Editorial

Der Skyscraper Index (1999) von Andrew Lawrence, ehemals wissenschaftlicher Direktor bei Dresdner Kleinwort Wasserstein, besagt, dass die höchsten Gebäude kurz vor Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs gebaut werden. Ob das auch auf Mailand zutrifft? In den ver­gangenen Jahren entwickelte sich die lombardische Hauptstadt stetig weiter nach oben. Unicredit Tower, Bosco verticale oder andere – man könnte den Eindruck erlangen, es gebe nur noch die eine Richtung des Bauens. Schon lang vorbei – genauer gesagt: seit 1959 das Pirelli-Hochhaus gebaut wurde – sind die Zeiten, als die Madonnina, die goldene Ma­donnen­statue in 108.5 m auf dem Dom, alles überragte. Muss es jedoch immer ein Hochhaus sein? Die Antwort ist nein. Dass auch mit anderen Strate­gien eine Nachverdichtung der Stadt geschaffen werden kann, zeigt das Projekt Feltri­nelli Porta Volta von Herzog & de Meuron.

Etwas höher als die umgebenden Bauten, aber eindeutig horizontal ausgedehnt, erstreckt es sich entlang dem ehemaligen Verlauf der spanischen Stadtmauer, schliesst eine bauliche Lücke Mailands und gliedert die Porta Volta baulich wieder in das Stadtgefüge ein.

Durch formale Referenzen an tradi­tionelle italienisch-lombardische Bauten sollen sich die neuen Baukörper harmonisch ins Stadtbild einfügen. Trotz dem internationalen Renommee des Basler Büros hat das Projekt relativ wenig mediale Aufmerksamkeit erhalten. Ist dies ein Indiz dafür, dass der Plan der Architekten aufgegangen ist? Den Skyscraper Index umgehen sie jedenfalls elegant.

Franziska Quandt, Peter Seitz

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Scholle im Häusermeer

10 PANORAMA
Baudynamik der besonderen Art | «La Distinction de l’Ouest» erstmals verliehen

13 VITRINE
Strahlende Schönheiten

15 SIA
Testplanungen: Wegleitung oder Merkblatt? | Lüftung in Wohnbauten | «Es geht um Graswurzelarbeit» | SIA-Form Fort- und Weiter­bildung

19 VERANSTALTUNGEN

THEMA
20 Neubau der Fondazione Feltrinelli

20 DIE WUNDE HEILEN
Alberto Caruso
Für die Fondazione Feltrinelli haben Herzog & de Meuron im Mailänder Stadtzentrum einen zweige­teilten Langbau errichtet, der eine Lücke in der bestehenden Häuserzeile schliesst.

26 VORHANG ZU BEI SONNENSCHEIN
Peter Seitz
Ausgedehnte mechanische Sonnenschutzsysteme unterstützen die Klimatisierung der Gebäude der Fonda­zione Feltrinelli.

Vorhang zu bei Sonnenschein

Mailand ist nicht gerade berühmt für seine Sonnentage. Ob die Nebel der Poebene oder Smog die Stadt in Grau hüllen: An etlichen Tagen im Jahr herrscht diesiges Wetter vor. Die grossen Glasflächen der Fondazione Feltrinelli machten einen aufwendigen Sonnenschutz trotzdem unumgänglich.

An die «cascine», die lang gezogenen, schmalen Bauernhäuser der Lombardei, soll der Neubau der Fondazione Feltrinelli gemäss den Architekten erinnern (vgl. «Die Wunde heilen»). Eine Betrachtung kann aber auch Assozia­tionen an Treibhäuser wecken, an denen in Italien wahrlich kein Mangel herrscht. Schliesslich sind die 14 249 m² Nutzfläche der Fondazione von 15 362 m² Glasfassade eingehüllt. Da die Gebäudeachse ungefähr von Südost nach Nordwest ausgerichtet ist, sind die lange Südwestfront mit ihrem aufgesetztem Satteldach und der westseitige, verglaste Giebel geradezu prädestiniert, als Sonnenfalle zu wirken. Was im Winter angenehm sein kann, schafft im Sommer klimatische Probleme.

Dementsprechend musste dem Sonnenschutz ein grosses Augenmerk gewidmet werden. Als äussere Hülle kam 10 mm Sonnenschutzglas zum Einsatz, das eine Selektivitätskennzahl von 1.9 und einen Gesamt­energiedurchlassgrad von 0.38 aufweist. Die innere Hülle der Fassade besteht aus Wärmedämmgläsern (low-E), die gleich­zeitig den Schallschutz verbessern. Je nach Ausrichtung der Fensterflächen wurden verschiedene Gläser kombiniert. Die so aufgebauten Glasflächen erreichen einen Ug-Wert von 0.9 W/m2K. Laut Glashersteller entspricht dies dem derzeit erreichbaren Wert einer Doppelverglasung. Niedrigere Werte liessen sich nur mit einer Dreifach­verglasung erreichen, was in anderen Ländern mittlerweile als Standard angesehen werden kann.

