Editorial
Im Grunde ist es einfach: Fast jeder ältere Mensch möchte gerne möglichst lange als sein eigener Herr in der angestammten Umgebung bleiben, in verträglichen Dosen Geselligkeit genießen und sich bei der Selbstversorgung möglichst wenig helfen lassen müssen. Es geht um Würde und Selbstbestimmung.
Entsprechend gibt es Forderungen nach einer massiven Deinstitutionalisierung des Pflegesystems, nach mehr dezentral organisierter, ambulanter, individuell angefragter Pflege zu Hause, bis hin zum radikalen Ruf nach der kompletten Auflösung der Altenheime. Diese Forderungen gründen weniger auf dem Kostendruck, der auf den Heimen lastet, als vielmehr auf der Erfahrung, dass Pflege allzu oft mit Bevormundung einhergeht: Pfleger, Verbände, Kontrolleure und Gesetzgeber, selbst gutmeinende Planer regieren – mit den besten Absichten, aber eben ungefragt – in den Alltag erwachsener Menschen hinein. So wie Angehörige, die das Fehlen mancher Hilfs- und v. a. Überwachungsmittel leicht als eine Art unterlassene Hilfeleistung empfinden und, emotional involviert, nur schwer die Balance zwischen unterstützen und sich zurücknehmen finden.
Mit der derzeitigen Zahl altengerechter Wohnungen und ambulanter Pflegeleistungen lässt sich freilich noch kein Staat machen. Einzelne Wohnungsunternehmen haben zwar bereits damit angefangen, bei nötigen Sanierungen die altersgerechte Anpassung gleich mit zu erledigen, mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein lässt sich darin jedoch nicht erkennen.
Immerhin kursiert unter Investoren die Meinung, dass es sich bei Pflegeimmobilien um den »hidden champion« künftiger Anlageklassen handelt. Man geht z.B. davon aus, dass in Deutschland bis 2030 wegen der geburtenstarken Jahrgänge und wegen verschärfter Landesheimgesetze zum Bestand von 13.000 etwa 3.000 zusätzliche Pflegeheime benötigt werden. Und man nimmt auch gleich die Nachnutzung der Immobilien als Hotels, Apartmenthäuser oder altersgerechtes Wohnen in den Blick, da der Bedarf an Pflegedienstleistungen bereits ab 2050 wieder deutlich sinken wird. Bis dahin gilt selbst in ländlichen Regionen das altersgerechte Wohnen als lukrativer Wachstumsmarkt.
Bei entsprechender Kanalisierung könnte dies den Heimträgern zugutekommen, die bei Neu- und Umbau wegen der gestiegenen Baukosten extrem knapp rechnen müssen, zumal die Pflegekassen derzeit Rücklagen für die härteren Zeiten bilden und reichlich vorhandene Mittel zurückhalten.
Es besteht aber auch die Gefahr, dass beim Bau von Heimen und v. a. von altengerechten Wohnungen zwar die Werbefloskeln immer blumiger werden, die sinnfällige Wohnflächenreduktion sich allerdings nicht in günstigen Preisen niederschlägt, sondern eher die Standards zu sinken drohen, … während die Rendite steigt und steigt.
Insgesamt lassen sich deutliche Verbesserungen darin erkennen, wie unsere Gesellschaft sich den Umgang mit ihren ältesten Mitgliedern vorstellt. Die Zeiten, in denen man pflegebedürftige Senioren als Krankheitsfälle definierte und entsprechend behandelte, sind vorbei. Konzepte vom Zusammenleben in Wohngruppen, wie sie vor zehn Jahren noch erst ausprobiert wurden, sind in neuen Heimen heute Standard. Der Wechsel von der Versorgungs- zur Mitwirkungsgesellschaft ist im Gange – zumal politisch geboten. Die Architektur versucht, mit vielfältigen und flexiblen Raumangeboten den individuellen und situationsbedingten Bedürfnissen zwischen Vereinzelung und Geselligkeit gerecht zu werden – einige Beispiele dazu sehen Sie auf den folgenden Seiten.
