Editorial

Im Oktober 2016 führte unsere Leserreise entlang der Côte d’Azur (vgl. TEC21 48/2016) zu Feriensiedlungen aus der Nachkriegszeit. Zu den Höhepunkten gehörten Les Sablettes und Bandol bei Toulon und La Grande Motte bei Montpellier. Wir fanden die Anlagen so spannend, dass wir ihnen nun ein ganzes Heft widmen – sozusagen als Reisenachtrag.

Die Geschichte dieser Siedlungen ist in Frankreich eng mit dem verbunden, was uns heute so selbstverständlich scheint – einige Wochen bezahlten ­Urlaubs. Für den neuen Massentourismus musste der Staat nach dem Krieg Ferienorte schaffen. Neben der Natur war spannende Architektur gefragt, um möglichst viele Feriengäste anzu­ziehen. In Südfrankreich gibt es dafür Bei­spiele, die uns bis heute durch ihre Eleganz, ihre Monu­menta­lität oder ihre Schlichtheit faszinieren. Seit ihrer Entstehung sind viele Jahrzehnte verstrichen, und einige stehen unter Denkmalschutz. Ob und wie aber die Bauten, die funktional und energetisch nicht mehr den Ansprüchen unserer Zeit entsprechen, renoviert werden, ist unklar.

Die Anlagen werfen auch Fragen nach dem Umgang mit der Umwelt auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch grosse Landreserven.

Der heute zersiedelte Freiraum des Littorals wird in Frankreich immer knapper, und der Siedlungsdruck auf die Küste steigt – beides Themen, die uns im Zusammenhang mit schützenswerten Bauten aus der Mitte des letzten Jahrhunderts und den Gewässerräumen auch in der Schweiz beschäftigen.

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Amalgam aus Alt und Neu

11 PANORAMA
Der Ruf der Berge gerät ins Rutschen

13 VITRINE
Junge Designtalente an der «neue räume 17» | Neues aus der Baubranche | Weiterbildung

16 SIA
Arbeitszeitkontrolle – kein lästiges Übel, sondern wichtig | Planen und Bauen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede

20 VERANSTALTUNGEN

THEMA
22 FERIENARCHITEKTUR AN DER COTE D'AZUR

22 MODERNE ATHÉNA
Stéphanie Sonnette
Zwei Riegelbauten von Jean Dubuisson zeigen einen nachhaltigeren Umgang mit der Küste als viele neuzeitliche Bauten.

26 UNBEDACHT VERWANDELT
Florence Cyrulnik
Die Qualitäten der schlichten Architektur von Fernand Pouillon im Feriendorf Les Sablettes wurden lange Zeit verkannt.

30 VERLORENES PARADIES
Danielle Fischer
Die Ferienstadt La Grande Motte fasziniert Architekten und Badegäste. Ihr jahrzehntelanger Auf- und Umbau dauert bis heute an.

AUSKLANG
33 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Moderne Athéna

Die Riegelbauten von Jean Dubuisson in Bandol bei Toulon ­veranschaulichen den Wandel in der Wahrnehmung von ­Tourismusbauten: Wurden sie noch vor einiger Zeit als landschaftszerstörend geschmäht, gelten sie heute als effizient, was ihren Fussabdruck betrifft.

Postkarten aus der Nachkriegszeit zeigen die südfranzösische Ortschaft Bandol umrahmt von Weinbergterrassen, die vom Küstendorf bis hoch in die Hügel des Hinterlands reichen. Der schwere, dunkle Rotwein aus Bandol, den der amerikanische Schriftsteller Jim Harrison besonders liebte, wird hier noch heute produziert, doch die Weinberge wurden in die abgelegenen Täler zurückgedrängt. Das einstige Anbaugebiet ist heute, wie die ganze Küstenregion im Département Var, grossflächig von stilistisch bunt gemischten, hinter blickdichten Einfriedungen versteckten Ferienhäuschen besiedelt.