Abgeschirmte Scheiben im Süden

Von den 1224 Fenstern können 384 an der Südseite mit Storen aus Stoff vollständig abgeschirmt werden. Waren die rechteckigen Fenster der senkrechten Fassade noch standardmässig auszurüsten, bedurften die rautenförmigen Glasflächen des Satteldachs mancher Überlegung, wie sie wind- und wetterfest abgeschirmt werden können. Die Lösung des eigentlich zweidimensionalen Problems lag in der dreidimensionalen Anordnung der Storenrollen. Sie ragen aus der Glasebene heraus und sind an der Unterseite der umlaufenden Gesimse befestigt. Über eine Umlenkrolle werden die Stoffbahnen in die schräge Ebene des Dachs überführt.

An den obersten beiden Fensterbändern wurden keine aussenseitigen Storen angeordnet. Eine gewisse Beschattung des im Dachspitz liegenden Lesesaals wird durch grossflächige, innen liegende, luftig wirkende Vorhänge erreicht. Die grossen Glasflächen der Giebelseiten des Gebäudes können nicht abgeschirmt werden. Daher wurden hier Gläser mit einem Gesamtenergiedurchlassgrad von maximal 30 % eingebaut. Dies re­duziert das Risiko einer Überhitzung dieser Bereiche deutlich.

Sichtbare Betonflächen dominieren

Die Installationen der Heiz- und Kühltechnik, aber auch der Brandmeldeanlagen und anderer Gebäudetechniken musste sich den Wünschen der Planer nach grossen Flächen Sichtbeton unterordnen. Die Geschossdecken sind in Sichtbeton ausgestaltet. Mit je einer Länge von 40 m, bei einer Breite von 13 m und einer Stärke von 30 cm sind die Deckenplatten als Vollplatten ohne Nachspannelemente gebaut. Die um das Gebäude umlaufenden 15 cm starken Gesimse sind aus thermischen Gründen nur im Bereich der Stützen an die Geschossdecken angeschlossen und kragen etwa 1.40 m aus. Sie dienen zur Aufnahme der Sonnenschutz­einbauten in der Dachebene und können für ­R­einigungs- und Wartungsarbeiten benutzt werden.

Auch die paarweise angeordneten Stützen mit ihrer ungewöhnlichen dreieckigen Form sind passend zu den Geschossdecken in Sichtbeton erstellt. Zum Einsatz kam wie auch bei den oberirdischen Böden und Gesimsen ein Beton der Klasse C32/40. Im Querschnitt weisen die Stützen ein gleichseitiges Dreieck mit einer Kantenlänge von 70 cm auf. Aufgrund der benötigten Menge, eines effektiveren Bauablaufs und der hohen Anforderungen an die Erscheinung des Betons wurden die Stützen als Fertigelemente produziert und mit den in Ortbeton erstellten Geschossdecken verbunden.

Sehr wichtig für den gewünschten Ausdruck der ausgedehnten Sichtbetonflächen war neben den üblichen Anforderungen bezüglich der Vermeidung von Kiesnestern, Verfärbungen und Rostspuren die Verhinderung von Rissen. Gemäss Betonhersteller konnten die Rissbreiten auf 150 µm beschränkt werden und blieben damit weit unterhalb der geforderten Begrenzung auf 250 µm.

Gebäudetechnik weitgehend versteckt

Die Betondecken mussten sichtbar bleiben, um den Ausdruck der formal strengen Architektur aufrechtzuerhalten. Abgehängte Decken zur Aufname von technischen Installationen waren somit ausgeschlossen. Daher wurden nur Brandmelder und Lichtpunkte, aus energetischen Gründen mit LED-Technologie, in die Decken selbst eingelassen. Die Klimatisierungstechnik musste anderweitig Platz finden. Da jedoch auch der an den Fassaden verfügbare Raum mit der wechselnden Folge von dreieckigen Betonstützen und den Fenster­elementen stark zur architektonischen Wirkung beiträgt, musste die Klimatisierung möglichst unauffällig untergebracht werden.