Wenn die Wohnungswirtschaft nun mitzieht und altersgerechtes Bauen nicht als Mehrausgabe fürchtet, sondern flexibel nutzbare Bautypologien als Standard für alle Generationen anerkennt, dann werden die Pflegeheime deshalb sicher nicht überflüssig, viel mehr alte Menschen aber eine freie Wahl haben, wie und wo sie ihr Leben beschließen wollen. | Achim Geissinger
Gemeinsam stark
(SUBTITLE) Sozialzentrum »Häuser der Generationen« in Koblach (A)
Die Komposition aus drei unterschiedlichen Baukörpern bringt an einer Art Dorfplatz Pflegeheim, soziale Dienste, verschiedene Formen des Altenwohnens und sogar geförderten Wohnraum für Familien zusammen. Natürliche Belichtung mit Blickbeziehungen zur Außenwelt, sinnesanregende Farbgestaltung und die ortsüblichen Materialien Putz und Holz sorgen dabei für Übersichtlichkeit und Behaglichkeit.
Integration gelingt selten so gut wie beim neuen »Haus der Generationen« in Koblach. Ausgangspunkt war ein in die Jahre gekommenes Versorgungsheim, das umfunktioniert und um ein Pflegeheim wie auch um einen integrativen Wohnungsbau ergänzt wurde, und heute tatsächlich Menschen aller Altersgruppen als Ort zum Leben bzw. als Beratungsstelle dient.
Vor nunmehr 15 Jahren schlossen sich die vier rund um den Kummenberg situierten Vorarlberger Gemeinden Altach, Götzis, Koblach und Mäder zur Region »amKumma« zusammen. Unter dem Motto »Vier Gemeinden – ein Lebensraum« verfolgen sie seitdem das Ziel, die Lebensqualität durch eine enge Zusammenarbeit und eine »umsichtige, langfristige, nachhaltige und aktive Planung« zu stärken. Inzwischen kann die Region auf viele gemeinsame Projekte und Erfolge zurückblicken: auf dem Gebiet des öffentlichen Nahverkehrs und auf wirtschaftlicher Ebene ebenso wie beim Umweltschutz, in der Jugendarbeit oder im Umgang mit Flüchtlingen.
Das vom Bregenzer Architekturbüro Cukrowicz Nachbaur nach einem Architektenwettbewerb realisierte Haus der Generationen in Koblach ist ein weiteres Projekt dieser bemerkenswerten Erfolgsgeschichte. Es befindet sich im Ortskern unweit des neuen Gemeindezentrums »DorfMitte« und bildet als Sozialzentrum nun einen weiteren wichtigen Treffpunkt für Jung und Alt.
Geleitet wird das von der Vorarlberger gemeinnützige Wohnungsbau- und Siedlungsgesellschaft gebaute Ensemble aus zwei Neubauten und einem Altbau von den Sozialdiensten Götzis, eine Gesellschaft der Gemeinde Götzis, die eine vergleichbare Einrichtung bereits bei sich im Ort betreibt.
Vernetzung von Innen und Aussen
Dass das zweigeschossige Pflegeheim, das dreigeschossige Wohnhaus und das ehemalige Versorgungsheim nicht zufällig nebeneinander stehen, ist auf den ersten Blick zu sehen. Alle drei sind architektonisch ähnlich zurückhaltend gestaltet und verfügen über warmtonige grau-beigefarbene Putzfassaden mit hell gerahmten Fenstern. V. a. aber bilden die frei stehenden, unterschiedlich großen und hohen Gebäude einen zur Landesstraße offenen Platzraum, der zum Verweilen einlädt. Dafür sorgen z. B. neutrale EG-Zonen, Bäume, ein Brunnen, Sitzbänke und nicht zuletzt der großzügige, überdeckte Eingangsbereich des Pflegeheims, der mit gelbgrünen Stühlen und Sonnenschirmen an den Außenbereich eines Cafés denken lässt. Dass dieser Eindruck nicht ganz falsch ist, wird beim Betreten des Gebäudes klar. Gleich nach dem Passieren des Foyers stehen Besucher nämlich in einem zum Platz und zu einem Innenhof raumhoch verglasten Raum mit weiteren Tischen und Stühlen, Kuchenvitrine und Ausgabetheke. Und tatsächlich ist dies weniger der Eingangsbereich eines Pflegeheims als vielmehr eine Art Cafeteria und Treffpunkt, an dem sich sowohl die Bewohner und Besucher des Pflegeheims als auch Menschen aus der Nachbarschaft aufhalten – zum Mittagessen, das hier nach Vorbestellung für jedermann möglich ist, zu Kaffee, Kuchen und kleinen Snacks am Nachmittag, oder zu Veranstaltungen.
