Editorial
Wer bestehende Bauten sinnvoll erneuern und erweitern will, muss die Qualität des Vorhandenen erkennen und die Herausforderung annehmen. Denn Weiterentwickeln und Weiterbauen sind oft anspruchsvoll und mit hohem planerischem Aufwand verbunden. Fragen zu Schadstoff- und Energiesanierung, Standsicherheit, Gebäudeschäden und dem baulichen Brandschutz müssen zuvor geklärt werden. Weist die Bausubstanz genügend Potenzial auf, um erweitert zu werden, ist der Stahlbau eine attraktive Möglichkeit, die bestehende Substanz mit einer schnellen und gewichtsreduzierten Bauweise zu ergänzen.
Am Beispiel einer Werkhalle in Gwatt bei Thun zeigt sich, dass auch unkonventionelle Wege zu überzeugenden Ergebnissen führen können. Die Tragstruktur der bestehenden Halle wies so hohe statische Reserven auf, dass Furrer Jud Architekten neue Gemeinschaftsräume als Einbau in die bestehende Stahlkonstruktion einhängen konnten. Mit einigen wenigen Interventionen ist so ein harmonisches Gesamtbild von Alt und Neu entstanden.
In Genf haben Burrus Nussbaumer Architectes ein Haus aus den 1950er-Jahren saniert, aufgestockt und mit einprägsamen neuen Fassaden versehen. Wie die Kombination des alten Gebäudes mit einer Stahl-, Holz- und Betonkonstruktion demonstriert, eignet sich Stahl auch für den Einsatz in Hybridbauweisen.
Franziska Quandt
Inhalt
AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Mehr Grün für Basel
11 PANORAMA
Neue Bücher | Rotterdam baut
15 VITRINE
Bitte Platz nehmen!
17 SIA
BIM über alles? | Aus Tradition dem Nitty-Gritty verpflichtet | Normprojekt zur Elektromobilität | BIM im Praxis-Check | Drei Fragen zur Tagung
22 VERANSTALTUNGEN
THEMA
24 STAHL: EINGEHÄNGT UND AUFGESTOCKT
24 HÄNGENDE RÄUME
Clementine Hegner-van Rooden, Franziska Quandt
Die Mitarbeitenden einer Firma sollten attraktive Gemeinschaftsräume bekommen. Furrer Jud Architekten haben mit dem Bauingenieur Dr. Uwe Teutsch von Tragstatur eine Werkhalle nach innen verdichtet.
30 ZWEITES LEBEN
Philippe Morel
Burrus Nussbaumer Architectes erneuer-ten zusammen mit den Bauingenieuren von Ingeni ein Mehrfamilienhaus in Genf mit einer Aufstockung als Hybridbau aus Stahl, Holz und Beton.
AUSKLANG
34 STELLENINSERATE
35 IMPRESSUM
38 UNVORHERGESEHENES
Hängende Räume
In die bestehende Tragstruktur einer Firmenhalle haben Furrer Jud Architekten eine gestapelte Raumsequenz eingehängt, um neue Gemeinschaftsräume für die Mitarbeitenden zu schaffen. Das nötige Tageslicht gelangt durch eine transparente Fassadendecke ins Innere der mehrheitlich geschlossenen Halle.
Umbauten steigern den Wert einer Immobilie und verbessern oft die Aufenthaltsqualität für die Nutzer. Auch bei Indus–triegebäuden sind Umbauten an der Tagesordnung. Dabei geht es nicht immer nur um die Verbesserung der Arbeitsabläufe. Beim Umbau einer Werkhalle für eine Firma im Fahrleitungssektor in Gwatt bei Thun stand das Wohl der Mitarbeiter im Zentrum. Auf dem Gelände sollten ein Schulungs-, ein Aufenthalts- und ein Garderobenraum entstehen, für deren Umsetzung die Bauherrschaft Furrer Jud Architekten direkt beauftragte.
Hoch gestapelt
Schon zu Beginn der Planung wurde klar, dass eine Erweiterung auf dem freien Gelände des Firmenareals den vorherrschenden Werkverkehr stark beeinträchtigen würde. Also setzten sich die Architekten mit einer Ergänzung im Innern der bestehenden Werkhalle auseinander. Um die Arbeitsabläufe möglichst nicht zu behindern, sollte die Intervention allerdings wenig Verkehrsfläche der Halle besetzen. Eine Stapelung der Räume lag auf der Hand: die Garderobe im EG, der Schulungsraum im 1. OG und der Aufenthaltsraum im 2. OG. Besonders reizvoll erschien es den Architekten, den bestehenden Stahlbau zu nutzen und die neue Konstruktion in das vorhandene Tragwerk zu integrieren. Die statischen Abklärungen durch Dr. Uwe Teutsch, Bauingenieur und Inhaber von Tragstatur, stützten diesen Ansatz.
