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19. Oktober 2018Peter Seitz
TEC21

Ein Glied in der Kette

Ein Flusskraftwerk steht selten für sich allein. Der Neubau des Gemeinschaftskraftwerks Inn schliesst die Anlagenkette zwischen St. Moritz und Prutz. Die Betreiber betonen die ökologischen Vorteile für den Fluss, die sich aus dem Projekt ergeben. Ein Blick auf die Problematik von Schwall- und Restwasserabfluss.

Ein Flusskraftwerk steht selten für sich allein. Der Neubau des Gemeinschaftskraftwerks Inn schliesst die Anlagenkette zwischen St. Moritz und Prutz. Die Betreiber betonen die ökologischen Vorteile für den Fluss, die sich aus dem Projekt ergeben. Ein Blick auf die Problematik von Schwall- und Restwasserabfluss.

Der Inn ist der wasserreichste Fluss der Alpen. Er gab nicht nur seinem Ursprungsort im gerühmtesten Hochtal der Alpen – dem Engadin – den Namen, auch die heutige Tiroler Landeshauptstadt schmückt sich seit dem 12. Jahrhundert mit seiner Überbrückung.

Innsbruck liegt etwa mittig zwischen den Wasserkraftwerken Kirchbichl und Prutz-Imst, die 1941 respektive 1956 in Betrieb gingen. Dazwischen liegt heute die mit 150 km längste noch verbliebene frei laufende Strecke des Inns.

Unterhalb Kirchbichl folgen nämlich 18 Kraftwerke – die ersten wurden 1924 erbaut – bis zur Mündung in die Donau in Passau. Islas bei St. Moritz war das erste Schweizer Kraftwerk am Inn. Seit 1932 wird das Wasser des jungen Inns aus dem St. Moritzersee ausgeleitet und in einem Stollen zum Krafthaus geleitet, bevor es bei Celerina wieder ins Flussbett gelangt. In der unterhalb von St. Moritz gelegenen Charnadüra-Schlucht fliesst daher im Bett des Inns nur noch eine Restwassermenge von 0.075 m³/s.[1]

Auch die Kantonsstrasse zwängt sich durch die Engstelle. Mit 4.4 MW Turbinenleistung und einer nur kurzen Ausleitungsstrecke fällt Islas aber nur eine untergeordnete Bedeutung in der Kraftwerkskette des Inns zu. Wirklich grosse Auswirkung auf das Abflussregime des Schweizer und in der Folge des angrenzenden Tiroler Inns haben die Speicherkraftwerke der Engadiner Kraftwerke (vgl. TEC21 40/2014 und «Spektakuläre Taucharbeiten», TEC21 48/2016). Sie nehmen zwar nur teilweise das Wasser aus dem Fluss selbst, beeinflussen aber mit den Abflüssen aus den Speicherseen Livigno und Ova Spin den Pegel des Inns entscheidend.

Italienisches Wasser sorgt für Schwall

Es beginnt mit dem Livigno-Stausee. Der 9 km lange See liegt zum grössten Teil auf italienischem, die ihn absperrende Bogenstaumauer Punt dal Gall zur Hälfte aber auf Schweizer Boden. Der Inhalt des 164 Mio. m3 fassenden Reservoirs dient in erster Linie als Saisonspeicher – im Sommer fallende Niederschläge werden im Winter in der Kraftwerkszentrale Ova Spin oberhalb von Zernez verstromt. Eine Leistung von 50 MW ist hier installiert. Auch ein Pumpbetrieb vom Stausee Ova Spin in den von Livigno ist möglich.

Ausserdem wird dem Ova Spin unter anderem Wasser aus dem Inn zugeführt. Die Wasserfassung mit einer Kapazität bis zu 32 m³/s liegt bei S-chanf, der Inn führt ab hier einen Restwasserabfluss von 0.8 m³/s zwischen Oktober und Mai respektive 3 m³/s in den restlichen Monaten. Das in Ova Spin gesammelte Wasser fliesst nun zur Zentrale Pradella, mit 288 MW Gesamtleistung das wichtigste Kraftwerk im System der Engadiner Kraftwerke.

Vom Ausgleichsbecken Pradella, das ebenfalls mit Wasser aus dem Inn gespeist wird, wird das verstromte Wasser zur Zentrale Martina geleitet, wo es nochmals genutzt wird und eine Leistung von 70 MW erbringt. Hierauf wird es direkt wieder in den Inn geleitet, was aufgrund der Wasserdurchflüsse von 93 m³/s zu beachtlichen Schwallerscheinungen im unterstrom liegenden Flussabschnitt führt. Da der Inn aufgrund der Wasserentnahme in S-chanf und Pradella einer Restwasserstrecke entspricht (ab Pradella fliessen noch ca. 2 bis 5 m³/s als Restwasser im Fluss), kann der plötzliche Anstieg des Abflusses durch die Einleitung des Kraftwerks Martina bis zum 30-Fachen des im Flussbett vorhandenen Wassers ausmachen. Dies kann rasche Wassertiefenänderungen im Bereich mehrerer Dezimeter, ja sogar bis zu 1.5 m ausmachen.

Gewässer auf kleinem Niveau

Direkt betroffen von Restwasserstrecken sind Wasserlebewesen und -sportler. Im Internet können Letztere Ratschläge erhalten, wann diverse Strecken, etwa die Innschlucht bei Tarasp, mit dem Kajak befahrbar sind, ohne dass es zu Grundberührungen aufgrund Niedrigwasser kommen sollte. Fauna und Flora haben da schon andere Probleme, geht es bei ihnen doch ums Überleben.

Flüsse in Restwasserstrecken gleichen oftmals nur noch Bächen. Aufgrund des geringeren Abflusses verringert sich die benetzte Fläche – das nasse Flussbett fällt kleiner aus. Es bilden sich weniger verschiedenartige Abschnitte mit unterschiedlichen Wassertiefen aus. Fliessgeschwindigkeiten, Temperaturen und Sauerstoffsättigung des Wassers können sich verändern. Einträge in den Fluss, zum Beispiel aus Abwasserreinigungsanlagen oder der Landwirtschaft, haben eine stärkere Auswirkung auf die chemische Zusammensetzung des Wassers.

Eine grosse Problematik stellt die veränderte Geschiebeführung dar. Ein Gewässer mit geringerem Abfluss kann grundsätzlich weniger Geschiebe mobilisieren und transportieren. Viele Fischarten sind aber zum Laichen gerade darauf angewiesen. Auch die Kolmation – die Abdichtung der Gewässersohle durch Schwebstoffe – kann sich in Restwasserstrecken anders einstellen, und Auswirkungen auf den Grundwasserspiegel, der für die angrenzende Flora lebensnotwendig sein kann, sind nicht auszuschliessen.

Restwasserabgaben sind bei Ausleitungskraftwerken immer ein Interessenkonflikt zwischen Ökologie und Wassernutzung. Mit diversen Modellen – etwa dynamischen Restwassermodellen, in denen festgelegt wird, zu welchem Zeitpunkt wie viel Wasser im Fluss bleiben muss – wird versucht, diesen Konflikt zu entschärfen. Besonders im Winterhalbjahr oder zur Laichzeit der Fische können damit Schäden an Populationen vermindert werden. Im Sommer stehen aufgrund höherer Niederschläge in den alpinen Gewässern meist grössere Abflüsse zur Verfügung, sodass die Restwasserproblematik etwas weniger ausgeprägt ist. Trotz aller Bemühungen wird sich in Restwasserstrecken kein natürlicher Zustand eines Flusses ergeben. Daher spricht man meist von naturnahen Verhältnissen, auch beim Projekt Gemeinschaftskraftwerk Inn.

Immerhin wird 60 % des Schweizer Inns eine mindestens hohe Naturnähe zugestanden.[1] Dies liegt insbesondere an unverbauten Schluchtstrecken, revitalisierten Auengebieten und Stauraumspülungen der Wehre S-chanf und Pradella, die zumindest versuchen, eine gewisse naturnahe Geschiebeführung zu bewerkstelligen. Dem Abschnitt zwischen Martina und Prutz, der durch den Bau des Gemeinschaftskraftwerks Inn betroffen ist, wird heute jedoch nur eine mittlere bis geringe ökologische Wertigkeit ausgewiesen.

Rette sich, wer kann

Die Wiedereinleitung des Wassers nach einem Kraftwerk, in vorliegendem Fall nach der Zentrale Martina, entschärft zwar die Restwasserproblematik, führt jedoch zu Schwallbelastungen der Flussstrecke. Die Spitzen von Schwallabflüssen stellen zwar noch kein Problem für Fauna und Flora dar – ein Hochwasser kann weit höhere aufweisen –, aber die kurzen zeitlichen Spannen ihres Auftretens haben dramatische Konsequenzen. Wasserlebewesen können abgeschwemmt werden oder trockenfallen. Die schnelle Temperaturänderung – im Sommer kühlt das schnell eingeleitete, turbinierte Wasser den Fluss ab, im Winter hingegen erwärmt es ihn – beeinträchtigt die aquatischen Organismen.

Aus Restwasserstrecken im Oberlauf gelangt zu wenig laufendes Geschiebe in die Schwallstrecke, aus Kraftwerken, insbesondere Talsperren, meist gar keines. Daher ist die Gefahr einer Sohleintiefung in einer Schwallstrecke gegeben. Die Gefahrenschilder, die unterhalb von Kraftwerken Menschen vor einem Aufenthalt im Flussbett warnen, könnten entsprechend für zahlreiche aquatische Lebewesen gelten.

Durch betriebliche oder bauliche Massnahmen können die negativen Auswirkungen eines Schwalls reduziert oder gar unterbunden werden. Der Betrieb eines Kraftwerks kann etwa angepasst werden, sodass das Ansteigen und Abfallen des Abflusses zeitlich langsamer vonstatten geht. Auch eine erhöhte Restwasserabgabe vermindert das Schwall-Sunk-Verhältnis. Aus wirtschaftlichen Gründen – faktisch ist dies abhängig vom Strompreis – geben Kraftwerksbetreiber aber zurzeit oft baulichen Massnahmen den Vorzug. Eine Möglichkeit wäre die Wasserrückgabe in einen geeigneten Vorfluter, der den Abfluss gedämpft wieder in den Fluss zurückleitet. Dies könnte etwa ein natürliches Gewässer (See) sein oder ein künstliches Ausgleichsbecken. In schmalen Gebirgstälern wie unterhalb Martina kann die Umsetzung eines Ausgleichsbeckens aber schwierig werden, da seine Grösse natürlich vom turbinierten Abfluss und dessen Dauer abhängt.

In der Schweiz jedenfalls sind die Kraftwerksbetreiber gemäss Gewässerschutzgesetz zu Massnahmen gegen den Schwall verpflichtet, wenn das Schwall-Sunk-Verhältnis 1.5 übersteigt und gleichzeitig negative Auswirkungen auf Tiere und Pflanzen vorliegen. Die Sanierungsfrist für bestehende Anlagen läuft bis 31. Dezember 2030.[2]

Lachendes und weinendes Auge

Der Bau des Gemeinschaftskraftwerks Inn (GKI) löst die Schwallproblematik im Tiroler Abschnitt bis Prutz elegant, wenn auch mit einem gewissen Haken: Der vom Schwall betroffene Abschnitt wird in eine Restwasserstrecke umgewandelt. Das in der Zentrale Martina verstromte Wasser wird, sofort nachdem es wieder in den Inn geleitet ist, durch die neue Wehranlage des GKI in Ovella aufgestaut und hierauf über den 23.2 km langen Druckstollen zum Kraftwerk Prutz geleitet. Der Stauraum des Wehrs Ovella entspricht faktisch einem Ausgleichsbecken zur Sanierung von Schwallabflüssen. Ein dynamisches Restwassermodell legt jahreszeitlich gestaffelt Abflüsse im Flussbett des Inns zwischen 5.5 und 20 m³/s fest.

Gemäss Genehmigungsbehörden – das GKI wurde sowohl nach dem österreichischen Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz UVP-G 2000 geprüft als auch der schweizerischen Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen – stellt der Stauraum des GKI zwar einen erheblichen Eingriff in die Gewässerökologie dar, jedoch wird die Schwallsanierung als ein ganz bedeutender öffentlicher Nutzen des Vorhabens eingestuft. «Das Erreichen der Umweltverträglichkeit scheint bei Erfüllung der Nebenbestimmungen (Auflagen, Massnahmen etc.) für die Gewässerökologie wie auch für den Naturhaushalt somit gegeben.»[3]

Ökologisch geht es also aufwärts, wenn auch auf niedrigerem Niveau – schliesslich verläuft der grösste Teil des Inns in einer Röhre. Für das menschliche Auge und Empfinden spielt dies keine grosse Rolle – heutige Generationen kennen unsere Flüsse nicht anders. Wasserlebewesen dürfen sich in Zeiten ohne Schwallbelastung zurückversetzt fühlen, und auch geografisch gesehen könnte man sagen, der Inn macht an der Grenze zu Tirol einen Sprung zurück: Das dynamische Restwassermodell für den Tiroler Abschnitt bezieht sich nämlich auf den unbeeinflussten Pegel bei St. Moritz (Oberengadin). Je mehr Wasser dort die Messstelle passiert, desto mehr verbleibt in Ovella im Fluss. Vom Bündner Oberengadin gleich ins Obere Gericht Tirols – das Unterengadin wird ausgeklammert, als ob es der Inn eilig habe, nach Passau zu kommen.


Anmerkungen:
[01] PAN Planungsbüro für angewandten Naturschutz GmbH: Inn.Studie im Auftrag des WWF Österreich, Erläuterungsbericht, 15. Januar 2015.
[02] Bundesamt für Umwelt Bafu: Sanierung Schwall-Sunk, Strategische Planung, Ein Modul der Vollzugshilfe Renaturierung der Gewässer, Bern 2012.
[03] Gemeinschaftskraftwerk Inn GmbH, Errichtung des Wasserkraftwerks «Gemeinschaftskraftwerk Inn»; Genehmigung der Tiroler Landesregierung nach dem Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz 2000; U-5161/1117.

TEC21, Fr., 2018.10.19



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|42 Gemeinschafts-Kraftwerk Inn

19. Oktober 2018Peter Seitz
TEC21

Verstromter Schwall

An der Grenze Schweiz-Österreich, an der sich der Inn vom Unterengadin nach Tirol verabschiedet, entsteht seit 2014 das Gemeinschaftskraftwerk Inn. Mit einer Leistung von 89 MW soll das grösste derzeit im Bau befindliche Flusskraftwerk der Alpen 90.000 Haushalte mit Strom versorgen. Allerlei Tücken verzögern den Start jedoch um etwa zwei Jahre auf 2020.

An der Grenze Schweiz-Österreich, an der sich der Inn vom Unterengadin nach Tirol verabschiedet, entsteht seit 2014 das Gemeinschaftskraftwerk Inn. Mit einer Leistung von 89 MW soll das grösste derzeit im Bau befindliche Flusskraftwerk der Alpen 90.000 Haushalte mit Strom versorgen. Allerlei Tücken verzögern den Start jedoch um etwa zwei Jahre auf 2020.

Das Prinzip ist einfach. Man fasse Wasser in möglichst grosser Höhe, leite es unter wenig Höhen- und Reibungsverlust zu einem Punkt oberhalb eines tiefer gelegenen Talbodens und lasse es in einem Druckschacht wieder ins Tal zurückfliessen, wo es auf Turbinen trifft. Schon hat man ein alpines Ausleitungskraftwerk und kann Strom ernten. Die Umsetzung eines solchen Konzepts bietet jedoch ausreichend Konfliktpotenzial und mancherlei Fall­stricke und setzt, wie andere Grossprojekte auch, viel Durch­haltevermögen voraus. Davon können die Planer des Gemeinschaftskraftwerks Inn (GKI), eines grenz­überschreitenden Projekts zwischen der Schweiz und Österreich, ein Lied singen.

Das Kraftwerk beginnt bei der Stauanlage Ovella unterhalb Martina GR im Grenzgebiet. Auf 2.6 km wird der Inn aufgestaut (Stauziel: 1029.5 m ü. M.) und sein Wasser über einen orografisch rechts des Flusses gelegenen, unterirdischen 23.2 m langen Druckstollen bis oberhalb von Prutz in Österreich geführt %%gallerylink:42948:(vgl. Plan)%%. Hier steht das Wasserschloss, das Druckschwankungen aus Anfahr- und Abstellvorgängen im Triebwassersystem abmindert. Über einen gepanzerten Schräg­schacht wird das Wasser ins grösstenteils unter der Erde liegende Krafthaus geleitet, in dem es mittels zweier Francis-Turbinen verstromt wird (Turbinenachse auf 863.80 m ü. A.). Über den gedeckten 300 m langen Unterwasserkanal fliesst es zurück in das Flussbett des Inns.

Wehr am besten aller schlechten Standorte

Verschiedene Faktoren führten zum gewählten Standort der Stauanlage, der nicht ideal ist, aber als am wenigstens schlecht bezeichnet werden kann. Neben der Strom­erzeugung dient das GKI auch der Schwallsanierung in seinem Flussabschnitt. Daher muss es einen genügend grossen Stauraum aufweisen, um den eingeleiteten Schwall aus der oberhalb gelegenen Anlage Martina der Engadiner Kraftwerke aufnehmen zu können (vgl. «Ein Glied in der Kette»). Einer Verschiebung nach oberstrom stand also diese Wassereinleitung respektive eine Verringerung des Stauraums entgegen.

Nach unterstrom waren die Möglichkeiten einer Versetzung des Wehrs durch den drohenden Verlust von energetisch wertvoller Höhenlage, schlechtere Zugänglichkeit der Baustelle und eine Gefährdung durch Lawinen stark eingeschränkt. Auch am nun gewählten Standort ­müssen Lawinen berücksichtigt werden. Um ein Überschwappen und eine Flutwelle im Inn durch einen Lawinenabgang in den Stauraum zu verhindern, ist im Wehrreglement eine Stauabsenkung um einen Meter im Winter festgelegt.

Am orografisch rechten Innufer begrenzt eine 650 m hohe, steile Felswand die Stauanlage. Ohne umfangreiche Sicherungsmassnahmen hätte die Flanke eine ständige Bedrohung durch Steinschlag dargestellt. Von Beginn an schätzten die Planer diese Vor­arbeiten als zeitkritisch für den Terminplan der Baustelle ein. Ohne einen genügenden Steinschlagschutz konnten weder die Arbeiten an der eigentlichen Anlage noch die Vorarbeiten hierfür aufgenommen werden. Daher waren intensive Felssicherungsmassnahmen mit Schutznetzen geplant; bei deren Umsetzung stellte sich jedoch heraus, dass ihr Ausmass als zu gering angenommen wurde. Es bedurfte zusätzlicher Netz­reihen – insgesamt sind es nun 14 Stück – und auch einiger Bodennetze. Über einen werkseigenen, gesicherten Steig sind sie zur Kontrolle und Wartung erreichbar.

Die angebrachten Steinschlagschutznetze haben teilweise mehrere hundert Meter Länge. Eine Fertigstellung der zusätzlich erforderlichen Schutzbauten war vor dem Winter 2014/2015 nicht mehr möglich, sodass sich hier, bereits vor den Arbeiten an der Wehranlage, Verzögerungen um einige Monate einstellten.

Zwei Länder, ein Tal, zwei Sichtweisen

Links des Inns – der Fluss markiert hier die Grenze – verläuft die Kantonsstrasse. Von ihr aus erfolgte die Erschliessung der Baustelle über Baustrassen. Die topo­grafischen Voraussetzungen im engen Tal – auf Schweizer Seite die Kantonsstrasse und auf österreichischer eine unverbaute Talflanke – sorgten schon in der Genehmigungsphase für ein Kuriosum: Das Tal galt im Unter­engadin bereits als genutzt und verbaut, während es gegenüber in Tirol als unverbaut eingestuft wurde. Daher lagen den Genehmigungsverfahren in den beiden Ländern für den gleichen Talabschnitt gänzlich andere Randbedingungen zugrunde. Die Augen der Behörden scheinen kurzsichtig und sehen nur bis zur Grenze scharf.

Auch beim Bau der Wehranlage selbst kam es zu unerfreulichen Überraschungen. Der Untergrund besteht aus Innschotter und Hangschutt, der mit Blocklagen versetzt ist und von teilweise senkrecht abfallenden felsigen Talflanken eingerahmt ist. Auch eine ca. 30 m mächtige Schicht von Seeschluffen, setzungsempfindlichen postglazialen Sedimenten, durchzieht die Ablagerungen. Eine Felssohle steht erst bei 80 m Tiefe an. Die Bohrung der Fundierungspfähle gestaltete sich daher anspruchsvoll. Laut Betreiber mussten aufgrund der schlechten Zugänglichkeit des Standorts detaillierte Erkundungsbohrungen vor Baubeginn unterbleiben.

Dies forderte seinen Tribut: Die Felslinien und die anstehende Untergrundbeschaffenheit waren anders erwartet, was Anpassungen der Bohrpfähle erforderlich machte. Von geplanten 26 m mussten sie im Mittel auf 34 m, teilweise sogar auf 45 m verlängert werden. Dies führte nicht nur zu Mehrkosten, sondern wirkte sich auch auf den Terminplan aus. Die Betonarbeiten der Wehranlage konnten daher erst im Frühjahr 2017 aufgenommen werden – ein Jahr vor der ursprünglich geplanten Inbetriebnahme.

Baustellenflutung ohne Hochwasser

Die Wehranlage wird zwei Felder aufweisen. An ihrer rechten Seite ist der Einlauf angeordnet, der das Wasser in den Triebwasserstollen leitet. Bis zu 75 m³/s werden für die Verstromung aus dem Stauraum entnommen, der mit seiner Länge von 2.6 km und einer maximalen Tiefe von 15 m ein Nutzvolumen von 500 000 m³ aufweist. Unterhalb des Stauraums wird der Inn eine Restwasserstrecke, die durch ein dynamisches Restwassermodell beaufschlagt wird.

Die Wehranlage wird in Nassbauweise gebaut. Der Inn wird kleinräumig um das gerade im Bau befindliche Element herumgeleitet – zuerst erfolgt die Erstellung der beiden Wehrfelder, danach der Bau des Triebwassereinlaufs samt Betriebsgebäude mit Dotierturbine und Fischpass. Letzterer soll über 81 Stufenbecken die Fischwanderung flussaufwärts um die Stauanlage herum ermöglichen. Für die Gegenrichtung ist eine eigens konstruierte Fischabstiegsanlage vorgesehen.

Für eine solche Flussbaustelle muss die Hochwasser­gefahr einkalkuliert und jederzeit im Auge behalten werden. Vor allem Frühlingshochwasser während der Schneeschmelze bei gleichzeitig grossen Niederschlägen können sehr hohe Wasserabflüsse mit sich bringen. Eine gewisse Beeinflussung der Abflüsse ist durch die Steuerung der Speicherabflüsse der oberstrom gelegenen Engadiner Kraftwerke gegeben, die 14 % Anteil am GKI besitzen. Bei einem auftretendem Hochwasser im Inn können diese etwa den Betrieb einstellen, sodass von den Speichern kein Wasser mehr in das Flussbett eingeleitet wird. Die Baustelle ist auf ein HQ30 ausgelegt. Abflüsse, die statistisch gesehen einmal in 30 Jahren auftreten, würden daher ohne Schäden ablaufen. Bei höheren Abflüssen würde die Baustelle irgendwann geflutet werden, respektive müsste man sie kontrolliert fluten, um grosse Schäden möglichst zu verhindern.

Im Winter 2018 kam es tatsächlich zu einer unkontrollierten Flutung der Baustelle, jedoch ohne Hochwasser. Aufgrund der aussergewöhnlich hohen Schneefälle und der damit verbundenen Lawinengefahr war der Baustellenstandort acht Tage lang nicht erreichbar. Nachdem er wieder zugänglich war, stand die Baustelle unter Wasser. Eine Lawine war 600 m unterhalb der Wehranlage in den Inn gestürzt und staute das Wasser zurück. Alpiner Flussbau hat seine Tücken.

Zu wenig Vortrieb vertreibt Unternehmung

Ein für das Projekt GKI zentraler Punkt ist Maria Stein (940 m ü. A.), nördlich von Pfunds. Von hier erfolgt mittels zweier Tunnelbohrmaschinen der Vortrieb des Triebwasserstollens nach Norden und Süden. Ein Fensterstollen erschliesst den späteren Druckstollen, der hier auch seinen tiefsten Punkt hat. Die etwa 12.7 km, die in Richtung Wehr Ovella vorgetrieben werden sollen, wurden im November 2015 in Angriff genommen. Nach Norden zum Wasserschloss begannen im März 2016 die Bohrarbeiten, die ca. 8.9 km umfassen werden. Der Stollen mit seinen 6.5 m Ausbruchsdurchmesser wird mit Stahlbeton-Tübbingen ausgekleidet. Nach deren Einbau – es werden ungefähr 50 000 Stück benötigt – verbleibt ein Innendurchmesser von 5.8 m, was für die Ausbauwassermenge von 75 m³/s ausreicht.

Die Gebirgsmächtigkeit über der Röhre beträgt zwischen 130 m und 1200 m. Vom Wasserschloss mit der Apparatekammer fällt der stahlgepanzerte Schrägschacht mit einem Durchmesser von 3.8 m und einer Länge von 415.7 m zu einer 40.3 m langen Flachstrecke vor dem Krafthaus. Zum Wasserschloss führt ein Zugangstunnel, der über eine Baustrasse am Hang erreichbar ist. Von dort findet – wie auch vom Wehr Ovella her – ein Gegenvortrieb in bergmännischer Bauweise in Richtung der entgegenkommenden Tunnelbohrmaschine statt. Auch der Schrägschacht wurde im Sprengvortrieb ausgebrochen.

Die Vortriebsleistungen beim Bau des Triebwasserstollens fielen unbefriedigend aus. Als Ursache werden etwa unerwartetete Störzonen angeführt, jedoch bleiben die genauen Gründe, die zu einem grossen zeitlichen Verzug dieser Arbeiten führten, eine Sache zwischen Unternehmung und Bauherrschaft. Zum Jahreswechsel 2016/2017 wurde der Bauvertrag für die Erstellung des Triebwas­serwegs in gegenseitigem Einvernehmen aufgelöst.

Mittlerweile führt eine neue Unternehmung die Arbeiten fort. Es bedurfte allerdings einiger organisatorischer Raffinesse, dass die Übergabe relativ reibungslos vonstatten gehen konnte.
Australischer Vertrag für Austria

Die installierte Baustelleneinrichtung, etwa Schutter- oder Aufbereitungsanlagen, und natürlich die Tunnelbohrmaschinen, die einer mehrmonatigen Liefer- und Montagezeit bedürfen, gehören bei Vertragsumsetzung normalerweise der Bauunternehmung. Ein Wechsel des Auftragnehmers und Austausch des gesamten Maschinenparks würde eine Baustelle um Jahre verzögern. Andererseits dürfte ein Folgeunternehmer, der ja in direkter Konkurrenz zum Vorgänger steht, kaum Interesse daran haben, die Installation zu seinen Kosten zu übernehmen.

Es galt daher, einen geeigneten Weg zu finden, um die Arbeiten möglichst schnell mit der neuen Unternehmung fortführen zu können. Hierfür blieb kaum eine andere Wahl, als die bereits vorhandene Installation weiter zu nutzen. Diese ging daher bei Auflösung des Vertrags in das Eigentum des GKI über. Mit der ablösenden Unternehmung wurde ein Allianz­vertrag abgeschlossen, bei dem die Installationen von der GKI-Gesellschaft dem Auftragnehmer für die Arbeiten zur Verfügung gestellt werden. Diesem Vertragswerk, das 38 Seiten umfasst und in nur drei Wochen ausgearbeitet wurde, liegt ein österreichischer Arbeitsvertrag in Anlehnung an einen australischen Allianzvertrag zugrunde.

«Kernpunkte des Vertrags sind die Definition von Zielkosten und Zielterminen mit einem ‹pain and gain sharing› bei Termin- und Kostenüberschreitungen, aber auch mit Anreizmodellen bezüglich Arbeitssicherheit, Herstellerqualität und partnerschaftlichem Verhalten», schreibt Johann Herdina, Vorstandsdirektor der TIWAG.[1] «Die GKI als Auftraggeber entsendet einen erfahrenen Mitarbeiter in die Allianzsitzungen, die im Prinzip Firmenratssitzungen der Arbeitsgemeinschaft sind, und hat als Bauherr volle Einsicht in die Bilanz­unterlagen und ist auch der Vorfinanzierer aller Baustellentätigkeiten.»

Taucher am Boden

Auch beim Bau des Krafthauses und dem anschlies­senden 300 m langen Unterwasserkanal kam es zu Unerwartetem. Die Projektierung beruhte auf einer geringeren Durchlässigkeit des Baugrunds, als tatsächlich angetroffen wurde. Der Wasserzufluss im anstehenden Innschotter fiel daher zu gross aus für eine effiziente Wasserhaltung der Baugrube durch Grundwasser­absenkung. Die tiefsten Stellen des Krafthauses liegen immerhin etwa 14 m unter dem anstehenden Gelände. Die Unternehmerlösung setzte daher auf den Einbau von zementgedeckelten Weichgelsohlen im Zu- und Ablaufbereich des Krafthauses (Hosenrohr vor und Saugrohr hinter den Turbinen). Im Bereich des Krafthauses selbst wurde eine Unterwasserbeton­sohle eingebracht.

Für diese Arbeiten erstellte man zuerst entlang einer Leitwand eine Schlitzwand um die Baugrube. Injektionslanzen durchdrangen den Baugrund auf die Höhenlagen der angestrebten Weichgelsohlen und verpressten das Injektionsgut zu einer Mächtigkeit von 2 m und einem oberen 30 cm dicken Deckel aus Zement-Gel-Mix. Für das Krafthaus fand bis auf Unterkante der Bodenplatte ein Unterwasseraushub mit Langstiel- und Seilbagger statt. Von einem schwimmenden Ponton aus wurden daraufhin 178 GEWI-Anker (L = 19 m) in den unter Wasser liegenden Baugrund gerammt.

Taucher befestigten die Ankerköpfe, reinigten die ausgehobene Sohle vom Schlamm und bereiteten mit einer Höchstdruckanlage (1000 bar) die Kontaktfläche der Schlitz­wand zur zukünftigen Bodenplatte vor. Am Abend des 5. November 2015 begann das Einbringen des Unterwasserbetons für die Bodenplatte des Krafthauses. Der Zeitpunkt im Winterhalbjahr war günstig, weil dann tiefere Grundwasserstände vorherrschen. Innert 16 Stunden wurden 1220 m³ Beton in einem Guss mittels Contractor-Verfahren eingebaut.

Der gedeckte Unterwasserkanal sollte ursprünglich konventionell in einer offenen Baugrube hergestellt werden. Der Wasserandrang machte jedoch den Einsatz eines Spundwandkastens erforderlich, sodass auch hier schliesslich eine Unterwasserbetonsohle ein­gebracht wurde. Trotz dieser Umstände konnte das Baulos Krafthaus Prutz termingerecht abgeschlossen werden.

Tübbinge, Deponien und Ausgleich

Die Tübbingherstellung für die Auskleidung des Triebwasserstollens erfolgt direkt vor Ort in Maria Stein. Dies bietet bedeutende Vorteile: Da der grösste Teil der Zuschlagsstoffe aus anstehendem Innkies und Hangschutt gewonnen werden kann, reduzieren sich Transporte wesentlich gegenüber einer auswärtigen Her­stellung der Betonfertigteile. Die Aushubflächen der Betongesteinskörnungen werden zur Deponierung der rund 1.000.000 m³ Ausbruchgestein aus dem Stollen heran­gezogen. Von den Schutterzügen wird das Ma­terial direkt über Förderbänder zur Deponie geleitet. Eine Weiterverwendung der abgebauten Gesteine – es fällt vorwiegend Kalkschiefer aus dem sogenannten «Engadiner Fenster» an – kam aufgrund der unzureichenden Eigenschaften nicht in Betracht.

Die Installationsflächen in Maria Stein werden nach Abschluss der Arbeiten in ein grosses Biotop umgewandelt – eine von mehreren ökologischen Ausgleichsmassnahmen. Es entstehen verschiedenartige, standorttypische Bepflanzungszonen und Sukzessions­gebiete. Unterschiedliche Wasser- und Uferbereiche sollen einer möglichst breiten Artengemeinschaft zur Verfügung stehen. Auch Flussaufweitungen am Inn werden um­gesetzt, und die Fischgängigkeit diverser Bach­­­­­mündungen soll sichergestellt werden.

Ziel solcher punktueller Massnahmen ist eine Verbesserung der Ha­bitatsbedingungen am Inn. Ein grosser Vorteil für die Lebensgemeinschaften des Flusses sei laut ­Betreiber die Schwallreduktion auf der gesamten Kraftwerks­strecke zwischen dem Wehr Ovella und dem Krafthaus Prutz. Diese Schwallsanierung wird jedoch nicht als ökologischer Ausgleich angesehen.

Der lange Weg zum Kraftwerk

Die zeitliche Verzögerung bei der baulichen Umsetzung des Gemeinschaftskraftwerks Inn relativiert sich, betrachtet man die Zeiträume, bis ein solches Projekt zustande kommt. Erste Projektstudien (aus San Francisco!) lagen bereits 1928 vor. Zwischen 1948 und 1978 wurden mehrere Projektvarianten in diesem Abschnitt angedacht, eine intensive Planungsarbeit wurde aber erst seit 1978 aufgenommen. Ein 1982 zur wasserrechtlichen Bewilligung eingereichtes Projekt, das dem heutigen sehr nah kommt, scheiterte damals unter anderem am Widerstand der Bevölkerung.

Erst 2003 nahm man die Planung wieder auf. Dies machte einen Staatsvertrag erforderlich, der am 29. Oktober 2003 beschlossen wurde. Bis zu seinem Inkrafttreten vergingen aber nochmals fünf Jahre. Mittlerweile wurden die Genehmigungen in der Schweiz und in Österreich beantragt. Die ersten Genehmigungsentscheide liessen bis zum Jahr 2010 auf sich warten und stiessen auf Widerstand. Es sollte noch bis zum 1. Juli 2013 dauern, bis das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht und auf österreichischer Seite der Umwelt­senat die endgültige Genehmigung erteilt hatten und der Austausch von diplomatischen Noten diese rechtswirksam werden liess.

Gesellschaftlicher Ausstieg

Das Werk war noch nicht einmal richtig begonnen, da änderten sich schon seine Besitzverhältnisse. Während der Planungs- und Genehmigungsphase hielt die österreichische Gesellschaft Verbund die Hälfte der Anteile. 36 % entfielen auf die TIWAG (Tiroler Wasserkraft AG), 14 % gehörten den Engadiner Kraftwerken. Letztere haben nicht nur aufgrund der Stromproduk­tion ein grosses Interesse am Projekt, sondern auch wegen der damit verbundenen Schwallreduktion. Der schweizerische Anteil wird mit wesentlichen Bundesbeiträgen gefördert.

Da der Verbund sich nicht in der Lage fühlte, aufgrund der Strompreise am Markt einen Aufsichtsratsbeschluss für einen Baustart herbeizuführen, übernahm die TIWAG einen Grossteil seiner Anteile. Das führte zu Besitzverhältnissen von 76 % bei der TIWAG, noch 10 % beim Verbund und 14 % bei den Engadiner Kraftwerken. Mittlerweile ergab sich nochmals eine Änderung. Der Verbund ist nun komplett ausgestiegen, sodass die TIWAG nun 86 % am GKI innehat.

Die auftretenden Schwierigkeiten ziehen gemäss derzeitiger Prognose einen etwa 16-prozentigen Anstieg der Erstellungskosten nach sich. Eine neue Hochrechnung erfolgt noch 2018. Nicht eingerechnet hierbei sind die Erzeugungseinbussen von etwa zwei Jahren. Aber man soll den Fisch ja nicht ver­teilen, noch ehe er überhaupt gefangen ist. Den Projektbeteiligten wird jedenfalls ein langer Atem abverlangt, und vielleicht wünschte sich manch einer, Kiemen zu haben, um ab und zu abtauchen zu können. Aber damit tun sich ja sogar Fische oftmals schwer.


Anmerkung:
[01] Johann Herdina, Projekt Gemeinschaftskraftwerk Inn, Grenzüberschreitende technische und vertragliche Herausforderungen, Swiss Tunnel Congress 2018.

TEC21, Fr., 2018.10.19



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|42 Gemeinschafts-Kraftwerk Inn

29. Juni 2018Peter Seitz
TEC21

Ein Ingenieur, der den Bogen raus hatte

Im Alter von 90 Jahren starb 2017 Giovanni Lombardi, der Gründer des gleichnamigen Tessiner Ingenieurbüros. Seine grössten Projekte waren von Bögen geprägt: Berühmte Bogenstaumauern tragen seine Handschrift, und gebogene Linienführungen von Tunneln bescherten ihm auch mit 80 Jahren noch Erfolge.

Im Alter von 90 Jahren starb 2017 Giovanni Lombardi, der Gründer des gleichnamigen Tessiner Ingenieurbüros. Seine grössten Projekte waren von Bögen geprägt: Berühmte Bogenstaumauern tragen seine Handschrift, und gebogene Linienführungen von Tunneln bescherten ihm auch mit 80 Jahren noch Erfolge.