Bei letzteren werden in der angrenzenden, professionell ausgestatteten Küche Speisen zubereitet.
Drei Raumschichten rund um einen Innenhof
Die bereits im Eingangsbereich spürbare Offenheit ist auch das wesentliche Merkmal im Innern des Pflegeheims. Grundsätzlich erfolgt die Grundrissorganisation um einen zentralen Innenhof, um den sich insgesamt drei Raumschichten anlagern: zunächst Nebenräume und kleine offene Gemeinschafts- bzw. Rückzugsbereiche, dann ein ringförmiger Erschließungsgang, der sich in der Südwestecke zu einem großen Wohnbereich aufweitet, und schließlich die 36 Zimmer der beiden nahezu identisch übereinander liegenden Wohnbereiche. Durch die Aufweitungen des Flurs – mal zum Dorfplatz bzw. zum rückwärtigen Dorfbiotop mit Bachlauf, mal zum Innenhof – entstehen vielfältige Raum- und Sichtbezüge, die das einfache quadratische Bauvolumen durchlässig machen und viel komplexer erscheinen lassen als es tatsächlich ist. Dank der räumlichen Unterschiede ist für die Bewohner immer nachvollziehbar, wo sie sich gerade befinden.
Für Klarheit sorgt auch die Tatsache, dass sämtliche zum Innenhof orientierten Flurwände verputzt und weiß gestrichen sind, und sämtliche Zimmerwände auf der anderen Seite – ebenso wie der Boden und andere Einbauten – in geölter Eiche erscheinen. Die angenehme Wohnatmosphäre in den gemeinschaftlich genutzten Bereichen entsteht durch die natürlichen Materialien und die abwechslungsreiche räumliche Kleinteiligkeit, aber auch durch die vielen alten Möbelstücke, die teils von Bewohnern stammen, teils hinzugekauft wurden. Ebenso sorgfältig ausgeführt sind die einzelnen Zimmer. Wie der Rest des Gebäudes, verfügen auch sie über hochwertige Detaillösungen: z. B. präzise eingepasste Eicheneinbaumöbel, die zugleich als Bad-Trennwand dienen. Diese Wände reichen nicht ganz bis zur Decke – einerseits, um das innenliegende Bad mit Tageslicht zu versorgen, andererseits, damit die Pflegekräfte bettlägerige Bewohner mithilfe eines Deckenlifters zum Duschen ins Bad bringen können. Die für den Lifter entlang der Zimmerwände nötigen Decken-Laufschienen sind in allen Zimmern vorhanden, Querbalken und Hebevorrichtung werden aber nur bei Bedarf eingebaut. Diese Einrichtung stört zwar das ansonsten harmonische Bild, bietet den Mitarbeitern jedoch eine erhebliche Erleichterung in der täglichen Pflege. Versöhnlicher ist da der Blick in die umliegende Natur, der dank der tiefen Brüstung der Fichtenholzfenster auch vom Bett aus gut möglich ist.
Aktive Gemeinschaft und teilnehmende Beobachtung
Unabhängig vom Pflegebedarf steht im Pflegeheim die Förderung der Gemeinschaft im Vordergrund. Und so gibt es im Wohnbereich neben viel Platz für Tische, Stühle, Sofas und eine Terrasse bzw. einen Balkon auch jeweils eine große offene Küche mit frei stehender Theke. Während die Hauptbestandteile des Mittagessens aus wirtschaftlichen Gründen im Haus der Generationen in Götzis gekocht und angeliefert werden, erfolgt die Zubereitung der Beilagen vor Ort. Die Küche wird natürlich ebenso zum gemeinsamen Backen, für Frühstück und Abendessen und Anderes genutzt. Selbst wenn sich Bewohner aus gesundheitlichen Gründen nicht direkt beteiligen können, so sind sie doch Teil des Ganzen.