Der Weg zur Ferienresidenz Athéna führt zuerst eine Weile auf gewundenen Strassen durch eine nicht sehr reizvolle Bungalowlandschaft, bis der Weg endlich vor einem gut gesicherten Tor endet. Die Ferienanlage liegt am Rand des bebauten Gebiets, direkt an der steilen Kalksteinküste, die den Erosionskräften ausgesetzt ist. Der Architekt Jean Dubuisson entwarf die Anlage von 1963 bis 1975 und gliederte das spektakuläre Gelände in einem 15 ha grossen Pinienwald durch zwei genau rechtwinklig zueinander stehende, fast gleich lange Riegel: In präziser Ost-West-Ausrichtung ­platzierte er auf einer bewaldeten Terrasse das vier­geschossige 4-Sterne-Appartementhotel Résidence Athéna. Direkt am Wasser liegt das achtgeschossige Appartementhaus Athéna-Port in Nord-Süd-Ausrichtung. Beide Häuser teilen sich einen parallel zum Hotel über der Steilküste gelegenen Pool mit atemberaubendem Ausblick. Zwischen Pinien führt ein Fussweg vom Hotel in eine Bucht, in die ein ebenfalls zur Anlage gehörendes kleines Tal mündet. Hier hat der Pinienwald die einst kultivierten Terrassen längst zurückerobert.

Ebenmässig neutral …

Résidence Athéna ist der erste Gebäuderiegel, den man zu sehen bekommt, wenn man durchs Aussentor tritt. Er liegt versunken in einer Landschaft aus Pinien, Eukalyp­­tus­bäumen und gepflegter Mittelmeervegetation, die als kleinteiliger Raster die Länge und Regelmässigkeit der Fassade bricht. Hinter der Fassade befand sich einst ein 4-Sterne-Hotel mit Restaurant. Wegen Gästemangels mussten beide in den 1980er-Jahren schliessen. Geblieben sind nur noch die Rezeption, die grosse Halle und der riesige Eingangsbereich mit ausladendem, holzgeschmücktem Vordach. Die Entwürfe von damals deuten Bar, Schaufenster und Restaurant mit edlem Mobiliar nach Entwürfen des Innenarchitekten Pierre Guariche an. Die grosse Halle ist heute ein leerer Raum, und die Originalmöbel sind bis auf wenige ­Ausnahmen verschwunden.

Wie immer sind Jean Dubuissons Grundrisse einfach und rational. Auf jedem Stockwerk des Betonbaus erschliesst ein zentraler Flur die beidseitig angeordneten Studios, die entweder nach Osten oder nach Westen gehen. Mit Ausnahme der Appartements im Dachgeschoss sind alle Studios identisch. Ihre Grösse wird durch den Raster der tragenden Innenwände bestimmt. Die jeweils 35 m² grossen Rastereinheiten sind in drei Räume geteilt: einen Küche-Bad-Schrank-Block beim Eingang, einen Hauptraum und eine ziemlich breite, etwa 50 cm tiefer gelegte Loggia. Die Deckenhöhe variiert: Sie ist tief im Küchen-Bad-Bereich, höher im Wohnbereich und wieder tiefer in der Loggia. Letztere ist mit zwei Holzbänken ausgestattet, die zu einem Doppel- oder zwei Einzelbetten ausgezogen werden können. Diese Details, die darauf abzielten, in den Studios abwechslungsreiche Raumwirkungen und Atmosphären zu schaffen, gingen bei verschiedenen Renovationen verloren. Die ursprünglich offenen Loggias sind nun geschlossen, und die Küchen-Bad-Blöcke wurden vollständig umgestaltet. In einigen Studios zogen die Bewohner wieder Wände ein, um Zimmer abzutrennen, in anderen entfernten sie alle Zwischenwände.

… oder reliefartig rhythmisch

Unterhalb des Appartementhotels, direkt am Wasser, liegt der zweite Gebäuderiegel: Athéna-Port. Der schmalere, aber mit acht Stockwerken wuchtigere Bau steht fast schon brutal in der Landschaft. Vom Meer aus gesehen, hebt er sich durch sein blendendes Weiss stark von der Umgebung ab. Auf der Nordseite trennt ihn eine kühle und schwindelerregende Schlucht vom gegenüberliegenden Hang. In die Tiefe führt eine gewundene, begrünte Treppe, die angenehm mit dem nüchternen Beton der Südfassade kontrastiert. Von dieser Treppe aus sind alle Geschosse über breite Laubengänge erschlossen, die zu den Appartements mit unterschiedlicher Typologie führen.

Gegen Süden, zum Meer hin zeigt sich der auf einer Seite in den Hang gebaute Gebäuderiegel in seiner ganzen Grösse. Im Gegensatz zur neutralen, ebenmässigen und sehr homogenen Fassade des Hotelbaus ist die Hülle des Hauses Athéna-Port rhythmisch und reliefartig gestaltet. Aus einem zweigeschossigen Sockel, in dem Maisonettewohnungen untergebracht sind, wachsen sechs Appartementgeschosse, wobei das oberste vor allem grossen Dachterrassen Platz bietet. An der Fassade wechseln sich betongerahmte Öffnungen mit Loggias ab. Auch hier haben die Nutzer die Loggias und Balkone nach und nach geschlossen. Dadurch entstand eine ebenmässigere Fassade, und der vom Architekten beabsichtigte Kontrast zwischen offenen und geschlossenen Flächen ging verloren.