Das Problem in den 1960er-Jahren ist ein altes: Zwischen Göschenen und Airolo soll ein neuer Tunnel entstehen, diesmal für die Nationalstrasse. Der geradlinige Eisenbahntunnel von Louis Favre ist ­bereits seit 1882 in Betrieb. Mit einer durchschnittlichen Überdeckung von 1100 m stellt er die direkte Verbindung Uris mit dem Tessin dar. 1965 werden vier Ingenieurbüros eingeladen, ihre Entwürfe für den noch heute längsten Strassentunnel der Alpen vorzulegen. Drei davon nehmen die gerade Linien­führung der Eisenbahn auf; eines aber, das Ingenieurbüro von Giovanni Lombardi, schlägt einen bis zu 2.4 km nach Westen ausholenden Bogen vor. Lombardi ist sehr erfahren in der Geologie, er kennt die Gegend und das Gelände – baut er in dieser Zeit doch die vier wichtigsten Viadukte der neuen Gotthard-Passstrasse, darunter die Fieud-Serpentine (tornante di Fieud), die westlichste Kurve an der Südauffahrt zum Pass. Mit ihr löst sich die Strasse kurzzeitig vom Hang und führt scheinbar in die Leere, um sich nachher sogleich wieder an den Bergrücken zu schmiegen.

Lombardis Vorschlag der gekrümmten Tunnelführung erhält den Zuschlag: Zwischen 1970 und 1980 entsteht unter seiner Leitung der Gotthard-Strassentunnel. Die Vorteile seines «Um-die-Ecke-Denkens» – in diesem Fall «Um-den-Bogen-Denkens» – lagen auf der Hand: Durch die Verlegung des Tunnels in Richtung der Furche des Gotthardpasses standen einem etwas längeren Strassentunnel bedeutend kürzere Lüftungsschächte gegenüber, die auch noch von der Passstrasse her leichter erreichbar waren. Zudem konnte eine geo­lo­gi­sche Störung umgangen werden. Dieses geniale, aus heutiger Sicht vielleicht logisch banal erscheinende Konzept war damals mindestens innovativ, womöglich sogar revolutionär und vergünstigte das Projekt um 100 Millionen Franken.

Folgender Satz Lombardis passt nicht nur zum Gotthard-Strassentunnel, auch aus anderen seiner Grossprojekte ist Innovationsgeist und Aufgeschlossenheit gegenüber neuartigen Lösungen und Methoden ablesbar: «Der Ingenieur muss sich auch Lösungen vorstellen können, die vom traditionellen Schema abweichen – er muss sie dann aber in Ruhe analysieren und bewerten können, ohne sich durch übermässige Begeis­terung, die die Originalität seines Vorschlags auslösen mag, beirren zu lassen.»

Lombardis Karriere: geradlinig nach oben

Schon zu Beginn seiner Ingenieurslaufbahn zeichnete sich ab, dass Lombardis Arbeitsleben von Bogengebilden geprägt sein würde: Sein Dissertation, die er 1955 an der ETH Zürich veröffentlichte, trug den Titel «Les barrages en voûte mince» und befasste sich mit der statischen Untersuchung schlanker Bogensperren.

Zuvor, nach Abschluss seines Studiums, ebenfalls an der ETH, hatte der gebürtige Leventiner, der in Südfrankreich aufgewachsen war und aufgrund des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz zurückkehrte, im Freiburger Ingenieurbüro von Henri Gicot und bei Arnold Kaech in Bern gearbeitet. Gicot und Kaech machten sich weltweit als Talsperrenbauer einen Namen. In der Schweiz war Gicot an der 1921 fertiggestellten Staumauer Montsalvens und an der Rossens-Bogenstau­mauer (1948) beteiligt, Kaech an der Spitallamm-Mauer, die 1932 am Grimselpass entstand.

Kurz nach seiner Promotion eröffneten Giovanni Lombardi und sein Studienfreund Giuseppe Gellera (1925–1976) in Locarno ihr eigenes Ingenieurbüro, Lombardi & Gellera. Das Unternehmen mit über 100 Mit­arbeitenden spaltete sich jedoch 1964 auf.

Es waren die Boomjahre nach dem Weltkrieg, in denen sich Wirtschaftsaufschwung und Grosswasserkraft die Hand gaben. Veranschaulichend seien hier einige Zahlen aus Italien, dem Land mit dem grössten Alpenanteil, aufgeführt. Bis 1920 gab es dort ungefähr dreissig Stauseen. Bis zum Zweiten Weltkrieg ­waren es bereits 200 – der Faschismus wollte dank der «weissen Kohle» möglichst energieautark sein, aber auch die ­landwirtschaftliche Bewässerung spielte eine Rolle. Seit 1950 wurden allein in Italien etwa zehn Talsperren pro Jahr gebaut, sodass sich die Zahl bis 1970 annä­hernd verdoppelte.

Der Ausbau der Wasserkraft in diesen Jahren betraf aber nicht nur Italien, sondern alle hierfür geeigneten Gebiete, insbesondere die Alpen und die Pyrenäen. Von 25 grossen Staudämmen, die im Sommer 1964 bei einer Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art unter dem Titel «Twentieth Century Engineering» gezeigt wurden, standen sieben in den französischen Bergen, vier in Italien und vier in der Schweiz.

Im Tal des grünen Wassers: die Contra-Staumauer

Am Aufschwung der Grosswasserkraft nimmt das Büro Lombardi & Gellera regen Anteil: Zwischen 1957 und 1966 entwirft und baut es die Contra-Bogenstaumauer, die den Lago di Vogorno im Verzascatal aufstaut.

Die doppelt gekrümmte Bogenkonstruktion hat eine Kronenlänge von 380 m und ist mit 220 m Höhe die vierthöchste der Schweiz. Mit ihrem geringen Betonvolumen von 660 000 m³ – ihre Mauerdicke variiert von 25 m an der Basis bis zu 7 m an der Krone – stellt sie eine der kühnsten Konstruktionen der Schweiz dar. In späterer Zeit sollte sie weltweit bekannt werden – springt James Bond doch im Prolog von ­«Goldeneye» von ihr herab. Heute kann es ihm auf einer Bungee-­Sprunganlage jeder nachtun.

Die Taten des Entwerfers wurden zwar nie in Szene gesetzt, dafür sind sie echt, beeindruckend – und reich an Anekdoten: Da beim Freilegen des Felsens für die zukünftigen Fundamente schlechtes Gestein zum Vorschein kam, wurde die Mauer kurzerhand von Lombardi und dem Bauunternehmer einige Meter versetzt weitergeplant und gebaut. Die Behörden erfuhren erst nachträglich von der Änderung.

Computer für die Contra-Sperre

Als erste Talsperre der Welt wurde die Contra-Bogen­staumauer mit Computerhilfe berechnet (vgl. «Warum schauen wir nicht mal, was diese Computer machen?», S. 28). Ein Rechner stand in Zürich, der andere in Lau­sanne; aufgrund spezifischer Leistungsgrenzen der ­Maschinen wurden sie in unterschiedlichen Berechnungsphasen eingesetzt. Somit können Lombardi und sein Büro als Vorreiter in Sachen Staumauerberechnung angesehen werden. Wie üblich wurden aber auch Modellversuche durchgeführt, einer am Ismes (Istituto Speri­mentale Modelli e Strutture) in Bergamo, ein zweiter an der VAW (heute: Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich).

Das Contra-Modell am Ismes wurde im Massstab 1 :  66.6 hergestellt und war etwa 3.5 m hoch. Als Material kam sogenannter Mikrobeton zum Einsatz, eine Mischung aus Zement und Bimsstein. Er weist ein ähnliches physikalisch-mechanisches Verhalten auf wie der unbewehrte Beton, mit dem die tatsächliche Mauer gebaut werden sollte.

Die Modelluntersuchungen gestalteten sich aufwendig: Ein Vormodell aus Holz half bei der Dimen­sio­nierung der Abmessungen, Schalungen aus verstärkten Gipsblöcken mussten erstellt werden, und eingesetzte Ankerstäbe dienten der Simulierung des Eigengewichts. Das Modell bildete nur zwölf vertikale Fugen (die Hälfte der realen) sowie die inneren Inspektionstunnel und vertikalen Schächte ab. Um eine originalgetreue Darstellung des hydrostatischen Schubs zu erhalten, belasteten 102 Hydraulikzylinder, die jeweils auf Stahl- und Betonverteiler­platten mit einer Korksohle drückten, das Modell. Ein kom­plexes System von Messgeräten (elektroakustische und mechanische Komparatoren und Dehnungsmessstreifen) diente da­zu, auftretende Verformungen und Verschiebungen zu erkennen. Erst beim 5.8-fachen Wert des normalen ­hydrostatischen Wasserdrucks erfolgte der Bruch im Modellversuch. Am kleineren hydrau­lischen Modell der VAW wurden unter anderem die Form der Überläufe und deren korrekte Anströmung untersucht.

Bogenstaumauern um den ganzen Erdball

Die Talsperre im Verzascatal bildete den Auftakt zu vielen weiteren Talsperrenprojekten Lombardis. 1965 wurde die Doppelbogenstaumauer von Roggiasca in Graubünden fertiggestellt, 1969 die Kops-Staumauer in Vorarlberg. Wie später beim Gotthard-Strassentunnel gelangte Lom­bardi hier mit einem Bogen als Alternative zum Auftrag. Er schlug vor, eine 600 m ­lange, zu kostspielig geplante Schwergewichtsstaumauer durch eine kürzere zu ersetzen, und fügte dieser eine Doppelbogenstaumauer bei, was den Betonverbrauch und damit die Kosten senkte.

Das Wissen und die Erfahrung Lombardis wurden zunehmend auch international geschätzt. So wurde Österreichs höchste Talsperre, die 200 m hohe Kölnbreinsperre, die erst wenige Jahre alt war, nach einem Entwurf Lombardis von 1989 bis 1992 instandgesetzt. Neben zahlreichen weiteren Mauerertüchtigungen war der Wasserbauexperte, der zwischen 1979 und 1985 auch Präsident des Schweizerischen Talsperren­komi­tees war und anschliessend drei Jahre die Präsidentschaft der Icold (International Commission on Large Dams) innehatte, immer noch an Neubauten beteiligt, nun aber weltweit. In der Türkei entstand am Euphrat die Karakaya-Talsperre (1987); auch in Alge­rien war Lombardi vor Ort, etwa mit dem Vorprojekt der Bogen­staumauer Tichi-Haf, und in Mexiko wurden 1995 die ­Staumauern von Huites und Zimapán fertiggestellt.

Theorien aus der Praxis, für die Praxis

Bei der Planung und Umsetzung seiner Grossprojek-­te stiess Lombardi immer wieder an die Grenzen des ­damals Möglichen. Die Berechnungsbeschränkungen konnten zwar mithilfe der Computer im Lauf der Zeit immer weiter nach oben verschoben werden, jedoch erkannte Lombardi schnell, dass eine alleinige Berechnung noch keine Problemlösung darstellte. Vielmehr kann sein Schaffen als ein beständiges Verstehen­lernen der komplexen Zusammenhänge zwischen Umgebung und Bauwerk und ihrer besseren Erfassung gesehen werden, um letztlich der Problemstellung eine geeignete Lösung entgegenstellen zu können. « (…) Denn die Intuition des Ingenieurs, die auf einer tiefen und soliden Kenntnis der Gesetze der Physik, Mechanik, Geologie und Geotechnik oder der Naturwissenschaften im Allgemeinen beruht, sollte es ihm ermöglichen, die Lösung des Problems schon vor der Berechnung zu erahnen. Nur dann kann er die Gültigkeit der erzielten Ergebnisse beurteilen», schrieb Lombardi 2004.[1]

Zur Unterstützung dieser «Intuition» entwickelte Lombardi mehrere Ansätze und Methoden, die mittlerweile gängige Praxis im Ingenieurwesen sind: Dank der Methode der Kennlinien zur Stabilitätsanalyse von Untertagebauwerken etwa kann rasch der Einfluss einer Änderung der Randbedingung (z. B. andere Felseigenschaft) beim Tunnelvortrieb abgeschätzt werden. Das FES-Modell (Fissured Elastic Saturated rock mass model) beinhaltet ein nicht lineares, hydraulisch gekoppeltes Materialgesetz und steht zur Analyse von geklüftetem, wassergesättigtem Gestein zur Verfügung. Die Methode der Grouting Intensity Number (GIN) hilft bei der Umsetzung abdichtender Injektionen.

Der Schlankheitskoeffizient c von Bogensperren setzt verwendetes Betonvolumen ins Verhältnis zur Sperren­fläche und erlaubt einen Vergleich verschiedener Staumauern. Zur Überwachung von Talsperren entwickelte Lombardi gleich noch das MIC-Modell (Modello Interpretativo Combinato). Lombardis Name hat auch als «Werkzeugmacher» für Ingenieure einen guten Klang.

International unter Tage

Klangvoll tönen auch die Namen auf der Projektliste des zweiten grossen Standbeins Lombardis, des Tunnelbaus: Ortsumfahrungen von Hergiswil, Neuenburg, Locarno und Luxemburg stehen dort neben ganz grossen Projekten mit internationalem Renommee: Die Hightech-Forschung in den unterirdischen CERN-Anlagen bei Genf (ab 1981) und in den Labors für Elementarteilchenphysik unter dem Gran Sasso im Appenin finden in Stollen statt, an denen Lombardi und sein Unternehmen beteiligt waren. Die Machbarkeitsstudien zum Gotthard-Basistunnel tragen die Handschrift Lombardis, und sein Büro war an nahezu allen Ingenieuraktivitäten dieses Jahrhundert­projekts massgeblich beteiligt. Lombardis letzte, gigantische Projektierung schliesslich möchte sogar zwei Kontinente miteinander verbinden: 2006 gewann Lombardi im Joint Venture den Planungswettbewerb zum Gibraltar-Tunnel zwischen Europa und Afrika. Und wie könnte es anders sein? Der Tunnel soll wegen der Meeres­tiefe von 900 m nicht geradlinig verlaufen, sondern einen Bogen in den Atlantik hinaus machen, um einem unterseeischen Rücken mit nur 300 m Wassertiefe zu folgen.
Die Überlegungen Giovanni Lombardis, des ­Vir­tuosen des Bogens, sind auch heute noch relevant. Der Kreis schliesst sich.


Anmerkung:
[01] Giovanni Lombardi, «La modellazione nel campo delle dighe in calcestruzzo», Accademia Nazionale dei Lincei, Rom 2004.

TEC21, Fr., 2018.06.29



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18. Mai 2018Peter Seitz
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Frachtschleuse der Alpen

2 280 000 Lkw überquerten 2016 den 1371 m hohen ­Brennerpass. Ob italienisches Acqua minerale nach Norden, deutschen ­Sprudel nach Süden oder doch sinnvollere Transporte – der ­Brenner hat schon alles und alle kommen und gehen sehen: Kaiser, Diktatoren, Zöllner, vor allem aber täglich Reisende und Güter.

2 280 000 Lkw überquerten 2016 den 1371 m hohen ­Brennerpass. Ob italienisches Acqua minerale nach Norden, deutschen ­Sprudel nach Süden oder doch sinnvollere Transporte – der ­Brenner hat schon alles und alle kommen und gehen sehen: Kaiser, Diktatoren, Zöllner, vor allem aber täglich Reisende und Güter.

Der Brenner ist heute kein Postkartenmotiv: Der komplett verbaute Pass, über den schon römische Legionäre marschierten, mittelalterliche Könige nach Rom zogen und als Kaiser zurückkehrten, Säumer ihre Lasten brachten und auf dem Mussolini Hitler die Hand schüttelte, gleicht von oben einem Lindwurm, der nach Süden will. Feuer spuckt er freilich nicht, lediglich Verbrennungsabgase und natürlich eines: Strassen- und Schienenfahrzeuge in beide Richtungen. Dabei suggeriert das Luftbild eine falsche Verteilung. Über die breiten Gleisanlagen am Bahnhof Brenner werden bedeutend weniger Güter umgeschlagen als über das schmale Band der Autobahn.

71 % der über den Pass beförderten Transitgüter, das entspricht 31.2 Mio. t, erreichten 2015 ihr Ziel per Lkw, im Gegensatz zu den 12.7 Mio. t an Waren, die von der bestehende Brennerbahn transportiert wurden. Die Zahlen sind gewaltig. Der Brenner hat nicht nur das höchste Frachtaufkommen aller Alpenpässe, über ihn rollen sogar mehr Güter als über sämtliche alpenquerenden Routen der Schweiz (Gr. St.-Bernhard, Simplon, Gotthard, San Bernadino) oder auch über alle Alpenübergänge von Frankreich nach Italien. In der Schweiz bildet sich der Modal Split, der Anteil der Verkehrsträger am Güterverkehr, jedoch umgekehrt ab: 2016 transportierte hier die Eisenbahn 71 % der Fracht, während der Strassenverkehr nur 29 % einnahm. Werte, die die Bevölkerung der Brennerregion als traumhaft ansehen dürfte.

Seit 1972 die Strecke Innsbruck bis Modena nahezu durchgehend auf der Autobahn befahren werden konnte – ein letztes Teilstück vor Bozen wurde erst 1974 eröffnet –, übernahm am Brenner der Strassenverkehr die Führung in der Güterabwicklung. Abgesehen von kleineren Rückschritten stieg das Transportaufkommen sowohl im Schienen- als auch im Strassenverkehr kontinuierlich an. Das Diagramm der Entwicklung des Güterverkehrs am Brenner liest sich dabei wie ein historischer Rückblick auf die europäische Konjunktur. 2008 und 2009 etwa kann man deutlich einen Rückgang des Frachtvolumens ablesen: Die Finanzkrise zeigte ihre Auswirkungen.

Zwar verfolgt die EU grundsätzlich das Ziel, den Verkehr von der Strasse auf die Schiene zu bringen, doch mit der bestehenden Brennerbahn wäre eine Umkehrung der bestehenden Verhältnisse kaum möglich. Werden in 24 Stunden doch etwa 6500 Lkw an den Mautstationen der Brennerautobahn gezählt. Hinzu kommen noch um die 30 000 Pkw oder ähnliche Fahrzeuge täglich, die die Strecke zumindest teilweise befahren. Diese Zahlen vermitteln selbst Ortsunkundigen eine Vorstellung dessen, was die Brennerroute alles auf sich nimmt respektive was die Anwohner auf sich nehmen müssen.

Transit – Verdiener und Verlierer

Der «Transitwahn», von dem viele sprechen, hat in der Vergangenheit oft zu Unmut bei weiten Teilen der Ortsansässigen geführt. Um sich medial Gehör zu verschaffen, veranstalteten Anwohner mehrere Demonstrationen, die stundenweise Sperrungen der Brennerautobahn nach sich zogen. Bedenkt man die Umweltbelastung durch Abgase und Lärm, die sich in Gebirgstälern bedeutend höher auswirkt als in der Ebene, sind die Forderungen nach einer Verringerung des Verkehrs nachvollziehbar. Andererseits ist der Transitverkehr ein lukratives Geschäft. 1.37 Mrd. Euro nahm die Asfinag, die für die 2200 km Fernstrassen und Autobahnen Österreichs verantwortliche Infrastrukturgesellschaft, 2017 im ganzen Land aus dem Lkw-Verkehr ein. Zahlen für die Brennerroute sind nicht erhältlich, allerdings lassen sich aus der Fahrzeuganzahl von über zwei Millionen und einer Mautgebühr von etwa 50 Euro auf österreichischer Seite die Einnahmen abschätzen.

Dabei sind die Erlöse nicht nur als notwendiges Übel nach dem Motto «Wir machen das Beste draus» zu betrachten. Die alpinen Transitrouten können international durchaus in Konkurrenz zueinander gesehen werden. Die Brennerstrecke gehört dabei aufgrund der Mauthöhe und der Treibstoffpreise zu den günstigen. Deshalb machen Umwegfahrten einen beachtlichen Anteil des Verkehrsaufkommens am Brenner aus. 2011 etwa hätten rund 25 % der Lkw, die den Brenner befuhren, über den Gotthard eine um mindestens 60 km kürzere Route gehabt. Allerdings kann man auch anführen, dass 60 km Umweg für einen Lkw kaum ins Gewicht fallen, wenn man weniger Kontrollen und Formalitäten, etwa an der Grenze, in Betracht zieht und dazu noch günstiger tanken kann.

Eine gewisse Entspannung des massiven Strassengütertransports in Tirol und Südtirol soll ab 2027 der Brenner-Basistunnel bringen. Der Tunnel, das Herzstück des SCAN-MED, wird mit seinen 64 km die längste unterirdische Eisenbahnverbindung der Welt, rechnet man die bereits seit 1994 bestehende, 9 km lange südliche Güterzugumfahrung um Innsbruck mit ein. Die als Flachbahn konzipierte Verbindung befindet sich derzeit im Bau. Mit 120 km/h werden Güterzüge zwischen Tulfes respektive Innsbruck und Franzensfeste in Südtirol den Alpenhauptkamm unterqueren können. Personenzüge werden sogar 250 km/h erreichen. Ein weiterer verkehrstechnischer Höhepunkt, der wie in früheren Zeiten wieder einmal am Brenner entsteht.

Die Brennerbahn

Als Brennerbahn bezeichnet man die über den Pass führende Eisenbahnverbindung zwischen Innsbruck und Verona. Zu Beginn ihrer Bauzeit führte die gesamte Strecke noch durch Herrschaftsgebiet der Habsburger-Monarchie. In nur dreieinhalb Jahren Bauzeit zwischen 1864 und 1867 entstand der Abschnitt über den Alpenhauptkamm zwischen Innsbruck und Bozen. Nach Plänen von Karl Etzel und unter der Leitung des Schweizer Ingenieurs Achilles Thommen setzten bis zu 20 600 Arbeiter das Trassee mit seinen zahlreichen Kunstbauten um und schufen damit seit der Eröffnung der Semmeringbahn zwischen Gloggnitz und Mürzzuschlag (Strecke Wien–Graz) im Jahr 1854 die zweite alpenüberquerende Bahnverbindung – die damals steilste Adhäsionsbahn überhaupt.

Die Strecke führt von Innsbruck (582 m ü. A.)[1] durch das nördliche Wipptal und überwindet bis zum Brennerpass einen Höhenunterschied von 789 m. Von der Passhöhe folgt die Bahnlinie dem südlichen Wipptal respektive Eisacktal bis Franzensfeste (747 m s. l. m.)1, weiter nach Bozen (266 m s. l. m.) und durch das Etschtal bis Verona. Um die Steigungen zu verringern, wurde die Strecke mit zwei Kehrtunnelbauten künstlich verlängert – damals ein Novum im Eisenbahnbau. Die maximale Steigung auf der Brennerstrecke konnte so auf 25 ‰ an der Nord- und 22.5 ‰ an der Südrampe beschränkt werden. Noch heute wird auf der Nordrampe das Dorf St. Jodok am Brenner von der Bahnlinie respektive dem Tunnel auf drei Seiten umfahren. Der zweite Kehrtunnel, der Aster Tunnel auf der Südrampe, ist seit 1999 aufgelassen und wurde durch den Pflerschtunnel mit neuer Linienführung ersetzt.

Auch 151 Jahre nach Eröffnung der Brennerbahn kann die damalige Planung als vorausschauend bezeichnet werden. Im Lauf der Zeit kam es jedoch des Öfteren zu übergeordneten Weichenstellungen, die weiterführenden Planungen nicht gerade förderlich waren. Für die Planungsleistung der Erbauer spricht etwa, dass es nur vier Wochen dauerte, bis die Brennerstrecke ab der ersten Probefahrt für den Personenverkehr freigegeben wurde. Eine feierliche Eröffnung blieb aus, da aufgrund der Hinrichtung von Kaiser Maximilian von Mexiko Hoftrauer im habsburgisch regierten Österreich verhängt war. Ein Jahr zuvor, 1886, konnte das junge Königreich Italien Venetien annektieren. Das südlichste Stück der Brennerbahn entlang des Gardasees fiel damit an einen anderen Staat.

Aus Kostengründen hatte die Bahn über den Alpenhauptkamm bei ihrer Eröffnung 1867 nur ein Gleis, jedoch war das Trassee umsichtig für zwei Gleise angelegt worden. Bereits 1868 verlief der Verkehr auf der Nordrampe zweigleisig, ab 1908 auf der gesamten Strecke. Einen Fortschritt mit Folgen brachte die Elektrifizierung der Strecke mit sich. Da nach dem Ersten Weltkrieg Südtirol und damit die Südrampe der Brennerbahn Italien zugeschlagen war, verlief nun am Brennerpass die Staatsgrenze. Für den südlichen Abschnitt der Brennerbahn waren ab jetzt die Ferrovie dello Stato verantwortlich, auf Nordtiroler Gebiet kam die Österreichische Bundesbahn zum Zug. Beide Strecken wurden 1928–1929 elektrifiziert – allerdings leider mit unterschiedlichen, nicht kompatiblen Stromsystemen. Die Österreicher setzten auf ein Einphasen-Wechselstromsystem mit 15 kV und 16.7 Hz, wie es auch heute in der Schweiz, Österreich und Deutschland üblich ist, während auf italienischer Seite Dreiphasen-Wechselstrom für den Antrieb sorgte.

Bis 1934 kam noch erschwerend hinzu, dass der Bahnhof am Brennerpass grösstenteils auf italienischem Gebiet liegt. Daher konnte die österreichische Seite ihre Elektrifizierung nur bis zur Station Brennersee, nördlich unterhalb des Passes, führen. Ein Weiterführung des österreichischen Stromsystems bis zum Passbahnhof blieb untersagt. Zwischen Brennersee und Pass mussten die Waggons folglich mit Dampflokomotiven befördert werden, bevor dann italienische Loks übernahmen. Ab 1934 gehörte diese Farce aber der Geschichte an. Das österreichische Stromsystem wurde bis in den Bahnhof Brenner weiterverlegt, sodass dieser ein Systemwechselbahnhof wurde.

Ab 1976 stellte die italienische Staatsbahn ihre Brennerstrecke zwar auf 3 kV Gleichstrom um, doch das änderte nichts an der unschönen Begleiterscheinung, dass stromgetriebene Züge die Strecke nicht durchgehend befahren konnten. Auf dem Brenner mussten die Lokomotiven ausgewechselt werden. 1993 – immerhin – konnten erstmals Güterzüge, gezogen von sogenannten «Brennerloks», die Strecke durchgehend elektrisch befahren. Allerdings kamen die Lokomotiven aufgrund des Stopps der RoLa über die Brennerroute im Jahr 1992 und Desinteresse auf italienischer Seite kaum zum Einsatz. Heute gibt es mehrere moderne Mehrsystemlokomotiven, um die Strecke, die eine Kapazität von etwa 230 Zügen pro Tag aufweist, durchgängig befahren zu können.

Die alte Brennerstrasse (B 174 und SS 12)

Vor dem Bau der Brennerautobahn lief der gesamte strassengebundene Transitverkehr über die alte Brennerstrasse. Die Motorisierung Deutschlands im Zuge des Wirtschaftswunders erreichte in den 1950er- und 1960er-Jahren die Alpen. Der Traum, Italien mit dem eigenen Auto anzusteuern, war in greifbare Nähe gerückt. Käfer an Käfer, NSU an BMW Isetta, alles wollte in den Süden. Noch heute führt die Bundesstrasse B 174 von Innsbruck unter der Europabrücke (Autobahn, seit 1963) hindurch, umfährt Schönberg und durchquert die Hauptorte an der Brennerroute – Matrei, Steinach und Gries.

Der untere Abschnitt bis Schönberg wurde bereits 1844 fertiggestellt. Für den Gütertransitverkehr ist sie heute jedoch gesperrt, sodass sie nur für den Ziel- und Quellverkehr und natürlich für den motorisierten Individualverkehr von Bedeutung ist. Aufgrund der kurvenreichen Strecke im unteren Abschnitt und der zahlreichen Ortsdurchfahrten wird die alte Brennerstrasse, die von Pkw mautfrei befahren werden darf, vor allem für Reisende ohne Zeitdruck oder zur Umfahrung eines Staus auf der Autobahn genutzt.

Die Brennerautobahn (A 13 und A 22)

Als erste Autobahn über die Alpen war die Brennerautobahn eine technische Meisterleistung und ist es mit ihren zahlreichen Kunstbauten bis heute geblieben. Mit ihrer Steigung von maximal 6 % bildet sie seit ihrer Fertigstellung 1974 das Rückgrat des alpenquerenden Verkehrs.

Höhepunkt der A 13 auf österreichischer Seite ist zweifelsohne die Europabrücke. Anfängliche Planungen sahen sie noch gar nicht vor. Die Autobahn sollte, wie auch die Brennerbahn, eigentlich auf der orografisch rechten Flusseite der Sill entlang geführt werden. Touristischen Überlegungen folgend wechselte man aber vor Schönberg die Talseite, was eine Brücke nötig machte. Die 657 m lange Hauptbrücke mit ihren fünf Stahlbetonpfeilern war bei ihrer Fertigstellung im Jahr 1963 mit 190 m die höchste Brücke Europas. Die Konstruktion als stählerner Hohlkastenträger mit orthotroper Platte muss gewaltige Windlasten aufnehmen können – ist das Wipptal doch ein Föhntal par excellence. Die anfängliche Breite von 22.20 m wurde 1984 auf 24.60 m erhöht. Seither besitzt die Brücke in jede Richtung drei Fahrspuren und jeweils einen davon abgetrennten Gehweg.

Auf italienischer Seite ist der Gossensass-Viadukt (Viadotto Colle Isarco) der A 22 das auffälligste Bauwerk. Mit einer Länge von 1031.5 m und zwölf Pfeilern mit einer Höhe bis zu 87 m überbrücken die 13 Felder (grösste Spannweite 163 m) hoch über dem Ort Gossensass den Fluss Eisack.

Der Brenner-Basistunnel

Selbst das modernste Projekt am Brenner ist vor Skurrilitäten nicht gefeit. Der Brenner-Basistunnel wird als Scheiteltunnel von Innsbruck nach Franzensfeste geführt. Mit maximal 6.7 ‰ führt er von Innsbruck zum Scheitelpunkt auf 790 m ü. M. (Schienenoberkante [SOK] 794 m), 580 m unter dem Pass. Von dort geht es mit 4 ‰ bergab zum südlichen Tunnelportal bei Franzensfeste. Die Neigungen hätten aufgrund des Höhenunterschieds der Portale Innsbruck (SOK 608.8 m) und Franzensfeste (SOK 747.2 m) noch geringer ausfallen können. Die italienische Seite bestand aber auf einem künstlichen Scheitelpunkt an der Grenze. Auf italienischem Gebiet anfallendes Wasser wird also nach Italien entwässert.

Die Auslegung des Brenner-Basistunnels samt der bestehenden Brennerstrecke wird etwa 400 Züge pro Tag betragen. Aufgrund der Ausgestaltung als Flachbahn können die Züge künftig schwerer sein als auf der Bestandsstrecke. 25 Minuten werden Personenzüge von Innsbruck nach Franzensfeste benötigen – etwa eine Stunde weniger als bisher.

Die Nord- und Südzuläufe

Eine unbefriedigende Situation für den Brenner-Basistunnel zeichnet sich ausserhalb seines Projektperimeters ab. Ob eine genügende Auslastung gegeben sein wird, hängt in erster Linie von der Politik ab. Gelingt die Umlagerung von der Strasse auf die Schiene nicht in gewünschtem Mass, werden die Gelder – die Kostenschätzung beträgt immerhin etwa 8 Mrd. Euro –, wie es Projektgegner befürchten, im wahrsten Sinn «verlocht» sein. Die Zulaufstrecken zum Tunnel sind daher von immenser Bedeutung. Im Norden des Brenner-Basistunnels ist die Unterinntalstrecke von Wörgl bis Innsbruck mit einer Kapazität von bis zu 570 Zügen pro Tag bereits fertig ausgebaut. Neben der Bestandsstrecke ist eine neue, zweigleisige Strecke entstanden. Von dieser 40 km langen Eisenbahnverbindung führen 34 km durch Tunnel, Galerien und Wannen, um die Auswirkungen auf das Inntal möglichst gering zu halten.

Von Wörgl bis zur deutsch-österreichischen Grenze bei Kiefersfelden stehen Ausbaupläne bereits fest, sind aber abhängig von der Trassenführung einer Neubaustrecke auf deutscher Seite (München–Rosenheim–Kiefersfelden; derzeitige Kapazität etwa 260 Züge pro Tag). Die Planung Letzterer ist jedoch zeitlich bedeutend im Verzug, sieht man auf die Eröffnung des Tunnels 2027. Derzeit liegen Korridorentwürfe vor, aus denen dann das Trassenauswahlverfahren erstellt werden soll, selbstverständlich unter Einbezug relevanter Entscheidungsträger – in der Schweiz würde man hierzu partizipative Planung sagen. Ein durchgängiger, die Anforderungen erfüllender Nordzulauf kann durchaus erst zehn Jahre nach der Inbetriebnahme des Brenner-Basistunnels umgesetzt sein.

Am Südzulauf sieht es etwas entspannter aus. Da bereits einige Tunnel neu erstellt wurden (Ceraino, Kardaun, Schlern, Pflersch), liegt das Augenmerk nun auf der Modernisierung technischer Anlagen. Derzeit können 280 Züge am Tag die Strecke befahren. Die Kapazität soll bis zur durchgehenden Verbindung unter dem Brenner auf 400 Züge pro Tag gesteigert werden.

Der Brennerpass von morgen

Ob der Brenner-Basistunnel zur räumlichen Entlastung des Transitverkehrs in gewünschtem Mass beitragen wird, ist also offen. Eventuell könnte eine Umlagerung der Güterströme zu einer touristischen Belebung des Wipptals führen. Ein Ferienziel im Herzen der Alpen mit ausserordentlich guter Verkehrsanbindung – das klingt vielversprechend. Am Brenner gab es das schon einmal: Brennerbad, südlich des Passes, erlebte als bekanntes Thermalbad seine Blütezeit im 19. Jahrhundert und besass ab 1869 sogar Schnellzuganschluss. Der Ort Brenner selbst, ein Konstrukt aus (ehemaliger) Zollwache, Eisenbahnersiedlung und Handelsunternehmen, verwaiste seit dem Beitritt Österreichs zum Schengener Abkommen 1998 mehr und mehr.

Heute noch als «Auspuff Europas» verunglimpft, ist den meisten die Brennergegend nur von der Durchreise her bekannt. Dabei gibt es hier einiges zu entdecken. Die weltberühmten Dolomiten etwa verdanken ihren Namen dem Dolomitgestein, das nach dem Herkunftsort des Entdeckers Déodat Gratet de Dolomieu benannt ist. Dem Namen liegt also ein französisches Dorf zugrunde, das Gestein aber stammte von den Tribulaunen – und die stehen weder in Frankreich noch in den Dolomiten, sondern am Brenner.


Anmerkung:
[01] Die absoluten Höhenangaben in Österreich (m ü. A. = Meter über Adria) und Italien (m s. l. m. = metri sul livello del mare) weichen bis zu 3.2 cm voneinander ab.

TEC21, Fr., 2018.05.18



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TEC21 2018|20 Bauwerk Europas: der Brenner-Basistunnel

18. Mai 2018Peter Seitz
TEC21

Vor dem Vortrieb erst erkunden

Schnell zum Törggelen nach Südtirol oder umgekehrt einmal auf die Münchner Wiesn? Mit der Eröffnung des Brenner-Basistunnels rückt diese Vision ab 2027 in erreichbare Nähe. 230 km Stollen werden bis dahin für die längste unter­irdische Eisenbahnverbindung der Welt ausgebrochen sein.

Schnell zum Törggelen nach Südtirol oder umgekehrt einmal auf die Münchner Wiesn? Mit der Eröffnung des Brenner-Basistunnels rückt diese Vision ab 2027 in erreichbare Nähe. 230 km Stollen werden bis dahin für die längste unter­irdische Eisenbahnverbindung der Welt ausgebrochen sein.

Laien stellen sich unter einem Tunnel gewöhnlich eine Röhre mit einem Ein- und Ausgang vor. Prinzipiell ist das richtig, beschäftigt man sich aber mit dem Brenner-Basistunnel, bleibt von der Vorstellung sehr wenig übrig. Der Tunnel besteht zunächst aus drei Röhren, davon zwei Haupt­röhren im Abstand von 70 m mit einem Durchmesser von 8.1 m, die jeweils mit einem Gleis ausgestattet werden und in denen später die Züge richtungsgetrennt geführt werden. Mittig zwischen diesen, etwa 12 m nach unten versetzt, verläuft der kleinere Erkundungsstollen (d = 5 bis 6 m). Er läuft den Ausbrucharbeiten der Haupt­stollen immer voraus und dient während des Baus der Erkundung der Geologie und Hydrogeologie. In der Betriebsphase wird die Entwässerung über ihn stattfinden. Ausserdem ­werden möglichst viele betriebstechnische Einrichtungen in ihm unterkommen, um Unterbrüche der Verkehrsröhren etwa aufgrund von Wartungs­arbeiten minimieren zu können.

Alle 333 m sind die Hauptröhren mit einem Querschlag verbunden, der im Notfall als Fluchtweg in die andere Röhre dient. Eine Evakuierung von Personen über die Querschläge wird jedoch nach Möglichkeit vermieden. Ein Zug wird im Ereignisfall versuchen, den Tunnel zu verlassen oder aber eine der drei Not­haltestellen anzufahren. Diese befinden sich bei Inns­bruck, St. Jodok und Trens und sind jeweils über einen ­Zufahrtstunnel mit der Aussenwelt verbunden. In den 470 m langen Nothaltestellen ist zwischen den Verkehrsröhren ein Mittelstollen angeordnet, in den Passa­giere über alle hier im Abstand von 90 m angeordneten Verbindungsstollen (Querschläge) flüchten können.