Von dieser Art der teilnehmenden Beobachtung dürften viele Bewohner ebenfalls profitieren, wenn es im nächsten Jahr auf der dem Pflegeheim südlich vorgelagerten Wiese Hochbeete und Hühner geben wird. Gemeinsame religiöse Erlebnisräume eröffnet eine kleine Kapelle. Sie befindet sich am Gemeinschafts- und Veranstaltungsbereich über dem Haupteingang, vom dem aus eine Brücke den Übergang zum ehemaligen Versorgungsheim ermöglicht.
Das ehemalige Versorgungsheim als Teil des neuen Ensembles blieb baulich nahezu unverändert, wurde aber bei gleicher Raumaufteilung grundlegend renoviert und mit neuen Böden, Fenstern, Türen und Anstrichen versehen. Hier befinden sich die Büros der Hauskrankenpflege, des Mobilen Hilfsdiensts, der Elternberatung, der Gruppe »z’Kobla dahoam« und der Beratungsstelle für Gesundheit, Pflege & Koordination sowie Besprechungsräume.
Das dritte Gebäude am Dorfplatz ist ein Wohnungsbau mit 16 um einen zentralen Lichthof gruppierten, barrierefreien Wohnungen in den beiden unteren Geschossen und einer betreuten Wohngruppe für zwölf Personen mit maximal mittlerem Pflegebedarf im 2. OG. In den Wohnungen leben Menschen jeden Alters, auch junge Familien, die größtenteils ohne direkten Bezug zum Pflegeheim stehen. Es besteht für sie aber die Möglichkeit, einen Betreuungsvertrag abzuschließen und zeitweise oder dauerhaft verschiedene Angebote des Pflegeheims oder des Mobilen Hilfsdiensts zu nutzen: z. B. Funknotruf, Mittagessen oder kleinere Pflege-Dienstleistungen.
In der betreuten Wohngruppe mit Bewohnern verschiedenen Alters, aber ähnlichen Bedürfnissen geht es nicht in erster Linie um körperliche Pflege, sondern um die Unterstützung im Alltag. Aus diesem Grund stehen zwischen 7 und 21 Uhr Fachkräfte in der Wohnung für Hilfeleistungen zur Verfügung – nachts sind für Notfälle die Mitarbeiter des Pflegeheims zuständig. Die Ausstattung der Wohnbereiche entspricht den Standards des Pflegeheims – auch hier prägt geöltes Eichenholz das Bild. Die Zimmer werden von den Bewohnern komplett selbst eingerichtet.
Verantwortung für Mensch und Umwelt
Durch die Nutzungsmischung innerhalb der drei Gebäude ist in Koblach ein wirklich generationenübergreifendes Sozialzentrum entstanden, das Beratungs- und Betreuungsangebote für fast alle Altersgruppen bereithält. Und selbst wer hier keine Antworten findet, begegnet fachlich kompetenten Menschen, die wissen, wohin man sich mit Fragen wenden kann. Das gleiche Verantwortungsgefühl, das die Region »amKumma« für ihre Einwohner zeigt, hat sie seit Jahren auch für den Umweltschutz. Und so erscheint es den hiermit gut bekannten Architekten beim Rundgang fast schon nebensächlich zu erwähnen, dass Passivhaus-Standard erreicht wurde und selbstverständlich ökologische, heimische Baumaterialien zum Einsatz kamen. Errichtet wurden die Neubauten in Massivbauweise aus Tonziegeln mit Vollwärmeschutz aus Mineralwolledämmung und Fensterrahmen aus Fichtenholz. Heizwärme und Warmwasser werden mithilfe von Erdwärme erzeugt.
Und da sich die Einwohnerzahl Koblachs in den letzten 40 Jahren auf rund 4 500 fast verdoppelt hat, gibt es selbst für den Fall, dass der Bedarf an Pflegeheimplätzen weiter steigt, schon eine Lösung. Weil eine Aufstockung des Pflegeheims städtebaulich unverträglich wäre, haben die Architekten die Baukörper so platziert, dass in nördlicher Richtung auf dem eigenen Grundstück ein Erweiterungsbau errichtet werden könnte.db, Do., 2017.11.02
02. November 2017 Roland Pawlitschko
Offen für Veränderung
(SUBTITLE) Wohn- und Pflegeheim in Kornwestheim
Ein Bauherr, der gute Konzepte einfordert und unterstützt, bei der Umsetzung aber geizen muss. Beharrliche Architekten, die im Ringen um Qualitäten den Nutzer im Auge behalten. Ein Ersatzneubau des örtlichen Pflegeheims, der das Zeug dazu hat, als öffentlicher Anlaufpunkt für das gesamte Quartier wahrgenommen zu werden. Ein Spannungsfeld unter hohem Druck mit viel Potenzial.