Zugang zum Meer für alle

Zur Ferienresidenz gelangt man am besten mit dem Auto. Innerhalb der Anlage gibt es aber nur Fusswege. Alle Autos müssen auf zwei Parkplätzen vor dem Eingang abgestellt werden. Nur eine Zufahrt zum Ein- und Aussteigen beim ehemaligen Hotel und eine weitere zum Abladen der Boote im Jachthafen dürfen kurzzeitig befahren werden. Interessant ist der Parkplatz des Hauses Athéna-Port. Er liegt auf einer Terrasse am Hang, auf gleicher Höhe wie das oberste Stockwerk, aber auf der anderen Seite der Schlucht. Ein Steg verbindet ihn mit dem obersten Laubengang der Residenz, von wo aus ein vom Gebäude unabhängiger Aufzug- und Treppenturm die übrigen Stockwerke erschliesst.

In den späten 1960er-Jahren durfte noch jedermann direkt ans Meer bauen. Freier Zugang zum Meer, Umwelt-, Natur- und Landschaftsschutz waren noch kein Thema. Als jedoch die Auswüchse der Immobilien­spekulation an den Küsten zunahmen, wurde 1986 das Küstengesetz verschärft. Fortan durften ausserhalb der bebauten Zonen in einem 100 m breiten Uferstreifen keine neue Bauten mehr erstellt werden. Ausserdem wurde an jeder Küste auf 3 m Breite ein Wegrecht eingeräumt: der «sentier littoral». So musste auch die Résidence Athéna einen öffentlichen Fussweg durch die Anlage einrichten, mit Metallstegen, hohen Gittern und codegesicherten Toren. Die Passage ist Teil des Küstenwegs, der von Bandol nach Saint-Cyr-sur-Mer führt.

Frühe Nachhaltigkeit?

Besonders der Bau von Athéna-Port – mitten in der ­Natur – hat die Küste zweifellos beeinträchtigt. Man könnte sagen, das Projekt habe zur «Zubetonierung der Küste» beigetragen hat und sei ökologisch bedenklich. Betrachtet man allerdings das im ganzen Département Var vorherrschende raumplanerische Laisser-faire – die von Tausenden kleinen Häuschen übersäten Hügel, die Zufahrtsstrassen –, dann kann man auch zur Ansicht gelangen, dass das Projekt Athéna eine nachhaltige und bis heute gültige Lösung für den Massentourismus darstellt. Die intelligente Anordnung der Gebäude, die gezielte Dichte, die einen Grossteil der Anlage in natürlichem Zustand belässt, die Autofreiheit und die gemeinsame Nutzung der Anlagen (Pool, Tennisplätze) sprechen dafür. Jeden Sommer kommen in einem bewaldeten, autofreien Gebiet mehrere hundert Gäste in nur zwei Häusern unter.

Der Schwachpunkt der Gebäude ist ihre geringe Energieeffizienz. Die Betonbauten verfügen weder über eine Wärmedämmung noch über natürliche Klimatisierung. Die gegen Süden ausgerichteten Wohnungen in Athéna-Port und die nur auf eine Seite ausgerichteten Studios in der Residenz sind im Sommer Glutöfen. Deshalb sind mittlerweile fast alle Appartements mit Klimaanlagen ausgestattet. Auch wenn die Wohnungseigentümer individuelle Lösungen zu bevorzugen scheinen, sollte angesichts des wohl bald schon nordafrikanischen Klimas an der Mittelmeerküste für die Klimatisierung eine Lösung angestrebt werden, die die Einzelmassnahmen vereinheitlicht. Ob Massnahmen für eine Fassadenisolation nötig sind und ästhetisch befriedigend ausgeführt werden können, bleibt offen.

[Übersetzung: Wulf Übersetzungen]

TEC21, Fr., 2017.11.10

10. November 2017 Stéphanie Sonnette

Unbedacht verwandelt

Die Qualitäten der schlichten Architektur von Fernand Pouillons Feriensiedlung Les Sablettes bei Toulon haben Bewohner und Architekten lang verkannt. Erst seit der Jahrtausendwende widmen sich staatliche und private Stellen der Restauration und dem Erhalt des Dorfs.