Der Mittelstollen ist zweigeteilt. Im unteren Bereich finden die in Not Geratenen Platz, während über den oberen Bereich Rauchgase abgesaugt werden können. Um 45 m versetzt zu den Verbindungsstollen liegen die Abluftstollen, die im Kalottenbereich an den Mittel­stollen angeschlossen sind. Die Frischluftzufuhr über den Zufahrtstunnel erzeugt im unteren Passagier­bereich nun einen Überdruck, sodass dieser rauch­frei bleibt. Über die Abluftstollen entweichen die Rauch­gase in den oberen Bereich des Mittelstollens und werden an die Oberfläche abgeführt. Ein Rettungszug auf dem Gegengleis kann die Verunglückten evakuieren. Auch ein Entkommen über die Zufahrts­tunnel mittels eingesetzten Bussen ist möglich. Zu Fuss würde dies nämlich etwa eine Stunde Fussmarsch bergauf bedeuten.

Ein Tunnel, drei Portale, acht Einfahrten

Von Bozen können Züge über den Südzulauf direkt durch das Portal Franzensfeste in den Basistunnel einfahren. Der Bahnhof Franzensfeste wird dabei nur tangiert. Jedoch ist er ebenfalls über eine Zufahrt an den Tunnel angeschlossen, die im Bereich der Eisackunterquerung auf die Hauptröhren trifft. Nach Norden ermöglicht das Portal Innsbruck eine direkte Einfahrt in die Hauptstadt Tirols, was vor allem für Personenzüge von Interesse ist. Güterzüge des Transitverkehrs werden aber über zwei Verbindungstunnel (letzter Durchschlag 2017) unterirdisch in die seit 1994 bestehende Umfahrung Innsbruck Süd abgeleitet. Diese 9 km lange Umfah­rung kommt am Portal Tulfes wieder ans Tageslicht, ver­einigt sich dort wieder mit der Strecke aus Innsbruck und bildet, als Unterinntalstrecke bezeichnet, einen Teil des Nordzulaufs.

Die Verbindungstunnel kreuzen sich höhen­­frei. Der Grund ist die unterschiedliche Zugführung zwischen Italien und Österreich. In Italien, wie auch in der Schweiz oder Frankreich, fahren Züge von Süd nach Nord auf dem linken Gleis, während in Tirol und Deutschland Rechtsverkehr im Bahnbetrieb herrscht. Die Umfahrung Innsbruck Süd wies bisher noch keinen Rettungsstollen auf. Da mit der Öffnung des Brenner-­Basistunnels die Zug- und Personenanzahl im bestehenden Stollen zunehmen wird, wurde der Rettungstunnel Tulfes parallel im Abstand von 30 m hinzugefügt.

Bitte einsteigen – der Vortrieb fährt ab

Aus vier Zufahrtstunneln – Ampass, Ahrental, Wolf und Mauls – werden Zwischenangriffe aufgefahren. Der Rettungstunnel Tulfes etwa wurde sowohl von seinem Portal aus als auch von Ampass in Ost- und Westrichtung mittels Sprengvortrieb aufgefahren. Die Verbindungstunnel zwischen bestehender Umfahrung Innsbruck Süd und dem eigentlichen Basistunnel wurden ebenfalls in Sprengtechnik über die Zufahrt Ampass, aber auch über Ahrental vorgetrieben. An welcher Stelle die Gleise aus dem Basistunnel in die Südumfahrung einge­leitet werden, stand bereits seit 1994 fest. Beim Bau der Innsbrucker Umfahrung wurde eine Abzweigungs­kaverne angelegt. Die Querschnitte der nördlichen Hauptröhren des Basistunnels im Bereich der Zufahrt Ahrental werden mit Sprengungen nach der neuen ­österreichischen Tunnelbauweise aufgefahren.

Hingegen kommt für den vorauslaufenden Erkundungsstollen in Richtung Steinach eine offene, 200 m lange Gripper-Tunnelbohrmaschine zum Einsatz. Anders als die meisten ihrer Schwestern trägt sie, zu Ehren des Tiroler Landeshauptmann Platter, den männlichen Namen Günther. Derzeit hält die Maschine einen Rekord: Im Mai 2017 trieb sie in 24 Stunden 61.04 m des Erkundungsstollens im Quarzphyllit voran – Weltrekord im Tunnelvortrieb! Baumaterial, das für den Erkundungsstollen benötigt wird, hat bis zur Bohrmaschine schon eine Fahrt auf einem speziellen Fahrzeug hinter sich. Sogenannte Multiservice Vehicles (MSV), gummibereifte Schwerlastzüge, bringen die Lasten, falls gewollt vollkommen selbstfahrend, zu ihrem Einsatzort.

Zur Basis, Bahn, Autobahn oder Deponie?

Der Zufahrtstunnel Wolf wurde als eigenes Baulos abgewickelt und veranschaulicht eindrücklich, welch grosser Aufwand erforderlich ist, um nur den Basis­tunnel zu erreichen. Schon das Auftragsvolumen des Loses Wolf von 104 Millionen Euro würde einer normalen Tunnelbaustelle zur Ehre gereichen.

Der Installationsplatz Wolf liegt auf dem Talboden südlich von Steinach. Für die Baustellenversorgung via Eisenbahn wurde eigens ein eigener Gleisanschluss erstellt, der an die bestehende Brenner­bahn angeschlossen ist. Die Autobahn A 13 verläuft etwa 150 m oberhalb des Platzes am westlichen Berghang. Da die Baustellen zum Schutz der Anwohner direkt von den Autobahnen angefahren werden müssen, wurde der 1 km lange Saxenertunnel im Sprengvortrieb als Verbindung geschlagen. Sein Durchmesser von 10 m reicht für zwei Fahrbahnen, sodass Lkw im Gegenverkehr ohne Einschränkung fahren können. Der Anschluss an die Autobahn ist normgemäss, jedoch ist über eine spätere Verwendung der Zufahrt nach Inbetriebnahme des Brenner-Basistunnels noch nicht entschieden.

Vom Installationsplatz führt ein Zufahrtstunnel erst in einer Rechtskurve und dann gradlinig mit 10 % Gefälle 4 km hinab auf Höhe des Basistunnels, 400 m tiefer als der Talboden. Eine Querverbindungskaverne erschliesst die Angriffspunkte der Tunnelbohrmaschinen, die für den Vortrieb der Verkehrsröhren eingesetzt werden. Diese TBM sind Bestandteil des Bauloses Pfons–Brenner (vgl. unten). Auch der Zufahrtsstunnel ist zweispurig für Lkw befahrbar. Hinzu muss der Querschnitt noch seitlich angeordnete Schutterbänder und Lüftungslutten an der Kalotte aufnehmen können. Anfallendes Wasser wird über Kaskaden, die seitlich in Querschlägen eingebettet sind, an die Oberfläche gepumpt.

Im oberen Abschnitt besitzt der Zufahrtstunnel über den sogenannten Schutterstollen und den Pa­dastertunnel zwei zusätzliche Ausgänge ins Padastertal, ein unbesiedeltes, V-förmiges östliches Seiten­tal des Wipp­tals, das hinauf in Alpgelände führt. In ihm entsteht mit 7.7 von insgesamt 17 Millionen Kubik­metern Abla­gerungs­volumen die grösste Deponie des Basis­tunnel-Projekts. Der Padasterbach musste für die Ma­terialablagerung in einem Stollen umgeleitet werden. Mit der Deponierung des nicht mehr verwendbaren Ausbruchmaterials bekommt auch der Bach ein neues Bett. Ausserdem wird ein neuer Wander­weg an­gelegt, der das später U-förmige Padas­ter­tal umrundet.

Die grössten: Pfons–Brenner, Mauls 2–3

966 Millionen Euro beträgt das Auftragsvolumen für das grösste Baulos auf österreichischer Seite, Pfons–Brenner, das im Frühjahr 2018 vergeben wurde. Vier Tunnelbohrmaschinen werden vom Startpunkt unterhalb der Zufahrt Wolf die Hauptröhren nach Norden und Süden bis zur Staatsgrenze vorantreiben. Insgesamt werden dies 37 km Verkehrsröhren sein. Der Erkundungsstollen in diesem Losabschnitt sowie die Not­haltestelle St. Jodok werden im Sprengvortrieb erstellt.

Noch grösser fällt Los Mauls 2–3 auf italie­nischer Seite mit einem Auftragsvolumen von 993 Mil­lionen Euro aus. Die Nothaltestelle Trens, ihr Zufahrtsstollen und die Hauptröhren nach Süden werden bergmännisch ausgebrochen. Ab der Nothaltestelle übernehmen dann die baugleichen Tunnelbohrmaschinen Virginia und Flavia mit ihren je 4200 kW und einem Durchmesser von 10.65 m den Vortrieb der Verkehrsröhren bis zum Brenner. Im Erkundungsstollen voraus frisst sich ihre kleine Schwester Serena in Richtung Scheitelpunkt des Tunnels.
Eisackunterquerung

Ein spezielles Baulos stellt die Eisackunterquerung kurz vor dem Tunnelportal bei Franzensfeste dar. Nicht nur der Fluss, auch die bestehende Bahnstrecke und die Autobahn müssen unterfahren werden. Die Überdeckung der Tunnelröhren ist hier nur noch gering, bei der Flussquerung beträgt sie etwa 12 m. Die Durch­örterung erfolgt im anstehenden Lockergestein des Talbodens. Daher kommen diverse Gesteinsverfestigungsmethoden zum Einsatz, etwa Jet Grouting oder Vereisungsverfahren (vgl. www.espazium.ch/neubau-­albulatunnel-2). Zur Unterfahrung des Flusses werden beidseitig Schächte bis auf Sohlenhöhe der Hauptröhren in das verfestigte Gestein abgeteuft. Das Umgebungsgestein der Röhren unterhalb des Flussbetts wird sodann für die Durchörterung vereist.
Steine und Störung

Der Basistunnel durchfährt vier grosse Zonen unterschiedlichen Gesteins. Im Norden stehen Innsbrucker Quarzphyllit an, im nördlichen und südlichen Wipptal unterhalb des Scheitels dominieren Bündner Schiefer, während im Abschnitt des Brennerpasses Gneis vorherrscht. Der Tunnel durchstösst bei Mauls die Periadriatische Naht, die als längste Störzone der Alpen die Süd- von den Zentralen Ostalpen trennt. Ihre Durchörterung geschah auf etwa 700 m bereits in einem ­ Vorlos und warf keine besonderen Probleme auf. Südlich der Naht steht Brixner Granit an.

Überhaupt geben sich die Gesteine eher gut­mütig. Sie sind mit den gewählten Verfahren recht gut abzubauen, allerdings sind die Ausbrüche, vor allem des Quarzphyllits und des Bündner Schiefers, teilweise von recht schlechter Qualität. Nach umfangreichen Forschungen zur Aufbereitung der Gesteine respektive zu möglichen Betonzusammensetzungen landen mittlerweile noch etwa 60 % des Ausbruchs auf den Deponien. Dies ist umso erstaunlicher, da für die Einbauten des Brenner-Basistunnels erhöhte Anforderungen bestehen.

Als Nutzungsdauer wurde nämlich, abweichend von den anzuwendenden Normen, 200 Jahre angenommen. Dies hat selbstverständlich Auswirkungen auf die Bemessung der Einbauten und die konstruktive Durchbildung der Tunnelstruktur und musste auch in die Betonrezepturen eingehen. Die übrigen 40 % des Ausbruchsmaterials können direkt für die Erstellung des Tunnels, etwa der Spritzbetonschale, der inneren Tunnelschale, der Banketten oder als Füll- und Schottermaterial verwendet werden. Als Nischenprodukt für die Bauindustrie wurde gar ein neuartiger Sichtbeton entwickelt. Bei dieser Sicht-Stein-Betonbauweise bleibt im Gegensatz zum klassischen Sichtbeton die Gesteinskörnung sichtbar. Die Zuschlagsstoffe werden in eine Schalung gegeben und ein selbstverdichtender Beton aufgefüllt. An der neuen kleinen Kapelle St. Wendelin am Eingang des Padastertals lässt sich das Ergebnis betrachten.

Finanzierung

Die beeindruckenden bis erschreckenden Dimensionen des Brenner-Basistunnels setzen sich bei den Finanzen fort. Als am höchsten gefördertes Infrastrukturprojekt Europas steht das mit Kosten von 8.3 Mrd. Euro prognostizierte Bauwerk einzigartig da. 40 % der Projektkosten trägt die EU, vom Erkundungsstollen werden sogar 50 % übernommen. Die restlichen Anteile teilen sich Österreich und Italien hälftig. Diese gewaltige Summe relativiert sich etwas, be­denkt man die Beträge, die von der EU in kürzester Zeit für desolate Finanzsysteme bereitgestellt werden. Zudem fliessen bedeutende Teile des Gelds für den Tunnelbau über Steuerzahlungen der am Bau Beteiligten wieder zurück in die öffentlichen Kassen. Für die Betreiberstaaten scheint das finanzielle Risiko daher tragbar. Vielmehr noch, da Prognosen zufolge das Güter­transit-Verkehrsaufkommen zukünftig weiter steigen und seine Abwicklung wohl lukrativ bleiben wird. Und das Wichtigste? Die EU bekommt wenigstens beim Brenner-­Basistunnel für ihr Geld eine konkrete, trotz der bis zu 1800 m hohen Gebirgsüberdeckung sichtbare Gegen­leistung – mit ­Sicherheit nicht nur ein Loch im Berg.

TEC21, Fr., 2018.05.18



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TEC21 2018|20 Bauwerk Europas: der Brenner-Basistunnel

06. April 2018Peter Seitz
TEC21

Vorhang zu bei Sonnenschein

Mailand ist nicht gerade berühmt für seine Sonnentage. Ob die Nebel der Poebene oder Smog die Stadt in Grau hüllen: An etlichen Tagen im Jahr herrscht diesiges Wetter vor. Die grossen Glasflächen der Fondazione Feltrinelli machten einen aufwendigen Sonnenschutz trotzdem unumgänglich.

Mailand ist nicht gerade berühmt für seine Sonnentage. Ob die Nebel der Poebene oder Smog die Stadt in Grau hüllen: An etlichen Tagen im Jahr herrscht diesiges Wetter vor. Die grossen Glasflächen der Fondazione Feltrinelli machten einen aufwendigen Sonnenschutz trotzdem unumgänglich.

An die «cascine», die lang gezogenen, schmalen Bauernhäuser der Lombardei, soll der Neubau der Fondazione Feltrinelli gemäss den Architekten erinnern (vgl. «Die Wunde heilen»). Eine Betrachtung kann aber auch Assozia­tionen an Treibhäuser wecken, an denen in Italien wahrlich kein Mangel herrscht. Schliesslich sind die 14 249 m² Nutzfläche der Fondazione von 15 362 m² Glasfassade eingehüllt. Da die Gebäudeachse ungefähr von Südost nach Nordwest ausgerichtet ist, sind die lange Südwestfront mit ihrem aufgesetztem Satteldach und der westseitige, verglaste Giebel geradezu prädestiniert, als Sonnenfalle zu wirken. Was im Winter angenehm sein kann, schafft im Sommer klimatische Probleme.

Dementsprechend musste dem Sonnenschutz ein grosses Augenmerk gewidmet werden. Als äussere Hülle kam 10 mm Sonnenschutzglas zum Einsatz, das eine Selektivitätskennzahl von 1.9 und einen Gesamt­energiedurchlassgrad von 0.38 aufweist. Die innere Hülle der Fassade besteht aus Wärmedämmgläsern (low-E), die gleich­zeitig den Schallschutz verbessern. Je nach Ausrichtung der Fensterflächen wurden verschiedene Gläser kombiniert. Die so aufgebauten Glasflächen erreichen einen Ug-Wert von 0.9 W/m2K. Laut Glashersteller entspricht dies dem derzeit erreichbaren Wert einer Doppelverglasung. Niedrigere Werte liessen sich nur mit einer Dreifach­verglasung erreichen, was in anderen Ländern mittlerweile als Standard angesehen werden kann.

Abgeschirmte Scheiben im Süden

Von den 1224 Fenstern können 384 an der Südseite mit Storen aus Stoff vollständig abgeschirmt werden. Waren die rechteckigen Fenster der senkrechten Fassade noch standardmässig auszurüsten, bedurften die rautenförmigen Glasflächen des Satteldachs mancher Überlegung, wie sie wind- und wetterfest abgeschirmt werden können. Die Lösung des eigentlich zweidimensionalen Problems lag in der dreidimensionalen Anordnung der Storenrollen. Sie ragen aus der Glasebene heraus und sind an der Unterseite der umlaufenden Gesimse befestigt. Über eine Umlenkrolle werden die Stoffbahnen in die schräge Ebene des Dachs überführt.

An den obersten beiden Fensterbändern wurden keine aussenseitigen Storen angeordnet. Eine gewisse Beschattung des im Dachspitz liegenden Lesesaals wird durch grossflächige, innen liegende, luftig wirkende Vorhänge erreicht. Die grossen Glasflächen der Giebelseiten des Gebäudes können nicht abgeschirmt werden. Daher wurden hier Gläser mit einem Gesamtenergiedurchlassgrad von maximal 30 % eingebaut. Dies re­duziert das Risiko einer Überhitzung dieser Bereiche deutlich.

Sichtbare Betonflächen dominieren

Die Installationen der Heiz- und Kühltechnik, aber auch der Brandmeldeanlagen und anderer Gebäudetechniken musste sich den Wünschen der Planer nach grossen Flächen Sichtbeton unterordnen. Die Geschossdecken sind in Sichtbeton ausgestaltet. Mit je einer Länge von 40 m, bei einer Breite von 13 m und einer Stärke von 30 cm sind die Deckenplatten als Vollplatten ohne Nachspannelemente gebaut. Die um das Gebäude umlaufenden 15 cm starken Gesimse sind aus thermischen Gründen nur im Bereich der Stützen an die Geschossdecken angeschlossen und kragen etwa 1.40 m aus. Sie dienen zur Aufnahme der Sonnenschutz­einbauten in der Dachebene und können für ­R­einigungs- und Wartungsarbeiten benutzt werden.

Auch die paarweise angeordneten Stützen mit ihrer ungewöhnlichen dreieckigen Form sind passend zu den Geschossdecken in Sichtbeton erstellt. Zum Einsatz kam wie auch bei den oberirdischen Böden und Gesimsen ein Beton der Klasse C32/40. Im Querschnitt weisen die Stützen ein gleichseitiges Dreieck mit einer Kantenlänge von 70 cm auf. Aufgrund der benötigten Menge, eines effektiveren Bauablaufs und der hohen Anforderungen an die Erscheinung des Betons wurden die Stützen als Fertigelemente produziert und mit den in Ortbeton erstellten Geschossdecken verbunden.

Sehr wichtig für den gewünschten Ausdruck der ausgedehnten Sichtbetonflächen war neben den üblichen Anforderungen bezüglich der Vermeidung von Kiesnestern, Verfärbungen und Rostspuren die Verhinderung von Rissen. Gemäss Betonhersteller konnten die Rissbreiten auf 150 µm beschränkt werden und blieben damit weit unterhalb der geforderten Begrenzung auf 250 µm.

Gebäudetechnik weitgehend versteckt

Die Betondecken mussten sichtbar bleiben, um den Ausdruck der formal strengen Architektur aufrechtzuerhalten. Abgehängte Decken zur Aufname von technischen Installationen waren somit ausgeschlossen. Daher wurden nur Brandmelder und Lichtpunkte, aus energetischen Gründen mit LED-Technologie, in die Decken selbst eingelassen. Die Klimatisierungstechnik musste anderweitig Platz finden. Da jedoch auch der an den Fassaden verfügbare Raum mit der wechselnden Folge von dreieckigen Betonstützen und den Fenster­elementen stark zur architektonischen Wirkung beiträgt, musste die Klimatisierung möglichst unauffällig untergebracht werden.

Die Planer entschieden sich für den Einbau von Gebläsekonvektoren mit Primärluft­einlass, die sie vor der Fensterfront im Hohlboden ­versenkten. Die speziell für dieses Gebäude entwickelten Konvektoren besitzen ein 4-Rohr-System, das es ermöglicht, gewisse Gebäudeteile zu beheizen, andere hingegen gleichzeitig zu kühlen. Die ausgeprägte Südost-Nordwest-Ausrichtung des Gebäudes macht dies unter Umständen nötig.

Die Anordnung der Klimatisierungsgeräte unterhalb der geneigten Fensterflächen der Dachebene warf Fragen bezüglich des Komforts auf. Kalte Luft hätte durch den Rückprall von den geneigten Wandflächen zu unangenehmen Zuglufteffekten vor allem im Fussbereich führen können. Daher liessen die Planer beim Hersteller der Klimatechnik ein Teilmodell der geneigten Fassade mit eingebautem Konvektor im Massstab 1 : 1 untersuchen.

Klima dank Grundwasser

Die Kühl- und Wärmeleistung für die Gebläsekonvektoren wird über Grundwasserwärmepumpen bereitgestellt. Das hohe Grundwasservorkommen Mailands bot sich hierfür geradezu an. Neun Grundwasserbrunnen können, aufgrund der über das Jahr wenig schwankenden Temperatur des Fluids, eine konstante Leistung und genügende Kapazität für die Kälte- und Wärmegewinnung sicherstellen. Im Winter muss eine maximale thermische Leistung von 562.7 kW bereitgestellt werden. Die notwendige sommerliche Kühlleistung kann bis zu 1637.3 kW betragen.

Dank der Kombination aus Beschattung, geeigneten Gläsern und effektiver Klimatechnik konnten die Planenden für das Gebäude die Energieeffizienzklasse B erreichen. Das Gebäude verbraucht damit weniger als 75 kWh/m2a Energie und reiht sich zwischen den Minergie -P- und den Minergie -A-Kennzahlen für neu gebaute Verwaltungsgebäude ein (100 respektive 35 kWh/m2a). Zudem wurde dem Gebäude die LEED-Zertifizierung Silver bescheinigt. 256 t CO2 sollten so jährlich eingespart werden können, was etwa einer Menge von 100 000 l Heizöl entspricht.

TEC21, Fr., 2018.04.06



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TEC21 2018|14 Neubau der Fondazione Feltrinelli

09. März 2018Peter Seitz
TEC21

HiLo – Beton in neuer Schale

Das Dach ist beheizbar, kühlbar und stromerzeugend, sein Tragwerk eine ultradünne Betonschale, freitragend, carbonbewehrt und ohne konventionelle Schalung erstellt. Die Decken des Zwischengeschosses bestehen aus Beton ohne Biegezugbewehrung und sind sehr leicht. Wahrlich für das NEST prädestiniert, was die Forscher der ETH Zürich ausgebrütet haben.

Das Dach ist beheizbar, kühlbar und stromerzeugend, sein Tragwerk eine ultradünne Betonschale, freitragend, carbonbewehrt und ohne konventionelle Schalung erstellt. Die Decken des Zwischengeschosses bestehen aus Beton ohne Biegezugbewehrung und sind sehr leicht. Wahrlich für das NEST prädestiniert, was die Forscher der ETH Zürich ausgebrütet haben.

Das gibt es nicht alle Tage: Das Tragwerk eines 160 m² grossen Dachs, das 120 m² Grundfläche überspannt und 7 m hoch ist, wird im Massstab 1 : 1 in einer Versuchshalle errichtet, und ein Jahr später entsteht es an seinem eigentlichen Bestimmungsort nochmals. Der betriebene Aufwand lässt zwei Schlüsse zu: Es handelt sich um etwas Neuartiges, und die Forschung hierzu ist bereits weit fortgeschritten und erfolgreich.

Beides trifft auf den Dachprototypen des HiLo (High performance, Low energy) zu, einer neuen Gebäudeeinheit, auch Unit genannt, die demnächst auf dem NEST errichtet wird (vgl. Kasten unten). Der Prototyp besteht aus einer freitragenden, doppelt gekrümmten, kohlenfaserbewehrten Betonschale. Ihre Dicke vari­iert von 3 cm am Dachrand bis 12 cm an den­Auflagern. In den meisten Bereichen liegt sie zwi­schen 3 und 5 cm. Werte, die aufgrund geforderter Beton­überdeckungen mit Stahlbewehrung nicht mehr möglich wären. Zum Vergleich seien hier die stahlbewehrten Betonschalen aus den 1960er-Jahren von Heinz Isler an der Raststätte Deitingen-Süd erwähnt (vgl. TEC21 11/2017). Sie weisen eine Stärke von 9 cm auf, haben zwar eine Spannweite von 31 m, sind aber nicht freitragend ausgebildet.

Die Form des HiLo-Dachs mit seinen auskragenden Eckvorsprüngen, aber vor allem die Schalungsbauweise fällt aus dem Rahmen des Üblichen, obwohl Letztere regelrecht in einer Rahmenkonstruktion liegt.

Netz als Schalung

Die Entwickler der Dachschalenbauweise des HiLo, ein Team um Professor Philippe Block und Dr. Tom Van Mele von der ETH Zürich, unterstützt von mehreren Industriepartnern, verwenden ein Netz aus Stahlkabeln und kreisförmigen Stahlringknoten als Schalungsgrundlage. Das Netz wird mit Spannschlössern an Rahmen­elementen aus Holzleimbindern aufgespannt, die durch eine Gerüstkonstruktion in ihrer Lage fixiert sind. Ein darauf aufgebrachtes Polymertextil bildet den unteren Abschluss für den Beton. Abstandshalter an den ringförmigen Verbindern des Netzes tragen die eingelegte Bewehrung aus Kohlenfasergewebe. So können 20 t nasser Beton auf eine Schalungskon­struk­­tion von nur 800 kg (ohne Gerüst und Rahmen) aufgebracht werden.

Doch wie werden die zwangsläufigen Verformungen des Schalungsnetzes beim Auftrag des Betons gehandhabt? Sie werden vorausberechnet. Ihre end­gültige Form erhält die Betonschale nämlich erst, wenn sich das Schalungsnetz durch das Betongewicht an­gepasst hat. Die hierfür nötige Berechnung erfolgt mit einem Computer-Framework, das im Rahmen des natio­nalen Forschungsschwerpunkts Digitale Fabrikation von der Block Research Group entwickelt wurde. Flexi­ble Datenstrukturen, effiziente Rechenalgorithmen und zahlreiche nichtlineare Lösungsverfahren erlauben es, die Kräfte und Verschiebungen des Netzes zu berechnen.

Äusserst wichtig für die Berechnung und die Kontrolle der ausgeführten Arbeiten ist die Vermessung der Knoten­punkte des Netzes. An den Knoten sind daher ku­gelförmige Vermessungspunkte angebracht. Da die Schalungskonstruktion von unten grösstenteils be­gehbar und einsehbar ist, können die Knoten zu jedem Zeitpunkt vermessen werden. Mittels eines motorisierten Theodoliten werden hochpräzise, sphärische 3-D-Punktwolkenvermessungen aufge­nommen. Die Spannschlösser an der Netzaufhängung ermöglichen es, das Netz in die erforderliche Einbaugeometrie zu bringen.

Innovatives vom Scheitel …

Zum Einsatz bei der Erstellung des Modells im Robotic Fabrication Lab der ETH Zürich kam ein Spritzbeton mit derartiger Konsistenz, dass er auch an den senkrechten, trichterförmigen Stellen des Dachs haftet.

Die Betonzusammensetzung bleibt Sache des Herstellers. Die filigrane Konstruktion und das eng­maschige Bewehrungsnetz aus Carbongewebe erlaubten keine Betonverdichtung mit herkömmlichen Rüttlern. Daher kamen elektrische, vibrierende Betonkellen zur Verdichtung und zum Abziehen des Betons zum Einsatz. Die Herstellung der Schale erfolgte in einem einzigen Arbeitsgang. Mittels Hebebühnen konnten die Arbeiter, wie auch schon beim Netzbau, jeden erforderlichen Punkt der Konstruktion erreichen. Nach Abbau des Scha­lungsnetzes kann dieses im Sinn eines Baukastensystems wiederverwendet werden. Da die Membran auf die jeweilige Geometrie zugeschnitten ist, lässt sie sich nur eingeschränkt wiederverwenden.

Die Forschung am Prototyp, der nur das zukünftige Betontragwerk des HiLo-Dachs abbildete, ist bereits beendet. Aus Platzgründen musste er schon wieder abgebrochen werden. Auf dem NEST selbst wird die Tragstruktur mit weiteren Elementen ergänzt werden, sodass das Dach letztlich eine Sandwichbauweise von insgesamt etwa 40 cm Stärke aufweisen wird.

Auf der Betonschale kommen wasserdurchflossene Heiz- und Kühlschleifen zu liegen, mit einer Poly­urethanschaumschicht (PU-Schaum) als Wärmedämmumg darüber. Schliesslich soll die Unit HiLo bewohnbar ausgestaltet werden. Anstatt der anfänglich geplanten Wohneinheit für Gastprofessoren soll sie nun aber eine Nutzung als Büroarbeitsraum für Forschungszwecke erfahren. Auf einer weiteren Betonschicht mit nochmaliger, darüberliegender PU-Schaum­dämmung werden schliesslich flexible Dünnschicht-Solarpaneele befestigt (vgl. TEC21 48/2017). Baubeginn ist im Frühjahr 2019. Professor Block und seine Mitarbeiter gehen für die erste Betonschale von einer Bauzeit von etwa zehn Wochen aus.

… bis zur Sohle

Auch weitere Neuheiten werden in der Unit HiLo unter Dach und Fach gebracht. Ein mit Rippen ausgesteiftes, druckstabiles Deckensystem aus Hochleistungsfaserbeton (Self-Compacting Fiber-Reinforced Concrete: SCFRC) wird die beiden Geschosse trennen, die unterhalb des Schalendachs liegen werden. Die Forscher der Block Research Group der ETH Zürich geben eine Materialersparnis von 70 % gegenüber herkömmlichen biegezugbewehrten Boden- respektive, je nach Sichtweise, Deckenplatten an.

1.0 × 2.50 m grosse, rechteckige Plattenelemente, die ohne konventionelle Biegezugbewehrung auskommen, bestanden die Laborversuche bereits erfolgreich. Einzig eine Stahlfaserbewehrung wurde dem fliessfähigen, selbstverdichtenden Beton zugefügt. Diese verbessert die Biegeeigenschaft der Platten, begrenzt die Rissbildung, erleichtert die Handhabung, vor allem auch beim Transport, und erhöht den Betonwiderstand im Bereich von Spannungskonzentrationen, etwa an den Auflagerpunkten.

Eine genügende Stabilität erreichen die Elemente, indem sie sich die Tragwirkung eines Flach­gewölbes zunutze machen. Im rechteckigen Rahmen wölbt sich ein Flachgewölbe von 2 cm Stärke und einer Wölbhöhe von 13 cm. Dieses wird auf seiner Oberseite durch ebenfalls 2 cm breite Rippen verstärkt, deren Höhe von 2 cm in Plattenmitte auf 14 cm an den Auf­lagern zunimmt. Durch die Form des Ensem­bles aus Gewölbe und Rippen gelingt es, dass die Kon­struktion ihre Lasten nur über Druckbeanspruchung abtragen kann.

Das dünne Gewölbe selbst wurde auf die Abtragung der Eigenlast und gleichmässiger Auflast bemessen. Für die übrigen Lasten, etwa die Verkehrs­lasten, wurden die Rippen angeordnet. Ziel war die Optimierung der eingesetzten Materialmenge bei Einhaltung der zulässigen Verformungen und Spannungen. Die gemessenen Verformungen lagen unter 1/500 der Spannweite und damit deutlich unterhalb des Grenzzustands der Gebrauchstauglichkeit. Zulässige Grenz­werte gab es nicht nur für den eingebauten Zustand der Bodenplatten zu berücksichtigen, auch die Handhabbarkeit und der Transport der Elemente mussten in Betracht gezogen werden.

Für den Prototyp der Bodenplatte, die noch kleinere Ab­messungen aufweist als die für das NEST vorgesehe­ne 4 × 5 m grosse Gewölbedecke, wurde eine doppelseitige Schalung aus CNC-gefrästem Kunststoff an­gefertigt. Dieser Schalungstyp ist wiederverwendbar und eignet sich somit für die Herstellung einer Vielzahl von Betonrippendecken mit identischen Abmessungen. Anwendungen für Mehrgeschossbauten wären damit problemlos machbar. Für den Einsatz in der Unit HiLo gehen die Forscher noch einen Schritt weiter und unter­suchen Schalungssysteme aus 3-D-gedruckten Elementen und technischen Textilien als verlorene Schalungselemente für individuelle, geometrisch nicht re­petitive Gewölbedeckenplatten.

Als passendes Pendant zum innovativen Dach und Boden werden in der Unit HiLo auch nicht alltägliche Fassaden eingebaut. An der Süd- und Westseite des Raums wird eine adaptive Solarfassade (ASF) angebracht. TEC21 wird nach Fertigstellung darüber berichten.


Anmerkung:
Die Informationen zum Bodensystem beruhen auf dem Artikel «Prototype of an ultra-thin, concrete vaulted floor system» von David López López et al., in: Pro­ceedings of the IASS-SLTE 2014 Symposium «Shells, Mem­branes and Spatial Structures: Footprints», Brasília.

TEC21, Fr., 2018.03.09



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TEC21 2018|10-11 Cartonbeton: Altbewährtes, neu bewehrt

12. Mai 2017Peter Seitz
TEC21

Veredeltes Elixier

Bergseen werden oft als Edelsteine in der Alpenlandschaft bezeichnet. Wie Juwelen werden sie wertvoller, je grösser sie sind. Die längste Staumauer der Schweiz vergrössert den Muttsee nun zu einem hochkarätigen Schatz.

Bergseen werden oft als Edelsteine in der Alpenlandschaft bezeichnet. Wie Juwelen werden sie wertvoller, je grösser sie sind. Die längste Staumauer der Schweiz vergrössert den Muttsee nun zu einem hochkarätigen Schatz.

Höhenlage und nutzbares Wasservolumen sind die Zauberwörter, die bei der Wasserwirtschaft die Augen feucht werden lassen. Zusammen ergeben diese beiden Faktoren potenzielle Energie, die über Turbinen und Generatoren in Strom umsetzbar ist. Im Fall des Muttsees war die Höhenlage schon üppig, lag sein Wasserspiegel vor dem Aufstau doch auf 2446 m ü. M. Die Talsohle im Talschluss bei Tierfehd liegt nur noch auf 803 m ü. M., reichlich Potenzial also für die Stromgewinnung. Beim Wasservolumen half die Axpo als Nutzerin des Wassers mit einer neuen Staumauer etwas nach. Die Mauer ist mit ihrer Länge von 1054 m die längste der Schweiz und die höchstgelegene Europas. Sie erhöht nun den Inhalt des Muttsees von 9 auf 23 Millionen Kubikmeter.

Beton statt Steine

Die Gewichtsstaumauer mit dem markanten Knick, die sich an die frühere Form des Muttsees anschmiegt, war nicht von Beginn an so gedacht. Anfängliche Pla­nungen zum Aufstau des Sees gingen noch von einem Steinschüttdamm aus. Dieser hätte jedoch aufgrund seines trapezförmigen Querschnitts eine bedeutend grössere Aufstandsfläche erfordert. Der nun umgesetzte dreieckige Querschnitt der Betonstaumauer vermindert den Flächenverbrauch der Stauanlage. Dadurch gelang es, mehrere kleine Seen und Lachen in der gewellten Landschaft der Muttenalp zu erhalten. Das Hochplateau Mutten mit seiner hochalpinen Flora und Fauna wurde im Zuge der Bauarbeiten sogar zur Schutzzone erklärt. Ein festgesetztes Weggebot für Wanderer und Bauarbeiter half, die Einwirkungen ausserhalb der Baustelle auf die ursprüngliche Alpenlandschaft zu minimieren.

Die Wahl einer Schwergewichtsmauer hat jedoch noch weiter reichende positive Aspekte auf die Umgebung. Für einen Schüttdamm hätte das Steinvolumen, das aus den Kavernen und Stollen der Kraftwerksanlage ausgebrochen wurde, nicht ausgereicht. Zur Gewinnung von Steinen für einen Damm wären folglich ein oder mehrere Steinbrüche nötig gewesen. Die grösseren Mengen an zu verarbeitendem Material hätten bedeutend grössere Deponieflächen nach sich gezogen. Somit stellte die Staumauer mit ihrem Betonvolumen von etwa 250 000 m³ die ökologisch besser ­verträgliche Lösung dar.

Bis die Staumauer wie aus einem Guss dastand, brauchte es eine Bauzeit von drei Jahren, wobei nur in den Sommerperioden gearbeitet werden konnte. Aufgrund des hochalpinen Klimas ruhten die Arbeiten im Winterhalbjahr. Beim Bauablauf sind drei zeitliche und räumliche Abschnitte zu unterscheiden: 2012 entstand der westliche, im Jahr darauf der östliche Teil der Mauer mit der integrierten Hochwasserentlastungsanlage. Der Lückenschluss erfolgte im Herbst 2014.