Kornwestheim ist keine Perle – so wenig wie die meisten Mittelstädte im Stuttgarter Speckgürtel. Dass man hier gerne wohnt, liegt an der beschaulichen Unaufgeregtheit, viel Grün und an der exzellenten Verkehrsanbindung. Identifikationspunkt und Wohlstandsgarant war etwa 100 Jahre lang die Schuhproduktion, deren Protagonisten, die sozialpolitisch engagierten Brüder Ernst und Jakob Sigle, überall in der Stadt präsent sind. So liegen etwa das nach Ernst benannte Gymnasium (mit einem sehenswerten Erweiterungsbau von D’Inka Scheible Hoffmann Architekten, 2015) und das nach Jakob benannte Wohn- und Pflegeheim in fußläufiger Entfernung zum Jakob-Sigle-Platz, der guten Stube der Stadt mit dem markanten Rathaus von Paul Bonatz. Eine Spende des damals ortsansässigen Schuhkonzerns hat die Einrichtung des Heims im Jahr 1961 ermöglicht.
An die verschärften Anforderungen der Landesheimbauverordnung, die bis September 2019 größtenteils umgesetzt sein sollen, ließ sich dessen Bausubstanz nicht sinnvoll anpassen. So wurden Wulf Architekten, mit denen das Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg bereits beim »Haus am Kappelberg« in Fellbach (s. db 8/2008, S. 58) Pionierarbeit in Sachen Wohngruppenkonzept geleistet hatten, nach einer Machbarkeitsstudie direkt mit dem Ersatzneubau beauftragt.
Teilabriss und Baufortschritt beim neuen Pflegeheim konnten die Klienten aus dem verbliebenen Altbauteil beobachten. Dessen Abriss ist nun im Gange, bis 2019 wird an seiner Stelle ein dritter, separat stehender Flügel für betreutes Wohnen errichtet.
Die im Grundriss H-förmige Struktur des Pflegeheims nimmt pro Stockwerk zwei Wohngruppen à 15 Personen auf, wie vom Kuratorium Deutsche Altershilfe empfohlen, dazu jeweils eine helle, offene Wohnküche mit Außenbezug und an jedem Flurende eine Loggia. Um Raumdoppelungen zu umgehen, wurden Nebenräume für Pflege, Personal und Lagerung dem zentral gelegenen Erschließungsbereich zugeordnet. Allein schon an der räumlichen Optimierung lässt sich der Kostendruck erahnen, unter dem der Bau (nicht nur) dieses Projekts steht. Pflegekassen und Heimträger knapsen und bestehen auf Minimalforderungen, wo sie nur können. Um sich ein paar »Extras« leisten zu dürfen, mussten die Architekten beispielsweise eine reduzierte Etagenhöhe gegenrechnen – die glücklicherweise nur bei explizitem Hinweis ins Bewusstsein rückt, dann in den Fluren aber durchaus spürbar wird.
Dem gegenüber steht eine mit viel Überzeugungsarbeit durchgesetzte Erkerkonstruktion, die jedem der auf 14,7 m² begrenzten Bewohnerzimmer eine überraschende Großzügigkeit verleiht und für das Fehlen eines Balkons entschädigt. Zu diesem kleinen Luxus gehören ein Panoramafenster, das über die niedrige Brüstung hinweg auch vom Bett aus freien Blick nach draußen erlaubt, ein elektrisch betriebener, horizontal geführter Sonnenschutz, hinter dem man sich gut verstecken kann und der transparent genug ist, um die Außenwelt nicht ganz auszublenden, ein Lüftungsflügel und schließlich eine holzbekleidete Fensterbank, die – da es kaum Platz für Besuchermöbel gibt – zum Sitzen dienen kann. Gerne wird sie aber auch als Regal für allerlei Erinnerungs- und Sammlerstücke genutzt.