Integration und Anbindung
Der existierende Skelettbau der leicht gedämmten Halle zeichnet sich durch unterschiedlich starke Stützen und Riegel aus. In Querrichtung ist die «dreischiffige» Halle über Rahmenwirkung ausgesteift, in Längsrichtung durch Verbände in der Fassadenebene. In 6.24 m Höhe liegen in Längsrichtung der Halle Kranbahnträger auf Stützenkonsolen auf; die Laufkatze trug bis zu 20 t schwere Lasten von Bobinen und Fahrleitungsmasten.
In der südlichen Hallenecke, wo die Architekten den Raumstapel verorteten, wurde der Kran stillgelegt. Mit dieser Massnahme liess sich das statische Potenzial des überdimensionierten Tragwerks für den Einbau aktivieren. Die beiden Obergeschosse der neuen Sozialräume planten die Architekten als eine hybride und relativ leichte Konstruktion aus Stahl und Hohlkastenelementen aus Holz, die in die Kranbahn eingehängt wurde (14 t Stahl und 20 t Ausbaulasten). Alle Mehrlasten liessen sich über die bestehende Tragkonstruktion der Halle ableiten, da die Aufhängungen des Stahlkastens relativ nah am Auflager der Kranbahnschiene positioniert wurden. Eine zusätzliche Fundierung oder Verstärkung war nicht notwendig. Einzig die Kranbahnschiene entlang der Fassade wurde stellenweise an den Flanschen mit aufgeschweissten dünnen Blechen verstärkt.
Schwebende Kiste
Durch die heterogene Materialisierung des Einbaus – 2. OG silbergraues Profilblech, 1. OG dunkler Stahl und EG Sichtkalksandstein – treten das oberste und das unterste Stockwerk in den Hintergrund, sodass das stählerne Volumen in der Mitte im Raum zu schweben scheint. Zwischen dem gemauerten Sockel im EG und dem Stahl-Holz-Hybridbau darüber haben die Architekten eine 50 cm hohe Fuge belassen, die sie nur mit einer einfachen Verglasung schlossen. Die Fuge stärkt den schwebenden Eindruck des darüber angeordneten Körpers noch und gewährleistet gleichzeitig eine angemessene Belichtung der Umkleidekabinen mit Tageslicht.
Der fast schwarze Stahlkörper mit einer Höhe von 3.6 m, einer Breite von 9.5 m und einer Tiefe von 7.4 m ist als Hohlkasten ausgebildet und wird in Querrichtung durch die beiden raumhohen Stahlwangen ausgesteift. Sie bestehen aus einem Rahmen aus H-Profilen, der mit einem 5 mm starken, alle 1.8 m mit Rippen ausgesteiften Blech ausgefacht ist. In Längsrichtung wird die Aussteifung des Kastens durch eine Rahmenwirkung gewährleistet. Hierfür sind die Verbindungen der Stahlprofile in Längsrichtung des Kastens mit den Endpfosten der Seitenwände in Querrichtung biegesteif ausgeführt.
Diese Rahmenwirkung ermöglicht schliesslich die Vollverglasung der Vorder- und Rückseite des raumhohen Hohlkastens. Boden und Decke sind als Lignatur-Hohlkastenelemente ausgeführt, was die Konstruktion deutlich leichter macht als eine klassische Betonverbunddecke. Die Gewichtseinsparung ermöglichte es, die bestehende Kranbahn unverstärkt zu verwenden und eine schlanke, aber dennoch auffallende Aufhängung der vier Ecken der Gesamtkonstruktion an die Kranbahnträger – jeweils zwei konstruktive Aufhängedetails pro Kranbahn – zu realisieren.