Block für Block – im Pilgerschritt

Innerhalb der einzelnen Abschnitte wurde die Mauer blockweise erstellt. Ein Mauerblock hatte je 15 m Länge, sodass 68 Blöcke für die gesamte Staumauer nötig waren. Gebaut wurden sogar 69 Blöcke – ein Block ­musste teilweise rückgebaut und neu errichtet werden, da er partiell eine ungenügende Betonqualität aufwies. Die Errichtung der Blöcke im sogenannten Pilger­schrittverfahren – es wird zuerst jeder zweite Block betoniert, danach füllt man die dazwischenliegenden Lücken – bietet bautechnische und logistische ­Vorteile. Die Hydratationswärme, die beim Abbinden des Betons entsteht, kann gleichmässiger entweichen, und bereits erstellte Mauerblöcke dienen den dazwischenliegenden als seitliche Schalung. Aussparungen in den Seitenwänden der zuerst gebauten Blöcke, der sogenannten Vorläufer, sichern eine gute Verzahnung mit dem Nachläufer beim jeweiligen Lückenschluss. ­

Das abwechselnde Erstellen vereinfacht ausserdem ­die Arbeitsabläufe, da verschiedene Einsatzmannschaften nicht gleichzeitig am selben Ort mit beschränktem Platzangebot eingesetzt werden müssen.

Weiter Horizont, beengter Platz

Das Betonieren der einzelnen Blöcke erfolgte in Etappen von je 3 m Höhe. Die sechs jeweils einen halben Meter starken Betonschichten einer Etappe konnten somit in einer Zwölfstundenschicht erledigt werden. Bedurfte in den unteren Bereichen der Staumauer die entstehende Hydratationswärme des Massenbetons besonderer ­Aufmerksamkeit, ging es in den oberen, verjüngten Querschnitten eher aufgrund der beengten Arbeitsverhältnisse heiss her.

Die nur 4 m breite Mauerkrone der obersten Etappe liess wenig räumlichen und zeitlichen Spielraum für Maschinen und Arbeiter. Da der einzubringende Beton zügig zu erhärten begann, blieben für die Erstellung einer Schicht nur zwei Stunden Zeit, bevor mit der nächsten, oberhalb liegenden begonnen werden musste. Eine Verzögerung beim Einbau hätte sich negativ auf den Verbund der einzelnen Schichten ausgewirkt.

Schleifenförmig ausgelegte Kühlschläuche in den flächenmässig grossen unteren Staumauerbereichen senkten die Temperatur des Betons beim Abbindevorgang. Zu hohe Temperaturen im Kern des Bauteils hätten hohe Temperaturunterschiede zu den aussenliegenden Bereichen gezeitigt und die Gefahr von Rissbildungen erhöht. Auch der Zusatz von Flugasche wirkte sich günstig auf die Temperaturentwicklung des Mauerbetons aus.

Ausserdem erhöhte die Beimengung die Fliessfähigkeit und Verdichtbarkeit des Betons. Ein Nebenprodukt aus Verbrennungskraftwerken kommt so noch zu einem positiven Einsatz in der Wasserkraft.

Den Verbund der Betonoberflächen zwischen einzelnen Etappen gewährleistete der Einsatz von Hochdruckwasser. Mit diesem raute man die Oberfläche der bereits vorhandenen Etappe auf, sodass sich der Beton der nächsten Etappe gut verzahnen konnte.

Dichter Boden, partiell abgedichtet

Die Einbindung der Mauer in den Untergrund war etwas aufwendiger als die Oberflächenanpassung der einzelnen Etappen. Solider Fels stand zwar schon in einer Tiefe von etwa 2 m unter der Oberfläche an, allerdings waren im karstfähigen Gestein Klüfte und Störzonen vorhanden. Diese mussten mit einem Spezialbeton, einem sogenannten «dental concrete», zunächst abgedichtet ­werden, bevor anstehende Felsunebenheiten mit Kontaktbeton ausgeglichen wurden. Erst anschliessend kam der eigentliche Massenbeton der Staumauer zum Einsatz.

Durch das untere Drittel der Mauer führt ein Kontrollgang, in dem Messungen zur Bauwerkssicherheit stattfinden. Sickerwassermengen etwa, Mauerverschiebungen, Verkippungen oder Druckmessungen können in diesem überwacht werden. Ein Injektionsschirm, der die Sickerwasserwege im Untergrund der Sperre verlängert, wurde ebenfalls aus dem Kontrollgang heraus verpresst. Dies macht das ganze System wasserundurchlässiger und erhöht die Standfestigkeit der Mauer zusätzlich.

Die bestehende Sohle des Muttsees weist eine praktisch wasserundurchlässige Gesteinsschicht auf. Auf­wen­dige, grossflächige Dichtungsmassnahmen konnte man sich somit ersparen. Die Planungen einer oberfläch­lichen Abdichtung mit Spritzbeton im neuen, vergrösserten Aufstaubereich am wasserseitigen Fuss der Staumauer konnten im Zuge der Bauarbeiten eingestellt werden. Eine detaillierte geologische Abklärung bestätigte nach Freilegung dieses Felsbereichs eine genügende Dichtheit des Areals.

Hochwasser: den Buckel hinunter

Auch die Hochwasserentlastung konnte mit wenig Aufwand bewerkstelligt werden. Über einen abgesenkten Abschnitt der Staumauerkrone gelangen Hochwasserabflüsse in eine Schussrinne auf dem Mauerrücken und in ein Tosbecken am Staumauerfuss. Die Auslegung der Entlastungsanlage setzt sich aus den Hochwasserabflüssen des sehr kleinen Einzugsgebiets des Muttsees und der zusätzlichen maximalen Pumpwassermenge von etwa 145 m³ zusammen. Redundante Seestandsmessungen des unten gelegenen Limmernsees und des Muttsees mit einer automatischen Absicherung im ­Leitsystem schliessen ein Überlaufen aufgrund des Pumpenbetriebs praktisch aus. Dank der felsigen Topo­grafie war ein Ausbau des Gerinnes unterhalb des Tosbeckens verzichtbar. Es konnte in seinem ursprüng­lichen Zustand belassen werden.

Rückgebauter Rekord, versinkende Logistik

Die Materialbewirtschaftung und deren Logistik hing sprichwörtlich an den Bauseilbahnen 1 und 2, die vom Talboden zum Chalchtrittli respektive vom Ochsen­stäfeli am Limmernsee zum Muttsee hinaufführten (vgl. Grafik S. 34). Mit Fertigstellung der Baumassnahmen wurden sie zwar rückgebaut, jedoch hält die untere Bauseilbahn 1 noch immer einen Weltrekord: Mit ihrer Nutzlast bis zu 40 t für Sonderlasten war sie die grösste Materialseilbahn der Welt. Bei vier möglichen Fahrten pro Stunde war sie enorm ausgelastet. Sämtliche Güter für den Staumauerbau und grosse Teile für den Untertagebau wie Zement, Gestein, Stahl, Maschinen und auch die Arbeitskräfte wurden mit den Seilbahnen zu ihrem ­Bestimmungsort hinaufbefördert. Allein für den ­Staumauerbau mussten etwa 100 000 t Zement und knapp 500 000 t Gestein die Luftreise antreten.

Die für die Materialien nötigen Deponie- und Aufbereitungsflächen lagen grösstenteils auf der Wasserseite der Staumauer. Sie versanken nach Rückbau des Betonwerks und der Gesteinsaufbereitungsanlagen zusammen mit den meisten Baustellenzufahrten unter dem Wasserspiegel des Sees – auch dies eine Form des Landschaftsschutzes.

Was für das Auge sichtbar bleibt, ist dem einen ein Dorn in selbigem, dem anderen, gemessen an den umgebenden Dimensionen der Glarner Alpen, ein Strich in der Landschaft – oder aber ein Diadem, das den Edelstein des Muttsees und sein nun veredeltes Elixier einfasst. Je nach Betrachtungsweise.

TEC21, Fr., 2017.05.12



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Presseschau 12

19. Oktober 2018Peter Seitz
TEC21

Ein Glied in der Kette

Ein Flusskraftwerk steht selten für sich allein. Der Neubau des Gemeinschaftskraftwerks Inn schliesst die Anlagenkette zwischen St. Moritz und Prutz. Die Betreiber betonen die ökologischen Vorteile für den Fluss, die sich aus dem Projekt ergeben. Ein Blick auf die Problematik von Schwall- und Restwasserabfluss.

Ein Flusskraftwerk steht selten für sich allein. Der Neubau des Gemeinschaftskraftwerks Inn schliesst die Anlagenkette zwischen St. Moritz und Prutz. Die Betreiber betonen die ökologischen Vorteile für den Fluss, die sich aus dem Projekt ergeben. Ein Blick auf die Problematik von Schwall- und Restwasserabfluss.

Der Inn ist der wasserreichste Fluss der Alpen. Er gab nicht nur seinem Ursprungsort im gerühmtesten Hochtal der Alpen – dem Engadin – den Namen, auch die heutige Tiroler Landeshauptstadt schmückt sich seit dem 12. Jahrhundert mit seiner Überbrückung.

Innsbruck liegt etwa mittig zwischen den Wasserkraftwerken Kirchbichl und Prutz-Imst, die 1941 respektive 1956 in Betrieb gingen. Dazwischen liegt heute die mit 150 km längste noch verbliebene frei laufende Strecke des Inns.

Unterhalb Kirchbichl folgen nämlich 18 Kraftwerke – die ersten wurden 1924 erbaut – bis zur Mündung in die Donau in Passau. Islas bei St. Moritz war das erste Schweizer Kraftwerk am Inn. Seit 1932 wird das Wasser des jungen Inns aus dem St. Moritzersee ausgeleitet und in einem Stollen zum Krafthaus geleitet, bevor es bei Celerina wieder ins Flussbett gelangt. In der unterhalb von St. Moritz gelegenen Charnadüra-Schlucht fliesst daher im Bett des Inns nur noch eine Restwassermenge von 0.075 m³/s.[1]

Auch die Kantonsstrasse zwängt sich durch die Engstelle. Mit 4.4 MW Turbinenleistung und einer nur kurzen Ausleitungsstrecke fällt Islas aber nur eine untergeordnete Bedeutung in der Kraftwerkskette des Inns zu. Wirklich grosse Auswirkung auf das Abflussregime des Schweizer und in der Folge des angrenzenden Tiroler Inns haben die Speicherkraftwerke der Engadiner Kraftwerke (vgl. TEC21 40/2014 und «Spektakuläre Taucharbeiten», TEC21 48/2016). Sie nehmen zwar nur teilweise das Wasser aus dem Fluss selbst, beeinflussen aber mit den Abflüssen aus den Speicherseen Livigno und Ova Spin den Pegel des Inns entscheidend.

Italienisches Wasser sorgt für Schwall

Es beginnt mit dem Livigno-Stausee. Der 9 km lange See liegt zum grössten Teil auf italienischem, die ihn absperrende Bogenstaumauer Punt dal Gall zur Hälfte aber auf Schweizer Boden. Der Inhalt des 164 Mio. m3 fassenden Reservoirs dient in erster Linie als Saisonspeicher – im Sommer fallende Niederschläge werden im Winter in der Kraftwerkszentrale Ova Spin oberhalb von Zernez verstromt. Eine Leistung von 50 MW ist hier installiert. Auch ein Pumpbetrieb vom Stausee Ova Spin in den von Livigno ist möglich.

Ausserdem wird dem Ova Spin unter anderem Wasser aus dem Inn zugeführt. Die Wasserfassung mit einer Kapazität bis zu 32 m³/s liegt bei S-chanf, der Inn führt ab hier einen Restwasserabfluss von 0.8 m³/s zwischen Oktober und Mai respektive 3 m³/s in den restlichen Monaten. Das in Ova Spin gesammelte Wasser fliesst nun zur Zentrale Pradella, mit 288 MW Gesamtleistung das wichtigste Kraftwerk im System der Engadiner Kraftwerke.

Vom Ausgleichsbecken Pradella, das ebenfalls mit Wasser aus dem Inn gespeist wird, wird das verstromte Wasser zur Zentrale Martina geleitet, wo es nochmals genutzt wird und eine Leistung von 70 MW erbringt. Hierauf wird es direkt wieder in den Inn geleitet, was aufgrund der Wasserdurchflüsse von 93 m³/s zu beachtlichen Schwallerscheinungen im unterstrom liegenden Flussabschnitt führt. Da der Inn aufgrund der Wasserentnahme in S-chanf und Pradella einer Restwasserstrecke entspricht (ab Pradella fliessen noch ca. 2 bis 5 m³/s als Restwasser im Fluss), kann der plötzliche Anstieg des Abflusses durch die Einleitung des Kraftwerks Martina bis zum 30-Fachen des im Flussbett vorhandenen Wassers ausmachen. Dies kann rasche Wassertiefenänderungen im Bereich mehrerer Dezimeter, ja sogar bis zu 1.5 m ausmachen.

Gewässer auf kleinem Niveau

Direkt betroffen von Restwasserstrecken sind Wasserlebewesen und -sportler. Im Internet können Letztere Ratschläge erhalten, wann diverse Strecken, etwa die Innschlucht bei Tarasp, mit dem Kajak befahrbar sind, ohne dass es zu Grundberührungen aufgrund Niedrigwasser kommen sollte. Fauna und Flora haben da schon andere Probleme, geht es bei ihnen doch ums Überleben.

Flüsse in Restwasserstrecken gleichen oftmals nur noch Bächen. Aufgrund des geringeren Abflusses verringert sich die benetzte Fläche – das nasse Flussbett fällt kleiner aus. Es bilden sich weniger verschiedenartige Abschnitte mit unterschiedlichen Wassertiefen aus. Fliessgeschwindigkeiten, Temperaturen und Sauerstoffsättigung des Wassers können sich verändern. Einträge in den Fluss, zum Beispiel aus Abwasserreinigungsanlagen oder der Landwirtschaft, haben eine stärkere Auswirkung auf die chemische Zusammensetzung des Wassers.

Eine grosse Problematik stellt die veränderte Geschiebeführung dar. Ein Gewässer mit geringerem Abfluss kann grundsätzlich weniger Geschiebe mobilisieren und transportieren. Viele Fischarten sind aber zum Laichen gerade darauf angewiesen. Auch die Kolmation – die Abdichtung der Gewässersohle durch Schwebstoffe – kann sich in Restwasserstrecken anders einstellen, und Auswirkungen auf den Grundwasserspiegel, der für die angrenzende Flora lebensnotwendig sein kann, sind nicht auszuschliessen.

Restwasserabgaben sind bei Ausleitungskraftwerken immer ein Interessenkonflikt zwischen Ökologie und Wassernutzung. Mit diversen Modellen – etwa dynamischen Restwassermodellen, in denen festgelegt wird, zu welchem Zeitpunkt wie viel Wasser im Fluss bleiben muss – wird versucht, diesen Konflikt zu entschärfen. Besonders im Winterhalbjahr oder zur Laichzeit der Fische können damit Schäden an Populationen vermindert werden. Im Sommer stehen aufgrund höherer Niederschläge in den alpinen Gewässern meist grössere Abflüsse zur Verfügung, sodass die Restwasserproblematik etwas weniger ausgeprägt ist. Trotz aller Bemühungen wird sich in Restwasserstrecken kein natürlicher Zustand eines Flusses ergeben. Daher spricht man meist von naturnahen Verhältnissen, auch beim Projekt Gemeinschaftskraftwerk Inn.

Immerhin wird 60 % des Schweizer Inns eine mindestens hohe Naturnähe zugestanden.[1] Dies liegt insbesondere an unverbauten Schluchtstrecken, revitalisierten Auengebieten und Stauraumspülungen der Wehre S-chanf und Pradella, die zumindest versuchen, eine gewisse naturnahe Geschiebeführung zu bewerkstelligen. Dem Abschnitt zwischen Martina und Prutz, der durch den Bau des Gemeinschaftskraftwerks Inn betroffen ist, wird heute jedoch nur eine mittlere bis geringe ökologische Wertigkeit ausgewiesen.

Rette sich, wer kann

Die Wiedereinleitung des Wassers nach einem Kraftwerk, in vorliegendem Fall nach der Zentrale Martina, entschärft zwar die Restwasserproblematik, führt jedoch zu Schwallbelastungen der Flussstrecke. Die Spitzen von Schwallabflüssen stellen zwar noch kein Problem für Fauna und Flora dar – ein Hochwasser kann weit höhere aufweisen –, aber die kurzen zeitlichen Spannen ihres Auftretens haben dramatische Konsequenzen. Wasserlebewesen können abgeschwemmt werden oder trockenfallen. Die schnelle Temperaturänderung – im Sommer kühlt das schnell eingeleitete, turbinierte Wasser den Fluss ab, im Winter hingegen erwärmt es ihn – beeinträchtigt die aquatischen Organismen.

Aus Restwasserstrecken im Oberlauf gelangt zu wenig laufendes Geschiebe in die Schwallstrecke, aus Kraftwerken, insbesondere Talsperren, meist gar keines. Daher ist die Gefahr einer Sohleintiefung in einer Schwallstrecke gegeben. Die Gefahrenschilder, die unterhalb von Kraftwerken Menschen vor einem Aufenthalt im Flussbett warnen, könnten entsprechend für zahlreiche aquatische Lebewesen gelten.

Durch betriebliche oder bauliche Massnahmen können die negativen Auswirkungen eines Schwalls reduziert oder gar unterbunden werden. Der Betrieb eines Kraftwerks kann etwa angepasst werden, sodass das Ansteigen und Abfallen des Abflusses zeitlich langsamer vonstatten geht. Auch eine erhöhte Restwasserabgabe vermindert das Schwall-Sunk-Verhältnis. Aus wirtschaftlichen Gründen – faktisch ist dies abhängig vom Strompreis – geben Kraftwerksbetreiber aber zurzeit oft baulichen Massnahmen den Vorzug. Eine Möglichkeit wäre die Wasserrückgabe in einen geeigneten Vorfluter, der den Abfluss gedämpft wieder in den Fluss zurückleitet. Dies könnte etwa ein natürliches Gewässer (See) sein oder ein künstliches Ausgleichsbecken. In schmalen Gebirgstälern wie unterhalb Martina kann die Umsetzung eines Ausgleichsbeckens aber schwierig werden, da seine Grösse natürlich vom turbinierten Abfluss und dessen Dauer abhängt.

In der Schweiz jedenfalls sind die Kraftwerksbetreiber gemäss Gewässerschutzgesetz zu Massnahmen gegen den Schwall verpflichtet, wenn das Schwall-Sunk-Verhältnis 1.5 übersteigt und gleichzeitig negative Auswirkungen auf Tiere und Pflanzen vorliegen. Die Sanierungsfrist für bestehende Anlagen läuft bis 31. Dezember 2030.[2]

Lachendes und weinendes Auge

Der Bau des Gemeinschaftskraftwerks Inn (GKI) löst die Schwallproblematik im Tiroler Abschnitt bis Prutz elegant, wenn auch mit einem gewissen Haken: Der vom Schwall betroffene Abschnitt wird in eine Restwasserstrecke umgewandelt. Das in der Zentrale Martina verstromte Wasser wird, sofort nachdem es wieder in den Inn geleitet ist, durch die neue Wehranlage des GKI in Ovella aufgestaut und hierauf über den 23.2 km langen Druckstollen zum Kraftwerk Prutz geleitet. Der Stauraum des Wehrs Ovella entspricht faktisch einem Ausgleichsbecken zur Sanierung von Schwallabflüssen. Ein dynamisches Restwassermodell legt jahreszeitlich gestaffelt Abflüsse im Flussbett des Inns zwischen 5.5 und 20 m³/s fest.

Gemäss Genehmigungsbehörden – das GKI wurde sowohl nach dem österreichischen Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz UVP-G 2000 geprüft als auch der schweizerischen Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen – stellt der Stauraum des GKI zwar einen erheblichen Eingriff in die Gewässerökologie dar, jedoch wird die Schwallsanierung als ein ganz bedeutender öffentlicher Nutzen des Vorhabens eingestuft. «Das Erreichen der Umweltverträglichkeit scheint bei Erfüllung der Nebenbestimmungen (Auflagen, Massnahmen etc.) für die Gewässerökologie wie auch für den Naturhaushalt somit gegeben.»[3]

Ökologisch geht es also aufwärts, wenn auch auf niedrigerem Niveau – schliesslich verläuft der grösste Teil des Inns in einer Röhre. Für das menschliche Auge und Empfinden spielt dies keine grosse Rolle – heutige Generationen kennen unsere Flüsse nicht anders. Wasserlebewesen dürfen sich in Zeiten ohne Schwallbelastung zurückversetzt fühlen, und auch geografisch gesehen könnte man sagen, der Inn macht an der Grenze zu Tirol einen Sprung zurück: Das dynamische Restwassermodell für den Tiroler Abschnitt bezieht sich nämlich auf den unbeeinflussten Pegel bei St. Moritz (Oberengadin). Je mehr Wasser dort die Messstelle passiert, desto mehr verbleibt in Ovella im Fluss. Vom Bündner Oberengadin gleich ins Obere Gericht Tirols – das Unterengadin wird ausgeklammert, als ob es der Inn eilig habe, nach Passau zu kommen.


Anmerkungen:
[01] PAN Planungsbüro für angewandten Naturschutz GmbH: Inn.Studie im Auftrag des WWF Österreich, Erläuterungsbericht, 15. Januar 2015.
[02] Bundesamt für Umwelt Bafu: Sanierung Schwall-Sunk, Strategische Planung, Ein Modul der Vollzugshilfe Renaturierung der Gewässer, Bern 2012.
[03] Gemeinschaftskraftwerk Inn GmbH, Errichtung des Wasserkraftwerks «Gemeinschaftskraftwerk Inn»; Genehmigung der Tiroler Landesregierung nach dem Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz 2000; U-5161/1117.

TEC21, Fr., 2018.10.19



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19. Oktober 2018Peter Seitz
TEC21

Verstromter Schwall

An der Grenze Schweiz-Österreich, an der sich der Inn vom Unterengadin nach Tirol verabschiedet, entsteht seit 2014 das Gemeinschaftskraftwerk Inn. Mit einer Leistung von 89 MW soll das grösste derzeit im Bau befindliche Flusskraftwerk der Alpen 90.000 Haushalte mit Strom versorgen. Allerlei Tücken verzögern den Start jedoch um etwa zwei Jahre auf 2020.

An der Grenze Schweiz-Österreich, an der sich der Inn vom Unterengadin nach Tirol verabschiedet, entsteht seit 2014 das Gemeinschaftskraftwerk Inn. Mit einer Leistung von 89 MW soll das grösste derzeit im Bau befindliche Flusskraftwerk der Alpen 90.000 Haushalte mit Strom versorgen. Allerlei Tücken verzögern den Start jedoch um etwa zwei Jahre auf 2020.

Das Prinzip ist einfach. Man fasse Wasser in möglichst grosser Höhe, leite es unter wenig Höhen- und Reibungsverlust zu einem Punkt oberhalb eines tiefer gelegenen Talbodens und lasse es in einem Druckschacht wieder ins Tal zurückfliessen, wo es auf Turbinen trifft. Schon hat man ein alpines Ausleitungskraftwerk und kann Strom ernten. Die Umsetzung eines solchen Konzepts bietet jedoch ausreichend Konfliktpotenzial und mancherlei Fall­stricke und setzt, wie andere Grossprojekte auch, viel Durch­haltevermögen voraus. Davon können die Planer des Gemeinschaftskraftwerks Inn (GKI), eines grenz­überschreitenden Projekts zwischen der Schweiz und Österreich, ein Lied singen.

Das Kraftwerk beginnt bei der Stauanlage Ovella unterhalb Martina GR im Grenzgebiet. Auf 2.6 km wird der Inn aufgestaut (Stauziel: 1029.5 m ü. M.) und sein Wasser über einen orografisch rechts des Flusses gelegenen, unterirdischen 23.2 m langen Druckstollen bis oberhalb von Prutz in Österreich geführt %%gallerylink:42948:(vgl. Plan)%%. Hier steht das Wasserschloss, das Druckschwankungen aus Anfahr- und Abstellvorgängen im Triebwassersystem abmindert. Über einen gepanzerten Schräg­schacht wird das Wasser ins grösstenteils unter der Erde liegende Krafthaus geleitet, in dem es mittels zweier Francis-Turbinen verstromt wird (Turbinenachse auf 863.80 m ü. A.). Über den gedeckten 300 m langen Unterwasserkanal fliesst es zurück in das Flussbett des Inns.

Wehr am besten aller schlechten Standorte

Verschiedene Faktoren führten zum gewählten Standort der Stauanlage, der nicht ideal ist, aber als am wenigstens schlecht bezeichnet werden kann. Neben der Strom­erzeugung dient das GKI auch der Schwallsanierung in seinem Flussabschnitt. Daher muss es einen genügend grossen Stauraum aufweisen, um den eingeleiteten Schwall aus der oberhalb gelegenen Anlage Martina der Engadiner Kraftwerke aufnehmen zu können (vgl. «Ein Glied in der Kette»). Einer Verschiebung nach oberstrom stand also diese Wassereinleitung respektive eine Verringerung des Stauraums entgegen.

Nach unterstrom waren die Möglichkeiten einer Versetzung des Wehrs durch den drohenden Verlust von energetisch wertvoller Höhenlage, schlechtere Zugänglichkeit der Baustelle und eine Gefährdung durch Lawinen stark eingeschränkt. Auch am nun gewählten Standort ­müssen Lawinen berücksichtigt werden. Um ein Überschwappen und eine Flutwelle im Inn durch einen Lawinenabgang in den Stauraum zu verhindern, ist im Wehrreglement eine Stauabsenkung um einen Meter im Winter festgelegt.

Am orografisch rechten Innufer begrenzt eine 650 m hohe, steile Felswand die Stauanlage. Ohne umfangreiche Sicherungsmassnahmen hätte die Flanke eine ständige Bedrohung durch Steinschlag dargestellt. Von Beginn an schätzten die Planer diese Vor­arbeiten als zeitkritisch für den Terminplan der Baustelle ein. Ohne einen genügenden Steinschlagschutz konnten weder die Arbeiten an der eigentlichen Anlage noch die Vorarbeiten hierfür aufgenommen werden. Daher waren intensive Felssicherungsmassnahmen mit Schutznetzen geplant; bei deren Umsetzung stellte sich jedoch heraus, dass ihr Ausmass als zu gering angenommen wurde. Es bedurfte zusätzlicher Netz­reihen – insgesamt sind es nun 14 Stück – und auch einiger Bodennetze. Über einen werkseigenen, gesicherten Steig sind sie zur Kontrolle und Wartung erreichbar.

Die angebrachten Steinschlagschutznetze haben teilweise mehrere hundert Meter Länge. Eine Fertigstellung der zusätzlich erforderlichen Schutzbauten war vor dem Winter 2014/2015 nicht mehr möglich, sodass sich hier, bereits vor den Arbeiten an der Wehranlage, Verzögerungen um einige Monate einstellten.

Zwei Länder, ein Tal, zwei Sichtweisen

Links des Inns – der Fluss markiert hier die Grenze – verläuft die Kantonsstrasse. Von ihr aus erfolgte die Erschliessung der Baustelle über Baustrassen. Die topo­grafischen Voraussetzungen im engen Tal – auf Schweizer Seite die Kantonsstrasse und auf österreichischer eine unverbaute Talflanke – sorgten schon in der Genehmigungsphase für ein Kuriosum: Das Tal galt im Unter­engadin bereits als genutzt und verbaut, während es gegenüber in Tirol als unverbaut eingestuft wurde. Daher lagen den Genehmigungsverfahren in den beiden Ländern für den gleichen Talabschnitt gänzlich andere Randbedingungen zugrunde. Die Augen der Behörden scheinen kurzsichtig und sehen nur bis zur Grenze scharf.

Auch beim Bau der Wehranlage selbst kam es zu unerfreulichen Überraschungen. Der Untergrund besteht aus Innschotter und Hangschutt, der mit Blocklagen versetzt ist und von teilweise senkrecht abfallenden felsigen Talflanken eingerahmt ist. Auch eine ca. 30 m mächtige Schicht von Seeschluffen, setzungsempfindlichen postglazialen Sedimenten, durchzieht die Ablagerungen. Eine Felssohle steht erst bei 80 m Tiefe an. Die Bohrung der Fundierungspfähle gestaltete sich daher anspruchsvoll. Laut Betreiber mussten aufgrund der schlechten Zugänglichkeit des Standorts detaillierte Erkundungsbohrungen vor Baubeginn unterbleiben.

Dies forderte seinen Tribut: Die Felslinien und die anstehende Untergrundbeschaffenheit waren anders erwartet, was Anpassungen der Bohrpfähle erforderlich machte. Von geplanten 26 m mussten sie im Mittel auf 34 m, teilweise sogar auf 45 m verlängert werden. Dies führte nicht nur zu Mehrkosten, sondern wirkte sich auch auf den Terminplan aus. Die Betonarbeiten der Wehranlage konnten daher erst im Frühjahr 2017 aufgenommen werden – ein Jahr vor der ursprünglich geplanten Inbetriebnahme.

Baustellenflutung ohne Hochwasser

Die Wehranlage wird zwei Felder aufweisen. An ihrer rechten Seite ist der Einlauf angeordnet, der das Wasser in den Triebwasserstollen leitet. Bis zu 75 m³/s werden für die Verstromung aus dem Stauraum entnommen, der mit seiner Länge von 2.6 km und einer maximalen Tiefe von 15 m ein Nutzvolumen von 500 000 m³ aufweist. Unterhalb des Stauraums wird der Inn eine Restwasserstrecke, die durch ein dynamisches Restwassermodell beaufschlagt wird.

Die Wehranlage wird in Nassbauweise gebaut. Der Inn wird kleinräumig um das gerade im Bau befindliche Element herumgeleitet – zuerst erfolgt die Erstellung der beiden Wehrfelder, danach der Bau des Triebwassereinlaufs samt Betriebsgebäude mit Dotierturbine und Fischpass. Letzterer soll über 81 Stufenbecken die Fischwanderung flussaufwärts um die Stauanlage herum ermöglichen. Für die Gegenrichtung ist eine eigens konstruierte Fischabstiegsanlage vorgesehen.

Für eine solche Flussbaustelle muss die Hochwasser­gefahr einkalkuliert und jederzeit im Auge behalten werden. Vor allem Frühlingshochwasser während der Schneeschmelze bei gleichzeitig grossen Niederschlägen können sehr hohe Wasserabflüsse mit sich bringen. Eine gewisse Beeinflussung der Abflüsse ist durch die Steuerung der Speicherabflüsse der oberstrom gelegenen Engadiner Kraftwerke gegeben, die 14 % Anteil am GKI besitzen. Bei einem auftretendem Hochwasser im Inn können diese etwa den Betrieb einstellen, sodass von den Speichern kein Wasser mehr in das Flussbett eingeleitet wird. Die Baustelle ist auf ein HQ30 ausgelegt. Abflüsse, die statistisch gesehen einmal in 30 Jahren auftreten, würden daher ohne Schäden ablaufen. Bei höheren Abflüssen würde die Baustelle irgendwann geflutet werden, respektive müsste man sie kontrolliert fluten, um grosse Schäden möglichst zu verhindern.

Im Winter 2018 kam es tatsächlich zu einer unkontrollierten Flutung der Baustelle, jedoch ohne Hochwasser. Aufgrund der aussergewöhnlich hohen Schneefälle und der damit verbundenen Lawinengefahr war der Baustellenstandort acht Tage lang nicht erreichbar. Nachdem er wieder zugänglich war, stand die Baustelle unter Wasser. Eine Lawine war 600 m unterhalb der Wehranlage in den Inn gestürzt und staute das Wasser zurück. Alpiner Flussbau hat seine Tücken.

Zu wenig Vortrieb vertreibt Unternehmung

Ein für das Projekt GKI zentraler Punkt ist Maria Stein (940 m ü. A.), nördlich von Pfunds. Von hier erfolgt mittels zweier Tunnelbohrmaschinen der Vortrieb des Triebwasserstollens nach Norden und Süden. Ein Fensterstollen erschliesst den späteren Druckstollen, der hier auch seinen tiefsten Punkt hat. Die etwa 12.7 km, die in Richtung Wehr Ovella vorgetrieben werden sollen, wurden im November 2015 in Angriff genommen. Nach Norden zum Wasserschloss begannen im März 2016 die Bohrarbeiten, die ca. 8.9 km umfassen werden. Der Stollen mit seinen 6.5 m Ausbruchsdurchmesser wird mit Stahlbeton-Tübbingen ausgekleidet. Nach deren Einbau – es werden ungefähr 50 000 Stück benötigt – verbleibt ein Innendurchmesser von 5.8 m, was für die Ausbauwassermenge von 75 m³/s ausreicht.

Die Gebirgsmächtigkeit über der Röhre beträgt zwischen 130 m und 1200 m. Vom Wasserschloss mit der Apparatekammer fällt der stahlgepanzerte Schrägschacht mit einem Durchmesser von 3.8 m und einer Länge von 415.7 m zu einer 40.3 m langen Flachstrecke vor dem Krafthaus. Zum Wasserschloss führt ein Zugangstunnel, der über eine Baustrasse am Hang erreichbar ist. Von dort findet – wie auch vom Wehr Ovella her – ein Gegenvortrieb in bergmännischer Bauweise in Richtung der entgegenkommenden Tunnelbohrmaschine statt. Auch der Schrägschacht wurde im Sprengvortrieb ausgebrochen.

Die Vortriebsleistungen beim Bau des Triebwasserstollens fielen unbefriedigend aus. Als Ursache werden etwa unerwartetete Störzonen angeführt, jedoch bleiben die genauen Gründe, die zu einem grossen zeitlichen Verzug dieser Arbeiten führten, eine Sache zwischen Unternehmung und Bauherrschaft. Zum Jahreswechsel 2016/2017 wurde der Bauvertrag für die Erstellung des Triebwas­serwegs in gegenseitigem Einvernehmen aufgelöst.

Mittlerweile führt eine neue Unternehmung die Arbeiten fort. Es bedurfte allerdings einiger organisatorischer Raffinesse, dass die Übergabe relativ reibungslos vonstatten gehen konnte.
Australischer Vertrag für Austria

Die installierte Baustelleneinrichtung, etwa Schutter- oder Aufbereitungsanlagen, und natürlich die Tunnelbohrmaschinen, die einer mehrmonatigen Liefer- und Montagezeit bedürfen, gehören bei Vertragsumsetzung normalerweise der Bauunternehmung. Ein Wechsel des Auftragnehmers und Austausch des gesamten Maschinenparks würde eine Baustelle um Jahre verzögern. Andererseits dürfte ein Folgeunternehmer, der ja in direkter Konkurrenz zum Vorgänger steht, kaum Interesse daran haben, die Installation zu seinen Kosten zu übernehmen.

Es galt daher, einen geeigneten Weg zu finden, um die Arbeiten möglichst schnell mit der neuen Unternehmung fortführen zu können. Hierfür blieb kaum eine andere Wahl, als die bereits vorhandene Installation weiter zu nutzen. Diese ging daher bei Auflösung des Vertrags in das Eigentum des GKI über. Mit der ablösenden Unternehmung wurde ein Allianz­vertrag abgeschlossen, bei dem die Installationen von der GKI-Gesellschaft dem Auftragnehmer für die Arbeiten zur Verfügung gestellt werden. Diesem Vertragswerk, das 38 Seiten umfasst und in nur drei Wochen ausgearbeitet wurde, liegt ein österreichischer Arbeitsvertrag in Anlehnung an einen australischen Allianzvertrag zugrunde.

«Kernpunkte des Vertrags sind die Definition von Zielkosten und Zielterminen mit einem ‹pain and gain sharing› bei Termin- und Kostenüberschreitungen, aber auch mit Anreizmodellen bezüglich Arbeitssicherheit, Herstellerqualität und partnerschaftlichem Verhalten», schreibt Johann Herdina, Vorstandsdirektor der TIWAG.[1] «Die GKI als Auftraggeber entsendet einen erfahrenen Mitarbeiter in die Allianzsitzungen, die im Prinzip Firmenratssitzungen der Arbeitsgemeinschaft sind, und hat als Bauherr volle Einsicht in die Bilanz­unterlagen und ist auch der Vorfinanzierer aller Baustellentätigkeiten.»

Taucher am Boden

Auch beim Bau des Krafthauses und dem anschlies­senden 300 m langen Unterwasserkanal kam es zu Unerwartetem. Die Projektierung beruhte auf einer geringeren Durchlässigkeit des Baugrunds, als tatsächlich angetroffen wurde. Der Wasserzufluss im anstehenden Innschotter fiel daher zu gross aus für eine effiziente Wasserhaltung der Baugrube durch Grundwasser­absenkung. Die tiefsten Stellen des Krafthauses liegen immerhin etwa 14 m unter dem anstehenden Gelände. Die Unternehmerlösung setzte daher auf den Einbau von zementgedeckelten Weichgelsohlen im Zu- und Ablaufbereich des Krafthauses (Hosenrohr vor und Saugrohr hinter den Turbinen). Im Bereich des Krafthauses selbst wurde eine Unterwasserbeton­sohle eingebracht.

Für diese Arbeiten erstellte man zuerst entlang einer Leitwand eine Schlitzwand um die Baugrube. Injektionslanzen durchdrangen den Baugrund auf die Höhenlagen der angestrebten Weichgelsohlen und verpressten das Injektionsgut zu einer Mächtigkeit von 2 m und einem oberen 30 cm dicken Deckel aus Zement-Gel-Mix. Für das Krafthaus fand bis auf Unterkante der Bodenplatte ein Unterwasseraushub mit Langstiel- und Seilbagger statt. Von einem schwimmenden Ponton aus wurden daraufhin 178 GEWI-Anker (L = 19 m) in den unter Wasser liegenden Baugrund gerammt.