Das Quartier Les Sablettes liegt auf der Halbinsel Saint-Mandrier-sur-Mer, die die Bucht von Toulon vom Mittelmeer trennt. Während Les Sablettes bis ins 19. Jahrhundert bis zum Strand hauptsächlich aus Agrarland bestand, erfuhr die angrenzend auf dem Festland liegende Stadt La Seyne-sur-Mer nach dem Bau mehrerer Werften einen Aufschwung. Doch als das Bürgertum das Land entdeckte und immer mehr Städter aus der Region im ­Sommer Abkühlung am Meer suchten, entstanden auf den Landwirtschaftsflächen Unterkünfte für Sommerfrischler – je nach Zahlungskraft der Eigentümer Hütten oder Villen. Nach dem Anschluss von Toulon und La Seyne-sur-Mer ans Eisenbahnnetz kamen zunehmend Gäste aus ganz Frankreich und dem Ausland in die Gegend.

Blütezeit und Kriegsnarben

Der im benachbarten Sanary geborene Marineoffizier und Händler Michel Pacha erkannte 1873 die Zeichen der Zeit. Er begann in Les Sablettes, im heutigen Stadtteil Tamaris, eine Anlage mit eleganten Villen und üppi­ger Vegetation für Winteraufenthalter zu bauen. Schon bald stellte Pacha fest, dass Aufenthalte auch im Sommer immer beliebter wurden. So errichtete er ab 1887 die Casinos Sablettes-les-Bains und Tamaris und ein Jahr später das Grandhotel. Da mit den vielen Gästehäusern die Nachfrage nach Dienstleistungen stieg, nahm auch die ständige Bevölkerung des Seebads zu. In der Folge entstand eine Schule für die Kinder der Zugezogenen und der Fischer. Les Sablettes verfügte auch früh über Annehmlichkeiten wie ein Casino, eine Kapelle, ein Strandhotel, Läden, Restaurants und war durch Zug, Tram und Passagierschiffe gut ­er­schlossen.

Michel Pacha starb 1907, doch Les Sablettes wuchs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kräftig weiter. Auch der Erste Weltkrieg tat dem Touristenstrom keinen Abbruch. Die Einführung bezahlter Ferien ­steigerte die Besucherzahl zusätzlich. Les Sablettes entwickelte sich zu einem Wohnquartier von La Seyne-sur-Mer mit Touristenandrang im Sommer. Die traditionell provenzalischen Bauten wandelten sich ab der Zwischenkriegszeit hin zu einem eklektisch und orientalistisch geprägten Stil mit neoregionalistischem ­Einschlag.

Im Zweiten Weltkrieg besetzten deutsche und dann italienische Truppen die Region. Sie befürchteten eine Landung der Alliierten und sicherten den Strand mit Stacheldraht und Bunkern. Anfang 1944 ordnete Rommel die Zerstörung des an den Strand grenzenden Stadtteils an. Nur die als Beobachtungspunkt und als Truppenunterkünfte genutzten Villen Jacqueline, Les Fauvettes und das Grandhotel blieben verschont. Bereits im August 1944 wurde die Region Toulon aber befreit.

Mit der Wiederherstellung von Les Sablettes beauftragte das französische Ministerium für Wiederaufbau und Stadtplanung ab 1950 den Architekten ­Fernand Pouillon. Die Nachkriegsarchitektur war geprägt von den Werken und der Lehre Le Corbusiers und dem damit verbundenen grosszügigen Einsatz von Beton. Dass der Wiederaufbau von Les Sablettes zwischen 1950 und 1953 Fernand Pouillon übertragen wurde, kam deshalb einer Provokation gleich.

Der Architekt entwarf einen Lebensraum, der sich städtebaulich bis heute bewährt. Die Schönheit der Umgebung und die Werke seiner Künstlerfreunde ergänzten die schlichte Architektur. Das Programm umfasste unter anderem die Hotels Provence-Plage und Rives d’Or, das Kurhotel Miramar, einen Marktplatz, Arkaden, Brunnen, eine Apotheke, eine Metzgerei, einen Nachtclub, Treppen zum Strand und eine Tankstelle. Viele Badeorte am Mittelmeer nahmen sich Pouillons Modell später zum Vorbild.

Von der Zerstörung zum Schutz

Mit der Zeit nahmen Plakatwände, zugestellte Passagen und wilde Abbruch- und Bauprojekte im begehrten Touristenort überhand. Erst in den 1980er-Jahren begann sich die regionale Kulturbehörde Directions régionales des affaires culturelles (DRAC) um die Abwertung des «Pouillon-Dorfs» zu sorgen. Deshalb beauftragte die Stadt La Seyne-sur-Mer 1991 und 1996 den Architekten Rudy Ricciotti, Sanierungsmassnahmen zu planen.