Auf der zur Fassade gewandten Seite umfassen zu einer Lasche zusammengeschweisste Walz- und Blechprofile den Kranbahnträger. Auf der Seite zum Halleninnern haken sich die Walzprofile am Kranbahnträger ein. Die beiden geschlossenen Seitenwände des Kastens wurden mit der Aufhängung der einen Seite komplett in der Werkstatt verschweisst und auf die Baustelle geliefert. Die Verbindung der beiden Seitenwände mit den Längsprofilen des Kastens erfolgte auf der Baustelle durch Schraubverbindungen. Lediglich an vier Stellen im Bereich der Aufhängung des Kastens an den Kranbahnträger in Fassadenebene waren Baustellenschweissungen notwendig. Alle vier Lager sind mit einem schwingungsdämpfenden Elastomer ausgestattet, damit die Vibrationen, die durch die in den anderen Feldern der Halle befindlichen Laufkatzen entstehen, nicht in die Sozialräume übertragen werden.
Die oberen Räume werden über zwei Stahltreppen erschlossen. Die Lauffläche besteht aus Gitterrosten, die auf beiden Seiten des Stahlbaus auf Konsolen aufliegen und von den Profilen des raumhohen Hohlkastens auskragen. Im 1. OG sind die beiden Treppen über eine Art Laubengang verbunden.
Der Aufenthaltsraum im 2. OG erweitert sich über eine Aussentür zu einem neuen Balkon an der Aussenfassade der Werkhalle. Ähnlich wie eine Fensterreinigungs-Hängebühne am Dach befestigt ist, hängt auch der Balkon an einer Tragkonstruktion, die in der Dachebene verankert ist. Vier IPE-400-Profile stehen auf Vierkantrohren, die ihre Lasten auf die Querträger der bestehenden Dachkonstruktion der Halle abgeben. An diesen um 2.3 m über den Dachrand auskragenden Profilen hängen 3.75 m lange Zugstangen, die über eine Blechwange die Profile des Balkons abfangen. Die Thematik der aufgehängten Konstruktion zeigt sich somit nicht nur im Innern der Halle, sondern auch aussen.
Fassadenrhythmus bewahrt
Die Hallenfassade war bis anhin nahezu vollflächig mit einem Wellblech verkleidet. Lediglich auf Höhe des Erdgeschosses kam Licht durch ein durchlaufendes Fensterband in den Raum. Um nun auch die neuen Aufenthaltsräume mit Tageslicht zu versorgen, haben die Architekten den Eckbereich der Fassade auf einem Abschnitt von 11 × 15,7 m mit einer neuen Verglasung versehen. Auch die Dachhaut des Hallendachs musste in diesem Bereich erneuert werden, wobei die Tragkonstruktion unverändert und unverstärkt bestehen bleiben konnte. Die neue Pfosten-Riegel-Konstruktion korrespondiert farblich mit dem für den neuen Halleneinbau verwendeten Stahl, aber auch mit dem Rhythmus der alten, anschliessenden Fassade.
Die transformierte Hallenecke erscheint heute aufgefrischt, hell und transparent, dennoch ist sie als Teil des Bestehenden zu erkennen. Einer Apparatur oder einer grossformatigen Installation gleich fügt sich der neue Einbau als wichtiger Bestandteil wie selbstverständlich in und an die Werkhalle.
Anmerkung:
Dieser Artikel erschien bereits unter dem Titel «Neue Transparenz für eine Werkhalle» in steeldoc 01/18.TEC21, Fr., 2018.04.13
13. April 2018 Clementine Hegner-van Rooden, Franziska Quandt
Zweites Leben
Der Architekt Raphaël Nussbaumer nutzte eine Aufstockung, um ein Mehrfamilienhaus in Genf räumlich, optisch und auch in Bezug auf Wärmedämmung und Statik aufzuwerten. Gemeinsam mit den Bauingenieuren von Ingeni entwickelte er einen Hybridbau aus Stahl, Beton und Holz.
Als der Architekt Raphaël Nussbaumer vor dem Gebäude Nummer 9, avenue de Sécheron in Genf stand, beschloss er, diesem kleinen Wohngebäude aus den 1950er-Jahren ein zweites Leben zu schenken. Mit einer Sanierung und Aufstockung verbesserte er die räumliche Organisation, die Erdbebensicherheit, die Energiebilanz und das Erscheinungsbild des Objekts. Dies war möglich, da durch die geänderte Bebauungsordnung (L 5 05 – Loi sur les constructions et les installations diverses [LCI]) eine Nachverdichtung in die Höhe für mehr Wohnraum erlaubt wurde. Zudem befand sich das Gebäude im Familienbesitz des Architekten. So konnte er die Eingriffe präzise auf seine Bedürfnisse zuschneiden.