Taucher befestigten die Ankerköpfe, reinigten die ausgehobene Sohle vom Schlamm und bereiteten mit einer Höchstdruckanlage (1000 bar) die Kontaktfläche der Schlitz­wand zur zukünftigen Bodenplatte vor. Am Abend des 5. November 2015 begann das Einbringen des Unterwasserbetons für die Bodenplatte des Krafthauses. Der Zeitpunkt im Winterhalbjahr war günstig, weil dann tiefere Grundwasserstände vorherrschen. Innert 16 Stunden wurden 1220 m³ Beton in einem Guss mittels Contractor-Verfahren eingebaut.

Der gedeckte Unterwasserkanal sollte ursprünglich konventionell in einer offenen Baugrube hergestellt werden. Der Wasserandrang machte jedoch den Einsatz eines Spundwandkastens erforderlich, sodass auch hier schliesslich eine Unterwasserbetonsohle ein­gebracht wurde. Trotz dieser Umstände konnte das Baulos Krafthaus Prutz termingerecht abgeschlossen werden.

Tübbinge, Deponien und Ausgleich

Die Tübbingherstellung für die Auskleidung des Triebwasserstollens erfolgt direkt vor Ort in Maria Stein. Dies bietet bedeutende Vorteile: Da der grösste Teil der Zuschlagsstoffe aus anstehendem Innkies und Hangschutt gewonnen werden kann, reduzieren sich Transporte wesentlich gegenüber einer auswärtigen Her­stellung der Betonfertigteile. Die Aushubflächen der Betongesteinskörnungen werden zur Deponierung der rund 1.000.000 m³ Ausbruchgestein aus dem Stollen heran­gezogen. Von den Schutterzügen wird das Ma­terial direkt über Förderbänder zur Deponie geleitet. Eine Weiterverwendung der abgebauten Gesteine – es fällt vorwiegend Kalkschiefer aus dem sogenannten «Engadiner Fenster» an – kam aufgrund der unzureichenden Eigenschaften nicht in Betracht.

Die Installationsflächen in Maria Stein werden nach Abschluss der Arbeiten in ein grosses Biotop umgewandelt – eine von mehreren ökologischen Ausgleichsmassnahmen. Es entstehen verschiedenartige, standorttypische Bepflanzungszonen und Sukzessions­gebiete. Unterschiedliche Wasser- und Uferbereiche sollen einer möglichst breiten Artengemeinschaft zur Verfügung stehen. Auch Flussaufweitungen am Inn werden um­gesetzt, und die Fischgängigkeit diverser Bach­­­­­mündungen soll sichergestellt werden.

Ziel solcher punktueller Massnahmen ist eine Verbesserung der Ha­bitatsbedingungen am Inn. Ein grosser Vorteil für die Lebensgemeinschaften des Flusses sei laut ­Betreiber die Schwallreduktion auf der gesamten Kraftwerks­strecke zwischen dem Wehr Ovella und dem Krafthaus Prutz. Diese Schwallsanierung wird jedoch nicht als ökologischer Ausgleich angesehen.

Der lange Weg zum Kraftwerk

Die zeitliche Verzögerung bei der baulichen Umsetzung des Gemeinschaftskraftwerks Inn relativiert sich, betrachtet man die Zeiträume, bis ein solches Projekt zustande kommt. Erste Projektstudien (aus San Francisco!) lagen bereits 1928 vor. Zwischen 1948 und 1978 wurden mehrere Projektvarianten in diesem Abschnitt angedacht, eine intensive Planungsarbeit wurde aber erst seit 1978 aufgenommen. Ein 1982 zur wasserrechtlichen Bewilligung eingereichtes Projekt, das dem heutigen sehr nah kommt, scheiterte damals unter anderem am Widerstand der Bevölkerung.

Erst 2003 nahm man die Planung wieder auf. Dies machte einen Staatsvertrag erforderlich, der am 29. Oktober 2003 beschlossen wurde. Bis zu seinem Inkrafttreten vergingen aber nochmals fünf Jahre. Mittlerweile wurden die Genehmigungen in der Schweiz und in Österreich beantragt. Die ersten Genehmigungsentscheide liessen bis zum Jahr 2010 auf sich warten und stiessen auf Widerstand. Es sollte noch bis zum 1. Juli 2013 dauern, bis das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht und auf österreichischer Seite der Umwelt­senat die endgültige Genehmigung erteilt hatten und der Austausch von diplomatischen Noten diese rechtswirksam werden liess.

Gesellschaftlicher Ausstieg

Das Werk war noch nicht einmal richtig begonnen, da änderten sich schon seine Besitzverhältnisse. Während der Planungs- und Genehmigungsphase hielt die österreichische Gesellschaft Verbund die Hälfte der Anteile. 36 % entfielen auf die TIWAG (Tiroler Wasserkraft AG), 14 % gehörten den Engadiner Kraftwerken. Letztere haben nicht nur aufgrund der Stromproduk­tion ein grosses Interesse am Projekt, sondern auch wegen der damit verbundenen Schwallreduktion. Der schweizerische Anteil wird mit wesentlichen Bundesbeiträgen gefördert.

Da der Verbund sich nicht in der Lage fühlte, aufgrund der Strompreise am Markt einen Aufsichtsratsbeschluss für einen Baustart herbeizuführen, übernahm die TIWAG einen Grossteil seiner Anteile. Das führte zu Besitzverhältnissen von 76 % bei der TIWAG, noch 10 % beim Verbund und 14 % bei den Engadiner Kraftwerken. Mittlerweile ergab sich nochmals eine Änderung. Der Verbund ist nun komplett ausgestiegen, sodass die TIWAG nun 86 % am GKI innehat.

Die auftretenden Schwierigkeiten ziehen gemäss derzeitiger Prognose einen etwa 16-prozentigen Anstieg der Erstellungskosten nach sich. Eine neue Hochrechnung erfolgt noch 2018. Nicht eingerechnet hierbei sind die Erzeugungseinbussen von etwa zwei Jahren. Aber man soll den Fisch ja nicht ver­teilen, noch ehe er überhaupt gefangen ist. Den Projektbeteiligten wird jedenfalls ein langer Atem abverlangt, und vielleicht wünschte sich manch einer, Kiemen zu haben, um ab und zu abtauchen zu können. Aber damit tun sich ja sogar Fische oftmals schwer.


Anmerkung:
[01] Johann Herdina, Projekt Gemeinschaftskraftwerk Inn, Grenzüberschreitende technische und vertragliche Herausforderungen, Swiss Tunnel Congress 2018.

TEC21, Fr., 2018.10.19



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TEC21 2018|42 Gemeinschafts-Kraftwerk Inn

29. Juni 2018Peter Seitz
TEC21

Ein Ingenieur, der den Bogen raus hatte

Im Alter von 90 Jahren starb 2017 Giovanni Lombardi, der Gründer des gleichnamigen Tessiner Ingenieurbüros. Seine grössten Projekte waren von Bögen geprägt: Berühmte Bogenstaumauern tragen seine Handschrift, und gebogene Linienführungen von Tunneln bescherten ihm auch mit 80 Jahren noch Erfolge.

Im Alter von 90 Jahren starb 2017 Giovanni Lombardi, der Gründer des gleichnamigen Tessiner Ingenieurbüros. Seine grössten Projekte waren von Bögen geprägt: Berühmte Bogenstaumauern tragen seine Handschrift, und gebogene Linienführungen von Tunneln bescherten ihm auch mit 80 Jahren noch Erfolge.

Das Problem in den 1960er-Jahren ist ein altes: Zwischen Göschenen und Airolo soll ein neuer Tunnel entstehen, diesmal für die Nationalstrasse. Der geradlinige Eisenbahntunnel von Louis Favre ist ­bereits seit 1882 in Betrieb. Mit einer durchschnittlichen Überdeckung von 1100 m stellt er die direkte Verbindung Uris mit dem Tessin dar. 1965 werden vier Ingenieurbüros eingeladen, ihre Entwürfe für den noch heute längsten Strassentunnel der Alpen vorzulegen. Drei davon nehmen die gerade Linien­führung der Eisenbahn auf; eines aber, das Ingenieurbüro von Giovanni Lombardi, schlägt einen bis zu 2.4 km nach Westen ausholenden Bogen vor. Lombardi ist sehr erfahren in der Geologie, er kennt die Gegend und das Gelände – baut er in dieser Zeit doch die vier wichtigsten Viadukte der neuen Gotthard-Passstrasse, darunter die Fieud-Serpentine (tornante di Fieud), die westlichste Kurve an der Südauffahrt zum Pass. Mit ihr löst sich die Strasse kurzzeitig vom Hang und führt scheinbar in die Leere, um sich nachher sogleich wieder an den Bergrücken zu schmiegen.

Lombardis Vorschlag der gekrümmten Tunnelführung erhält den Zuschlag: Zwischen 1970 und 1980 entsteht unter seiner Leitung der Gotthard-Strassentunnel. Die Vorteile seines «Um-die-Ecke-Denkens» – in diesem Fall «Um-den-Bogen-Denkens» – lagen auf der Hand: Durch die Verlegung des Tunnels in Richtung der Furche des Gotthardpasses standen einem etwas längeren Strassentunnel bedeutend kürzere Lüftungsschächte gegenüber, die auch noch von der Passstrasse her leichter erreichbar waren. Zudem konnte eine geo­lo­gi­sche Störung umgangen werden. Dieses geniale, aus heutiger Sicht vielleicht logisch banal erscheinende Konzept war damals mindestens innovativ, womöglich sogar revolutionär und vergünstigte das Projekt um 100 Millionen Franken.

Folgender Satz Lombardis passt nicht nur zum Gotthard-Strassentunnel, auch aus anderen seiner Grossprojekte ist Innovationsgeist und Aufgeschlossenheit gegenüber neuartigen Lösungen und Methoden ablesbar: «Der Ingenieur muss sich auch Lösungen vorstellen können, die vom traditionellen Schema abweichen – er muss sie dann aber in Ruhe analysieren und bewerten können, ohne sich durch übermässige Begeis­terung, die die Originalität seines Vorschlags auslösen mag, beirren zu lassen.»

Lombardis Karriere: geradlinig nach oben

Schon zu Beginn seiner Ingenieurslaufbahn zeichnete sich ab, dass Lombardis Arbeitsleben von Bogengebilden geprägt sein würde: Sein Dissertation, die er 1955 an der ETH Zürich veröffentlichte, trug den Titel «Les barrages en voûte mince» und befasste sich mit der statischen Untersuchung schlanker Bogensperren.

Zuvor, nach Abschluss seines Studiums, ebenfalls an der ETH, hatte der gebürtige Leventiner, der in Südfrankreich aufgewachsen war und aufgrund des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz zurückkehrte, im Freiburger Ingenieurbüro von Henri Gicot und bei Arnold Kaech in Bern gearbeitet. Gicot und Kaech machten sich weltweit als Talsperrenbauer einen Namen. In der Schweiz war Gicot an der 1921 fertiggestellten Staumauer Montsalvens und an der Rossens-Bogenstau­mauer (1948) beteiligt, Kaech an der Spitallamm-Mauer, die 1932 am Grimselpass entstand.

Kurz nach seiner Promotion eröffneten Giovanni Lombardi und sein Studienfreund Giuseppe Gellera (1925–1976) in Locarno ihr eigenes Ingenieurbüro, Lombardi & Gellera. Das Unternehmen mit über 100 Mit­arbeitenden spaltete sich jedoch 1964 auf.

Es waren die Boomjahre nach dem Weltkrieg, in denen sich Wirtschaftsaufschwung und Grosswasserkraft die Hand gaben. Veranschaulichend seien hier einige Zahlen aus Italien, dem Land mit dem grössten Alpenanteil, aufgeführt. Bis 1920 gab es dort ungefähr dreissig Stauseen. Bis zum Zweiten Weltkrieg ­waren es bereits 200 – der Faschismus wollte dank der «weissen Kohle» möglichst energieautark sein, aber auch die ­landwirtschaftliche Bewässerung spielte eine Rolle. Seit 1950 wurden allein in Italien etwa zehn Talsperren pro Jahr gebaut, sodass sich die Zahl bis 1970 annä­hernd verdoppelte.

Der Ausbau der Wasserkraft in diesen Jahren betraf aber nicht nur Italien, sondern alle hierfür geeigneten Gebiete, insbesondere die Alpen und die Pyrenäen. Von 25 grossen Staudämmen, die im Sommer 1964 bei einer Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art unter dem Titel «Twentieth Century Engineering» gezeigt wurden, standen sieben in den französischen Bergen, vier in Italien und vier in der Schweiz.

Im Tal des grünen Wassers: die Contra-Staumauer

Am Aufschwung der Grosswasserkraft nimmt das Büro Lombardi & Gellera regen Anteil: Zwischen 1957 und 1966 entwirft und baut es die Contra-Bogenstaumauer, die den Lago di Vogorno im Verzascatal aufstaut.

Die doppelt gekrümmte Bogenkonstruktion hat eine Kronenlänge von 380 m und ist mit 220 m Höhe die vierthöchste der Schweiz. Mit ihrem geringen Betonvolumen von 660 000 m³ – ihre Mauerdicke variiert von 25 m an der Basis bis zu 7 m an der Krone – stellt sie eine der kühnsten Konstruktionen der Schweiz dar. In späterer Zeit sollte sie weltweit bekannt werden – springt James Bond doch im Prolog von ­«Goldeneye» von ihr herab. Heute kann es ihm auf einer Bungee-­Sprunganlage jeder nachtun.

Die Taten des Entwerfers wurden zwar nie in Szene gesetzt, dafür sind sie echt, beeindruckend – und reich an Anekdoten: Da beim Freilegen des Felsens für die zukünftigen Fundamente schlechtes Gestein zum Vorschein kam, wurde die Mauer kurzerhand von Lombardi und dem Bauunternehmer einige Meter versetzt weitergeplant und gebaut. Die Behörden erfuhren erst nachträglich von der Änderung.

Computer für die Contra-Sperre

Als erste Talsperre der Welt wurde die Contra-Bogen­staumauer mit Computerhilfe berechnet (vgl. «Warum schauen wir nicht mal, was diese Computer machen?», S. 28). Ein Rechner stand in Zürich, der andere in Lau­sanne; aufgrund spezifischer Leistungsgrenzen der ­Maschinen wurden sie in unterschiedlichen Berechnungsphasen eingesetzt. Somit können Lombardi und sein Büro als Vorreiter in Sachen Staumauerberechnung angesehen werden. Wie üblich wurden aber auch Modellversuche durchgeführt, einer am Ismes (Istituto Speri­mentale Modelli e Strutture) in Bergamo, ein zweiter an der VAW (heute: Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich).

Das Contra-Modell am Ismes wurde im Massstab 1 :  66.6 hergestellt und war etwa 3.5 m hoch. Als Material kam sogenannter Mikrobeton zum Einsatz, eine Mischung aus Zement und Bimsstein. Er weist ein ähnliches physikalisch-mechanisches Verhalten auf wie der unbewehrte Beton, mit dem die tatsächliche Mauer gebaut werden sollte.

Die Modelluntersuchungen gestalteten sich aufwendig: Ein Vormodell aus Holz half bei der Dimen­sio­nierung der Abmessungen, Schalungen aus verstärkten Gipsblöcken mussten erstellt werden, und eingesetzte Ankerstäbe dienten der Simulierung des Eigengewichts. Das Modell bildete nur zwölf vertikale Fugen (die Hälfte der realen) sowie die inneren Inspektionstunnel und vertikalen Schächte ab. Um eine originalgetreue Darstellung des hydrostatischen Schubs zu erhalten, belasteten 102 Hydraulikzylinder, die jeweils auf Stahl- und Betonverteiler­platten mit einer Korksohle drückten, das Modell. Ein kom­plexes System von Messgeräten (elektroakustische und mechanische Komparatoren und Dehnungsmessstreifen) diente da­zu, auftretende Verformungen und Verschiebungen zu erkennen. Erst beim 5.8-fachen Wert des normalen ­hydrostatischen Wasserdrucks erfolgte der Bruch im Modellversuch. Am kleineren hydrau­lischen Modell der VAW wurden unter anderem die Form der Überläufe und deren korrekte Anströmung untersucht.

Bogenstaumauern um den ganzen Erdball

Die Talsperre im Verzascatal bildete den Auftakt zu vielen weiteren Talsperrenprojekten Lombardis. 1965 wurde die Doppelbogenstaumauer von Roggiasca in Graubünden fertiggestellt, 1969 die Kops-Staumauer in Vorarlberg. Wie später beim Gotthard-Strassentunnel gelangte Lom­bardi hier mit einem Bogen als Alternative zum Auftrag. Er schlug vor, eine 600 m ­lange, zu kostspielig geplante Schwergewichtsstaumauer durch eine kürzere zu ersetzen, und fügte dieser eine Doppelbogenstaumauer bei, was den Betonverbrauch und damit die Kosten senkte.

Das Wissen und die Erfahrung Lombardis wurden zunehmend auch international geschätzt. So wurde Österreichs höchste Talsperre, die 200 m hohe Kölnbreinsperre, die erst wenige Jahre alt war, nach einem Entwurf Lombardis von 1989 bis 1992 instandgesetzt. Neben zahlreichen weiteren Mauerertüchtigungen war der Wasserbauexperte, der zwischen 1979 und 1985 auch Präsident des Schweizerischen Talsperren­komi­tees war und anschliessend drei Jahre die Präsidentschaft der Icold (International Commission on Large Dams) innehatte, immer noch an Neubauten beteiligt, nun aber weltweit. In der Türkei entstand am Euphrat die Karakaya-Talsperre (1987); auch in Alge­rien war Lombardi vor Ort, etwa mit dem Vorprojekt der Bogen­staumauer Tichi-Haf, und in Mexiko wurden 1995 die ­Staumauern von Huites und Zimapán fertiggestellt.

Theorien aus der Praxis, für die Praxis

Bei der Planung und Umsetzung seiner Grossprojek-­te stiess Lombardi immer wieder an die Grenzen des ­damals Möglichen. Die Berechnungsbeschränkungen konnten zwar mithilfe der Computer im Lauf der Zeit immer weiter nach oben verschoben werden, jedoch erkannte Lombardi schnell, dass eine alleinige Berechnung noch keine Problemlösung darstellte. Vielmehr kann sein Schaffen als ein beständiges Verstehen­lernen der komplexen Zusammenhänge zwischen Umgebung und Bauwerk und ihrer besseren Erfassung gesehen werden, um letztlich der Problemstellung eine geeignete Lösung entgegenstellen zu können. « (…) Denn die Intuition des Ingenieurs, die auf einer tiefen und soliden Kenntnis der Gesetze der Physik, Mechanik, Geologie und Geotechnik oder der Naturwissenschaften im Allgemeinen beruht, sollte es ihm ermöglichen, die Lösung des Problems schon vor der Berechnung zu erahnen. Nur dann kann er die Gültigkeit der erzielten Ergebnisse beurteilen», schrieb Lombardi 2004.[1]

Zur Unterstützung dieser «Intuition» entwickelte Lombardi mehrere Ansätze und Methoden, die mittlerweile gängige Praxis im Ingenieurwesen sind: Dank der Methode der Kennlinien zur Stabilitätsanalyse von Untertagebauwerken etwa kann rasch der Einfluss einer Änderung der Randbedingung (z. B. andere Felseigenschaft) beim Tunnelvortrieb abgeschätzt werden. Das FES-Modell (Fissured Elastic Saturated rock mass model) beinhaltet ein nicht lineares, hydraulisch gekoppeltes Materialgesetz und steht zur Analyse von geklüftetem, wassergesättigtem Gestein zur Verfügung. Die Methode der Grouting Intensity Number (GIN) hilft bei der Umsetzung abdichtender Injektionen.

Der Schlankheitskoeffizient c von Bogensperren setzt verwendetes Betonvolumen ins Verhältnis zur Sperren­fläche und erlaubt einen Vergleich verschiedener Staumauern. Zur Überwachung von Talsperren entwickelte Lombardi gleich noch das MIC-Modell (Modello Interpretativo Combinato). Lombardis Name hat auch als «Werkzeugmacher» für Ingenieure einen guten Klang.

International unter Tage

Klangvoll tönen auch die Namen auf der Projektliste des zweiten grossen Standbeins Lombardis, des Tunnelbaus: Ortsumfahrungen von Hergiswil, Neuenburg, Locarno und Luxemburg stehen dort neben ganz grossen Projekten mit internationalem Renommee: Die Hightech-Forschung in den unterirdischen CERN-Anlagen bei Genf (ab 1981) und in den Labors für Elementarteilchenphysik unter dem Gran Sasso im Appenin finden in Stollen statt, an denen Lombardi und sein Unternehmen beteiligt waren. Die Machbarkeitsstudien zum Gotthard-Basistunnel tragen die Handschrift Lombardis, und sein Büro war an nahezu allen Ingenieuraktivitäten dieses Jahrhundert­projekts massgeblich beteiligt. Lombardis letzte, gigantische Projektierung schliesslich möchte sogar zwei Kontinente miteinander verbinden: 2006 gewann Lombardi im Joint Venture den Planungswettbewerb zum Gibraltar-Tunnel zwischen Europa und Afrika. Und wie könnte es anders sein? Der Tunnel soll wegen der Meeres­tiefe von 900 m nicht geradlinig verlaufen, sondern einen Bogen in den Atlantik hinaus machen, um einem unterseeischen Rücken mit nur 300 m Wassertiefe zu folgen.
Die Überlegungen Giovanni Lombardis, des ­Vir­tuosen des Bogens, sind auch heute noch relevant. Der Kreis schliesst sich.


Anmerkung:
[01] Giovanni Lombardi, «La modellazione nel campo delle dighe in calcestruzzo», Accademia Nazionale dei Lincei, Rom 2004.

TEC21, Fr., 2018.06.29



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18. Mai 2018Peter Seitz
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Frachtschleuse der Alpen

2 280 000 Lkw überquerten 2016 den 1371 m hohen ­Brennerpass. Ob italienisches Acqua minerale nach Norden, deutschen ­Sprudel nach Süden oder doch sinnvollere Transporte – der ­Brenner hat schon alles und alle kommen und gehen sehen: Kaiser, Diktatoren, Zöllner, vor allem aber täglich Reisende und Güter.

2 280 000 Lkw überquerten 2016 den 1371 m hohen ­Brennerpass. Ob italienisches Acqua minerale nach Norden, deutschen ­Sprudel nach Süden oder doch sinnvollere Transporte – der ­Brenner hat schon alles und alle kommen und gehen sehen: Kaiser, Diktatoren, Zöllner, vor allem aber täglich Reisende und Güter.

Der Brenner ist heute kein Postkartenmotiv: Der komplett verbaute Pass, über den schon römische Legionäre marschierten, mittelalterliche Könige nach Rom zogen und als Kaiser zurückkehrten, Säumer ihre Lasten brachten und auf dem Mussolini Hitler die Hand schüttelte, gleicht von oben einem Lindwurm, der nach Süden will. Feuer spuckt er freilich nicht, lediglich Verbrennungsabgase und natürlich eines: Strassen- und Schienenfahrzeuge in beide Richtungen. Dabei suggeriert das Luftbild eine falsche Verteilung. Über die breiten Gleisanlagen am Bahnhof Brenner werden bedeutend weniger Güter umgeschlagen als über das schmale Band der Autobahn.

71 % der über den Pass beförderten Transitgüter, das entspricht 31.2 Mio. t, erreichten 2015 ihr Ziel per Lkw, im Gegensatz zu den 12.7 Mio. t an Waren, die von der bestehende Brennerbahn transportiert wurden. Die Zahlen sind gewaltig. Der Brenner hat nicht nur das höchste Frachtaufkommen aller Alpenpässe, über ihn rollen sogar mehr Güter als über sämtliche alpenquerenden Routen der Schweiz (Gr. St.-Bernhard, Simplon, Gotthard, San Bernadino) oder auch über alle Alpenübergänge von Frankreich nach Italien. In der Schweiz bildet sich der Modal Split, der Anteil der Verkehrsträger am Güterverkehr, jedoch umgekehrt ab: 2016 transportierte hier die Eisenbahn 71 % der Fracht, während der Strassenverkehr nur 29 % einnahm. Werte, die die Bevölkerung der Brennerregion als traumhaft ansehen dürfte.

Seit 1972 die Strecke Innsbruck bis Modena nahezu durchgehend auf der Autobahn befahren werden konnte – ein letztes Teilstück vor Bozen wurde erst 1974 eröffnet –, übernahm am Brenner der Strassenverkehr die Führung in der Güterabwicklung. Abgesehen von kleineren Rückschritten stieg das Transportaufkommen sowohl im Schienen- als auch im Strassenverkehr kontinuierlich an. Das Diagramm der Entwicklung des Güterverkehrs am Brenner liest sich dabei wie ein historischer Rückblick auf die europäische Konjunktur. 2008 und 2009 etwa kann man deutlich einen Rückgang des Frachtvolumens ablesen: Die Finanzkrise zeigte ihre Auswirkungen.

Zwar verfolgt die EU grundsätzlich das Ziel, den Verkehr von der Strasse auf die Schiene zu bringen, doch mit der bestehenden Brennerbahn wäre eine Umkehrung der bestehenden Verhältnisse kaum möglich. Werden in 24 Stunden doch etwa 6500 Lkw an den Mautstationen der Brennerautobahn gezählt. Hinzu kommen noch um die 30 000 Pkw oder ähnliche Fahrzeuge täglich, die die Strecke zumindest teilweise befahren. Diese Zahlen vermitteln selbst Ortsunkundigen eine Vorstellung dessen, was die Brennerroute alles auf sich nimmt respektive was die Anwohner auf sich nehmen müssen.

Transit – Verdiener und Verlierer

Der «Transitwahn», von dem viele sprechen, hat in der Vergangenheit oft zu Unmut bei weiten Teilen der Ortsansässigen geführt. Um sich medial Gehör zu verschaffen, veranstalteten Anwohner mehrere Demonstrationen, die stundenweise Sperrungen der Brennerautobahn nach sich zogen. Bedenkt man die Umweltbelastung durch Abgase und Lärm, die sich in Gebirgstälern bedeutend höher auswirkt als in der Ebene, sind die Forderungen nach einer Verringerung des Verkehrs nachvollziehbar. Andererseits ist der Transitverkehr ein lukratives Geschäft. 1.37 Mrd. Euro nahm die Asfinag, die für die 2200 km Fernstrassen und Autobahnen Österreichs verantwortliche Infrastrukturgesellschaft, 2017 im ganzen Land aus dem Lkw-Verkehr ein. Zahlen für die Brennerroute sind nicht erhältlich, allerdings lassen sich aus der Fahrzeuganzahl von über zwei Millionen und einer Mautgebühr von etwa 50 Euro auf österreichischer Seite die Einnahmen abschätzen.

Dabei sind die Erlöse nicht nur als notwendiges Übel nach dem Motto «Wir machen das Beste draus» zu betrachten. Die alpinen Transitrouten können international durchaus in Konkurrenz zueinander gesehen werden. Die Brennerstrecke gehört dabei aufgrund der Mauthöhe und der Treibstoffpreise zu den günstigen. Deshalb machen Umwegfahrten einen beachtlichen Anteil des Verkehrsaufkommens am Brenner aus. 2011 etwa hätten rund 25 % der Lkw, die den Brenner befuhren, über den Gotthard eine um mindestens 60 km kürzere Route gehabt. Allerdings kann man auch anführen, dass 60 km Umweg für einen Lkw kaum ins Gewicht fallen, wenn man weniger Kontrollen und Formalitäten, etwa an der Grenze, in Betracht zieht und dazu noch günstiger tanken kann.

Eine gewisse Entspannung des massiven Strassengütertransports in Tirol und Südtirol soll ab 2027 der Brenner-Basistunnel bringen. Der Tunnel, das Herzstück des SCAN-MED, wird mit seinen 64 km die längste unterirdische Eisenbahnverbindung der Welt, rechnet man die bereits seit 1994 bestehende, 9 km lange südliche Güterzugumfahrung um Innsbruck mit ein. Die als Flachbahn konzipierte Verbindung befindet sich derzeit im Bau. Mit 120 km/h werden Güterzüge zwischen Tulfes respektive Innsbruck und Franzensfeste in Südtirol den Alpenhauptkamm unterqueren können. Personenzüge werden sogar 250 km/h erreichen. Ein weiterer verkehrstechnischer Höhepunkt, der wie in früheren Zeiten wieder einmal am Brenner entsteht.

Die Brennerbahn

Als Brennerbahn bezeichnet man die über den Pass führende Eisenbahnverbindung zwischen Innsbruck und Verona. Zu Beginn ihrer Bauzeit führte die gesamte Strecke noch durch Herrschaftsgebiet der Habsburger-Monarchie. In nur dreieinhalb Jahren Bauzeit zwischen 1864 und 1867 entstand der Abschnitt über den Alpenhauptkamm zwischen Innsbruck und Bozen. Nach Plänen von Karl Etzel und unter der Leitung des Schweizer Ingenieurs Achilles Thommen setzten bis zu 20 600 Arbeiter das Trassee mit seinen zahlreichen Kunstbauten um und schufen damit seit der Eröffnung der Semmeringbahn zwischen Gloggnitz und Mürzzuschlag (Strecke Wien–Graz) im Jahr 1854 die zweite alpenüberquerende Bahnverbindung – die damals steilste Adhäsionsbahn überhaupt.

Die Strecke führt von Innsbruck (582 m ü. A.)[1] durch das nördliche Wipptal und überwindet bis zum Brennerpass einen Höhenunterschied von 789 m. Von der Passhöhe folgt die Bahnlinie dem südlichen Wipptal respektive Eisacktal bis Franzensfeste (747 m s. l. m.)1, weiter nach Bozen (266 m s. l. m.) und durch das Etschtal bis Verona. Um die Steigungen zu verringern, wurde die Strecke mit zwei Kehrtunnelbauten künstlich verlängert – damals ein Novum im Eisenbahnbau. Die maximale Steigung auf der Brennerstrecke konnte so auf 25 ‰ an der Nord- und 22.5 ‰ an der Südrampe beschränkt werden. Noch heute wird auf der Nordrampe das Dorf St. Jodok am Brenner von der Bahnlinie respektive dem Tunnel auf drei Seiten umfahren. Der zweite Kehrtunnel, der Aster Tunnel auf der Südrampe, ist seit 1999 aufgelassen und wurde durch den Pflerschtunnel mit neuer Linienführung ersetzt.

Auch 151 Jahre nach Eröffnung der Brennerbahn kann die damalige Planung als vorausschauend bezeichnet werden. Im Lauf der Zeit kam es jedoch des Öfteren zu übergeordneten Weichenstellungen, die weiterführenden Planungen nicht gerade förderlich waren. Für die Planungsleistung der Erbauer spricht etwa, dass es nur vier Wochen dauerte, bis die Brennerstrecke ab der ersten Probefahrt für den Personenverkehr freigegeben wurde. Eine feierliche Eröffnung blieb aus, da aufgrund der Hinrichtung von Kaiser Maximilian von Mexiko Hoftrauer im habsburgisch regierten Österreich verhängt war. Ein Jahr zuvor, 1886, konnte das junge Königreich Italien Venetien annektieren. Das südlichste Stück der Brennerbahn entlang des Gardasees fiel damit an einen anderen Staat.

Aus Kostengründen hatte die Bahn über den Alpenhauptkamm bei ihrer Eröffnung 1867 nur ein Gleis, jedoch war das Trassee umsichtig für zwei Gleise angelegt worden. Bereits 1868 verlief der Verkehr auf der Nordrampe zweigleisig, ab 1908 auf der gesamten Strecke. Einen Fortschritt mit Folgen brachte die Elektrifizierung der Strecke mit sich. Da nach dem Ersten Weltkrieg Südtirol und damit die Südrampe der Brennerbahn Italien zugeschlagen war, verlief nun am Brennerpass die Staatsgrenze. Für den südlichen Abschnitt der Brennerbahn waren ab jetzt die Ferrovie dello Stato verantwortlich, auf Nordtiroler Gebiet kam die Österreichische Bundesbahn zum Zug. Beide Strecken wurden 1928–1929 elektrifiziert – allerdings leider mit unterschiedlichen, nicht kompatiblen Stromsystemen. Die Österreicher setzten auf ein Einphasen-Wechselstromsystem mit 15 kV und 16.7 Hz, wie es auch heute in der Schweiz, Österreich und Deutschland üblich ist, während auf italienischer Seite Dreiphasen-Wechselstrom für den Antrieb sorgte.

Bis 1934 kam noch erschwerend hinzu, dass der Bahnhof am Brennerpass grösstenteils auf italienischem Gebiet liegt. Daher konnte die österreichische Seite ihre Elektrifizierung nur bis zur Station Brennersee, nördlich unterhalb des Passes, führen. Ein Weiterführung des österreichischen Stromsystems bis zum Passbahnhof blieb untersagt. Zwischen Brennersee und Pass mussten die Waggons folglich mit Dampflokomotiven befördert werden, bevor dann italienische Loks übernahmen. Ab 1934 gehörte diese Farce aber der Geschichte an. Das österreichische Stromsystem wurde bis in den Bahnhof Brenner weiterverlegt, sodass dieser ein Systemwechselbahnhof wurde.

Ab 1976 stellte die italienische Staatsbahn ihre Brennerstrecke zwar auf 3 kV Gleichstrom um, doch das änderte nichts an der unschönen Begleiterscheinung, dass stromgetriebene Züge die Strecke nicht durchgehend befahren konnten. Auf dem Brenner mussten die Lokomotiven ausgewechselt werden. 1993 – immerhin – konnten erstmals Güterzüge, gezogen von sogenannten «Brennerloks», die Strecke durchgehend elektrisch befahren. Allerdings kamen die Lokomotiven aufgrund des Stopps der RoLa über die Brennerroute im Jahr 1992 und Desinteresse auf italienischer Seite kaum zum Einsatz. Heute gibt es mehrere moderne Mehrsystemlokomotiven, um die Strecke, die eine Kapazität von etwa 230 Zügen pro Tag aufweist, durchgängig befahren zu können.

Die alte Brennerstrasse (B 174 und SS 12)

Vor dem Bau der Brennerautobahn lief der gesamte strassengebundene Transitverkehr über die alte Brennerstrasse. Die Motorisierung Deutschlands im Zuge des Wirtschaftswunders erreichte in den 1950er- und 1960er-Jahren die Alpen. Der Traum, Italien mit dem eigenen Auto anzusteuern, war in greifbare Nähe gerückt. Käfer an Käfer, NSU an BMW Isetta, alles wollte in den Süden. Noch heute führt die Bundesstrasse B 174 von Innsbruck unter der Europabrücke (Autobahn, seit 1963) hindurch, umfährt Schönberg und durchquert die Hauptorte an der Brennerroute – Matrei, Steinach und Gries.

Der untere Abschnitt bis Schönberg wurde bereits 1844 fertiggestellt. Für den Gütertransitverkehr ist sie heute jedoch gesperrt, sodass sie nur für den Ziel- und Quellverkehr und natürlich für den motorisierten Individualverkehr von Bedeutung ist. Aufgrund der kurvenreichen Strecke im unteren Abschnitt und der zahlreichen Ortsdurchfahrten wird die alte Brennerstrasse, die von Pkw mautfrei befahren werden darf, vor allem für Reisende ohne Zeitdruck oder zur Umfahrung eines Staus auf der Autobahn genutzt.

Die Brennerautobahn (A 13 und A 22)

Als erste Autobahn über die Alpen war die Brennerautobahn eine technische Meisterleistung und ist es mit ihren zahlreichen Kunstbauten bis heute geblieben. Mit ihrer Steigung von maximal 6 % bildet sie seit ihrer Fertigstellung 1974 das Rückgrat des alpenquerenden Verkehrs.

Höhepunkt der A 13 auf österreichischer Seite ist zweifelsohne die Europabrücke. Anfängliche Planungen sahen sie noch gar nicht vor. Die Autobahn sollte, wie auch die Brennerbahn, eigentlich auf der orografisch rechten Flusseite der Sill entlang geführt werden. Touristischen Überlegungen folgend wechselte man aber vor Schönberg die Talseite, was eine Brücke nötig machte. Die 657 m lange Hauptbrücke mit ihren fünf Stahlbetonpfeilern war bei ihrer Fertigstellung im Jahr 1963 mit 190 m die höchste Brücke Europas. Die Konstruktion als stählerner Hohlkastenträger mit orthotroper Platte muss gewaltige Windlasten aufnehmen können – ist das Wipptal doch ein Föhntal par excellence. Die anfängliche Breite von 22.20 m wurde 1984 auf 24.60 m erhöht. Seither besitzt die Brücke in jede Richtung drei Fahrspuren und jeweils einen davon abgetrennten Gehweg.

Auf italienischer Seite ist der Gossensass-Viadukt (Viadotto Colle Isarco) der A 22 das auffälligste Bauwerk. Mit einer Länge von 1031.5 m und zwölf Pfeilern mit einer Höhe bis zu 87 m überbrücken die 13 Felder (grösste Spannweite 163 m) hoch über dem Ort Gossensass den Fluss Eisack.