Die Planer entschieden sich für den Einbau von Gebläsekonvektoren mit Primärluft­einlass, die sie vor der Fensterfront im Hohlboden ­versenkten. Die speziell für dieses Gebäude entwickelten Konvektoren besitzen ein 4-Rohr-System, das es ermöglicht, gewisse Gebäudeteile zu beheizen, andere hingegen gleichzeitig zu kühlen. Die ausgeprägte Südost-Nordwest-Ausrichtung des Gebäudes macht dies unter Umständen nötig.

Die Anordnung der Klimatisierungsgeräte unterhalb der geneigten Fensterflächen der Dachebene warf Fragen bezüglich des Komforts auf. Kalte Luft hätte durch den Rückprall von den geneigten Wandflächen zu unangenehmen Zuglufteffekten vor allem im Fussbereich führen können. Daher liessen die Planer beim Hersteller der Klimatechnik ein Teilmodell der geneigten Fassade mit eingebautem Konvektor im Massstab 1 : 1 untersuchen.

Klima dank Grundwasser

Die Kühl- und Wärmeleistung für die Gebläsekonvektoren wird über Grundwasserwärmepumpen bereitgestellt. Das hohe Grundwasservorkommen Mailands bot sich hierfür geradezu an. Neun Grundwasserbrunnen können, aufgrund der über das Jahr wenig schwankenden Temperatur des Fluids, eine konstante Leistung und genügende Kapazität für die Kälte- und Wärmegewinnung sicherstellen. Im Winter muss eine maximale thermische Leistung von 562.7 kW bereitgestellt werden. Die notwendige sommerliche Kühlleistung kann bis zu 1637.3 kW betragen.

Dank der Kombination aus Beschattung, geeigneten Gläsern und effektiver Klimatechnik konnten die Planenden für das Gebäude die Energieeffizienzklasse B erreichen. Das Gebäude verbraucht damit weniger als 75 kWh/m2a Energie und reiht sich zwischen den Minergie -P- und den Minergie -A-Kennzahlen für neu gebaute Verwaltungsgebäude ein (100 respektive 35 kWh/m2a). Zudem wurde dem Gebäude die LEED-Zertifizierung Silver bescheinigt. 256 t CO2 sollten so jährlich eingespart werden können, was etwa einer Menge von 100 000 l Heizöl entspricht.

TEC21, Fr., 2018.04.06

06. April 2018 Peter Seitz

Die Wunde heilen

Herzog & de Meuron zeigen mit dem Neubau für die Fondazione Feltrinelli in Mailand eine beispielhafte Lösung. Mit der grosszügigen architektonischen Geste und formalen Wiederholung der Tragstruktur schaffen sie Bezüge zur historischen Mailänder Architektur.

Nach dem kleinen Steinhaus im ligurischen Tavole (Stone House, 1985–1988) und dem hölzernen Pavillon an der Expo 2015 ist mit dem Sitz für die Fondazione Gian­giacomo Feltrinelli in Mailand das erste grössere Werk von Herzog & de Meuron in Italien entstanden. Der imposante Doppelbau steht im Norden des historischen Zentrums an der Porta Volta, wo einst die Mailänder Stadtmauer verlief. Gemeinsam mit einem bislang nicht realisierten Zwillingsbau am Viale Montenello soll die ehemalige Tor­situation ­wieder betont werden.

Weil der Standort archäologisch von Bedeutung ist, überwachte die Denkmalpflege die Aushubarbeiten, die volle zwei Jahre in Anspruch nahmen. Die eigentliche Bauzeit dauerte noch weitere zwei Jahre. Ende 2016 konnte die Fondazione Feltrinelli ihren neuen Sitz beziehen.

Heimat für 250 000 Bücher

Giangiacomo Feltrinelli gründete 1949 eine Bibliothek. 1974 wurde diese per Gesetz zu einer Stiftung transformiert. Heute zählt Feltrinelli zu den renommiertesten Verlagshäusern Italiens. Ihren bisherigen Sitz hatte die Fondazione im Stadtzentrum in der Nähe der Scala. Von den beiden neuen Gebäuden an der ­Porta Volta belegt sie das kleinere mit einem Drittel der Gesamtfläche. In das grössere ist Microsoft Italien eingezogen. Der Softwarekonzern ­richtete hier seinen neuen Hauptsitz sowie ein Technology Center mit Büroplätzen und Arbeitsräumen für Start-ups und Freelancer ein.