Im Jahr 2000 zeichnete die DRAC den Badeort mit dem Label «Kulturgut des 20. Jahrhunderts» aus. 2005 wurde Ricciottis Projekt in die Architektur-, Ortsbild- und Landschaftsschutzzone (ZPPAUP) Balaguier –Tamaris – Les Sablettes aufgenommen. Es bildete die Grundlage für die Bauauflagen, die die Stadt im Rahmen der 2016 bestätigten Architektur- und Landschaftsentwicklungszone AVAP für das Pouillon-Dorf festlegte.

Ende der 1970er-Jahre wurde ein riesiges Immobilienprojekt gestartet. Die Landbrücke von Les Sablettes wurde verbreitert und die Familienpension «Les Portes du Soleil» samt ihren charakteristischen Arkaden abgebrochen. Die Instabilität der Landaufschüttung beendete das Vorhaben. Bis zu dem Zeitpunkt waren jedoch mehrere Bäume gefällt, anstelle der alten Pension ein viergeschossiges Renditeobjekt erstellt und vor dem Amado-Brunnen ein Kebapstand und eine gedeckte Terrasse installiert worden. Über dem Durchgang zur Metzgerei befindet sich bis heute eine Buchhandlung, und in den Arkaden machen sich Geschäfte der Ladenpassage «Boutiques Nord» mit Schaufenstern bis zum ­Trottoirrand breit. Das ehemalige Miramar ist ein fensterloser Nachtclub, der Innenhof dient als Warenlager, und im Durchgang befindet sich eine Restaurantküche. Das zuerst mehrere Jahre als Seniorenresidenz genutzte Grandhotel Le Golfe stand 15 Jahre lang leer. Zurzeit wird es wieder in ein Hotel verwandelt.

Von Anfang an haben die Bewohner versucht, ihren Lebensraum zu vergrössern, indem sie Loggias schlossen, Arkaden in Beschlag nahmen und verstellten oder provisorische Verkaufsstände anbauten. Die Gewerbeflächen sind in der Regel klein, vor allem für Res­taurants und Bars, die strenge Hygienevorschriften erfüllen müssen. Oft werden die Terrassen gedeckt, um darauf die Küchen unterzubringen.

In einigen langjährig bestehenden oder einst sogar bewilligten Fällen ist eine Rückkehr zum Ursprungszustand unwahrscheinlich. Die Stadt hat aber mit der Beratungsstelle für Architektur, Stadtplanung und Umwelt (Conseil Architecture Urbanisme Environnement) des Départements Var einen Gestaltungsplan für die Aussenterrassen beim ehemaligen Hotel Pro­vence-Plage am Meer erstellt. Ein Architekt koordiniert den Aufbau rückbaubarer, temporärer und bei Erstellung gebührenpflichtiger Metall- und PVC-Elemente. Eine geschlossene und überdachte Terrasse kann ganzjährig stehen bleiben. Die Tische beim Strand dürfen jedoch nur von April bis November mit einer Sonnenschutzpergola versehen werden. So ist im Winter der Blick auf die Landschaft, das Cap Sicié und die legendenumwobenen Felsen Les Deux Frères wieder frei.

Das Pouillon-Dorf erfüllt noch heute, 65 Jahre nach seiner Entstehung, seine städtebauliche Funktion erstaunlich gut. Da das ganze Gebiet denkmalgeschützt ist, besteht auch keine Gefahr mehr, dass überrissene Immobilienprojekte das Ortsbild zerstören. In den letzten 15 Jahren haben Ausstellungen und Führungen mit Aufnahmen aus der Entstehungszeit der Bauten die Situation verbessert. Viele Bewohner haben verstanden, dass sie an einem besonderen Ort, in einem geschützten Kultur- und Naturraum leben. Einige Bauherren haben die Tipps für vorbildliche Renovationen umgesetzt, so etwa die Bank Crédit Lyonnais für ihre Ladenpassage «Boutiques Sud», das Hotel Miramar oder das Restaurant La Piazza auf der Place Lalo.

Die Stadt La Seyne-sur-Mer unterstützt Bauherren punktuell bei der Finanzierung von Zusatzkosten, die durch die Bauauflagen entstehen. Ein Beispiel war die Instandsetzung der Holzbrüstung am Hotel Miramar nach den Originalentwürfen von Fernand Pouillon. Für Bauarbeiten, die von der staatlichen Denkmalpflege (Architecte des Bâtiments de France) bewilligt wurden, wird in Zusammenarbeit mit der Stiftung Fondation du Patrimoine das gleichnamige Label vergeben – es berechtigt zu einer teilweisen oder vollständigen steuerlichen Absetzung der Baukosten.