Der Brenner-Basistunnel

Selbst das modernste Projekt am Brenner ist vor Skurrilitäten nicht gefeit. Der Brenner-Basistunnel wird als Scheiteltunnel von Innsbruck nach Franzensfeste geführt. Mit maximal 6.7 ‰ führt er von Innsbruck zum Scheitelpunkt auf 790 m ü. M. (Schienenoberkante [SOK] 794 m), 580 m unter dem Pass. Von dort geht es mit 4 ‰ bergab zum südlichen Tunnelportal bei Franzensfeste. Die Neigungen hätten aufgrund des Höhenunterschieds der Portale Innsbruck (SOK 608.8 m) und Franzensfeste (SOK 747.2 m) noch geringer ausfallen können. Die italienische Seite bestand aber auf einem künstlichen Scheitelpunkt an der Grenze. Auf italienischem Gebiet anfallendes Wasser wird also nach Italien entwässert.

Die Auslegung des Brenner-Basistunnels samt der bestehenden Brennerstrecke wird etwa 400 Züge pro Tag betragen. Aufgrund der Ausgestaltung als Flachbahn können die Züge künftig schwerer sein als auf der Bestandsstrecke. 25 Minuten werden Personenzüge von Innsbruck nach Franzensfeste benötigen – etwa eine Stunde weniger als bisher.

Die Nord- und Südzuläufe

Eine unbefriedigende Situation für den Brenner-Basistunnel zeichnet sich ausserhalb seines Projektperimeters ab. Ob eine genügende Auslastung gegeben sein wird, hängt in erster Linie von der Politik ab. Gelingt die Umlagerung von der Strasse auf die Schiene nicht in gewünschtem Mass, werden die Gelder – die Kostenschätzung beträgt immerhin etwa 8 Mrd. Euro –, wie es Projektgegner befürchten, im wahrsten Sinn «verlocht» sein. Die Zulaufstrecken zum Tunnel sind daher von immenser Bedeutung. Im Norden des Brenner-Basistunnels ist die Unterinntalstrecke von Wörgl bis Innsbruck mit einer Kapazität von bis zu 570 Zügen pro Tag bereits fertig ausgebaut. Neben der Bestandsstrecke ist eine neue, zweigleisige Strecke entstanden. Von dieser 40 km langen Eisenbahnverbindung führen 34 km durch Tunnel, Galerien und Wannen, um die Auswirkungen auf das Inntal möglichst gering zu halten.

Von Wörgl bis zur deutsch-österreichischen Grenze bei Kiefersfelden stehen Ausbaupläne bereits fest, sind aber abhängig von der Trassenführung einer Neubaustrecke auf deutscher Seite (München–Rosenheim–Kiefersfelden; derzeitige Kapazität etwa 260 Züge pro Tag). Die Planung Letzterer ist jedoch zeitlich bedeutend im Verzug, sieht man auf die Eröffnung des Tunnels 2027. Derzeit liegen Korridorentwürfe vor, aus denen dann das Trassenauswahlverfahren erstellt werden soll, selbstverständlich unter Einbezug relevanter Entscheidungsträger – in der Schweiz würde man hierzu partizipative Planung sagen. Ein durchgängiger, die Anforderungen erfüllender Nordzulauf kann durchaus erst zehn Jahre nach der Inbetriebnahme des Brenner-Basistunnels umgesetzt sein.

Am Südzulauf sieht es etwas entspannter aus. Da bereits einige Tunnel neu erstellt wurden (Ceraino, Kardaun, Schlern, Pflersch), liegt das Augenmerk nun auf der Modernisierung technischer Anlagen. Derzeit können 280 Züge am Tag die Strecke befahren. Die Kapazität soll bis zur durchgehenden Verbindung unter dem Brenner auf 400 Züge pro Tag gesteigert werden.

Der Brennerpass von morgen

Ob der Brenner-Basistunnel zur räumlichen Entlastung des Transitverkehrs in gewünschtem Mass beitragen wird, ist also offen. Eventuell könnte eine Umlagerung der Güterströme zu einer touristischen Belebung des Wipptals führen. Ein Ferienziel im Herzen der Alpen mit ausserordentlich guter Verkehrsanbindung – das klingt vielversprechend. Am Brenner gab es das schon einmal: Brennerbad, südlich des Passes, erlebte als bekanntes Thermalbad seine Blütezeit im 19. Jahrhundert und besass ab 1869 sogar Schnellzuganschluss. Der Ort Brenner selbst, ein Konstrukt aus (ehemaliger) Zollwache, Eisenbahnersiedlung und Handelsunternehmen, verwaiste seit dem Beitritt Österreichs zum Schengener Abkommen 1998 mehr und mehr.

Heute noch als «Auspuff Europas» verunglimpft, ist den meisten die Brennergegend nur von der Durchreise her bekannt. Dabei gibt es hier einiges zu entdecken. Die weltberühmten Dolomiten etwa verdanken ihren Namen dem Dolomitgestein, das nach dem Herkunftsort des Entdeckers Déodat Gratet de Dolomieu benannt ist. Dem Namen liegt also ein französisches Dorf zugrunde, das Gestein aber stammte von den Tribulaunen – und die stehen weder in Frankreich noch in den Dolomiten, sondern am Brenner.


Anmerkung:
[01] Die absoluten Höhenangaben in Österreich (m ü. A. = Meter über Adria) und Italien (m s. l. m. = metri sul livello del mare) weichen bis zu 3.2 cm voneinander ab.

TEC21, Fr., 2018.05.18



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18. Mai 2018Peter Seitz
TEC21

Vor dem Vortrieb erst erkunden

Schnell zum Törggelen nach Südtirol oder umgekehrt einmal auf die Münchner Wiesn? Mit der Eröffnung des Brenner-Basistunnels rückt diese Vision ab 2027 in erreichbare Nähe. 230 km Stollen werden bis dahin für die längste unter­irdische Eisenbahnverbindung der Welt ausgebrochen sein.

Schnell zum Törggelen nach Südtirol oder umgekehrt einmal auf die Münchner Wiesn? Mit der Eröffnung des Brenner-Basistunnels rückt diese Vision ab 2027 in erreichbare Nähe. 230 km Stollen werden bis dahin für die längste unter­irdische Eisenbahnverbindung der Welt ausgebrochen sein.

Laien stellen sich unter einem Tunnel gewöhnlich eine Röhre mit einem Ein- und Ausgang vor. Prinzipiell ist das richtig, beschäftigt man sich aber mit dem Brenner-Basistunnel, bleibt von der Vorstellung sehr wenig übrig. Der Tunnel besteht zunächst aus drei Röhren, davon zwei Haupt­röhren im Abstand von 70 m mit einem Durchmesser von 8.1 m, die jeweils mit einem Gleis ausgestattet werden und in denen später die Züge richtungsgetrennt geführt werden. Mittig zwischen diesen, etwa 12 m nach unten versetzt, verläuft der kleinere Erkundungsstollen (d = 5 bis 6 m). Er läuft den Ausbrucharbeiten der Haupt­stollen immer voraus und dient während des Baus der Erkundung der Geologie und Hydrogeologie. In der Betriebsphase wird die Entwässerung über ihn stattfinden. Ausserdem ­werden möglichst viele betriebstechnische Einrichtungen in ihm unterkommen, um Unterbrüche der Verkehrsröhren etwa aufgrund von Wartungs­arbeiten minimieren zu können.

Alle 333 m sind die Hauptröhren mit einem Querschlag verbunden, der im Notfall als Fluchtweg in die andere Röhre dient. Eine Evakuierung von Personen über die Querschläge wird jedoch nach Möglichkeit vermieden. Ein Zug wird im Ereignisfall versuchen, den Tunnel zu verlassen oder aber eine der drei Not­haltestellen anzufahren. Diese befinden sich bei Inns­bruck, St. Jodok und Trens und sind jeweils über einen ­Zufahrtstunnel mit der Aussenwelt verbunden. In den 470 m langen Nothaltestellen ist zwischen den Verkehrsröhren ein Mittelstollen angeordnet, in den Passa­giere über alle hier im Abstand von 90 m angeordneten Verbindungsstollen (Querschläge) flüchten können.

Der Mittelstollen ist zweigeteilt. Im unteren Bereich finden die in Not Geratenen Platz, während über den oberen Bereich Rauchgase abgesaugt werden können. Um 45 m versetzt zu den Verbindungsstollen liegen die Abluftstollen, die im Kalottenbereich an den Mittel­stollen angeschlossen sind. Die Frischluftzufuhr über den Zufahrtstunnel erzeugt im unteren Passagier­bereich nun einen Überdruck, sodass dieser rauch­frei bleibt. Über die Abluftstollen entweichen die Rauch­gase in den oberen Bereich des Mittelstollens und werden an die Oberfläche abgeführt. Ein Rettungszug auf dem Gegengleis kann die Verunglückten evakuieren. Auch ein Entkommen über die Zufahrts­tunnel mittels eingesetzten Bussen ist möglich. Zu Fuss würde dies nämlich etwa eine Stunde Fussmarsch bergauf bedeuten.

Ein Tunnel, drei Portale, acht Einfahrten

Von Bozen können Züge über den Südzulauf direkt durch das Portal Franzensfeste in den Basistunnel einfahren. Der Bahnhof Franzensfeste wird dabei nur tangiert. Jedoch ist er ebenfalls über eine Zufahrt an den Tunnel angeschlossen, die im Bereich der Eisackunterquerung auf die Hauptröhren trifft. Nach Norden ermöglicht das Portal Innsbruck eine direkte Einfahrt in die Hauptstadt Tirols, was vor allem für Personenzüge von Interesse ist. Güterzüge des Transitverkehrs werden aber über zwei Verbindungstunnel (letzter Durchschlag 2017) unterirdisch in die seit 1994 bestehende Umfahrung Innsbruck Süd abgeleitet. Diese 9 km lange Umfah­rung kommt am Portal Tulfes wieder ans Tageslicht, ver­einigt sich dort wieder mit der Strecke aus Innsbruck und bildet, als Unterinntalstrecke bezeichnet, einen Teil des Nordzulaufs.

Die Verbindungstunnel kreuzen sich höhen­­frei. Der Grund ist die unterschiedliche Zugführung zwischen Italien und Österreich. In Italien, wie auch in der Schweiz oder Frankreich, fahren Züge von Süd nach Nord auf dem linken Gleis, während in Tirol und Deutschland Rechtsverkehr im Bahnbetrieb herrscht. Die Umfahrung Innsbruck Süd wies bisher noch keinen Rettungsstollen auf. Da mit der Öffnung des Brenner-­Basistunnels die Zug- und Personenanzahl im bestehenden Stollen zunehmen wird, wurde der Rettungstunnel Tulfes parallel im Abstand von 30 m hinzugefügt.

Bitte einsteigen – der Vortrieb fährt ab

Aus vier Zufahrtstunneln – Ampass, Ahrental, Wolf und Mauls – werden Zwischenangriffe aufgefahren. Der Rettungstunnel Tulfes etwa wurde sowohl von seinem Portal aus als auch von Ampass in Ost- und Westrichtung mittels Sprengvortrieb aufgefahren. Die Verbindungstunnel zwischen bestehender Umfahrung Innsbruck Süd und dem eigentlichen Basistunnel wurden ebenfalls in Sprengtechnik über die Zufahrt Ampass, aber auch über Ahrental vorgetrieben. An welcher Stelle die Gleise aus dem Basistunnel in die Südumfahrung einge­leitet werden, stand bereits seit 1994 fest. Beim Bau der Innsbrucker Umfahrung wurde eine Abzweigungs­kaverne angelegt. Die Querschnitte der nördlichen Hauptröhren des Basistunnels im Bereich der Zufahrt Ahrental werden mit Sprengungen nach der neuen ­österreichischen Tunnelbauweise aufgefahren.

Hingegen kommt für den vorauslaufenden Erkundungsstollen in Richtung Steinach eine offene, 200 m lange Gripper-Tunnelbohrmaschine zum Einsatz. Anders als die meisten ihrer Schwestern trägt sie, zu Ehren des Tiroler Landeshauptmann Platter, den männlichen Namen Günther. Derzeit hält die Maschine einen Rekord: Im Mai 2017 trieb sie in 24 Stunden 61.04 m des Erkundungsstollens im Quarzphyllit voran – Weltrekord im Tunnelvortrieb! Baumaterial, das für den Erkundungsstollen benötigt wird, hat bis zur Bohrmaschine schon eine Fahrt auf einem speziellen Fahrzeug hinter sich. Sogenannte Multiservice Vehicles (MSV), gummibereifte Schwerlastzüge, bringen die Lasten, falls gewollt vollkommen selbstfahrend, zu ihrem Einsatzort.

Zur Basis, Bahn, Autobahn oder Deponie?

Der Zufahrtstunnel Wolf wurde als eigenes Baulos abgewickelt und veranschaulicht eindrücklich, welch grosser Aufwand erforderlich ist, um nur den Basis­tunnel zu erreichen. Schon das Auftragsvolumen des Loses Wolf von 104 Millionen Euro würde einer normalen Tunnelbaustelle zur Ehre gereichen.

Der Installationsplatz Wolf liegt auf dem Talboden südlich von Steinach. Für die Baustellenversorgung via Eisenbahn wurde eigens ein eigener Gleisanschluss erstellt, der an die bestehende Brenner­bahn angeschlossen ist. Die Autobahn A 13 verläuft etwa 150 m oberhalb des Platzes am westlichen Berghang. Da die Baustellen zum Schutz der Anwohner direkt von den Autobahnen angefahren werden müssen, wurde der 1 km lange Saxenertunnel im Sprengvortrieb als Verbindung geschlagen. Sein Durchmesser von 10 m reicht für zwei Fahrbahnen, sodass Lkw im Gegenverkehr ohne Einschränkung fahren können. Der Anschluss an die Autobahn ist normgemäss, jedoch ist über eine spätere Verwendung der Zufahrt nach Inbetriebnahme des Brenner-Basistunnels noch nicht entschieden.

Vom Installationsplatz führt ein Zufahrtstunnel erst in einer Rechtskurve und dann gradlinig mit 10 % Gefälle 4 km hinab auf Höhe des Basistunnels, 400 m tiefer als der Talboden. Eine Querverbindungskaverne erschliesst die Angriffspunkte der Tunnelbohrmaschinen, die für den Vortrieb der Verkehrsröhren eingesetzt werden. Diese TBM sind Bestandteil des Bauloses Pfons–Brenner (vgl. unten). Auch der Zufahrtsstunnel ist zweispurig für Lkw befahrbar. Hinzu muss der Querschnitt noch seitlich angeordnete Schutterbänder und Lüftungslutten an der Kalotte aufnehmen können. Anfallendes Wasser wird über Kaskaden, die seitlich in Querschlägen eingebettet sind, an die Oberfläche gepumpt.

Im oberen Abschnitt besitzt der Zufahrtstunnel über den sogenannten Schutterstollen und den Pa­dastertunnel zwei zusätzliche Ausgänge ins Padastertal, ein unbesiedeltes, V-förmiges östliches Seiten­tal des Wipp­tals, das hinauf in Alpgelände führt. In ihm entsteht mit 7.7 von insgesamt 17 Millionen Kubik­metern Abla­gerungs­volumen die grösste Deponie des Basis­tunnel-Projekts. Der Padasterbach musste für die Ma­terialablagerung in einem Stollen umgeleitet werden. Mit der Deponierung des nicht mehr verwendbaren Ausbruchmaterials bekommt auch der Bach ein neues Bett. Ausserdem wird ein neuer Wander­weg an­gelegt, der das später U-förmige Padas­ter­tal umrundet.

Die grössten: Pfons–Brenner, Mauls 2–3

966 Millionen Euro beträgt das Auftragsvolumen für das grösste Baulos auf österreichischer Seite, Pfons–Brenner, das im Frühjahr 2018 vergeben wurde. Vier Tunnelbohrmaschinen werden vom Startpunkt unterhalb der Zufahrt Wolf die Hauptröhren nach Norden und Süden bis zur Staatsgrenze vorantreiben. Insgesamt werden dies 37 km Verkehrsröhren sein. Der Erkundungsstollen in diesem Losabschnitt sowie die Not­haltestelle St. Jodok werden im Sprengvortrieb erstellt.

Noch grösser fällt Los Mauls 2–3 auf italie­nischer Seite mit einem Auftragsvolumen von 993 Mil­lionen Euro aus. Die Nothaltestelle Trens, ihr Zufahrtsstollen und die Hauptröhren nach Süden werden bergmännisch ausgebrochen. Ab der Nothaltestelle übernehmen dann die baugleichen Tunnelbohrmaschinen Virginia und Flavia mit ihren je 4200 kW und einem Durchmesser von 10.65 m den Vortrieb der Verkehrsröhren bis zum Brenner. Im Erkundungsstollen voraus frisst sich ihre kleine Schwester Serena in Richtung Scheitelpunkt des Tunnels.
Eisackunterquerung

Ein spezielles Baulos stellt die Eisackunterquerung kurz vor dem Tunnelportal bei Franzensfeste dar. Nicht nur der Fluss, auch die bestehende Bahnstrecke und die Autobahn müssen unterfahren werden. Die Überdeckung der Tunnelröhren ist hier nur noch gering, bei der Flussquerung beträgt sie etwa 12 m. Die Durch­örterung erfolgt im anstehenden Lockergestein des Talbodens. Daher kommen diverse Gesteinsverfestigungsmethoden zum Einsatz, etwa Jet Grouting oder Vereisungsverfahren (vgl. www.espazium.ch/neubau-­albulatunnel-2). Zur Unterfahrung des Flusses werden beidseitig Schächte bis auf Sohlenhöhe der Hauptröhren in das verfestigte Gestein abgeteuft. Das Umgebungsgestein der Röhren unterhalb des Flussbetts wird sodann für die Durchörterung vereist.
Steine und Störung

Der Basistunnel durchfährt vier grosse Zonen unterschiedlichen Gesteins. Im Norden stehen Innsbrucker Quarzphyllit an, im nördlichen und südlichen Wipptal unterhalb des Scheitels dominieren Bündner Schiefer, während im Abschnitt des Brennerpasses Gneis vorherrscht. Der Tunnel durchstösst bei Mauls die Periadriatische Naht, die als längste Störzone der Alpen die Süd- von den Zentralen Ostalpen trennt. Ihre Durchörterung geschah auf etwa 700 m bereits in einem ­ Vorlos und warf keine besonderen Probleme auf. Südlich der Naht steht Brixner Granit an.

Überhaupt geben sich die Gesteine eher gut­mütig. Sie sind mit den gewählten Verfahren recht gut abzubauen, allerdings sind die Ausbrüche, vor allem des Quarzphyllits und des Bündner Schiefers, teilweise von recht schlechter Qualität. Nach umfangreichen Forschungen zur Aufbereitung der Gesteine respektive zu möglichen Betonzusammensetzungen landen mittlerweile noch etwa 60 % des Ausbruchs auf den Deponien. Dies ist umso erstaunlicher, da für die Einbauten des Brenner-Basistunnels erhöhte Anforderungen bestehen.

Als Nutzungsdauer wurde nämlich, abweichend von den anzuwendenden Normen, 200 Jahre angenommen. Dies hat selbstverständlich Auswirkungen auf die Bemessung der Einbauten und die konstruktive Durchbildung der Tunnelstruktur und musste auch in die Betonrezepturen eingehen. Die übrigen 40 % des Ausbruchsmaterials können direkt für die Erstellung des Tunnels, etwa der Spritzbetonschale, der inneren Tunnelschale, der Banketten oder als Füll- und Schottermaterial verwendet werden. Als Nischenprodukt für die Bauindustrie wurde gar ein neuartiger Sichtbeton entwickelt. Bei dieser Sicht-Stein-Betonbauweise bleibt im Gegensatz zum klassischen Sichtbeton die Gesteinskörnung sichtbar. Die Zuschlagsstoffe werden in eine Schalung gegeben und ein selbstverdichtender Beton aufgefüllt. An der neuen kleinen Kapelle St. Wendelin am Eingang des Padastertals lässt sich das Ergebnis betrachten.

Finanzierung

Die beeindruckenden bis erschreckenden Dimensionen des Brenner-Basistunnels setzen sich bei den Finanzen fort. Als am höchsten gefördertes Infrastrukturprojekt Europas steht das mit Kosten von 8.3 Mrd. Euro prognostizierte Bauwerk einzigartig da. 40 % der Projektkosten trägt die EU, vom Erkundungsstollen werden sogar 50 % übernommen. Die restlichen Anteile teilen sich Österreich und Italien hälftig. Diese gewaltige Summe relativiert sich etwas, be­denkt man die Beträge, die von der EU in kürzester Zeit für desolate Finanzsysteme bereitgestellt werden. Zudem fliessen bedeutende Teile des Gelds für den Tunnelbau über Steuerzahlungen der am Bau Beteiligten wieder zurück in die öffentlichen Kassen. Für die Betreiberstaaten scheint das finanzielle Risiko daher tragbar. Vielmehr noch, da Prognosen zufolge das Güter­transit-Verkehrsaufkommen zukünftig weiter steigen und seine Abwicklung wohl lukrativ bleiben wird. Und das Wichtigste? Die EU bekommt wenigstens beim Brenner-­Basistunnel für ihr Geld eine konkrete, trotz der bis zu 1800 m hohen Gebirgsüberdeckung sichtbare Gegen­leistung – mit ­Sicherheit nicht nur ein Loch im Berg.

TEC21, Fr., 2018.05.18



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06. April 2018Peter Seitz
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Vorhang zu bei Sonnenschein

Mailand ist nicht gerade berühmt für seine Sonnentage. Ob die Nebel der Poebene oder Smog die Stadt in Grau hüllen: An etlichen Tagen im Jahr herrscht diesiges Wetter vor. Die grossen Glasflächen der Fondazione Feltrinelli machten einen aufwendigen Sonnenschutz trotzdem unumgänglich.

Mailand ist nicht gerade berühmt für seine Sonnentage. Ob die Nebel der Poebene oder Smog die Stadt in Grau hüllen: An etlichen Tagen im Jahr herrscht diesiges Wetter vor. Die grossen Glasflächen der Fondazione Feltrinelli machten einen aufwendigen Sonnenschutz trotzdem unumgänglich.

An die «cascine», die lang gezogenen, schmalen Bauernhäuser der Lombardei, soll der Neubau der Fondazione Feltrinelli gemäss den Architekten erinnern (vgl. «Die Wunde heilen»). Eine Betrachtung kann aber auch Assozia­tionen an Treibhäuser wecken, an denen in Italien wahrlich kein Mangel herrscht. Schliesslich sind die 14 249 m² Nutzfläche der Fondazione von 15 362 m² Glasfassade eingehüllt. Da die Gebäudeachse ungefähr von Südost nach Nordwest ausgerichtet ist, sind die lange Südwestfront mit ihrem aufgesetztem Satteldach und der westseitige, verglaste Giebel geradezu prädestiniert, als Sonnenfalle zu wirken. Was im Winter angenehm sein kann, schafft im Sommer klimatische Probleme.

Dementsprechend musste dem Sonnenschutz ein grosses Augenmerk gewidmet werden. Als äussere Hülle kam 10 mm Sonnenschutzglas zum Einsatz, das eine Selektivitätskennzahl von 1.9 und einen Gesamt­energiedurchlassgrad von 0.38 aufweist. Die innere Hülle der Fassade besteht aus Wärmedämmgläsern (low-E), die gleich­zeitig den Schallschutz verbessern. Je nach Ausrichtung der Fensterflächen wurden verschiedene Gläser kombiniert. Die so aufgebauten Glasflächen erreichen einen Ug-Wert von 0.9 W/m2K. Laut Glashersteller entspricht dies dem derzeit erreichbaren Wert einer Doppelverglasung. Niedrigere Werte liessen sich nur mit einer Dreifach­verglasung erreichen, was in anderen Ländern mittlerweile als Standard angesehen werden kann.

Abgeschirmte Scheiben im Süden

Von den 1224 Fenstern können 384 an der Südseite mit Storen aus Stoff vollständig abgeschirmt werden. Waren die rechteckigen Fenster der senkrechten Fassade noch standardmässig auszurüsten, bedurften die rautenförmigen Glasflächen des Satteldachs mancher Überlegung, wie sie wind- und wetterfest abgeschirmt werden können. Die Lösung des eigentlich zweidimensionalen Problems lag in der dreidimensionalen Anordnung der Storenrollen. Sie ragen aus der Glasebene heraus und sind an der Unterseite der umlaufenden Gesimse befestigt. Über eine Umlenkrolle werden die Stoffbahnen in die schräge Ebene des Dachs überführt.

An den obersten beiden Fensterbändern wurden keine aussenseitigen Storen angeordnet. Eine gewisse Beschattung des im Dachspitz liegenden Lesesaals wird durch grossflächige, innen liegende, luftig wirkende Vorhänge erreicht. Die grossen Glasflächen der Giebelseiten des Gebäudes können nicht abgeschirmt werden. Daher wurden hier Gläser mit einem Gesamtenergiedurchlassgrad von maximal 30 % eingebaut. Dies re­duziert das Risiko einer Überhitzung dieser Bereiche deutlich.

Sichtbare Betonflächen dominieren

Die Installationen der Heiz- und Kühltechnik, aber auch der Brandmeldeanlagen und anderer Gebäudetechniken musste sich den Wünschen der Planer nach grossen Flächen Sichtbeton unterordnen. Die Geschossdecken sind in Sichtbeton ausgestaltet. Mit je einer Länge von 40 m, bei einer Breite von 13 m und einer Stärke von 30 cm sind die Deckenplatten als Vollplatten ohne Nachspannelemente gebaut. Die um das Gebäude umlaufenden 15 cm starken Gesimse sind aus thermischen Gründen nur im Bereich der Stützen an die Geschossdecken angeschlossen und kragen etwa 1.40 m aus. Sie dienen zur Aufnahme der Sonnenschutz­einbauten in der Dachebene und können für ­R­einigungs- und Wartungsarbeiten benutzt werden.

Auch die paarweise angeordneten Stützen mit ihrer ungewöhnlichen dreieckigen Form sind passend zu den Geschossdecken in Sichtbeton erstellt. Zum Einsatz kam wie auch bei den oberirdischen Böden und Gesimsen ein Beton der Klasse C32/40. Im Querschnitt weisen die Stützen ein gleichseitiges Dreieck mit einer Kantenlänge von 70 cm auf. Aufgrund der benötigten Menge, eines effektiveren Bauablaufs und der hohen Anforderungen an die Erscheinung des Betons wurden die Stützen als Fertigelemente produziert und mit den in Ortbeton erstellten Geschossdecken verbunden.

Sehr wichtig für den gewünschten Ausdruck der ausgedehnten Sichtbetonflächen war neben den üblichen Anforderungen bezüglich der Vermeidung von Kiesnestern, Verfärbungen und Rostspuren die Verhinderung von Rissen. Gemäss Betonhersteller konnten die Rissbreiten auf 150 µm beschränkt werden und blieben damit weit unterhalb der geforderten Begrenzung auf 250 µm.

Gebäudetechnik weitgehend versteckt

Die Betondecken mussten sichtbar bleiben, um den Ausdruck der formal strengen Architektur aufrechtzuerhalten. Abgehängte Decken zur Aufname von technischen Installationen waren somit ausgeschlossen. Daher wurden nur Brandmelder und Lichtpunkte, aus energetischen Gründen mit LED-Technologie, in die Decken selbst eingelassen. Die Klimatisierungstechnik musste anderweitig Platz finden. Da jedoch auch der an den Fassaden verfügbare Raum mit der wechselnden Folge von dreieckigen Betonstützen und den Fenster­elementen stark zur architektonischen Wirkung beiträgt, musste die Klimatisierung möglichst unauffällig untergebracht werden.

Die Planer entschieden sich für den Einbau von Gebläsekonvektoren mit Primärluft­einlass, die sie vor der Fensterfront im Hohlboden ­versenkten. Die speziell für dieses Gebäude entwickelten Konvektoren besitzen ein 4-Rohr-System, das es ermöglicht, gewisse Gebäudeteile zu beheizen, andere hingegen gleichzeitig zu kühlen. Die ausgeprägte Südost-Nordwest-Ausrichtung des Gebäudes macht dies unter Umständen nötig.

Die Anordnung der Klimatisierungsgeräte unterhalb der geneigten Fensterflächen der Dachebene warf Fragen bezüglich des Komforts auf. Kalte Luft hätte durch den Rückprall von den geneigten Wandflächen zu unangenehmen Zuglufteffekten vor allem im Fussbereich führen können. Daher liessen die Planer beim Hersteller der Klimatechnik ein Teilmodell der geneigten Fassade mit eingebautem Konvektor im Massstab 1 : 1 untersuchen.

Klima dank Grundwasser

Die Kühl- und Wärmeleistung für die Gebläsekonvektoren wird über Grundwasserwärmepumpen bereitgestellt. Das hohe Grundwasservorkommen Mailands bot sich hierfür geradezu an. Neun Grundwasserbrunnen können, aufgrund der über das Jahr wenig schwankenden Temperatur des Fluids, eine konstante Leistung und genügende Kapazität für die Kälte- und Wärmegewinnung sicherstellen. Im Winter muss eine maximale thermische Leistung von 562.7 kW bereitgestellt werden. Die notwendige sommerliche Kühlleistung kann bis zu 1637.3 kW betragen.

Dank der Kombination aus Beschattung, geeigneten Gläsern und effektiver Klimatechnik konnten die Planenden für das Gebäude die Energieeffizienzklasse B erreichen. Das Gebäude verbraucht damit weniger als 75 kWh/m2a Energie und reiht sich zwischen den Minergie -P- und den Minergie -A-Kennzahlen für neu gebaute Verwaltungsgebäude ein (100 respektive 35 kWh/m2a). Zudem wurde dem Gebäude die LEED-Zertifizierung Silver bescheinigt. 256 t CO2 sollten so jährlich eingespart werden können, was etwa einer Menge von 100 000 l Heizöl entspricht.

TEC21, Fr., 2018.04.06



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TEC21 2018|14 Neubau der Fondazione Feltrinelli

09. März 2018Peter Seitz
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HiLo – Beton in neuer Schale

Das Dach ist beheizbar, kühlbar und stromerzeugend, sein Tragwerk eine ultradünne Betonschale, freitragend, carbonbewehrt und ohne konventionelle Schalung erstellt. Die Decken des Zwischengeschosses bestehen aus Beton ohne Biegezugbewehrung und sind sehr leicht. Wahrlich für das NEST prädestiniert, was die Forscher der ETH Zürich ausgebrütet haben.

Das Dach ist beheizbar, kühlbar und stromerzeugend, sein Tragwerk eine ultradünne Betonschale, freitragend, carbonbewehrt und ohne konventionelle Schalung erstellt. Die Decken des Zwischengeschosses bestehen aus Beton ohne Biegezugbewehrung und sind sehr leicht. Wahrlich für das NEST prädestiniert, was die Forscher der ETH Zürich ausgebrütet haben.

Das gibt es nicht alle Tage: Das Tragwerk eines 160 m² grossen Dachs, das 120 m² Grundfläche überspannt und 7 m hoch ist, wird im Massstab 1 : 1 in einer Versuchshalle errichtet, und ein Jahr später entsteht es an seinem eigentlichen Bestimmungsort nochmals. Der betriebene Aufwand lässt zwei Schlüsse zu: Es handelt sich um etwas Neuartiges, und die Forschung hierzu ist bereits weit fortgeschritten und erfolgreich.

Beides trifft auf den Dachprototypen des HiLo (High performance, Low energy) zu, einer neuen Gebäudeeinheit, auch Unit genannt, die demnächst auf dem NEST errichtet wird (vgl. Kasten unten). Der Prototyp besteht aus einer freitragenden, doppelt gekrümmten, kohlenfaserbewehrten Betonschale. Ihre Dicke vari­iert von 3 cm am Dachrand bis 12 cm an den­Auflagern. In den meisten Bereichen liegt sie zwi­schen 3 und 5 cm. Werte, die aufgrund geforderter Beton­überdeckungen mit Stahlbewehrung nicht mehr möglich wären. Zum Vergleich seien hier die stahlbewehrten Betonschalen aus den 1960er-Jahren von Heinz Isler an der Raststätte Deitingen-Süd erwähnt (vgl. TEC21 11/2017). Sie weisen eine Stärke von 9 cm auf, haben zwar eine Spannweite von 31 m, sind aber nicht freitragend ausgebildet.

Die Form des HiLo-Dachs mit seinen auskragenden Eckvorsprüngen, aber vor allem die Schalungsbauweise fällt aus dem Rahmen des Üblichen, obwohl Letztere regelrecht in einer Rahmenkonstruktion liegt.

Netz als Schalung

Die Entwickler der Dachschalenbauweise des HiLo, ein Team um Professor Philippe Block und Dr. Tom Van Mele von der ETH Zürich, unterstützt von mehreren Industriepartnern, verwenden ein Netz aus Stahlkabeln und kreisförmigen Stahlringknoten als Schalungsgrundlage. Das Netz wird mit Spannschlössern an Rahmen­elementen aus Holzleimbindern aufgespannt, die durch eine Gerüstkonstruktion in ihrer Lage fixiert sind. Ein darauf aufgebrachtes Polymertextil bildet den unteren Abschluss für den Beton. Abstandshalter an den ringförmigen Verbindern des Netzes tragen die eingelegte Bewehrung aus Kohlenfasergewebe. So können 20 t nasser Beton auf eine Schalungskon­struk­­tion von nur 800 kg (ohne Gerüst und Rahmen) aufgebracht werden.

Doch wie werden die zwangsläufigen Verformungen des Schalungsnetzes beim Auftrag des Betons gehandhabt? Sie werden vorausberechnet. Ihre end­gültige Form erhält die Betonschale nämlich erst, wenn sich das Schalungsnetz durch das Betongewicht an­gepasst hat. Die hierfür nötige Berechnung erfolgt mit einem Computer-Framework, das im Rahmen des natio­nalen Forschungsschwerpunkts Digitale Fabrikation von der Block Research Group entwickelt wurde. Flexi­ble Datenstrukturen, effiziente Rechenalgorithmen und zahlreiche nichtlineare Lösungsverfahren erlauben es, die Kräfte und Verschiebungen des Netzes zu berechnen.

Äusserst wichtig für die Berechnung und die Kontrolle der ausgeführten Arbeiten ist die Vermessung der Knoten­punkte des Netzes. An den Knoten sind daher ku­gelförmige Vermessungspunkte angebracht. Da die Schalungskonstruktion von unten grösstenteils be­gehbar und einsehbar ist, können die Knoten zu jedem Zeitpunkt vermessen werden. Mittels eines motorisierten Theodoliten werden hochpräzise, sphärische 3-D-Punktwolkenvermessungen aufge­nommen. Die Spannschlösser an der Netzaufhängung ermöglichen es, das Netz in die erforderliche Einbaugeometrie zu bringen.

Innovatives vom Scheitel …

Zum Einsatz bei der Erstellung des Modells im Robotic Fabrication Lab der ETH Zürich kam ein Spritzbeton mit derartiger Konsistenz, dass er auch an den senkrechten, trichterförmigen Stellen des Dachs haftet.

Die Betonzusammensetzung bleibt Sache des Herstellers. Die filigrane Konstruktion und das eng­maschige Bewehrungsnetz aus Carbongewebe erlaubten keine Betonverdichtung mit herkömmlichen Rüttlern. Daher kamen elektrische, vibrierende Betonkellen zur Verdichtung und zum Abziehen des Betons zum Einsatz. Die Herstellung der Schale erfolgte in einem einzigen Arbeitsgang. Mittels Hebebühnen konnten die Arbeiter, wie auch schon beim Netzbau, jeden erforderlichen Punkt der Konstruktion erreichen. Nach Abbau des Scha­lungsnetzes kann dieses im Sinn eines Baukastensystems wiederverwendet werden. Da die Membran auf die jeweilige Geometrie zugeschnitten ist, lässt sie sich nur eingeschränkt wiederverwenden.

Die Forschung am Prototyp, der nur das zukünftige Betontragwerk des HiLo-Dachs abbildete, ist bereits beendet. Aus Platzgründen musste er schon wieder abgebrochen werden. Auf dem NEST selbst wird die Tragstruktur mit weiteren Elementen ergänzt werden, sodass das Dach letztlich eine Sandwichbauweise von insgesamt etwa 40 cm Stärke aufweisen wird.

Auf der Betonschale kommen wasserdurchflossene Heiz- und Kühlschleifen zu liegen, mit einer Poly­urethanschaumschicht (PU-Schaum) als Wärmedämmumg darüber. Schliesslich soll die Unit HiLo bewohnbar ausgestaltet werden. Anstatt der anfänglich geplanten Wohneinheit für Gastprofessoren soll sie nun aber eine Nutzung als Büroarbeitsraum für Forschungszwecke erfahren. Auf einer weiteren Betonschicht mit nochmaliger, darüberliegender PU-Schaum­dämmung werden schliesslich flexible Dünnschicht-Solarpaneele befestigt (vgl. TEC21 48/2017). Baubeginn ist im Frühjahr 2019. Professor Block und seine Mitarbeiter gehen für die erste Betonschale von einer Bauzeit von etwa zehn Wochen aus.

… bis zur Sohle

Auch weitere Neuheiten werden in der Unit HiLo unter Dach und Fach gebracht. Ein mit Rippen ausgesteiftes, druckstabiles Deckensystem aus Hochleistungsfaserbeton (Self-Compacting Fiber-Reinforced Concrete: SCFRC) wird die beiden Geschosse trennen, die unterhalb des Schalendachs liegen werden. Die Forscher der Block Research Group der ETH Zürich geben eine Materialersparnis von 70 % gegenüber herkömmlichen biegezugbewehrten Boden- respektive, je nach Sichtweise, Deckenplatten an.