Im Zuge der Planung der drei zusätzlichen Stockwerke wurden auch die fünf Bestandsgeschosse aufgewertet. Die neue Nord- und Südfassade erhielten ein verjüngtes Gesicht, das sich selbstbewusst von den aneinandergereihten Nachbargebäuden abhebt. Die andersartigen Ansichten verleihen dem Gebäude eine starke Identität und ein einheitliches visuelles Erscheinungsbild über die insgesamt acht Stockwerke.
Zur Hofseite hin wurde mit Wintergärten ein überwiegend homogenes Fassadenbild geschaffen, während die optische Kontinuität auf der Strassenseite weitgehend auf das künstlerische Mitwirken von Karim Noureldin zurückzuführen ist. Dieses im Dialog zwischen Künstler und Architekt entwickelte Konzept soll eine Balance zwischen städtebaulicher Situation und Architektur schaffen. Der auf den Putz gestrichene Raster, Teil des Kunstkonzepts, bezieht sich auf die horizontale Fassadengestaltung der Nachbargebäude. Denn obwohl die Anzahl der Fenster in den Bestandsgeschossen von denen der Aufstockung abweicht, gelingt es durch den Raster, diesen Unterschied auf subtile, aber effiziente Art zu überspielen.
Multifunktionale Elemente
Die gewählten Lösungen übernehmen gleich mehrere Funktionen. Auf der Hofseite erhielten alle acht Geschosse einen vorgesetzten Wintergarten, um von der Südausrichtung zu profitieren. Die zuvor recht bescheidene Fläche der ursprünglichen Wohnungen wird so vergrössert, bietet den Bewohnern neue Nutzungsmöglichkeiten und erhöht den passiven Solareintrag. Die Wintergärten wurden als selbsttragende, am Bestand angedockte schlanke Stahlkonstruktion realisiert.
Auf der Nord- und Südseite verstärken Tafeln aus Brettschichtholz das Tragwerk des Gebäudes, das im bestehenden Teil aus rechtwinklig zu den Fassaden ausgerichteten Ziegelmauern besteht, die – gleich einem Kartenhaus – auf sehr dünnen Stahlbetondecken ruhen. Diese Holztafeln, die an der Mauerwerksfassade des Bestands und an den Deckenrandsteinen verankert sind, erhöhen die Standsicherheit des Gebäudes in Längsrichtung und verbessern seine thermischen Eigenschaften. Auf der Nordseite erhielten sie ein Wärmedämmverbundsystem in Putzausführung, nach Süden hin, in den temperierten Räumen der Wintergärten, nur einen Anstrich.
Hybride Aufstockung
Die drei neuen Geschosse der Aufstockung setzen sich aus verschiedenen, ineinander übergehenden Bauweisen zusammen. Es handelt sich um einen Stahl-Beton-Holz-Hybridbau. Der Betonkern übernimmt in Verlängerung des Bestandsgebäudes die aussteifende Funktion, während die peripheren Bereiche (Deckenübergang, Fassaden und Dachkonstruktion) in Holzbauweise ausgeführt sind – hauptsächlich aus Gründen der thermischen Optimierung. Um die neuen Auflasten auf dem vorhandenen Rohbau zu minimieren, wurde für das Tragwerk ein schlankes Stahlskelett als Lösung gewählt.
Aufgrund der acht Geschosse im Endzustand konnte ein Holzrahmenbau angesichts der Brandschutzanforderungen nicht bewilligt werden. Die auf das bestehende Mauerwerk aufgeständerte Stahlkonstruktion definiert den Raster für die Geschossdecken der Aufstockung. Die Stahlbauweise gewährleistet die Einhaltung der gesetzlichen Mindestabmessungen für die Raumhöhe und ermöglicht den Einbau zahlreicher Installationskanäle. Aus Brandschutzgründen ist diese Konstruktion unsichtbar unter den abgehängten Decken und in den Trennwänden verborgen. Die tragenden Systeme des Bestands- und des Neubaus unterscheiden sich durch ihre Baustoffe ebenso wie durch ihr statisches Prinzip. Sie sind wie die Fassaden eng miteinander verbunden und funktionieren komplementär.
Anmerkung:
Dieser Artikel erschien bereits unter dem Titel «Zweites Leben für ein Wohnhaus» in steeldoc 01/18. (Übersetzung aus dem Französischen: Anna Friedrich)TEC21, Fr., 2018.04.13
13. April 2018 Philippe Morel