Veränderungen in neuerer Zeit

Das grosse Verkehrsaufkommen in der Sommersaison lässt sich nur durch den Ausbau des öffentlichen Verkehrs bewältigen, etwa durch Buslinien und vor allem Pendelboote zwischen Les Sablettes und Toulon sowie durch die geplante Linie zwischen Les Sablettes und La Seyne. Das Parkplatzangebot ist im Sommer unzureichend. Ausserdem muss ein in der AVAP vorgesehener Veloweg entlang der Küste und der Avenue Général de Gaulle, die ins Stadtzentrum führt, geschaffen werden. Zurzeit arbeitet die Stadt an der Beschriftung derWerke, die mit Fernand Pouillon befreundete Künstler geschaffen haben – darunter Jean Amado, Louis Arnaud, Philippe Sourdive, Carlos Gonzalez und Gilbert Mouret.

Die Renovation des Grandhotels in ein 5-Sterne-Hotel der Hilton-Kette weckt den Wettbewerbsgeist einiger Bars, die von dieser touristischen und kulturellen Aufwertung profitieren wollen. Die Hilton-Gruppe hat sich wegen des aussergewöhnlichen Potenzials für Les Sablettes entschieden: ein Sandstrand zu Füssen und harmonische Architektur im Blick. Da nimmt man sogar architektonische Auflagen und jahrelange Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten in Kauf.


[Übersetzungen: Wulf Übersetzungen]

Bibliografie:
Jean-Lucien Bonillo: Fernand Pouillon, Librairie de l’Architecture et de la Ville, 2001.
Bernard Félix Dubor: Fernand Pouillon, Electra Moniteur, 1986.
Julien Gomez-Estienne et Pascal Monforte: Sablettes-les-Bains, édition de la Nerthe, 2004.
François Goven: Fernand Pouillon, éditions Archives de France, 2011.

TEC21, Fr., 2017.11.10

10. November 2017 Florence Cyrulnik

Verlorenes Paradies

Die expressive Ferienanlage La Grande Motte in der Nähe von Montpellier fasziniert bis heute viele Architekten: Nach einer fulminanten Gründungszeit zu Beginn der 1960er-Jahre befand sich die Stadt während 20 Jahren im Aufbau. Noch immer ist ihr Wandel nicht abgeschlossen.

Wie aufgeblähte Segel, die gerade zur Fahrt übers Meer ansetzen, liegen die Hotel- und Appartementgebäude von La Grande Motte am Strand. Die filigranen Veranden und Balkone verleihen den riesigen Betonbauten Leichtigkeit. Von der anderen Seite des Hafenbeckens aus gesehen, am Point Zéro, stehen sie mit diesem Ausdruck symbolisch für den Schwung, den Enthusiasmus und die Zuversicht ihrer Erbauer.

Ihr Planungsbeginn ab 1963 fiel in die Blütezeit der «Trente Glorieuses»[1] und des damit verbundenen Wirtschaftswachstums. Es war auch die Zeit der Unabhängigkeit vieler Kolonien Frankreichs und der moralischen, künstlerischen, wissenschaftlichen Revolutionen und Umwälzungen – die politische stand unmittelbar bevor. Nicht jede Befreiungsbewegung triumphierte, aber insgesamt kündigten sie eine neue Zeit an, für die La Grande Motte formal, funktional und bezüglich der Geschwindigkeit seiner Entstehung in der erste Etappe repräsentativ erscheint.

Mission für die Massen

Die Mission Racine[2], die der architektonischen Vision von La Grande Motte vorausging, war ein Plan, das Gebiet zwischen Petit Rhône und Albères in der Camargue entlang von 180 km Meeresküste zu einer Tourismusdestination zu machen. Nachdem die französischen Arbeiter ab 1956 jährlich immer mehr Ferien erhielten, sah sich der Staat vor die Aufgabe gestellt, Feriendestinationen für den Mittelstand zu schaffen. Verglichen mit anderen europäischen Staaten gab es in Frankreich kaum Orte für den Massentourismus. Die Franzosen, die bis anhin oft nach Spanien oder Deutschland in die Ferien fuhren, sollten ihre Freizeit künftig in ihrer eigenen Heimat verbringen. Georges Pompidou[3] als Premierminister und Präsident Charles de Gaulle lancierten die Mission Racine also aus wirtschaftlichen Gründen.