Zum Archiv der Feltrinelli-Stiftung gehören neben dem grossen Archiv mit 250 000 Büchern und 16 000 Zeitschriften fast 1.5 Millionen Manuskripte. Der Fokus liegt seit jeher auf der Geschichte, Themen zur Gleichberechtigung oder auf der Analyse von Interaktionsmodellen zwischen den Bürgern, ihren Rechten und ihren organisatorischen Vertretern. In dem fast 200 m langen und 32 m hohen Doppelgebäude gehört ein heller Lesesaal unter den verglasten Dachschrägen ebenso zum Raumprogramm wie Büros und Arbeitsräume. Im Erdgeschoss befinden sich eine grosse Buchhandlung und ein Café, die direkt von der Strasse her zugänglich sind.

Herzog & de Meuron haben seit 2008 an dem Projekt gearbeitet. Sie betrachten ihren Entwurf als eine Interpretation der Schlichtheit und räumlichen Grosszügigkeit der historischen Mailänder Archi­tektur und nennen Beispiele wie das Ospedale Maggiore (1456–1499, heute Sitz der Humanistischen Fakultät der Universität Mailand), die Rotonda della Besana (1695–1732), das Lazzaretto (1497–1508) und das Castello Sforzesco (1360–1370). Ausserdem sei das neue Gebäude der Fondazione Feltrinelli von den langen und linearen lombardischen Bauernhäusern inspiriert, an denen sich schon Aldo Rossi bei seinem Wohnbauprojekt im Quartier Gallaratese orientiert habe, teilt das Basler Architektenduo mit.

Wiederbelebte Brache

Der Neubau der Fondazione Feltrinelli befindet sich am Viale Pasu­bio, am nördlichen Rand einer Parzelle, die seit dem Zweiten Weltkrieg unbebaut und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich gewesen war. Mit dem Bauwerk schlies­sen Herzog & de Meuron eine Lücke in der bestehenden Häuser­zeile, sodass nunmehr ­ von der Piazza XXV Aprile mit der histori­schen Porta Garibaldi bis zum Piazzale Baiamonti mit der historischen Stadtmauer und der Porta Volta eine durchgehende Raumkante entstanden ist.

Bisher hatte der Viale Pasubio eine Ausnahme innerhalb des Mailänder Ringsystems gebildet, da die Strasse nur auf einer ­Seite ­dicht bebaut war. Das neue Stiftungsgebäude ­auf der Süd­seite des Viale Pasubio ergänzt nun das ­kompakte Mailänder Stras­senbild und schafft neue ­Angebote ­für einen intensiven Publikumsverkehr. ­Auf der anderen Parzellenseite sorgt eine lang gezogene Grünfläche für Abstand zwischen dem Gebäude und dem verkehrsreichen Viale Francesco Crispi, der zum Umfahrungsring Cerchia dei Bastioni gehört.

Wiederholung als Basis

Neben der räumlichen Grosszügigkeit bildeten Überlegungen zu Struktur und Wiederholung eine wichtige Grundlage des architektonischen Konzepts. Ein Beispiel dafür ist die Tragstruktur: Sie besteht aus regelmässig angeordneten Aussenstützen und aussteifenden Kernen, in denen Treppen, Aufzüge und Sanitärräume unter­gebracht sind. Das Bild der lang gestreckten Seiten­fassaden ist durch diese Stützen und die sich konsequent wiederholenden Gesimse geprägt. Die kurzen, vollständig verglasten Vorder- und Rückfronten nehmen die Rasterung der Seitenfassaden auf.

Mit diesen stilistisch einfachen Mitteln erzeugen die Architekten ein homogenes Bild. Die Giebelseiten stehen nicht im rechten Winkel zu den Längsfassaden, sondern schräg dazu – so entsteht im Grundriss ein Parallelogramm. Die Tragstruktur überträgt den Grundriss in die Vertikale, das spitz zulaufende Dach erhält eine neue, überraschende Geometrie und ist je nach Standort nicht mehr als solches zu erkennen.

Durch diese geradezu archetypische Form eines Giebeldachs und die parallel versetzte Tragstruktur entsteht eine besondere per­spektivische Wirkung. Im aktuellen Fall befreien die Architekten das Steildach, mit dem sie sich seit ihrem 1980 in Oberwil entstandenen «Blauen Haus» und auch beim viel beachteten VitraHaus (2009, vgl. «Spaziergang der Kräfte», TEC21 19/2010) in Weil am Rhein beschäftigen, von jeglichem Traditionsbezug.

Monotonie als Qualität

Der Rohbau wurde im Spätsommer 2016 fertiggestellt. Kaum waren die Baugerüste entfernt, regten sich die ersten kritischen Stimmen. Die Polemik entbrannte insbesondere um die Dimensionen des Neubaus. Das Gebäude sei zu lang, zu repetitiv, zu monoton, so die Kritiker. Das Thema der Monotonie stellt einen so häufig wiederkehrenden Streitpunkt dar, dass es einige grundsätzliche Überlegungen wert ist.