1.0 × 2.50 m grosse, rechteckige Plattenelemente, die ohne konventionelle Biegezugbewehrung auskommen, bestanden die Laborversuche bereits erfolgreich. Einzig eine Stahlfaserbewehrung wurde dem fliessfähigen, selbstverdichtenden Beton zugefügt. Diese verbessert die Biegeeigenschaft der Platten, begrenzt die Rissbildung, erleichtert die Handhabung, vor allem auch beim Transport, und erhöht den Betonwiderstand im Bereich von Spannungskonzentrationen, etwa an den Auflagerpunkten.

Eine genügende Stabilität erreichen die Elemente, indem sie sich die Tragwirkung eines Flach­gewölbes zunutze machen. Im rechteckigen Rahmen wölbt sich ein Flachgewölbe von 2 cm Stärke und einer Wölbhöhe von 13 cm. Dieses wird auf seiner Oberseite durch ebenfalls 2 cm breite Rippen verstärkt, deren Höhe von 2 cm in Plattenmitte auf 14 cm an den Auf­lagern zunimmt. Durch die Form des Ensem­bles aus Gewölbe und Rippen gelingt es, dass die Kon­struktion ihre Lasten nur über Druckbeanspruchung abtragen kann.

Das dünne Gewölbe selbst wurde auf die Abtragung der Eigenlast und gleichmässiger Auflast bemessen. Für die übrigen Lasten, etwa die Verkehrs­lasten, wurden die Rippen angeordnet. Ziel war die Optimierung der eingesetzten Materialmenge bei Einhaltung der zulässigen Verformungen und Spannungen. Die gemessenen Verformungen lagen unter 1/500 der Spannweite und damit deutlich unterhalb des Grenzzustands der Gebrauchstauglichkeit. Zulässige Grenz­werte gab es nicht nur für den eingebauten Zustand der Bodenplatten zu berücksichtigen, auch die Handhabbarkeit und der Transport der Elemente mussten in Betracht gezogen werden.

Für den Prototyp der Bodenplatte, die noch kleinere Ab­messungen aufweist als die für das NEST vorgesehe­ne 4 × 5 m grosse Gewölbedecke, wurde eine doppelseitige Schalung aus CNC-gefrästem Kunststoff an­gefertigt. Dieser Schalungstyp ist wiederverwendbar und eignet sich somit für die Herstellung einer Vielzahl von Betonrippendecken mit identischen Abmessungen. Anwendungen für Mehrgeschossbauten wären damit problemlos machbar. Für den Einsatz in der Unit HiLo gehen die Forscher noch einen Schritt weiter und unter­suchen Schalungssysteme aus 3-D-gedruckten Elementen und technischen Textilien als verlorene Schalungselemente für individuelle, geometrisch nicht re­petitive Gewölbedeckenplatten.

Als passendes Pendant zum innovativen Dach und Boden werden in der Unit HiLo auch nicht alltägliche Fassaden eingebaut. An der Süd- und Westseite des Raums wird eine adaptive Solarfassade (ASF) angebracht. TEC21 wird nach Fertigstellung darüber berichten.


Anmerkung:
Die Informationen zum Bodensystem beruhen auf dem Artikel «Prototype of an ultra-thin, concrete vaulted floor system» von David López López et al., in: Pro­ceedings of the IASS-SLTE 2014 Symposium «Shells, Mem­branes and Spatial Structures: Footprints», Brasília.

TEC21, Fr., 2018.03.09



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Veredeltes Elixier

Bergseen werden oft als Edelsteine in der Alpenlandschaft bezeichnet. Wie Juwelen werden sie wertvoller, je grösser sie sind. Die längste Staumauer der Schweiz vergrössert den Muttsee nun zu einem hochkarätigen Schatz.

Bergseen werden oft als Edelsteine in der Alpenlandschaft bezeichnet. Wie Juwelen werden sie wertvoller, je grösser sie sind. Die längste Staumauer der Schweiz vergrössert den Muttsee nun zu einem hochkarätigen Schatz.

Höhenlage und nutzbares Wasservolumen sind die Zauberwörter, die bei der Wasserwirtschaft die Augen feucht werden lassen. Zusammen ergeben diese beiden Faktoren potenzielle Energie, die über Turbinen und Generatoren in Strom umsetzbar ist. Im Fall des Muttsees war die Höhenlage schon üppig, lag sein Wasserspiegel vor dem Aufstau doch auf 2446 m ü. M. Die Talsohle im Talschluss bei Tierfehd liegt nur noch auf 803 m ü. M., reichlich Potenzial also für die Stromgewinnung. Beim Wasservolumen half die Axpo als Nutzerin des Wassers mit einer neuen Staumauer etwas nach. Die Mauer ist mit ihrer Länge von 1054 m die längste der Schweiz und die höchstgelegene Europas. Sie erhöht nun den Inhalt des Muttsees von 9 auf 23 Millionen Kubikmeter.

Beton statt Steine

Die Gewichtsstaumauer mit dem markanten Knick, die sich an die frühere Form des Muttsees anschmiegt, war nicht von Beginn an so gedacht. Anfängliche Pla­nungen zum Aufstau des Sees gingen noch von einem Steinschüttdamm aus. Dieser hätte jedoch aufgrund seines trapezförmigen Querschnitts eine bedeutend grössere Aufstandsfläche erfordert. Der nun umgesetzte dreieckige Querschnitt der Betonstaumauer vermindert den Flächenverbrauch der Stauanlage. Dadurch gelang es, mehrere kleine Seen und Lachen in der gewellten Landschaft der Muttenalp zu erhalten. Das Hochplateau Mutten mit seiner hochalpinen Flora und Fauna wurde im Zuge der Bauarbeiten sogar zur Schutzzone erklärt. Ein festgesetztes Weggebot für Wanderer und Bauarbeiter half, die Einwirkungen ausserhalb der Baustelle auf die ursprüngliche Alpenlandschaft zu minimieren.

Die Wahl einer Schwergewichtsmauer hat jedoch noch weiter reichende positive Aspekte auf die Umgebung. Für einen Schüttdamm hätte das Steinvolumen, das aus den Kavernen und Stollen der Kraftwerksanlage ausgebrochen wurde, nicht ausgereicht. Zur Gewinnung von Steinen für einen Damm wären folglich ein oder mehrere Steinbrüche nötig gewesen. Die grösseren Mengen an zu verarbeitendem Material hätten bedeutend grössere Deponieflächen nach sich gezogen. Somit stellte die Staumauer mit ihrem Betonvolumen von etwa 250 000 m³ die ökologisch besser ­verträgliche Lösung dar.

Bis die Staumauer wie aus einem Guss dastand, brauchte es eine Bauzeit von drei Jahren, wobei nur in den Sommerperioden gearbeitet werden konnte. Aufgrund des hochalpinen Klimas ruhten die Arbeiten im Winterhalbjahr. Beim Bauablauf sind drei zeitliche und räumliche Abschnitte zu unterscheiden: 2012 entstand der westliche, im Jahr darauf der östliche Teil der Mauer mit der integrierten Hochwasserentlastungsanlage. Der Lückenschluss erfolgte im Herbst 2014.

Block für Block – im Pilgerschritt

Innerhalb der einzelnen Abschnitte wurde die Mauer blockweise erstellt. Ein Mauerblock hatte je 15 m Länge, sodass 68 Blöcke für die gesamte Staumauer nötig waren. Gebaut wurden sogar 69 Blöcke – ein Block ­musste teilweise rückgebaut und neu errichtet werden, da er partiell eine ungenügende Betonqualität aufwies. Die Errichtung der Blöcke im sogenannten Pilger­schrittverfahren – es wird zuerst jeder zweite Block betoniert, danach füllt man die dazwischenliegenden Lücken – bietet bautechnische und logistische ­Vorteile. Die Hydratationswärme, die beim Abbinden des Betons entsteht, kann gleichmässiger entweichen, und bereits erstellte Mauerblöcke dienen den dazwischenliegenden als seitliche Schalung. Aussparungen in den Seitenwänden der zuerst gebauten Blöcke, der sogenannten Vorläufer, sichern eine gute Verzahnung mit dem Nachläufer beim jeweiligen Lückenschluss. ­

Das abwechselnde Erstellen vereinfacht ausserdem ­die Arbeitsabläufe, da verschiedene Einsatzmannschaften nicht gleichzeitig am selben Ort mit beschränktem Platzangebot eingesetzt werden müssen.

Weiter Horizont, beengter Platz

Das Betonieren der einzelnen Blöcke erfolgte in Etappen von je 3 m Höhe. Die sechs jeweils einen halben Meter starken Betonschichten einer Etappe konnten somit in einer Zwölfstundenschicht erledigt werden. Bedurfte in den unteren Bereichen der Staumauer die entstehende Hydratationswärme des Massenbetons besonderer ­Aufmerksamkeit, ging es in den oberen, verjüngten Querschnitten eher aufgrund der beengten Arbeitsverhältnisse heiss her.

Die nur 4 m breite Mauerkrone der obersten Etappe liess wenig räumlichen und zeitlichen Spielraum für Maschinen und Arbeiter. Da der einzubringende Beton zügig zu erhärten begann, blieben für die Erstellung einer Schicht nur zwei Stunden Zeit, bevor mit der nächsten, oberhalb liegenden begonnen werden musste. Eine Verzögerung beim Einbau hätte sich negativ auf den Verbund der einzelnen Schichten ausgewirkt.

Schleifenförmig ausgelegte Kühlschläuche in den flächenmässig grossen unteren Staumauerbereichen senkten die Temperatur des Betons beim Abbindevorgang. Zu hohe Temperaturen im Kern des Bauteils hätten hohe Temperaturunterschiede zu den aussenliegenden Bereichen gezeitigt und die Gefahr von Rissbildungen erhöht. Auch der Zusatz von Flugasche wirkte sich günstig auf die Temperaturentwicklung des Mauerbetons aus.

Ausserdem erhöhte die Beimengung die Fliessfähigkeit und Verdichtbarkeit des Betons. Ein Nebenprodukt aus Verbrennungskraftwerken kommt so noch zu einem positiven Einsatz in der Wasserkraft.

Den Verbund der Betonoberflächen zwischen einzelnen Etappen gewährleistete der Einsatz von Hochdruckwasser. Mit diesem raute man die Oberfläche der bereits vorhandenen Etappe auf, sodass sich der Beton der nächsten Etappe gut verzahnen konnte.

Dichter Boden, partiell abgedichtet

Die Einbindung der Mauer in den Untergrund war etwas aufwendiger als die Oberflächenanpassung der einzelnen Etappen. Solider Fels stand zwar schon in einer Tiefe von etwa 2 m unter der Oberfläche an, allerdings waren im karstfähigen Gestein Klüfte und Störzonen vorhanden. Diese mussten mit einem Spezialbeton, einem sogenannten «dental concrete», zunächst abgedichtet ­werden, bevor anstehende Felsunebenheiten mit Kontaktbeton ausgeglichen wurden. Erst anschliessend kam der eigentliche Massenbeton der Staumauer zum Einsatz.

Durch das untere Drittel der Mauer führt ein Kontrollgang, in dem Messungen zur Bauwerkssicherheit stattfinden. Sickerwassermengen etwa, Mauerverschiebungen, Verkippungen oder Druckmessungen können in diesem überwacht werden. Ein Injektionsschirm, der die Sickerwasserwege im Untergrund der Sperre verlängert, wurde ebenfalls aus dem Kontrollgang heraus verpresst. Dies macht das ganze System wasserundurchlässiger und erhöht die Standfestigkeit der Mauer zusätzlich.

Die bestehende Sohle des Muttsees weist eine praktisch wasserundurchlässige Gesteinsschicht auf. Auf­wen­dige, grossflächige Dichtungsmassnahmen konnte man sich somit ersparen. Die Planungen einer oberfläch­lichen Abdichtung mit Spritzbeton im neuen, vergrösserten Aufstaubereich am wasserseitigen Fuss der Staumauer konnten im Zuge der Bauarbeiten eingestellt werden. Eine detaillierte geologische Abklärung bestätigte nach Freilegung dieses Felsbereichs eine genügende Dichtheit des Areals.

Hochwasser: den Buckel hinunter

Auch die Hochwasserentlastung konnte mit wenig Aufwand bewerkstelligt werden. Über einen abgesenkten Abschnitt der Staumauerkrone gelangen Hochwasserabflüsse in eine Schussrinne auf dem Mauerrücken und in ein Tosbecken am Staumauerfuss. Die Auslegung der Entlastungsanlage setzt sich aus den Hochwasserabflüssen des sehr kleinen Einzugsgebiets des Muttsees und der zusätzlichen maximalen Pumpwassermenge von etwa 145 m³ zusammen. Redundante Seestandsmessungen des unten gelegenen Limmernsees und des Muttsees mit einer automatischen Absicherung im ­Leitsystem schliessen ein Überlaufen aufgrund des Pumpenbetriebs praktisch aus. Dank der felsigen Topo­grafie war ein Ausbau des Gerinnes unterhalb des Tosbeckens verzichtbar. Es konnte in seinem ursprüng­lichen Zustand belassen werden.

Rückgebauter Rekord, versinkende Logistik

Die Materialbewirtschaftung und deren Logistik hing sprichwörtlich an den Bauseilbahnen 1 und 2, die vom Talboden zum Chalchtrittli respektive vom Ochsen­stäfeli am Limmernsee zum Muttsee hinaufführten (vgl. Grafik S. 34). Mit Fertigstellung der Baumassnahmen wurden sie zwar rückgebaut, jedoch hält die untere Bauseilbahn 1 noch immer einen Weltrekord: Mit ihrer Nutzlast bis zu 40 t für Sonderlasten war sie die grösste Materialseilbahn der Welt. Bei vier möglichen Fahrten pro Stunde war sie enorm ausgelastet. Sämtliche Güter für den Staumauerbau und grosse Teile für den Untertagebau wie Zement, Gestein, Stahl, Maschinen und auch die Arbeitskräfte wurden mit den Seilbahnen zu ihrem ­Bestimmungsort hinaufbefördert. Allein für den ­Staumauerbau mussten etwa 100 000 t Zement und knapp 500 000 t Gestein die Luftreise antreten.

Die für die Materialien nötigen Deponie- und Aufbereitungsflächen lagen grösstenteils auf der Wasserseite der Staumauer. Sie versanken nach Rückbau des Betonwerks und der Gesteinsaufbereitungsanlagen zusammen mit den meisten Baustellenzufahrten unter dem Wasserspiegel des Sees – auch dies eine Form des Landschaftsschutzes.

Was für das Auge sichtbar bleibt, ist dem einen ein Dorn in selbigem, dem anderen, gemessen an den umgebenden Dimensionen der Glarner Alpen, ein Strich in der Landschaft – oder aber ein Diadem, das den Edelstein des Muttsees und sein nun veredeltes Elixier einfasst. Je nach Betrachtungsweise.

TEC21, Fr., 2017.05.12



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12. Mai 2017Peter Seitz
TEC21

Auf Bohren, Biegen und Brechen durch den Berg

Es ist das grösste Pumpspeicherwerk der Schweiz: Limmern, ein nahezu unsichtbares Vorzeigeobjekt mit einer gewaltigen Pumpenleistung von 1000 MW. Gewaltig war auch der Aufwand seiner Erstellung unter Tage.

Es ist das grösste Pumpspeicherwerk der Schweiz: Limmern, ein nahezu unsichtbares Vorzeigeobjekt mit einer gewaltigen Pumpenleistung von 1000 MW. Gewaltig war auch der Aufwand seiner Erstellung unter Tage.

Steigt ein Wanderer vom Talboden in Tierfehd zum Muttsee hinauf, sieht er, oben angekommen, im wahrsten Sinn des Wortes nur die (Staumauer-)Krone des aussergewöhnlichen Werks. Die anderen Superlative hat er beim Aufstieg schon unter die Füsse genommen, liegen sie doch tief im Innern des Bergs – oder sind, wie im Fall der Bauseilbahnen, bereits wieder abgebaut (vgl. «Veredeltes Elixier»). Es ist ein enormes Stollen- und ­Kavernensystem, das den Berg zwischen dem Talboden, dem Limmernsee und dem zuoberst gelegenen Muttsee durchzieht. Das Herz der neuen Anlage pumpt respektive turbiniert in der Kavernenzentrale, die 600 m im Berginnern und höhenmässig auf etwa 1700 m ü. M. knapp unter dem Limmernsee entstand.

Wandelbare Wasserwege

Das Wasser des Muttsees fliesst bei der Verstromung über das Einlaufbauwerk in den Oberwasserdruckstollen mit einem Innendurchmesser von 8 m zum Wasserschloss. Dieser 130 m hohe Schacht mit einem Durchmesser von 10.5 m vermindert Druckstösse in den Wasserleitungen, wenn die Verschlussorgane in der Schieberkammer respektive in der Kavernenzentrale betätigt werden. Das Schliessen eines Kugelschiebers vor einer Pumpturbine dauert unter voller Last 45 Sekunden. In dieser kurzen Zeitspanne wird der Durchfluss je Turbine von etwa 45 m³/s auf null heruntergefahren. Am Wasserschloss teilt sich der Abfluss auf zwei stahlgepanzerte Oberwasserdruckschächte auf. Diese verzweigen sich vor der Kavernenzentrale in vier Wasserstränge für die vier Pumpturbinen. Nach der Turbinierung fliesst das Wasser in den Limmernsee und kann von dort bei Bedarf in umgekehrter Richtung wieder in den Muttsee zurückgepumpt werden.

Kavernen im Kalk

Die Zentrale besteht aus der 149.9 m langen und 53 m hohen Maschinen- und der etwas kleineren Trans­formatorenkaverne. Der Abstand der beiden Kavernen und ihre abgebogene Lage zu den Oberwasserdruckschächten schulden sie vorhandenen Klüftungen im anstehenden Quintnerkalk.

Der Ausbruch erfolgte im Dreischichtbetrieb, an sieben Tagen in der Woche, von oben nach unten. Vom bereits erstellten Sondierstollen, der der Abklärung des anstehenden Gesteins diente, und vom bereits vorhandenen Zugangsstollen zur Limmernstaumauer, der an der Bergstation der Bauseilbahn am Chalchtrittli beginnt, wurde ein Zugang zu den zukünftigen Kavernen aufgefahren.

Sprengungen der Firststollen eröffneten die Arbeiten an den Kavernen. Nach der Sicherung mit Spritzbeton und 12 m langen Ankern ging man an den Ausbruch der Kalotten mit ihren ersten provisorischen Sicherungen. Vor dem eigentlichen Strossenabbau stellte man die definitive Sicherung der Kalotten her. 23 ringförmige, armierte Betonverkleidungen mit einer Stärke bis 1.20 m und einem Abstand von je 1 m bilden die Decke des ausgebrochenen Gewölbes.

Im Schutz der temporär an teilweise vorgespannten Stabankern aufgehängten Kalottensicherung konnte der Strossenabbau in 5 m hohen Etappen bis zur Sohle der Kavernen erfolgen. Zur ersten Sicherung der Seitenwände, der Paramente, zog man schlaffe, teilweise vorgespannte Felsanker, Armierungsnetze und Spritzbeton heran. Die Betonbauten der Maschinen­fundamente und der Wände sichern nun die Kavernenräume definitiv.

Radlader räumten das Ausbruchsmaterial der Kavernen, insgesamt etwa 244 000 m³ in einen Schutterschacht, der zu einer unterhalb gelegenen Brecheranlage führte. Ein Teil des ausgebrochenen Gesteins wurde im ebenfalls unterirdischen Betonwerk zur ­Herstellung der Betoneinbauten der Kavernen her­genommen. Beide Kavernen hatten immerhin einen ­Betonbedarf von etwa 85 000 m³. Der Grossteil des gebrochenen Gesteins gelangte aber auf Förderbändern zum Umschlag- und Deponieplatz am Ochsenstäfeli am Ufer des Limmernsees. Dort bereitete man das Gestein auf und lagerte es temporär ab, bevor es mit der Bauseilbahn 2 zum Staumauerbau am Muttsee hinauftransportiert wurde.
Steinerne Stollen, steile Schächte

Zeitgleich mit dem Bau der Kavernen wurde von Tier­fehd aus der Zugangsstollen 1 vorgetrieben, über den die jetzige Versorgung der Maschinenzentrale stattfindet. Der 3764 m lange Stollen mit einem Durchmesser von minimal 8 m wurde von einer Startkaverne am Talboden aufgefahren und weist eine Steigung von 24 % auf. Neben der Gefahr möglicher Wassereinbrüche
aus geöffneten Klüften im Karstgestein und der Querung eines Hauptkluft- und dreier Nebenkluftsysteme stellte der sogenannte Mörtalbruch ein grösseres Frage­zeichen für den Vortrieb dar. Beim Mörtalbruch handelt es sich um eine Störzone aus zerscherten Felspaketen, die von karstigen, mit Lehm und Sand gefüllten Klüften durchzogen ist.

Die Wahl zur Erstellung des Stollens fiel auf eine doppelt verspannte Tunnelbohrmaschine mit Rückfallversicherung. Dieser 160 m lange, 1500 t ­schwere Koloss bot sicherheitstechnische Vorteile. Im Schutz des Bohrkopfs konnten die Arbeiten im Bereich der geneigten Sohle auf ein Minimum beschränkt werden, was vor allem für den Fall eines plötzlichen Wassereinbruchs wichtig war. Auch eine Vorauserkundung des zu durchfahrenden Abschnitts mittels Schlagbohrungen, die durch den Bohrkopf hindurch geschehen konnten, und eine seismische Erkundung waren möglich. Mit einer maximalen Vortriebsleistung von 22 m pro Tag stellte der Vollausbruch eines solch grossen und steilen Stollens eine weltweite Einmaligkeit dar.

Eine zweite Tunnelbohrmaschine frass sich zeitlich parallel von der Maschinenkaverne mit sogar 85 % nach oben zur Schieberkammer. Zum Vergleich: Diese Steilheit von etwa 40° entspricht ungefähr der durchschnittlichen Neigung des Hörnligrats am Matterhorn. Hintereinander wurden die beiden je 1051 m langen Oberwasserdruckschächte ausgebrochen. Auch diese kleinere Maschine mit einem Durchmesser von 5.20 m und einem Gewicht von 800 t musste durch den Mörtalbruch und erlebte dort, im Gegensatz zur TBM im Zugangsstollen, kritische Momente.

Die Störzone des Mörtalbruchs war im Vorfeld der Bauarbeiten zwar bekannt, aufgrund der Gesteins­überdeckung war aber eine geologische Sondierung nicht möglich gewesen. Die Prognosen zur Ausdehnung der Störung schwankten daher zwischen 20 cm und 20 m. Da im bröseligen Mörtalbruch die Tunnelbohrmaschine nicht seitlich verspannt werden konnte, war sie für den Einbau eines Rohrschirms konzipiert worden. Ein Rohrschirm besteht aus Rohren, die über dem ­Bohrkopf der Tunnelbohrmaschine in Bohrrichtung nach vorn getrieben werden. Sie bilden einen Schirm, in dessen Schutz die Bohrmaschine das eigentliche ­Stollenprofil ausbrechen kann.

Trotz diesem Hilfs­mittel sank die Tunnelbohrmaschine im Mörtalbruch etwas ein und musste aufwendig stabilisiert werden. Mit ­Wochenvortriebsleistungen von bis zu 133 m ­konnten die Arbeiten an den Druckschächten jedoch gut ­beendet werden. Die übrigen Stollen, der Oberwasser- und die Unterwasserdruckstollen wurden konventionell im Sprengvortrieb erstellt.

Standseilbahn im Stollen

Alles andere als konventionell ist die Standseilbahn, die im Zugangsstollen 1 eingebaut ist. Mit ihrer maximalen Nutzlast von 215 t – dies entspricht fünfeinhalb voll geladenen Sattelzügen – reiht sie sich in die vielen Rekorde des Projekts Linthal 2015 ein: Sie ist die grösste Standseilbahn der Welt für Materialtransport.

Ihre beiden Bahnwagen verkehren auf demselben Gleis im Gegenverkehr, was eine Ausweichstelle im Tunnel nötig macht. Die immense Nutzlast der Bahn ist auf die schwersten Einzelbauteile des gesamten Kraftwerksprojekts ausgelegt: die Maschinentransforma­toren, deren Reiseziel die Transformatorenkaverne war. Aber auch die anderen Ausrüstungsteile, wie die Pumpturbinen, deren Spiralgehäuse oder etwa die ­Saug­rohre fanden ihren Bestimmungsort über die Standseilbahn. Die Generatoren konnten aufgrund ­ihres Endgewichts nur in Einzelteilen von der Bahn transportiert werden. Allein ein Rotor kommt nach seinem Zusammenbau auf rund 330 t. Daher mussten sie in der Maschinenkaverne montiert werden. Nur mit beiden 200-Tonnen-Hallenkränen, die in der Maschinenkaverne laufen, konnten sie schliesslich ihren Einsatzort auf dem Stator erreichen (vgl. «Ungetüme unter Tage»).

Schächte in Stahl

Die 830 Stahlrohre mit einem Durchmesser von bis zu 4.4 m und einem Gewicht bis 20 t, die als Panzerung in die beiden Oberwasserdruckschächte eingelassen wurden, benötigten die Standseilbahn nicht. Sie durften eine Luftreise über die Bauseilbahnen antreten, bevor sie über die Schieberkammer für immer in der Dunkelheit der Schächte verschwanden.

Angeliefert als Stahlplatten erfolgte die Produktion der Stahlrohre im Talboden vor Ort. Nach der Biegung über Walzen und einer ersten Heftung der Längsnaht wurden die bis zu 6 cm starken Wandungen von Robotern geschweisst. Nach eingehenden Prüfungen der Schweissnähte und Bohrungen von vier Löchern, die für die spätere Verpressung von Beton zwischen Rohr und Fels dienten, konnte die Verfrachtung auf den Berg beginnen.

In der Schieberkaverne schweissten wiederum Roboter je drei Rohrstücke zu 9 m langen Rohrschüssen zusammen, die dann in die beiden 40.3° geneigten, über 1 km langen Schächte abgelassen wurden. Vor Ort kamen dann die vorwiegend slowenischen und portugiesischen Schweissspezialisten zum Zuge. Für eine Naht zwischen zwei Rohrschüssen benötigte ein Schweisser etwa fünf Tage. In der «Göttlichen Ko­mödie» beschreibt Dante das Inferno mit neun nach unten, ins Erdinnere führenden Kreisen. Die Ober­was­serdruckschächte setzten sich aus über 260 kreisför­mi­gen Rohrschüssen und dazugehörigen Schweiss­nähten zusammen.

Da bei der Güte der Schweissnähte keine Kompromisse infrage kamen, mussten alle Schweisser ein Trainingsprogramm in einem 1 : 1-Modell durchlaufen, das in Belgien aufgebaut war, und anschliessend auf der Baustelle Limmern eine Prüfung absolvieren.

Erlebbare Energie

Ab Januar 2018 wird das Pumpspeicherwerk Limmern für die Öffentlichkeit respektive den Tourismus geöffnet. Innerhalb von Führungen wird allerdings nur die «unsichtbare» Kavernenzentrale gezeigt, zur sichtbaren Staumauer gelangt man weiterhin ausschliesslich auf eigene Faust zu Fuss. Der Wanderer, der diese Bergfahrt unter die Füsse genommen hat, wird mit seiner Leistung zufrieden sein. Aufgrund des zurückgelegten Höhenunterschied von etwa 1700 Höhenmetern vom Talboden zur Staumauer besitzt er inklusive Gepäck (110 kg) etwa eine halbe kWh mehr an potenzieller Energie als bei seinem Start. Für diese Energieerhöhung hat er ungefähr vier Stunden Zeitaufwand gebraucht. Die 1000 MW Pumpenleistung von Limmern bräuchten für eine ­gleiche Erhöhung der Energie, ohne Berücksichtigung von Verlusten, etwa zwei Tausendstelsekunden.

TEC21, Fr., 2017.05.12



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Ungetüme unter Tage

Geschichten von Drachen und Ungeheuern, die in tiefen Berghöhlen schlafen, gibt es zuhauf. In Linthal erwachen 2017 moderne Monster: die vier Maschinengruppen des Pumpspeicherwerks Limmern mit ihren 1000 MW.

Geschichten von Drachen und Ungeheuern, die in tiefen Berghöhlen schlafen, gibt es zuhauf. In Linthal erwachen 2017 moderne Monster: die vier Maschinengruppen des Pumpspeicherwerks Limmern mit ihren 1000 MW.

Mit der Inbetriebnahme des Pumpspeicherwerks Limmern 2017 nimmt die Axpo nach achtjähriger Bauzeit den ersten Platz bei den leistungsfähigsten Pumpspeicherkraftwerken der Schweiz ein. Zu den bereits vorhandenen An­lagen der Kraftwerke Linth-Limmern (KLL) kommen zusätzliche 1000 MW Pumpen- respektive Turbinenleistung. Die KLL können somit ab Ende 2017 mit einer gesamten Leistung von 1520 MW das Stromnetz beeinflussen.

Dieses Netz galt es jedoch für die Leistungsaufstockung erst einmal zu erreichen. Eine neue 17.5 km lange Stromleitung mit 65 Masten bis zu einer Höhe von 89 m führt vom bestehenden 380-kV-Höchstspannungsnetz bei Schwanden-Sool über das Niederental und den Bergrücken des Sedels nach Tierfehd. Durch den Zugangsstollen 1 stossen die Leitungen knapp 4 km den Berg hinauf bis in die riesige Kavernenzentrale des unterirdischen Pumpspeicherwerks vor (vgl. «Auf Bohren, Biegen und Brechen durch den Berg»).

Dort, in der Transformatorenkaverne, verrichten vier Ungetüme ihren Dienst: Die Maschinentransformatoren, die schwersten Einzelbauteile des gesamten Kraftwerkprojekts mit einem Gewicht von je 215 t, verwandeln die zugeführte Hochspannung in Mittelspannung von 18 kV, um bei Pumpenbetrieb die Motorgeneratoren antreiben zu können. Bei Turbinenbetrieb, sprich: wenn Strom erzeugt wird, geschieht dies umgekehrt, da Hochspannung verlustärmer übertragbar ist.

Kolosse in der Kaverne

In der nebenan gelegenen Maschinenkaverne verarbeiten vier weitere Monster ungeheure Energiemengen: die Motorgeneratoren. Sie sind auf einer vertikalen Antriebswelle mit den in Schächten unterhalb angeordneten Francis-Pumpturbinen verbunden und fungieren als Motor im Pumpenbetrieb respektive als Strom­erzeuger im Turbinenbetrieb. Die zwölfpoligen Motorgeneratoren sind die derzeit grössten Asynchronmaschinen der Schweiz. Allein ihre Rotoren wiegen je Generator 330 t und wurden daher in der Kaverne vor Ort montiert.

Asynchronmaschinen sind im Gegensatz zu den meist in Wasserkraftwerken verbauten Synchronmaschinen drehzahlvariabel. Dies erlaubt in gewissen Grenzen die Anpassung der Pumpenleistung an die im Netz vorhandene Überschussleistung. Ist tatsächlich weniger Leistung im Stromnetz verfügbar als die Pumpenleistung, kann trotzdem gepumpt werden. Überschussstrom, der in Zeiten geringer Nachfrage anfallen kann, da Grundlastkraftwerke nicht immer heruntergeregelt werden können, kann somit effektiv zur Füllung des oben gelegenen Muttsees verwendet werden.

Für die Frequenzregelung des Stromnetzes sind Asynchronmaschinen ebenfalls interessant. Sie sind innerhalb weniger Minuten zuschaltbar. Auch ­zwischen ihren beiden Betriebsarten – dem Turbinieren und dem Pumpen – kann innerhalb einer Zeitspanne von etwa zwei bis fünf Minuten gewechselt werden.

Monster mischen am Markt mit

Im Dezember 2015 gelang erstmals probeweise die ­Netzsynchronisation einer ersten Maschinengruppe. Bei der Synchronisation wird die Umdrehungszahl der Maschine auf die Stromnetzfrequenz von 50 Hz abgestimmt. Die Maschine kann daraufhin ans Netz gekoppelt werden und Strom einspeisen respektive ­aufnehmen. 2017 sollen alle vier Maschinengruppen für den regulären Betrieb bereit sein und am Strommarkt eingesetzt werden. Schlafen und Feuer spucken wie Drachen in alten Zeiten dürfen sie dann nicht. ­Vielmehr müssen sie stets parat stehen, um Energie zu speichern, Spitzenstrom zu generieren und irgendwann einmal Geld zu spucken. Sonst wären die Giganten nur versauernde Saurier.

TEC21, Fr., 2017.05.12



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07. April 2017Peter Seitz
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Bei Bedarf auf oder ab

Moderne Maschinentechnik erschliesst neue Möglichkeiten für ­Pumpspeicherwerke. So kann die indirekte Stromspeicherung auch ­zukünftig einen wichtigen Platz auf dem Energiemarkt einnehmen.

Moderne Maschinentechnik erschliesst neue Möglichkeiten für ­Pumpspeicherwerke. So kann die indirekte Stromspeicherung auch ­zukünftig einen wichtigen Platz auf dem Energiemarkt einnehmen.

Ein Pumpspeicherkraftwerk benutzt Strom, um mit leistungsfähigen Pumpen Wasser von einer tieferen Lage auf eine höheres Niveau zu befördern.

Üblicherweise geschieht dies zwischen zwei Stauseen, es ist aber auch möglich, Flusswasser oder Wasser aus natürlichen Seen in höher gelegene Becken zu pumpen. Das hochgepumpte Wasser besitzt aufgrund seiner neuen Höhenlage eine grössere potenzielle Energie, auch Lageenergie genannt. Diese Energie kann man wieder in Strom verwandeln, indem man das Wasser bei Bedarf durch Druckleitungen abwärts fliessen lässt und damit Turbinen antreibt.

Aufgrund von Verlusten beim Pump- und anschliessenden Turbinenbetrieb kann die beim Hinaufbefördern aufgenommene Energie nur zum Teil wieder an das Netz zurückgegeben werden. Verluste von etwa 20 % sind üblich. Die Energiebilanz eines Pumpspeicherkraftwerks fällt also immer negativ aus – das trifft aber auch auf alle anderen Stromspeichermedien zu. Derzeit gelten Pumpspeicher als einzige wirtschaftliche Möglichkeit, elektrische Energie im grossen Stil zu speichern.

Überschuss nach oben

In der Vergangenheit machten Pumpspeicher in erster Linie deshalb Sinn, weil sie überschüssige Energie aus Grundlastkraftwerken speichern konnten. Laufwasser- und Kernkraftwerke, die vorwiegend der Erzeugung der Grundlast dienen, müssen für eine wirtschaftliche Betriebsweise möglichst gleichmässig in ihrem jeweils optimalen Betriebszustand gefahren werden. Dadurch erzeugen sie rund um die Uhr Strom auf einem annähernd konstanten Niveau. Strom wird jedoch nicht gleichmässig benötigt. Oft klafft eine Lücke zwischen Stromangebot und -nachfrage. Im schlechtesten Fall wird zu Spitzenzeiten mehr Strom benötigt, als gleichzeitig erzeugt wird und im Netz vorhanden ist. Dies könnte zu einem Netzzusammenbruch, einem Blackout, führen.

Nun bestünde theoretisch die Möglichkeit, die Grundlast durch den Bau zahlreicher Kraftwerke so weit zu erhöhen, dass auch alle Spitzenlasten abgedeckt wären. Wirtschaftlich und umwelttechnisch wäre dies jedoch nicht sinnvoll, denn zugleich erhöhten sich auch die überschüssigen Energien in Zeiten ge­ringerer Nachfrage. Pumpspeicher können auf dieses Dilemma der Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage reagieren. Mit Überschussstrom aus Grundlastkraftwerken, vorwiegend nachts erzeugt, werden die oberen Speicherbecken vollgepumpt. Zu Spitzenzeiten, beispielsweise mittags, wenn die Elektroherde angehen, kann dieses Wasser wieder in Strom umgewandelt ­werden. Ein lukratives, über Jahrzehnte gut eingespieltes Geschäft. Eine Reduzierung thermischer Kernkraftwerke in Europa im Zug der angestrebten Energiewenden führt zwangsläufig zu einem geringeren Angebot an billigem überschüssigem Grundlaststrom. Hinzu kommt, dass Solar- und Windkraftwerke oftmals die meiste Energie zu Spitzenstromzeiten liefern. Dies schränkt den klassischen Markt für Pumpspeicher ein.

Um Ausgleich bemüht

Ein rückläufiger Markt, und doch setzen die Verkäufer, in diesem Fall die Energiekonzerne, mit neuen oder grösser ausgebauten Pumpspeichern auf Expansion? Einen Grund für den Aufwind der Pumpspeicherung liefern Wind und Sonne. Die zeitlich ungleichmässige Verfügbarkeit der nicht fossilen Energieträger hat Konsequenzen. Zum einen fällt Überschussstrom unregelmässiger an – auch zu eigentlichen Spitzenzeiten ist ein Überangebot an Strom durchaus möglich. Zum anderen wird die Netzregelung noch komplexer werden. Pumpspeicherkraftwerke können immense Energiemengen verarbeiten bzw. zur Verfügung stellen und so das Netz ausgleichen – wenn sie darauf vorbereitet sind.