Erstmals betrachteten Planer die Camargue als Ganzes und nicht als eine Reihe isolierter Fischerdörfer. Ein Strassennetz sollte abwechselnd Natur- und bebaute Zonen verbinden. In der ersten Phase wurde die Region auf 700 ha von Moskitos befreit. Für die «Demoustication» musste der Staat Flugzeuge, Tanks für die Insektizide und anderes Material anschaffen. Anschliessend erfolgte die Trockenlegung des Sumpfs. 1962 bestimmte das Ministerium für Planung und Konstruktion die Architekten Jean Balladur für La Grande Motte, Georges Candilis für Barcarès-Leucate, Jean Lecouteur für Cap d’Agde und Raymond Gleize und Edouard Hartané für Gruissan. Zuständiger Planer zwischen den Zonen war Elie Mauret, und die Grünraumplanung von La Grande Motte übernahm Pierre Pillet. So erstellte man zwischen 1963 und 1983 in den Départements Pyrénées-Orientales, Aude, Hérault und Gard Unterkünfte für 650 000 Touristen.[4]

Die Kunst aus dem Sumpf

Auf dem 400 ha umfassenden Gelände von La Grande Motte entstanden ab 1963 während rund 20 Jahren Bauten. 1964 wurde die erste Pyramide auf dem Hafengelände errichtet. Dahinter liegen gegeneinander versetzte Bauvolumen, die im Schnitt eine Wellenbewegung mit Zwischenräumen zum Meer hin bilden. Bagger hoben den 17 ha grossen Hafen aus, Strassen wurden gebaut und Leitungen für Wasser und Elektrizität verlegt.

In seinen Schriften betonte Balladur wiederholt, wie wichtig der menschliche Massstab bei Architektur und Grünraum sei, um uniforme Gestaltung zu vermeiden. Überhaupt leitete und lenkte der Architekt alles. So bestimmte er Position und Höhe der Bauten, die die Umgebung vom starken Mistral abschirmen. Er kümmerte sich aber nicht nur um den Massenplan, sondern kontrollierte auch die Höhe der Gehsteige, die Entwürfe für Strassenampeln sowie Trafohäuschen und beauftragte junge Künstler mit der Anfertigung von Skulpturen. Die Kunstobjekte sollten als Sitzgelegenheiten oder Duschen genutzt werden können und die Gäste im Alltag umgeben. Der Architekt strebte so eine Art Demokratisierung der Kunst an.

Auch ökonomisch war die Mission Racine erfolgreich: Schon bald war der Tourismus – nach Stahl- und Autoindustrie – der grösste Wirtschaftszweig Frankreichs. Bereits wenige Jahre später kamen jährlich 20 Mio. Touristen nach Südfrankreich, unter ihnen 7 Mio. ausländische, und die günstigen Ferienwohnungen waren auch für die Arbeiterklasse erschwinglich.

«Si j’étais Dieu …»

Viele der am Bau von La Grande Motte beteiligten Architekten und Handwerker waren im Zweiten Weltkrieg in der Résistance tätig gewesen und hatten danach am Wiederaufbau der zerstörten Städte mitgewirkt. Nachdem diese Basisarbeit bis Ende der 1950er-Jahre grundlegend vollzogen war, sahen sie der Herausforderung, an einer urbanen Vision für eine bessere, freiere Gesellschaft mitzuarbeiten, mit Freude entgegen. Man sehnte sich nach einer neuen, unbeschwerten Lebensform.

Für diesen Traum fand Jean Balladur die architektonischen Symbole: Die grosse Pyramide ist eine Referenz an den Pic Saint-Loup, das Palais Maya eine an die präkolumbianischen Bauten Mexikos, und der Village du Soleil sowie die Place de Cosmos beziehen sich auf die Gestirne. Balladur war der Ansicht, dass die Grossformen der Mayabauten in Teotihuacan mit ihren archaischen Volumen die Kraft besassen, in der fast menschenleeren Ebene der Camargue ohne lokale historische Bezüge eine eigenständige Anlage zu bilden.

Später erinnert er sich in einem Interview, dass die Leute der Architektur anfangs skeptisch gegenüber- standen, sie später aber akzeptierten und sogar stolz auf sie waren. Balladur entwarf seiner eigenen Ansicht nach auch nichts Geringeres als das verlorene Paradies. «Si j’etais Dieu, je me mefierais des architectes! Ils sont les instruments subversifs du projet secret de l’espèce humaine: reconstruire le Paradis perdu …».