Die hohen Neubauten, die das Mailänder Stadtbild in jüngster Zeit verändert haben, zum Beispiel der Bosco verticale [«vertikaler Wald», 2014, vom Architekturbüro Boeri Studio), standen nicht in der Kritik, monoton zu sein, und kamen bei der breiten Bevölkerung gut an. Im Grunde genommen aber sind die Wolkenkratzer und die anderen Neubauten im Quartier Porta Nuova genau wie die drei CityLife-Hochhäuser (Ge­bäude von Arata Isozaki, Zaha Hadid und Daniel Libeskind im autofreien Stadtquartier des Messegeländes «Ex-Fiera») Ausdruck einer tief­ greifenden Verunsicherung bezüglich dem Charakter der Stadt und den Konstanten, die ihre «zivilisierte Schönheit» ausmachen, wie es der italienische Philosoph Giambattista Vico einst ausdrückte.

Diese zivilisierte, bürgerliche Schönheit blieb in der Vergangenheit über alle Erneuerungs- und Entwicklungsphasen der Stadt hinweg erkennbar. Der Basler Architekt und Theoretiker Hans Schmidt vertrat die Ansicht, dass Monotonie eine Qualität der rationalen Architektur ist. Die berühmten Häuserfronten an der Rue de Rivoli in Paris, am Bedford Square in London und am Markusplatz in Venedig waren für ihn Beispiele einer Uniformität, die zum künstlerischen Mittel wird. «Das Paris, das wir kennen und lieben», schrieb Schmidt, «regelte die Architektur seiner Boulevards durch ein einziges, einheitliches Gabarit. Warum sprechen wir hier nicht von Monotonie?» Das Resultat der Suche nach Vielfalt in der Architektur und der Anordnung der Gebäude, so Schmidt weiter, seien Wohnviertel, «in denen das einheitliche Gesicht der Stadt fehlt und bei denen das Streben nach grösstmöglicher Unterschiedlichkeit Gefahr läuft, eine neue Form der Monotonie, nämlich Unordnung und Anarchie zu erzeugen».

Stadt ohne Raum

Die Mailänder Wolkenkratzer sind ein Musterbeispiel für die grösstmögliche Verschiedenartigkeit der architektonischen Lösungen. Die breite Akzeptanz, auf die sie stossen, ist auf ihre wirkungsvolle Interpretation und Verkörperung einer diffusen antiurbanen Stimmung zurückzuführen. In diesen neuen Quartieren ­werden die einzelnen Gebäude lediglich aneinandergereiht – oder eben gerade nicht mehr aneinandergereiht –, ohne zuein­ander oder zu ihrer Umgebung in Beziehung zu treten.

Wie die Stadt gebaut und zu einem Geflecht geworden ist, das aus sichtbaren Beziehungen zwischen den Gebäuden und der Strasse sowie zwischen den Gebäuden untereinander besteht, ist hier nicht mehr zu erkennen. Das zwanghafte Streben nach Verschiedenheit führt zu einer verwirrenden Abwesenheit von Bezie­hungen, zum Verschwinden eines tragenden Elements der Stadtkultur. Und – was noch viel wichtiger ist – zu einer deutlichen Schwächung des Gemeinschafts­gefühls und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Die Verantwortung der Architektur

Die Architektur von Herzog & de Meuron steht für einen entgegengesetzten Ansatz, der das Stadtgebilde und die ihm zugrunde liegenden Regeln bestätigt und festigt. Die Wiederholung des orthogonalen Rasters der Trag­struktur, die nicht hinter einer dekorativen Aussenhaut versteckt wird, sondern nach aussen hin sichtbar bleibt, ermöglicht ein Verständnis der architektonischen Grund­elemente. Es mag banal scheinen, aber wir leben in einer Zeit, in der Architekturprojekte mit regelmäs­si­ger Fassadengestaltung, einheitlichen Massen und line­arer Ausrichtung in Fachzeitschriften für gewöhnlich keine Beachtung finden.

Der neue Sitz der Fondazione Feltrinelli wurde im Dezember 2016 nach Abschluss der Umgebungsgestaltung eingeweiht. Es bleibt zu hoffen, dass das Werk nicht nur die Polemik befeuert, sondern im Gegenteil Anregung für einen Städtebau gibt, in dessen Zentrum der Gedanke und die Idee der Stadt stehen und nicht deren formale Zurschaustellung.


[Übersetzung aus dem Italienischen: Nicole Wulf]

TEC21, Sa., 2018.03.31

31. März 2018 Alberto Caruso

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