Alles eine Frage der Zeit

Das europäische Stromnetz hat eine Standardfrequenz von 50 Hertz. Wird zu wenig Strom verbraucht, steigt die Frequenz, wird mehr Strom bezogen, als gerade generiert wird, sinkt sie ab. Bei einer zu starken Ab­weichung (≥ 0.2 Hz) drohen Schäden an elektrischen Maschinen oder gar ein Netzzusammenbruch. Folglich müssen Netzregelungen sehr schnell vor sich gehen.

Sehr schnell bedeutet in diesem Zusammenhang ­zwischen 30 Sekunden bei einer Primärregelung und 15 Minuten bei einer Tertiärregelung (vgl. «Frequenzregelung», Kasten unten).

Die eingebaute Technik setzt älteren Pumpspeichern bei der Netzregelung Grenzen. Ausgestattet mit Synchronmaschinen können sie im Pumpbetrieb nur bedingt zur Netzregelung beitragen. Synchronmaschinen haben, abhängig von der eingebauten Polanzahl, eine der Netzfrequenz entsprechende Drehzahl. Da das Stromnetz 50 Schwingungen pro Sekunde aufweist – 1 Hertz entspricht einer Schwingung pro Sekunde – dreht sich eine zweipolige Maschine, die als Generator oder Motor verwendet wird, folglich 50 Mal pro Sekunde respektive 3000 Mal pro Minute. Sie läuft synchron mit dem Stromnetz. Bei Einsatz mehrpoliger Synchron­maschinen reduziert sich die Umdrehungszahl zwar, das Verhältnis zur Frequenz des Stromnetz bleibt jedoch starr. Auf den Pumpbetrieb hat dies gravierende Auswirkungen. Eine Synchronmaschine ist, als Pumpe verwendet, nicht regelbar; man kann sie nur an- oder ausschalten. Ist nun Überschussleistung im Netz vorhanden, die geringer als die Pumpenleistung ist, lässt sich die Pumpe nicht verwenden. Für eine Netzregelung mit Synchronmaschinen im alleinigen Pumpbetrieb müsste daher eine Unzahl von Pumpen unterschiedlicher Leistung bereitstehen. Technisch und wirtschaftlich lässt sich das nicht realisieren.

Moderne Pumpspeicherwerke umgehen dieses Dilemma der Synchronmaschine auf verschiedene Arten. Sie werden somit nicht nur bei Turbinenbetrieb, sondern auch bei Pumpbetrieb für die Netz­regelung interessant und füllen dabei gleichzeitig ihre Wasserreservoire für die Spitzenstromerzeugung auf.

Kurzschluss, Asynchron, Vollumrichter

Das Kopswerk II in Vorarlberg hat eine Leistung von 480 MW im Pumpbetrieb und ist seit 2008 am Netz. Trotz Ausrüstung mit drei Synchronmaschinen kann es zur Netzstabilisierung beitragen. Der Trick dabei ist die Anwendung eines hydraulischen Kurzschlusses. Die Turbine ist in Kops II von der Pumpe getrennt. Die beiden einzelnen Bauteile haben je einen eigenen Wasserstrang. Dies eröffnet die Möglichkeit, die Turbine und die Pumpe gleichzeitig zu betreiben. Bei einem Leistungsüberschuss im Stromnetz, der unter der ­Pumpenleistung liegt, stellt die Turbine die noch zusätzlich be­nötigte Strommenge zur Verfügung. Die dem überschüssigen Netzstrom entsprechende Wassermenge landet letztlich im oberen Speicherbecken und steht zur Strom­erzeugung bereit.

Die 2017 und voraussichtlich 2018 in Betrieb gehenden Pumpspeicherwerke Limmern GL (vgl. TEC21 19/2017, erscheint am 12. 5. 2017, und TEC21 46/2012) und Nant de Drance VS (vgl. TRACÉS 03/2017) sind mit 1000 und 900 MW Pumpleistung Giganten ihrer Art. Sie setzen auf den Einsatz von Pumpturbinen und Asynchronmaschinen. Bei Pumpturbinen handelt es sich nicht um zwei getrennte Bauteile. Die Turbine ist gleichzeitig die Pumpe, je nachdem, in welche Richtung das Wasser fliessen soll. Eine Pumpturbine benötigt daher nur einen Wasserstrang. Die Drehzahl des Asynchrongenerators, der als Motor verwendet auch die Pumpe antreibt, kann innerhalb bestimmter Frequenzen geregelt werden. Asynchronmaschinen können somit die Pumpleistung der Netzüberschussleistung anpassen. Die Pumpe wird nicht nur an- oder ausgeschaltet, ihr Einsatz ist bei angepasster Leistung öfters möglich.

Ein anderes Konzept ist im Kraftwerk Grimsel 2 umgesetzt. Eine der vier bereits vor­han­denen Synchronmaschinen mit je einer Pump­leistung von 90 MW wurde 2013 durch einen Frequenz­umrichter ergänzt. Der 100-MW-Vollumrichter ist der grösste in einem Wasserkraftwerk verbaute weltweit. Die Synchronmaschine kann nun – auch ohne einen hydraulischen Kurzschluss wie beim Kopswerk II – Wasser entsprechend dem Stromangebot pumpen. Ein vielversprechender Vorteil des Einsatzes eines Frequenzumrichters liegt auf der Hand: Bereits installierte Synchronmaschinen können beibehalten werden, sofern genügend Platz für den Umrichter vorhanden ist oder in den oftmals engen Kavernen geschaffen wird. Dies bietet interessante Möglichkeiten zur Aufrüstung bestehender Anlagen.

Auf Hochtouren weiterpumpen

Die Pumpspeicherung passt sich derzeit den veränderten Bedingungen in der Stromlandschaft an. Sie wird weiterhin ihr altes Marktfeld der Spitzenstromerzeugung abdecken können, sogar mit einem ökologischen Vorteil: Der Strom, der für das Pumpen des Wassers aufgewendet wird, wird zukünftig vermehrt aus regenerativen Energiequellen stammen. In der Netzregelung wird die Pumpspeicherung einen noch wichtigeren Platz als bisher einnehmen können.

Den grossen Maschinen in den Pumpspeicherwerken könnte hierbei künftig noch eine weitere Rolle zufallen.

Die Reduzierung konventioneller Kraftwerke zieht einen Verlust von Rotationsenergie aus Genera­toren nach sich. Diese wird bei einem Leistungsüberschuss aus elektrischer Energie erzeugt und im Fall eines Leistungsdefizits in elektrische Energie über­geführt. Die so entstehende Momentanreserve stützt die Frequenz und stabilisiert das Netz. Je weniger ­Rota­tionsenergie am Stromnetz vorhanden ist, desto ­schneller wirken sich Störungen auf die Frequenz aus.

Dies kann negative Einflüsse auf die verfügbare Reaktionszeit bei der Netzregelung nach sich ziehen. Falls ein solches Szenario eintritt, wird es notwendig sein, das Stromnetz schneller als bisher und öfters zu stabilisieren. Die grossen Massen der regelbaren Generatoren in den Pumpspeicherwerken wären hierfür geeignet: Durch Abbremsen auf eine niedrigere Umdrehungsgeschwindigkeit sind sie in der Lage, in Bruchteilen von Sekunden dem Netz Energie zur Verfügung zu stellen und dadurch zu einer extrem schnellen Stabilisierung beizutragen. Die Zukunft wird es zeigen.

TEC21, Fr., 2017.04.07



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28. Oktober 2016Peter Seitz
TEC21

Randvoll, nur nicht brechen

Das Rheintal soll besser vor Hochwasser geschützt werden. Das Projekt Rhesi soll den Durchfluss vergrössern, um mehr Wasser schadlos in den Bodensee leiten zu können. Doch was, wenn dies nicht ausreicht? Auch der Überlastfall wird konkret in die Planung miteinbezogen.

Das Rheintal soll besser vor Hochwasser geschützt werden. Das Projekt Rhesi soll den Durchfluss vergrössern, um mehr Wasser schadlos in den Bodensee leiten zu können. Doch was, wenn dies nicht ausreicht? Auch der Überlastfall wird konkret in die Planung miteinbezogen.

Das Unmögliche wollen, das Undenkbare denken und das Unsägliche sagen, haben stets gleiche Früchte getragen: Du musst, wenn die Träume sich scheiden, zuletzt das Unleidliche leiden.» Auch in der Schweiz wird Franz Grillparzer, der österreichische Schriftsteller der Romantik, gerade im Kontext von Überlegungen zum Überlastfall gern zitiert. «Das Undenkbare denken» ist beinahe schon ein geflügeltes Wort im Hochwasserschutz und als Ausgangsbasis für die Überlastkonzepte am Alpenrhein entscheidend.

Das Unmögliche wollen …

… muss man für die Hochwassersicherheit am Alpenrhein nicht. Die vom Projekt Rhesi angestrebte Erhöhung der Abflusskapazität ist durchaus umsetzbar und bedeutet einen sehr hohen Sicherheitsgewinn für die Anrainer. Das heutige Gerinne kann 3100 m³/s zum Bodensee durchleiten. Dieser Bemessungsabfluss entspricht einem HQ100, kommt also im Durchschnitt einmal in 100 Jahren vor – er kann aber selbstverständlich jeder­zeit eintreten. Rhesi sieht vor, den Alpenrhein auf ein HQ300, also 4300 m³/s, auszubauen. Geschuldet ist diese Abflusserhöhung dem immensen Schadenspotenzial, das im Rheintal vorhanden ist.

Ein heute eintretendes 300-jährliches Hochwasser würde die Schutzbauten überlasten. Dammbrüche und grossflächige Überflutungen von besiedeltem Gebiet wären somit wahrscheinlich und könnten auf Schweizer Seite Schäden von 2.5 Milliarden Franken nach sich ziehen. Auf österreichischer Seite könnten Schäden bis zu 3.2 Milliarden Franken entstehen. Gründe für diese hohen Zahlen sind unter anderem ein zunehmender Siedlungsdruck, die Steigerung der vorhandenen ­Werte sowie Bauten, die nicht auf Hochwassergefah­ren abgestimmt sind. Da Gebäude im Regelfall nicht auf einen Dammbruch ausgelegt werden, ist Letzteres ­jedoch nichts Ungewöhnliches.

Um den neu angestrebten Ausbauabfluss durch das Rheintal sicher in den Bodensee leiten zu können, wurden sechs Basisvarianten einer Fliessquerschnitts­erhöhung untersucht (vgl. Abbildungen oben). Letztlich kristallisierten sich aus diesen Varianten die Vorgaben für das Generelle Projekt heraus, das derzeit erarbeitet wird.

Vom Grundsatz her wird die angestrebte Kapazitäts­erhöhung mittels Gerinneaufweitung innerhalb der bestehenden Dämme erreicht. Zur Sicherstellung der Dammstabilität und für Unterhaltsarbeiten bleiben mindestens 15 m des Vorlands am wasserseitigen Dammfuss bestehen. Kolke, die zu gefährlichen Unterspülungen des Damms bis hin zur Breschenbildung führen können, lassen sich somit verhindern. Mit einer derartigen Kapazitätserhöhung könnte nun der Eindruck entstehen, dass die Hochwasserschutzproble­matik nach der Umsetzung von Rhesi am Alpenrhein für zukünftige Generationen gelöst ist.

Das Unsägliche zu sagen …

… bleibt Wasserbauern und Naturgefahrenfachleuten jedoch nie erspart: Es gibt keinen absoluten Schutz vor Naturgefahren. Jedoch ist es möglich, die Wahrscheinlichkeit eines Systemversagens äusserst gering zu halten. Bei einem Hochwasser führenden Fluss versagt das System, wenn es zu einem unkontrollierten Fluten von Gebieten kommt, die dafür nicht vorgesehen sind.

Bis zum Bemessungsabfluss, nach Umsetzung von ­Rhesi also bis 4300 m³/s, läuft ein Hochwasser in geordneten Bahnen ab, in diesem Fall innerhalb der ­Dämme. Das ­Freibord, der Abstand zwischen dem Wasserspiegel und der Dammoberkante – bei Brücken das Mass bis zur ­Brückenunterkante –, ist eingehalten. Die Dämme werden folglich nicht überströmt, und Treibgut wie Schwemmholz und andere vom Fluss mitgeführte Dinge sollten zu keinen Verklausungs­erscheinungen an Brücken ­führen.

Erhöht sich der Abfluss weiterhin, tritt der Überlastfall ein. Der Wasserspiegel steigt, es kommt zu einer Verringerung des Freibords und damit zu einer Belastungserhöhung der Dämme. Flussdeiche, die nicht darauf ausgelegt sind, sind nun akut gefährdet. Spätestens bei einer Überströmung der Dämme ist ein Dammbruch wahrscheinlich. Ein beachtlicher Teil des Wassers würde in diesem Fall das eingedeichte Flussbett verlassen, und verheerende Schäden können die Folge sein. Das System kollabiert.

Das Undenkbare zu denken, …

… sprich: den Überlastfall in die Planung miteinzu­beziehen war für die Beteiligten an Rhesi folglich unumgänglich. Die grundlegende Frage dabei war, ob Abflüsse, die über dem Bemessungsereignis liegen, im Gerinne bleiben oder aus diesem ausgeleitet werden sollten. Beim Verbleib des überschreitenden Abflusses innerhalb der Dämme müssen diese und der Fliessquerschnitt darauf ausgelegt sein. Bei einer Ausleitung muss das Wasser entweder über Abflusskorridore – im Vorfeld aus­ge­schiedene, überflutbare Flächen – in den Bodensee oder in dafür bestimmte Rückhalteräume im Tal gelei­tet werden.

Auch Kombinationen von Abflusskorridoren in Verbindung mit Rückhalteräumen wurden betrachtet. Selbst eine Ableitung des Wassers über einen Stollen in den Walensee lag den Verantwortlichen als Studie vor. Ausserdem wurden Überlegungen angestellt, inwieweit ein Hochwasserrückhalt in den ­Stauseen im Einzugsgebiet des Alpenrheins möglich wäre.

Die bereits vorhandene Breite des Alpenrheins mit seinen ausgedehnten Vorländern, ohnehin anstehende Dammsanierungen und die grossen anfallenden Wassermengen bieten die Nutzung des Gerinnes für Überlastabflüsse an. Konzeptionell sieht Rhesi nun vor, bis zum Extremereignis, dem sogenannten EHQ, das Freibord zu nutzen und den Abfluss bis 5800 m³/s bordvoll in den Bodensee strömen zu lassen. Bei einer weiteren Überschreitung des Abflusses, EHQ genannt, wird einem Systemversagen durch eine gesicherte Dammüberströmung entgegengewirkt.

Bei hohen Abflüssen herrscht ein starker Geschiebetrieb im Fluss, der durch ein Aufreissen der Flusssohle noch verstärkt wird. Daher liegt der Wasserspiegelermittlung stets eine gewisse Unschärfe zugrunde. Dies ist bei der Planung eines Freibords zu berücksichtigen. Eingehende Betrach­tungen verschieden hoch angesetzter Freiborde und die Berücksichtigung der Topografie führten letztlich zur Bestvariante in Bezug auf den Überlastfall.
Differenziertes Freibord

Im Projektgebiet werden drei Abschnitte unterschieden. Etwa oberhalb von Mäder/Kriessern sind die Dämme auch für Überlastabflüsse bereits ausreichend hoch. Sie bleiben hier auch zukünftig nicht überströmbar. Zwischen Mäder und Diepoldsau liegt ein wenig besiedelter Bereich, der sich für Entlastungen anbietet. Hier werden Abflüsse, die über 5800 m³/s (EHQ ) liegen, beidseits über abgesenkte Dämme entlastet. Die Dammhöhe der in diesem Abschnitt überströmbaren Dämme ist auf das Dimensionierungsereignis von 4300 m³/s mit Berücksichtigung des Freibords abgestimmt. Dies lässt im Idealfall auch den bordvollen Durchfluss eines EHQ zu.

Unterhalb dieser Entlastungsstelle, entlang der dicht besiedelten Gebiete zwischen Widnau/Diepoldsau und der ­Mündung, ergibt sich das Freibord aufgrund der Un­schärfe der Wasserspiegellagenberechnung. Im besten Fall strömt das EHQ folglich mit einem eingeschränkten Freibord innerhalb der Dämme ab. Ein Überschwappen aufgrund von Wellenbildung ist jedoch möglich, da das hier angesetzte Freibord die Energielinie nicht berücksichtigt.

Der Bestvariante liegt also eine differenzierte Berücksichtigung des Freibords zugrunde. Dies hat den Vorteil, dass die tatsächlich vorhandene Gerinnekapazität gut ausgenutzt werden kann und eine Entlastung an einem vorher festgelegten Ort stattfindet. Die zu entlastende Wassermenge wird somit möglichst niedrig gehalten, und Notfallplanungen können effektiv im Vorfeld auf das Entlastungsgebiet abgestimmt werden.

Durch die Inanspruchnahme der annähernd ­maximalen Gerinnekapazität auch unterhalb der Entlastungsstelle bleibt der Geschiebetrieb ähnlich hoch. Daher können Auflandungen im Entlastungsbereich, die wiederum einen negativen Einfluss auf die Entlastungsmenge hätten, vermieden werden. Die Anordnung einer ungesteuerte Entlastung in Form von Dammscharten hilft letztendlich, Fehler zu vermeiden. Gesteuerte Entlastungen müssen unterhalten werden, können technische Defekte haben und verlangen, falls sie nicht ­automatisiert werden, im Ereignisfall eine Bedienung. Letzteres wäre wohl eine Bürde, um die sich keiner in der Verantwortung Stehende reissen dürfte.

Das Unleidliche …

… sollte nach der Umsetzung von Rhesi in weite Ferne rücken. Dem überzeugenden Konzept sollte es jedenfalls erspart bleiben, dass «die Träume sich scheiden».


Anmerkung:
Dem vorliegenden Artikel liegt der Beitrag «Zukunft Alpenrhein – Definition Freibord und Überlastfall» von Dominik Schenk, Markus Schatzmann, André Meng, Ueli Schälchli zugrunde, erschienen im Tagungsband des Internationalen Symposiums «Wasser- und Flussbau im Alpenraum» 2014 in Zürich.

TEC21, Fr., 2016.10.28



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TEC21 2016|44 Hochwasserschutz am Alpenrhein

07. Oktober 2016Peter Seitz
TEC21

Bleibende Weichen, weichender Fels

Die Profilerweiterung des SBB-Tunnels von Saint-Maurice VS erfolgte sprichwörtlich «vom Scheitel bis zur Sohle». Weil der Bahnverkehr aufrechterhalten werden musste und die topografische Situation hohe Ansprüche stellte, waren von den Ausführenden eine ausgeklügelte Logistik und extreme Zeitdisziplin gefordert.

Die Profilerweiterung des SBB-Tunnels von Saint-Maurice VS erfolgte sprichwörtlich «vom Scheitel bis zur Sohle». Weil der Bahnverkehr aufrechterhalten werden musste und die topografische Situation hohe Ansprüche stellte, waren von den Ausführenden eine ausgeklügelte Logistik und extreme Zeitdisziplin gefordert.

Das obere Stockwerk des Wallis wird ab 2018 mit einer Doppelstockzugverbindung an den tiefen Genfersee angebunden. Möglich macht diesen Anschluss des Oberwallis der Ausbau der Eisenbahnlinie Lausanne–Brig. Einen wichtigen Beitrag hierzu leistet die Erweiterung des 489 m langen, 1859 in Betrieb genommenen zweigleisigen Tunnels Saint-Maurice auf das Lichtraumprofil EBV 2/S2.

Durch den bestehenden Tunnel fahren täglich über 240 Züge. Dies entspricht in Spitzenzeiten bis zu 15 pro Stunde. Da eine sinnvolle Alternativroute nicht existiert, musste der Grossteil der Arbeiten bei laufendem Betrieb eines Gleises ausgeführt werden. Für die Vergrösserung der Röhre stand folglich nur ein halber Querschnitt zur Verfügung. Dies führte nicht nur zu einem äusserst beschränkten Arbeitsraum, sondern erhöhte auch den Bauaufwand. Galt es doch, das befahrene Gleis von der Baustelle mittels einer Schutzwand abzutrennen.

Zur Installation dieser Trennwand und für andere diverse Arbeiten, die eine zeitweise Stilllegung der Strecke unumgänglich machten, konnte zumindest an 240 Nächten von 2013 bis 2016 während fünf Stunden der Zugverkehr im Tunnel eingestellt werden. Für Intensiv­einsätze war dies an zwei zusätzlichen Wochenenden für jeweils 53 Stunden möglich, ansonsten blieb die Strecke stets eingleisig befahrbar.

Der erste Intensiveinsatz sah den Abbruch der 34 m langen Tagbaustrecke des Tunnels auf der Seite von Saint-Maurice vor. Beim zweiten wurde im Bereich einer Weichenanlage am Portal Saint-Maurice die Tunneldecke mit einer einzigen Sprengung entfernt. Gemessen an der Anzahl der gleichzeitig gezündeten Ladungen stellte diese Detonation mit 1492 Sprenglöchern die bedeutendste der Schweiz dar. Die Festlegung der beiden Wochenenden erfolgte über ein Jahr vor dem jeweiligen Intensiveinsatz, bedurfte es doch einer Neuorganisa­tion des gesamten Personenverkehrs durch die SBB und aufgrund der zeitlichen Beschränktheit enormer Vorbereitungsarbeiten seitens der Unternehmung.

Die bahnbetrieblichen Randbedingungen wurden noch durch zwei topografische ergänzt.

Unverrückbare Höhenlagen

Am südlichen Tunnelportal schliesst der Bahnhof Saint-Maurice an. Seine Höhenlage und eine in den ­Tunnel hineinreichende Weichenanlage, die für die Zugverteilung auf die Gleise des Bahnhofs nötig ist, gaben die Höhenkote der Schienenlage in diesem Abschnitt vor. Eine Erweiterung durch eine Sohlabtiefung war daher am Südende des Tunnels ausgeschlossen. Im nördlichen Tunnelabschnitt hingegen konnte die Firstkote des Tunnels nicht verändert werden, da das Fort Cindey, eine Befestigungsanlage aus dem Inventar nationaler Militärdenkmäler, unmittelbar über dem Stollen gelegen ist.

Die Lösung dieses topografischen Gegensatzes lag in der Anordnung eines variablen, in Richtung Bex abfallenden Profils. Dies führte auf der Seite von Saint-Maurice zu einem Abtrag der Tunneldecke, während auf Bexer Seite die Tunnelsohle abgesenkt wurde. Die insgesamt aufwendige Art der Profilerweiterung – Arbeiten am halben Querschnitt, verschiedene Profile, Sprengarbeiten und anschliessende Wiederinbetriebnahme des Tunnels unter extremen Zeitdruck – konnte letztendlich gewählt werden, da es sich beim anstehenden Fels um einen Valanginien-Kalk handelt, ein insgesamt massives und sehr widerstandsfähiges Gestein. Die allgemeine Ausrichtung der Bänke verläuft subhorizontal mit einer leichten Neigung zum Bexer Tunnelportal hin. Hier, im nördlichen, auf 150 m Länge mit einer Bruchsteinmauerung versehenen Abschnitt der Röhre stehen auch Wasserzuflüsse an, die den Einbau einer Dichtungsschicht erforderlich machten.

Wand schützt und nützt

Zur Abtrennung des Bahnbetriebs von der Baustelle musste eine Schutzwand in Profilmitte erstellt werden, die nicht nur als Sicherheitsbarriere fungierte, sondern auch unterschiedliche Funktionen während des Bauablaufs wahrnahm. Beim Ausbruch auf der Seite der Rhone, der zuerst vollzogen wurde (Phase 1), diente die Wand als Bohlwand (Berliner Verbau) zur Abstützung des bergseitig gelegenen und weiterhin befahrenen Gleises. Vor den Bauarbeiten am bergseitigen Gleis (Phase 2) erfolgte eine Anpassung der Schutzwand an der Tunnelkalotte.

Die Anbringung einer geneigten Stütze ermöglichte die Abstützung und den Ausbruch im Firstbereich des Tunnels. Die Wand setzte sich aus Stahlprofilen mit dazwischen liegendem Drahtgeflecht zusammen. Gebohrte Löcher dienten als Fundation der Profile, oben wurden die Profile mit Swellex-Ankern und Spritzbeton befestigt. Ein akustisches und optisches Warnsystem für Züge sowie ein System zum Stoppen des Zugverkehrs bei einem Unfall ergänzten die Schutzwand in Bezug auf die Bahnsicherheit.

Bauen am halben Querschnitt

Die Vergrösserung des Profils auf der Talseite, Phase 1 genannt, setzte sich aus folgenden Arbeiten im Zeitraum vom 2. September 2013 bis 22. März 2015 zusammen:

Montage der Schutzwand zwischen den Gleisen bei unterbrochenem Zugverkehr
Schliessung des bergseitigen Gleises und Entfernen von Gleis und Schotter talseitig
Ausführung eines Längsträgers mit Zugankern im Bereich der Bruchsteinmauerung (bestehende Tunnel­decke)
Vergrösserung des Querschnitts mit auf Baggern montierten Felsbrechern (ca. 20 m³/lfm)
Kanalisierung der Wasserzuflüsse und Einbringen einer Abdichtung im wasserführenden Bereich (auf ca. 150 m Länge)
Einbringung der Abstützung, die lokal aus Bolzen und 15 cm faserverstärktem Spritzbeton besteht
Ausführung des Randwegs, Verlegen der Drainage, Betonieren der Sohlenplatte
Anpassung der Schutzwand für die Arbeiten am bergseitigen Gleis (Phase 2)
Einbringen von Schotter, provisorisches Verlegen des neuen Gleises und der Oberleitung
Inbetriebnahme des talseitigen Gleises

Die bergseitige Querschnitterweiterung während der Phase 2 wurde vom 22. März 2015 bis 5. April 2016 vorgenommen. Innerhalb dieser Phase fand auch der zweite Intensiveinsatz mit der Sprengung im Bereich der Weichenanlage statt. Neben weiteren Anpassungen der Schutzwand und deren letztendlichen Entfernung entsprachen die Arbeitsschritte denen der Phase 1. Die Logistik der Arbeiten zeitgleich während des Bahnbetriebs wurde von jener des Intensiveinsatzes im Weichenabschnitt von Saint-Maurice noch übertroffen.
Intensiveinsatz mit Sprengung

Innerhalb der 53 Stunden, die am ausgewählten Wochenende zur Verfügung standen, mussten folgende Arbeiten erfolgreich umgesetzt werden:

Zu Beginn, am Freitag, den 6. November 2015 um 22:40 Uhr, mussten die Demontage der Fahrleitung und das Einbringen der Schutzvorrichtungen für die Gleise und bahntechnischen Anlagen erfolgen. Gleichzeitig erfolgte die Bereitstellung der letzten Sprengladungen. Das Anzeichnen und Bohren der Sprenglöcher sowie teilweise das Anbringen der Ladungen konnten bereits im Vorfeld des Intensiveinsatzes abgeschlossen werden.

Nach 3.3 Sekunden – nur so lang dauerte die Sprengung – transportierten Dumper und Muldenkipper das auf einer Länge von 76 m angefallene Gestein mit einer Kubatur von 1200 m³ über beide Seiten des Tunnels ab. 90 Glasfaseranker wurden zur Sicherung des Gewölbes gebohrt und gesetzt, bevor 196 m³ Spritzbeton mit einer Stärke von 15 cm aufgebracht wurden. Nach dem Entfernen der Schutzvorrichtungen der Gleis­anlage, der Montage der Oberleitung und verschiedenen Sicherheitskontrollen vor der Inbetriebnahme des Gleises konnte der Intensiveinsatz Sonntagnacht beendet werden.

Zwischen 5. April und 2. Mai 2016 erfolgte zum Abschluss der Arbeiten die Phase 3. Talseitig musste das Gleis noch auf sein definitives Niveau verlegt werden. Nach Fertigstellung des Randwegs und der Montage der endgültigen Fahrleitung konnten beide Gleise letztendlich in Betrieb genommen werden.


Anmerkung:
Vorliegender Artikel beruht auf der Veröffentlichung «Agrandissement du tunnel CFF de Saint-Maurice» der Autoren Cathie Hansmann, Alain Dériaz, Olivier Tappy, Xavier von Mandach, erschienen in Tracés 09/2016.

TEC21, Fr., 2016.10.07



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07. Oktober 2016Peter Seitz
TEC21

Stahl und Verbund verbinden Ufer

Beinahe könnte man von Saint-Maurice aus durch den vergrösserten Tunnel zum nächsten imposanten Bauwerk der SBB sehen. Die neue Eisenbahnbrücke Massongex fällt aber aus vielen Blickwinkeln ins Auge.

Beinahe könnte man von Saint-Maurice aus durch den vergrösserten Tunnel zum nächsten imposanten Bauwerk der SBB sehen. Die neue Eisenbahnbrücke Massongex fällt aber aus vielen Blickwinkeln ins Auge.

Knapp 23 m über den Rädern der Eisenbahn wölben sich die beiden Bögen der neuen SBB-Brücke Massongex in den Himmel und verbinden das südliche walliserische Ufer der Rhone mit dem nördlichen auf Waadtländer Seite. Der Neubau, der mit einer Spannweite von 125.80 m als längste stählerne Eisenbahnbrücke der Schweiz gilt, ersetzt zwei bestehende, eingleisige Stahlbrücken aus dem Jahr 1903 und 1923, die dem Güterverkehr nicht mehr gewachsen waren. Die oberstrom gelegene Brücke war für die schwerste Zugkategorie (D4) nicht mehr zugelassen. Zugleich bargen die alten Bauwerke mit einer Spannweite von je 70 m und je beidseitig vorgelagerten 10-m-Brücken zum Eisenbahndamm hin wenig Spielraum bezüglich zukünftiger flussbaulicher Massnahmen der 3. Rhonekorrektion (vgl. TEC21 10/2012).

Da die flussabwärts gelegene, bestehende Brücke noch besser intakt war, galt es, diese zuletzt ausser Betrieb zu setzen und den Eisenbahnverkehr auf der Simplonstrecke bis zum Einsatz der neuen Brücke über sie abzuwickeln. Folglich musste das Einschieben der neuen Brücke stromabwärts geschehen und ein Installationsplatz oberstrom der alten Brücken gefunden werden. Da auf der Bexer Seite Hochspannungsfrei­leitungen zu nah am Waadtländer Ufer verliefen, blieb nur, die Stahlkonstruktion linksufrig auf der walliserischen Seite zu erstellen.

Lager im, am und unterm Strom

Das Stahltragwerk wurde auf Pfahljochen erstellt. Erst der Bau von je einem Vorschublager beidseits der Rhone und zweier provisorischer Pfeiler auf einer vorgeschütteten Plattform im Fluss machten den späteren Vorschub der Brücke möglich. Um die provisorischen Pfeiler zu erreichen, die 68 m vom linksufrigen Vorschublager an der gegenüberliegenden Flussseite entfernt lagen, musste die Stahlkonstruktion mit einem 30 m langen Vorbauschnabel ausgestattet werden.

Die im Fluss geschüttete Plattform, deren Sicherung mit Spundwänden erfolgte, hatte aufgrund der Fliessquerschnittseinengung auch Folgen für den Uferschutz. Am gegenüberliegenden Ufer wurden im Vorfeld auf einer Länge von 70 m Uferschutzmassnahmen vorgenommen, um Erosionen aufgrund Strömungsumlagerungen zu vermeiden.

Die beiden Vorschublager an den Ufern sind auf acht 20 m langen Bohrpfählen fundiert, deren Durchmesser 1.50 m beträgt. Die Pressen bei der Montage der definitiven Auflager werden ebenfalls an diesen Lagern angesetzt.

Endgültig ruhen wird die Brücke auf vier Kalottenlagern, die in Querrichtung frei beweglich und in Längsrichtung am linksufrigen Widerlager aus Stahlbeton arretiert sind. Die Fundation am linken Ufer besteht aus drei Reihen mit je fünf Bohrpfählen, deren Durchmesser 1.50 m bei einer Länge von 27 m beträgt. Zur Aufnahme horizontaler Lasten insbesondere aus seismischen Aktivitäten sind die äusseren Pfähle um 5.7° geneigt. Für die Fundierung des rechtsufrigen Widerlagers reichten zwei Reihen mit je fünf Pfählen von 20 m Länge aus, da dort das Auflager in Längsrichtung beweglich angeordnet ist. Für den Bau der Widerlager wurden in den bestehenden Eisenbahndämmen beiderseits der Rhone zwei Baugruben ausgehoben. Vier provisorische Brücken überspannen zur Aufrechterhaltung des Bahnverkehrs die Gleise. Die Spannweiten dieser Behelfsbrücken von 17.50 m gaben auch die maximale Grösse der Baugruben vor.

Als Tragsystem der neuen Brücke wurde ein Langerscher Balken (Bow-String) gewählt, der auch als Stabbogenbrücke bekannt ist. Die Bögen sind mit den Trägern der Fahrbahn verankert, sodass die Fahrbahn als Zugband wirkt. Die Fahrbahnträger nehmen somit die horizontalen Auflagerreaktionen der Bögen auf, und die Lager der Brücke erhalten aus ihrem Eigengewicht nur vertikale Lasten. Gleichzeitig ist die Fahrbahn mittels Hängern mit den Bögen verbunden, sodass Letztere axialen Druckbeanspruchungen ausgesetzt sind.

Geneigte Bögen und Stege

Das primäre Stahltragwerk besteht aus zwei um 12° nach innen geneigten Bögen mit Kastenprofil und zwei Längsträgern auf Fahrbahnebene, die die Funktion der Zugglieder übernehmen. Zur Kraftübertragung der Hänger an die Bögen ist eine mittlere dritte Wand in die Hohlkästen eingeschweisst. Die Profilhöhen der Bogenkästen verjüngen sich von 1.85 m am Kämpfer auf 1.20 m am Scheitel. Vier Querträger, die ebenfalls als Hohlkasten ausgeführt sind und beim Vorschub abgestützt werden, verbinden die beiden Bögen. Die Bogenkämpfer sind in die Längsträger eingespannt und über ein 1.10 m hohes Querprofil zur Abtragung der Kräfte in die Auflager verbunden.

Die Längsträger, deren Stege ebenfalls um 12° geneigt sind, jedoch horizontale Flansche der Stärke 120 mm aufweisen, haben eine konstante Höhe von 4 m und weisen eine Überhöhung von 200 mm auf. Im Auflagerbereich erfolgt die Einbindung der Bögen in die Längsträger über ein Kastenprofil. Auf den Obergurten sind zur Krafteinleitung der Hänger Laschen angeschweisst. Je Bogen sind 16 Hänger aus Flachstahl (60 × 300 mm) angeordnet. Um eine zu starke Biegung der äusseren Hänger beim Vorschub der Brücke zu vermeiden, werden diese durch provisorische, flexiblere ersetzt. Erst nach dem Betonieren der Bodenplatte, wenn die Stahlkonstruktion bereits über der Rhone liegt, werden die endgültigen Hänger montiert. Verwendung bei der Stahlkonstruktion fand Stahl der Sorte S355 M/ML, ein thermomechanisch gewalzter, schweissgeeigneter Feinkornbaustahl.

Über die Rhone, betoniert Richtung Genf

Der Vorschub der stählernen Brückenkonstruktion erfolgte erst vom Installationsplatz über die provi­sorischen Pfeiler im Fluss bis auf das rechtsufrige Vorschublager. In dieser Position begannen die Beto­nierarbeiten zur Erstellung des Brückentrogs. Dieser besteht aus einer Platte, deren Stärke zwischen 40 cm und 52 cm an ihrer Achse beträgt, und seitlichen, 2.20 m hohen Stahlbetonträgern mit variabler Wandstärke. Der Brückentrog ist über Kopfbolzen in Verbundbauweise mit den Längs- und Querträgern der Stahlkon­struktion verbunden.

Um das Eindringen von Wasser zwischen Trog und Stahl zu vermeiden, ist die Ober­seite des Betonträgers mit einer Neigung nach innen ausgeführt. Für die Abdichtung des Betontrogs fanden eine 5 mm starke PBD-Dichtungsbahn und eine 40 mm dicke Gussasphaltschicht Verwendung. Zur Entwässerung dieser dichten Konstruktion wurde die Oberfläche des Trogs mit mindestens 2 % Gefälle facettenartig ausgeführt, sodass anfallendes Wasser über die im Abstand von 6.80 m angeordneten Brückenabläufe direkt in die Rhone abfliessen kann.

Das Auffüllen des Trogs geschah mit einer 75  cm tiefen Schotterschicht und entlang der Schwellen mit einer Auffüllreserve mit 12 cm Höhe. So ausgestattet konnte der Einschub der Brücke bis zu ihrer endgültigen Lage beginnen. Nach dem Rückbau der provisorischen Pfeiler im Fluss wurde der Neubau bis zur oberstromigen, alten Brücke geschoben. Diese wurde unter Zuhilfenahme der neuen Brücke demontiert. Nach einem weiteren Zwischeneinschub bis zur noch bestehenden Brücke konnte ein erstes Gleis über die neue Konstruktion gelegt und somit der Eisenbahnverkehr erstmals umgelegt werden. Nach dem derzeit laufenden Abbruch der verbliebenen alten Brücke wird die neue Brücke nach einem nochmaligen Schub ihre endgültige Position erreichen.


Anmerkung:
Vorliegender Artikel beruht auf der Veröffentlichung «Un nouveau pont ferroviaire sur le Rhône» der Autoren Hugo Anacleto, Tristan Jakob, Hartmut Mühlberg, Stéphane Utz, Philippe Morel, erschienen in TRACÉS 09/2016.

TEC21, Fr., 2016.10.07



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