Lokalkolorit oder neues Florida?

Die Gegend verband jedoch nicht ein 180 km langer, leerer Strand, sondern es gab einige alte Fischerdörfer. Das Ministeriums betonte immer wieder, dass man sie in die Planung mit einbeziehen wolle. Tatsächlich aber erhielten die neuen Ferienorte riesige Kredite, während die kleinen Gemeinden leer ausgingen.

La Grand Motte liess kaum jemanden gleichgültig und weckte widersprüchliche Gefühle. Balladur sagte: «Die Leute denken, dass sie ihre Ferien allein verbringen wollen, aber sie sind Herdentiere.»[5] Kritiker wie der Architekt François Spoerry[6] entgegnen, dass Städter lieber in einem Dorf als in einer Massentourismusanlage Ferien machen. Bereits vor der Planung sprachen Kritiker sowie Bewunderer vom «Neuen Florida». Das kann zweideutig interpretiert werden: als Befürchtung, das Lokalkolorit werde verschwinden und die Gegend die Seele verlieren, oder als Stolz, einen zukunftsweisenden Ferienort geschaffen zu haben.

Noch nach 50 Jahren Platz für Wandel

Was von beidem trifft nun aus zeitlicher Distanz zu? Und was zeichnet La Grande Motte heute aus? Neben dem Meer und dem Klima sicher die einheitliche Architektursprache und die prächtig entwickelte Grünanlage auf rund 283 ha. Zusammen mit 20 km Baumalleen entlang der Strassen ist der Ferienort heute eine der grünsten Städte Frankreichs. Die expressiven architektonischen Gesten, die aufgrund des damaligen freiheitlichen politischen und kulturellen Umfelds entstanden, faszinieren Architekten wie Gäste. Die markanten Bauten und die öffentlichen Räume mit den Parks bilden ein Gesamtkunstwerk, an dem der Aufbruchsgeist seiner Gründerzeit bis heute ablesbar ist. Unter anderem dafür wurde der Ort 2010 mit dem Label «Patrimoine du XXe siècle» ausgezeichnet. Zurzeit werden die Bauten etappenweise renoviert – 2016 war die Instandstellung der Centre Ville abgeschlossen.

Doch der Alltag hat sich gewandelt. Neben den jährlich zwei Millionen Touristen wohnen fast 10 000 Menschen das ganze Jahr über in La Grande Motte. Die 30 km nach Montpellier sind für französische Pendler ein Katzensprung. Infolge dieser Entwicklung entstanden neben den Ferienunterkünften auch Schulen, Sportanlagen und Einkaufsläden – viele noch bis Ende der 1990er-Jahre unter Aufsicht Balladurs. Die grosszügige Anlage lässt diesen Funktionswandel zu. Ausserdem war von Anfang an mit Kirche, Post, Theater und Palais de Congrès eine weiterführende Infrastruktur – damals für die vielen Angestellten – mit eingeplant worden.

Anders als in alpinen Schweizer Ferienorten, wo Einheimische sich in Randzonen der Dörfer zurückziehen und im Zentrum ein «Loch» mit meist leer stehenden Zweitwohnungen zurückbleibt, findet hier das umgekehrte Phänomen statt. Aber die Bewohner von La Grande Motte beklagen sich über dieselben Dinge wie die Ortsansässigen in alpinen Touristendörfern: zu teure Lebensmittel in den Läden, schlechte Restaurants, zu wenig Parkplätze und zu viele Fremde während der Hochsaison. Zudem, so sagen kritische Stimmen, sei La Grande Motte überaltert: Jüngere Touristen und die ständigen Bewohner des Orts verbringen ihre Sommerferien wohl lieber anderswo.


Anmerkungen:
[01] Die 30 Jahre des Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg in den OECD-Ländern von 1948 bis 1978.
[02] Pierre Racine war von 1959 bis 1962 Direktor des Kabinetts unter Premierminister Michel Debré. Ab 1963 setzte er den Bau der Ferienorte im Languedoc um.
[03] Georges Pompidou war ehemaliger Direktor der Bank Rothschild und schuf die Voraussetzungen für den Kauf der Bank von Hunderten von Hektaren Land.
[04] «Tous à la Plage», Lienart Editions, Paris 2016, Bernard Toulier, S. 24.
[05] Filmzitate: www.ina.fr/video/I00013789
[06] François Spoerry baute Port Grimaud, das als grosses Fischerdorf die Antithese zu La Grande Motte darstellt.

TEC21, Fr., 2017.11.10

10. November 2017 Danielle Fischer

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