektziele festge­legt; das zuvor erstellte Restaurierungskonzept wurde dabei immer wieder hinterfragt und, wenn erforderlich, in eine neue konzeptionelle Richtung gelenkt.

TEC21, Fr., 2018.05.25

25. Mai 2018 Judit Solt

Im Strudel der Geschichte

Die Entstehung des Hamel-Gebäudes fällt in eine bewegte, von dramatischen Umbrüchen erschütterte Zeit. Der Bauherr war der deutsche Stickereibaron Arnold Baruch Heine. Auf Vermittlung von Adolph Saurer, der sich als Bevollmächtigter in der Bürgergemeinde für den Verkauf eingesetzt hatte, erwarb Heine 23 000 m² Riedland südlich der St. Gallerstrasse in Arbon. Ab 1898 errichtete er in atemberaubendem Tempo die weltweit zweitgrösste Stickerei­fabrik (Feldmühle Rorschach war die grösste): Noch im selben Jahr ratterten in den neuen Werkhallen die ersten hundert Saurer-Stickmaschinen.

Kurzlebiges Imperium

Weitere Bauten folgten, darunter auch das Hamel-Gebäude, das 1907 als letzte Etappe nach einem Entwurf des St. Galler Architekten Wendelin Heene fertiggestellt wurde. Bald beschäftigte Heine 2200 Mitarbeiter und ebenso viele Heimarbeiter. Doch auf den rasanten Aufstieg folgte jäh der Fall. Das Geschäfts­jahr 1909/10 wies einen Verlust von 3 Millionen Franken aus; es gab unverkaufte Lagerbestände in Millionenhöhe. Der Schweizerische Bankverein als Hauptgläubiger des Unternehmens entzog Heine das Prä­si­dium des Verwaltungsrats und die Geschäftsleitung. Eine Aktionärsgruppe regte eine Strafklage an, und Heines Privatvermögen wurde blockiert.

Bankpräsident und Direktor auf der «Titanic»

Heine reagierte prompt. Er setzte sich Anfang April 1912 aus Arbon ab und schiffte sich in Southampton auf dem Dampfer «Carpathia» nach New York ein. Zwei hochrangige Gläubigervertreter – Alfons Simonius, Präsident des Bankvereins, und Max Staehelin, Direktor der Schweizerischen Treuhandgesellschaft – nahmen die Verfolgung auf. Da es ihnen nicht gelang, den Flüch­tigen rechtzeigig einzuholen, bestiegen sie den nächsten Dampfer: die «Titanic», die am 10. April in Southampton zur Jungfernfahrt nach New York auslief.

Die «Titanic» kam bekanntlich nie in New York an, doch die beiden Verfolger hatten Glück. Sie überlebten den Un­tergang und wurden gerettet. Zuflucht ­fanden sie ausgerechnet auf der «Car­pathia», die als erster Dampfer am Unglücksort eintraf. Was sich auf hoher See zwischen den drei Herren ereignete, ist nicht bekannt. Die spätere Prüfung der Geschäftsbücher des Unternehmens ergab indes keine belastenden Ergebnisse, die eine Strafverfolgung gerechtfertigt hätten, und auch Heines Privatkonten wurden freigegeben.

Umbauten, Handwechsel, Zwischennutzungen

Später ging das Gebäude in den Besitz von Herrmann und Edmund Hamel aus Chemnitz über. Diese gründeten 1923 die Carl Hamel AG Arbon und nutzten das Hamel-Gebäude, wie es nun genannt wurde, als Fabrik- und Verwaltungs­gebäude. In den 1970er-Jahren folgten unterschiedliche Um- und Anbauten. 1988 erwarb der Saurer-Konzern die Liegenschaft. Die Stadt Arbon kaufte sie 2009 und verkaufte sie 2013 an die HRS Real Estate weiter, die sie als Total­unternehmerin entwickelte. Die St. Galler Pensionskasse erwarb das Hamel-Gebäude 2015 von der HRS samt dem Projekt für eine Nutzung als Einkaufs-, Wohn- und Verkehrsstandort.


[Die Details zu Heines Abenteuern basieren auf folgendem Artikel:
«Verfolgungsjagd auf der Titanic», in: St. Galler Tagblatt, 7. April 2012.]

TEC21, Fr., 2018.05.25

25. Mai 2018 Judit Solt

4 | 3 | 2 | 1