Für den Außenstehenden schwer einzuordnen ist die Entscheidung, alle übrigen Flächen komplett neutral zu gestalten und auch eine ganze Reihe weiterer Ausstattungsdetails wegzulassen. Wer großmütterliche Wohnzimmeratmosphäre erwartet, wird hinter den weißen und grauen, allenfalls brauntonigen Oberflächen und den Stahlzargen – deutlich robuster als Holz – zwangsläufig den Rotstift vermuten.
Tatsächlich handelten Bauherr und Architekten aber eine Anmutung aus, die sich möglichst am gewohnten Wohnumfeld der Bewohnerschaft orientiert, an den benachbarten Wohnblocks, deren Gemeinschaftsflächen durchaus nicht tapeziert oder farblich gefasst sind, und deren Privatbereiche den eigenen Vorstellungen entsprechen.
Zudem wurde explizit ein neutraler Hintergrund verlangt, auf dem »etwas wachsen« kann – die Bespielung und Gestaltung soll mit den Klienten ausgehandelt werden und sich mit der wechselnden Bewohnerschaft wandeln können. Mündigkeit wird vorausgesetzt und auch eingefordert und somit länger erhalten. So will man der oft beobachteten Falle entgehen, dass die Bequemlichkeit über die Eigenständigkeit siegt.
Dem entspricht auch die personelle Trennung von Pflegedienst, dem vorwiegend medizinisch-pflegerische Tätigkeiten obliegen, und Alltagsbegleitung, die mit den Bewohnern kocht und auf vielerlei Ebenen Sozialkontakte pflegt. Räumlich drückt sich dies im weitgehenden Fehlen typischer Krankenhaus- und Kontroll-Attribute aus: Das Stationszimmer kommt sehr gut ohne »Überwachungsfenster« aus. Es gibt keine Handläufe, da diese erfahrungsgemäß wegen des Einsatzes von Gehhilfen aller Art ohnehin so gut wie nicht genutzt werden und somit so wenig Sinn ergeben wie ausgebuffte Farb- und Leitkonzepte für Demente, die – ebenfalls ein Erfahrungswert – allzu oft viel zu abstrakt ausfallen und im Vergleich zu auffälligen Möbelstücken oder ähnlich markanten Punkten wenig ausrichten.
Als für das Wohlbefinden wichtiger wird die zirkadiane Flur-/Wohnküchenbeleuchtung angesehen, deren Lichttönung sich der Tageszeit anpasst. Wie meist kommt es auch hier weniger auf das konkrete Design an, als vielmehr auf die Angebote, die ein Gebäude macht.
Lang kann man über die mangelnde Ausführungsqualität, die dem Zwang zum allergünstigsten Angebot entspringt, lamentieren, über unsauber angebrachte Leisten, dicke Türprofile, unfähige Stuckateure, die eine ganze Wand neu verputzen mussten, weil nur einer unter ihnen die Besenstrichtechnik beherrschte, zerbeulte Bleche, endlose Listen von Nacharbeiten …
Dies alles tritt jedoch vor der angenehmen Atmosphäre, die sich beim Besuch der Einrichtung erspüren lässt, zurück, beim Gottesdienst, beim Musizieren, in den Wohnküchen und in den einzelnen Zimmern wie auch in den Räumen der angegliederten Tagespflege im EG. Bewohner und Personal bringen sie mit.
Die rigide Reihenstruktur der gesetzlich geforderten Einzelzimmer lässt sich mit den Zimmertrennwänden in Leichtbauweise bei Bedarf verhältnismäßig leicht aufbrechen und in Doppelzimmer für Paare überführen, wie es sie bereits vereinzelt im obersten Stockwerk gibt.
Der Speise- und Veranstaltungssaal, den man sich als öffentlichen Anlaufpunkt für das gesamte Quartier wünscht und der als solcher durchaus angenommen wird, lässt sich durch mobile Trennwände unterteilen. Ein Friseursalon und Therapieräume für interne Leistungen wie auch externe Anbieter knüpfen zarte Bande zur Außenwelt, genauso wie die Freibereiche, die jeweils von stumpfwinklig gestoßenen Außenwänden umarmt und geschützt werden. Mit offen empfangender Gestik wirkt das Gebäude in den Straßenraum hinein. Ein wenig fremdartig nimmt es sich schon aus; und so mancher Passantenkommentar zeugt von Gewöhnungsbedarf. Im Grunde schafft es aber den Spagat zwischen der legitimen Auffälligkeit eines Sonderbaus und der Anmutung eines – eigentlich ganz normalen – Wohnhauses.
So haben die Architekten aus der Bauaufgabe und innerhalb des gegebenen Kostenrahmens das Beste herausgeholt und eine gute Grundlage bereitet, auf der das Heim samt dem zweiten Bauabschnitt als selbstverständlicher Wohnbaustein in die öffentliche Wahrnehmung einsinken und sich zu einer Art Quartiersmittelpunkt weiterentwickeln kann.db, Do., 2017.11.02
02. November 2017 Achim Geissinger
Raumgefüge
(SUBTITLE) Pflegewohnheim »Ingrid Leodolter Haus« in Wien Rudolfsheim-Fünfhaus (A)
Deutlich größer als Pflegeheime in Deutschland, bietet der innerstädtisch gelegene Komplex Raum für 328 Pflegeplätze und einen Kindergarten. Er zeichnet sich durch eine ideenreiche Konzeption mit großzügigen Bewegungs- und Aufenthaltsflächen und ein Raumzonenprinzip mit kluger Zimmer- und Farbgestaltung aus.
Es ist nicht die Namenspatronin Ingrid Leodolter (1919-86, Ärztin und verdienstvolle österreichische Gesundheitsministerin), die die Besucher im Eingangshof des Altenwohn- und Pflegeheims empfängt. Es ist Kaiserin Sisi, die von ihrem Denkmalsockel grüßt. Sie tut das schon seit 125 Jahren, denn auf diesem Grundstück unweit des Westbahnhofs stand zuvor das Kaiserin-Elisabeth-Spital. Im Zuge der Umorganisation der Wiener Krankenhäuser wurde das Spital 2012 im Rahmen des Wiener Geriatriekonzepts von 2007 in ein Pflegewohnhaus des Wiener Krankenanstaltenverbunds umgewidmet. Die Baulichkeiten waren dafür jedoch ungeeignet und mussten zum Großteil dem Bau eines modernen Pflegeheims weichen. Sisi durfte bleiben.
Der Neubau am Kardinal-Rauscher-Platz ist als Pflegeheim ein wirklich großes Haus mit immerhin 324 Wohn- und Pflegeplätzen, das einen ganzen Straßenblock einnimmt. Mit vier Geschossen und einer Staffelung nach Süden passt es sich in seiner Höhenentwicklung der geschlossenen Blockbebauung des 15. Bezirks Rudolfsheim-Fünfhaus an. Als Baukörper freilich tritt das Haus unmissverständlich auf den Plan. Die Architekten machten gar nicht erst den Versuch, 100 bzw. 115 laufende Meter Bewohnerzimmer zu kaschieren und die horizontal dahineilenden Fassaden in einzelne »Häuser« zu gliedern, um sich den Proportionsverhältnissen im Quartier anzupassen. Eigentlich ist man bei einem solchen Haus bemüht, das betreute Dasein der Bewohner und Patienten soweit als möglich der Normalität des Wohnens anzunähern. Doch weit, zu weit entfernt sich das Haus typologisch von der Wohnumgebung und wird, zumindest in der Außenansicht, eher als Krankenhaus gelesen.
Im Innern allerdings wandelt sich das Bild. Hier sind die großen Geschossflächen und langen Zimmerfluchten nicht durch serielle Ordnungsschemata auf übliche Weise bewältigt worden, sondern man hat sie als Chance für eine geniale Grundrissdisposition genutzt. Drei frei geformte, unterschiedlich gestaltete und bepflanzte Lichthöfe bilden ruhige Aufenthaltsbereiche und Orientierungsorte. Ein vierter Hof dient als geschützte Vorfahrt und ist mit Zugängen zum öffentlichen Café und zum Versammlungsraum eine der Schnittstellen zwischen Pflegeheim und Außenwelt.
»Keine Gänge, Marktplätze!« war das Credo der Architekten, und in der Tat gibt es im Normalgeschoss, das 100 Zimmer und zahlreiche Serviceräume umfasst, keinen einzigen herkömmlichen Flur, sondern ein offenes Raumkontinuum, in dem spielerisch Aufenthaltsbereiche und Ruhezonen organisiert sind. Wenige, unauffällige Glastüren unterteilen diese Erschließungs- und Kommunikationszone in Brandabschnitte und Stationen. Glasfronten zu den Innenhöfen sorgen für Transparenz, Durchblicke und eine großzügige Belichtung. Die Bewohner können stationsübergreifende, abwechslungsreiche Rundgänge absolvieren und auf einer Etage einen halben Kilometer flanieren, ohne den Gebäudekomplex verlassen zu müssen. Zusätzlich gibt es nach allen vier Himmelsrichtungen gläserne Erker mit freiem Ausblick entlang der Straßen und in einem Fall bis hin zum Stephansdom.
Alle Patienten- und Bewohnerzimmer liegen an den Außenfassaden und haben durch die vorgelagerten Loggien ausnahmslos den Bezug zur umgebenden Stadt. Innen grenzen sie jeweils mit einer Nische, einem individuell gestaltbaren Verweilplatz vor der Wohneinheit (innere Loggia genannt) an die gemeinschaftliche Erschließungs- und Aufenthaltszone. So kommt ein sehr subtiles Raumgefüge mit unterschiedlichen Privatheitsgraden zustande, das den Bewohnern je nach Befindlichkeit die Wahl des Aufenthalts und unterschiedlich intensiver Kommunikationsmöglichkeiten freistellt, von der eigenen Loggia über das intime Zimmer, die etwas geschützte Innenloggia, die offenen Marktplätze bis zu den wiederum geschützteren, aber gemeinschaftlichen Ruhe- und Aufenthaltsbereichen. Durch den offenen Bewegungs- und Aufenthaltsraum entstand ein in Nutzungsbereiche und Raumzonen unterschiedlichen Charakters gegliederter Lebensraum, der den Bewohnern je nach Wunsch Rückzugsorte bietet oder Teilhabe am sozialen Austausch ermöglicht. Die Betten in den Zimmern sind so positioniert, dass auch bettlägerige Bewohner durch Öffnen der Doppeltüren zur Loggia und zum Marktplatz hin am Stationsleben und am Stadtleben zumindest passiv teilnehmen können.
Ein ausgeklügeltes Farbkonzept, das auf den ersten Blick etwas unmotiviert bunt erscheinen mag, zoniert die Bereiche, erleichtert die Orientierung und sorgt für eine heitere und offene Atmosphäre, die den betagten Bewohnern gut tut und den Mitarbeitern bestmögliche Arbeitsbedingungen garantiert. Dies gilt v. a. für die Demenz-Station. Deren Freifläche im nordwestlichen Innenhof ist unter besonderen Gesichtspunkten der Orientierung und des Aufenthalts von Demenzkranken gestaltet worden (u. a. mit Rundweg und Buswartehäuschen), da viele von ihnen das Haus nicht verlassen können. Die Zuwendung der Architektur den Bewohnern gegenüber ist deutlich zu spüren und überträgt sich auch auf die Mitarbeiter.
Das Ingrid Leodolter Haus vereint unter einem Dach sozialmedizinische Betreuung, eine Station für Kurzzeitpflege, neun Stationen für Langzeitpflege sowie zwei Stationen für Demenzkranke. Es gab deshalb anfangs kritische Fragen wegen der Größe des Hauses und des »unpersönlichen Massenbetriebs«. Die Praxis zeigt jedoch, dass die Größe durch die architektonische Konzeption und die gestalterischen Mittel beherrscht wird. Und dass diese Größe andererseits den Bewohnern ein Maximum an Bewegungsraum, Lebensqualität und Abwechslung bietet, denn es ist immer viel los im Haus. Mit seiner innerstädtischen Lage, der leichten Erreichbarkeit für Angehörige, mit seiner integrierten Nutzungsstruktur und seiner Vernetzung mit dem umgebenden Wohnquartier u. a. durch Café, Friseursalon und den großen Kindergarten mit fünf Gruppen, der zum großen Teil von Mitarbeiterkindern besucht wird, ist es ein Musterbeispiel dafür, wie die Gesellschaft mit dem wachsenden Anteil an Senioren und Pflegebedürftigen umgehen kann, ohne sie auszugrenzen.db, Do., 2017.11.02
02. November 2017 Falk Jaeger